Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: neue musik Seite 3 von 8

klavierkunst für eine bessere welt

 

Er scheint ein ganz nor­maler junger Pianist zu sein, so wie er in Jeans und schwarzem Hemd auf die Bühne des Frank­furter Hofes kommt. Aber in Kai Schu­mach­er steckt mehr. Denn wer „The Peo­ple Unit­ed Will Nev­er Be Defeat­ed“ aufn­immt (für das Mainz­er Label Wer­go) und auch noch live spielt, der muss etwa Beson­deres sein. Schließlich ist Fred­er­ic Rzewskis riesiger Vari­a­tio­nen­zyk­lus nicht irgend ein Werk.

Zum einen sind da die tech­nis­chen Schwierigkeit­en: In diesen gut sechzig Minuten ist eine Menge ver­packt – rasende Läufe, don­nernde Akko­rde, wilde Sprünge, bru­tale Laut­stärke und sub­tile Fein­heit­en wech­seln ständig. Und die musikalis­chen Anforderun­gen sind auch nicht ger­ing: Diese 36 Vari­a­tio­nen erfordern viel Gestal­tungskraft, viel Über­sicht und gle­ichzeit­ig enorme Konzen­tra­tion im Detail.

Es geht aber noch weit­er: Wer diese Musik spielt, bezieht immer auch irgend eine poli­tis­che Posi­tion. Schließlich ist das Musik, die etwas verän­dern will. Denn Rzews­ki hat nicht irgend eine Melodie als Grund­lage genom­men, son­dern das chilenis­che „El pueblo unido jamás será ven­ci­do“, das Anfang der 1970er Jahre zum musikalis­chen Sym­bol des Wider­stands gegen Pinochet wurde.

Kai Schu­mach­er macht das im Frank­furter Hof überdeut­lich, er lässt näm­lich erst ein­mal das Orig­i­nal ein­spie­len – gle­ich ein erster Gänse­haut-Moment. Davon wird es noch eine ganze Menge geben. Denn was Rzews­ki kom­poniert hat, das ist nicht nur hochvir­tu­os und vielfältig, arti­fiziell und natür­lich zugle­ich. Son­dern auch so voller Ideen, Stile, Anklänge, dass es unge­heuer viel zu ent­deck­en gibt. Und Kai Schu­mach­er scheint das alles im Blick zu haben. Seine Inter­pre­ta­tion dieses auf­grund sein­er hohen Schwierigkeit nahezu nie gespiel­ten Werkes ist ger­ade dadurch aus­geze­ich­net, die kun­stvolle Gestalt der Musik beson­ders in den Fokus zu holen.

Ander­er­seits ver­liert der Zyk­lus dadurch an Schärfe – und auch die Gewis­sheit, dass das geeinte Volk wirk­lich niemals besiegt wer­den wird. Vielle­icht ist das zwangsläu­fig so, die welt­geschichtliche Entwick­lung seit 1975, als Rzews­ki das Mam­mutwerk kom­ponierte, ist ja keine reine Erfol­gs­geschichte der Befreiung unter­drück­ter Völk­er. Ger­ade diese Span­nung zwis­chen Opti­mis­mus und dem Bewusst­sein um Nieder­lage und Unter­drück­ung auf der anderen Seite führt Schu­mach­er immer wieder ganz beson­ders her­vor.

So real­isiert er mit elastis­chem Ton, mit fed­ern­der Kraft ein sehr offenes Kunst­werk: Das hier ist eine Auf­führung, die ger­ade die stilis­tis­che Vielfalt der Vari­a­tio­nen, von den ana­lytisch die Melodie zer­split­tern­den Sätzen über vir­tu­ose Tas­ten­don­ner­mo­mente bis zu Jazz- und Blues-Impres­sio­nen, beson­ders deut­lich macht. Diese Kon­traste arbeit­et Schu­mach­er sehr stark her­aus – und ist doch immer wieder dann beson­ders überzeu­gend, wenn er sich ganz in die Musik versenken kann, wenn die zarten und zer­brech­lichen Momente auch ihn selb­st neu ergreifen und berühren.

“Alte Musik, die Kunst …

… des vor­let­zten und vor­vor­let­zten Jahrhun­derts. O je. Wie kam man als gesun­der Men­sch dazu, sich das anzuhören? Man musste doch neueste, neue Musik hören!” (moritz von uslar, wald­stein oder der tod des wal­ter giesek­ing am 6. juni 2005, 69)

angebissen: der don-camillo-chor auf cd

Musik dazu ver­wen­den, jeman­den zu ver­führen, ist keine neue Idee. Das Opfer mit der Musik als Köder zur Musik zu begehren, ist schon etwas ungewöhn­lich­er. Und wenn ein Chor das dann auch noch so offen und direkt untern­immt wie der „Don-Camil­lo-Chor“ aus dem Münch­n­er Umland, dann gehen jed­er Zielper­son schnell die Argu­mente für den Wider­stand aus.

Das liegt, wie ihre neueste (und erste) CD mit dem passenden Titel „Good Bait“ beweist, zu großem Teil an der jugendlichen Frische und dem unbändi­gen Über­schwang, mit dem der gesamte Chor sich auf sein Reper­toire vor­wiegend aus Jazz und Pop stürzt. So eine freizügige Freude teilt sich dem Hör­er in jedem Moment mit, dass er mit dem größten Vergnü­gen anbeißt.

Das Vergnü­gen ist allerd­ings nicht nur ein Ver­di­enst der Sänger und ihres Chor­leit­ers, der sie immer wieder knack­ig auf den Punkt fokussiert. Es liegt zu einem großen Teil auch an den angenehm ein­fall­sre­ichen Arrange­ments, die mehrheitlich vom Diri­gen­ten selb­st oder aus der bewährten Fed­er des um keine Pointe ver­lege­nen Oliv­er Gies stam­men.

Das reicht vom feuri­gen „Chili con Carne“ aus dem Fun­dus der „Real Group“ über aufge­frische Swing-Klas­sik­er bis zu – in ihren kom­plex­en Arrange­ments kaum noch erkennbaren – Pop-Hits der let­zten Jahrzehnte. Mit ein­er recht freien Bear­beitung von Brahms’ „Guten Abend, gut’ Nacht“ beweist der Don-Camil­lo-Chor dann neben­bei auch noch, dass er mehr als nur rein­er Jazz-Pop-Chor ist: Diese jun­gen Sänger und Sän­gerin­nen fühlen sich in vie­len Gefilden zu Hause. Mit Recht. Denn „Good Bait“ ist nicht nur eine schöne, gelun­gene Leis­tungss­chau, son­dern auch ein­fach gute Unter­hal­tung.

Don Camil­lo Chor: Good Bait. Spek­tral SRL4-09049, 2009.

(geschrieben für die neue chorzeit)

orff, bartók und gershwin glücklich vereint

Béla Bartók, George Gersh­win und Carl Orff haben wenig gemein. Und doch passen sie alle in das Konz­ert des Bach­chores in der Chris­tuskirche. Denn kleine Übere­in­stim­mungen find­en sich doch. Zum Beispiel, um ganz prag­ma­tisch anz­u­fan­gen, es gibt von jedem Musik für zwei Klaviere – wenn man schon zwei hochk­las­sige Pianis­ten wie die Brüder Para­tore zur Ver­fü­gung hat, muss man das ja auch nutzen. Und sie kom­ponierten (fast) zur gle­ichen Zeit: Gersh­wins „Rhap­sody in Blue“ war 1924 erst­mals zu hören, Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug im Jan­u­ar 1938 und Orffs „Carmi­na burana“ ent­stand ab 1934. Das hört man ihnen aber kaum an, denn trotz der zeitlichen Nähe bleibt diese Trias grund­ver­schieden.

Bartóks Sonate zum Beispiel ist ein eher sprödes, auch nur sel­ten aufge­führtes Werk. Und eigentlich klingt es auch nicht so harm­los, wie hier in der Chris­tuskirche. Da trägt der Raum große Mitschuld, der vieles weichze­ich­net und ver­schwim­men lässt. Antho­ny und Joseph Para­tore ver­suchen zwar, durch knack­ige Pointierun­gen dem etwas ent­ge­gen­zuset­zen. Aber so richtig weit kom­men sie damit nicht. So bleibt die Sonate mit der ungewöhn­lichen Beset­zung für zwei Klaviere und zwei Schlag­w­erk­er (die aus dem Ensem­ble Babette Haag kamen) für dieses Mal fast eine ver­wun­sch­ene Feen­musik, deren weich fließende, stel­len­weise sog­ar ins rauschhaft taumel­nde Klang­wel­ten aber dur­chaus auch bedrohlichere Szenar­ien her­beiza­ubert. Doch noch bleibt alles Rohe und Wilde in sicher­er Dis­tanz und fest eingezäunt.

Gersh­wins Musik ken­nt solche Gefahren nicht. Rou­tiniert arbeit­en sich die Pianis­ten mit jahrzehn­te­langer Erfahrung durch die Rhap­sody in Blue. Das Schlag­w­erk bleibt hier aber eher ras­sel­nder und schep­pern­der Fremd­kör­p­er, was dem Zauber aber nicht weit­er schadet.

Dafür dür­fen die Per­cus­sion­is­ten danach noch ein­mal alles geben: Die „Carmi­na burana“, die der Bach­chor in der vom Orff-Schüler Wil­helm Kill­may­er ange­fer­tigten Fas­sung für zwei Klavier und Schlag­w­erk präsen­tierte, bietet ja nicht nur dem Chor reich­lich Möglichkeit­en zum Bril­lieren. Dem aber unged­ingt auch – und der Bach­chor nutzt die wie immer ganz selb­stver­ständlich. Unter Ralf Ottos beseel­ter Leitung ergibt sich organ­isch eines aus dem anderen, laufen Chorsätze naht­los in Soli und umgekehrt, verbinden sich Humoreske und Folk­lore, Liebesleid und Freuden­taumel zu ein­er mächti­gen, klange­walti­gen Ein­heit. Beson­ders ausze­ich­nend dabei: Die uner­schüt­tliche Präzi­sion – nicht nur tech­nisch, son­dern auch klan­glich und emo­tion­al tre­f­fen Otto und seine Sänger immer genau auf den Punkt. Auch die Solis­ten passen gut dazu: Daniel Sans gefällt mit beherrschter Sicher­heit, der komö­di­antisch begabte Klaus Häger mit seinem unkom­pliziertem Bass und die Sopranistin Valenti­na Far­cas fügt sich mit selb­st in großer Höhe klar­er Stimme wun­der­bar ins Gesamt­bild. Kein Wun­der, dass die ausverkaufte Chris­tuskirche rest­los begeis­tert ist.

(geschrieben für die mainz­er rhein-zeitung)

mal wieder: jazz und sinfonik gemixt (oder auch nicht)

Sin­fonieorch­ester und Jazz – das sind zwei Wel­ten, die sich oft sehr fremd sind. Und wenn es dann doch zu einem Ren­dezvous kommt, darf natür­lich George Gersh­wins „Rhap­sody in Blue“ auf keinen Fall fehlen. Aber der Klas­sik­er ist wohl nie so zu hören wie beim Konz­ert des Phil­har­monis­chen Staat­sor­ch­esters in der Phönix­halle. Doch schon in der ersten Hälfte war eine Menge guter Musik auf der Gren­ze zwis­chen Jazz und Sin­fonik zu hören. Ohne großes Vorge­plänkel stiegen das Orch­ester mit der Unter­stützung einiger Jazz-Solis­ten sofot in Ear­le Hagens „Harlem Noc­turne“ ein. Und schon waren sie und das Pub­likum mit­ten­drin im Hörki­no, das direkt nach New York führte – ein­er Stadt, der die Musik­er an diesem Abend noch öfters einen Besuch abstat­ten wür­den. Zunächst also Harlem bei Nacht, zu erleben beim ele­gan­ten Cruisen durch mehr oder weniger belebte Straßen. Reiche Bilder ziehen hier vorm inneren Auge vor­bei. Und das liegt nicht nur am Kom­pon­is­ten, son­dern vor allem an zwei Din­gen: Den Arrange­ments von Sebas­t­ian Her­nan­dez-Lav­erny, die die Imag­i­na­tion mit ihrer ver­schwen­derischen Ideen­fülle immer wieder zu Höch­stleis­tung anfeuern. Und an den Musik­ern. Nicht nur das Orch­ester spielt engagiert swin­gend auf, auch Sax­o­pho­nis Oleg Berlin sorgt mit glasklarem Ton und präg­nan­ter Phrasierung für Jaz­zfeel­ing und Kurzweil. Drum­mer Ger­hard Stütz und Bassist Götz Ommert liefern der­weil ein solides Fun­da­ment und Her­nan­dez-Lav­erny springt zwis­chen Diri­gen­ten­pult und Klavier flink hin und her, ergänzt sein Arrange­ment immer wieder durch kurze pianis­tis­che Ein­würfe.

Für mehr beson­dere Momente sorgt auch Malte Schäfer bei den Stan­dards „Come, fly with me“ und „Fly me to the moon“. Der Bratsch­er ist dies­mal auss­chließlich als Sänger im Ein­satz – aber dass dies nicht sein Haupt­beruf ist, merkt man ihm nicht an: Lock­er und geschmei­dig bringt er die Stim­mung wun­der­bar auf den Punkt. Genau wie der Mainz­er Klar­inet­tist Ates Yil­maz, der bei Jorge Calan­drel­lis vir­tu­osem „Solfeggietto/Metamorphosis“ nach ein­er Vor­lage von Carl Philipp Emanuel Bach ein echt­es Heim­spiel hat.

Apro­pos Heim­spiel: Das hat auch Nick Ben­jamin, der mit lau­ni­gen Mod­er­a­tio­nen dafür sorgt, dass Pub­likum entspan­nt und gut gelaunt bleibt – was angesichts der Menge guter Musik gar nicht nötig gewe­sen wäre. Das ganze kulu­miniert schließlich in Gersh­wins „Rhap­sody in Blue“. Die alleine wäre Her­nan­dez-Lav­erny aber offen­bar zu lang­weilig gewe­sen. Deswe­gen unter­bricht er das Orig­i­nal immer wieder, um gemein­sam mit Ommert und Stütz mit weit aus­holen­den Impro­vi­sa­tio­nen über Gersh­wins The­men dem ganzen noch mehr Jazz einzu­ver­leiben. Ein sehr sym­phatis­ch­er Ein­fall, der – vor allem durch die phan­tasiere­iche, ener­gis­che und konzen­tri­erte Impro­vi­sa­tion­skun­st der drei Musik­er – das Pub­likum zu Recht zu standig ova­tions hin­reißt.

(geschrieben für die mainz­er rhein-zeitung.)

brittens “war requiem” — politik und/oder musik

Es hat sich einiges wun­der­bar gefügt für dieses Konz­ert: Zum Pro­log für den diesjähri­gen Kul­tur­som­mer Rhein­land-Pfalz zeigte sich die Sonne schon som­mer­lich. Und es gab noch dazu einige Übere­in­stim­mungen zur Urauf­führung des „War Requiem“, die Ben­jamin Brit­ten sicher­lich gefreut hät­ten. Genau wie die europäis­che Zusam­menset­zung der Musik­er: Chöre aus Frankre­ich, Deutsch­land und Polen nehmen sich gemein­sam mit dem Lan­desju­gen­dorch­ester Rhein­land-Pfalz unter Klaus Arp des Requiems an.

Genau wie 1962 in Coven­try fand auch die Mainz­er Auf­führung im Rah­men der kleinen Tournee dieses Pro­jek­tes, die von Frankre­ich über Rhein­land-Pfalz nach Polen führt, in einem im Zweit­en Weltkrieg zer­störten Gotte­shaus, der Chris­tuskirche, statt. Und genau wie damals stam­men die Solis­ten aus ver­schiede­nen Län­dern – gut, statt aus Rus­s­land kommt die Sopranistin Justy­na Bachows­ka aus Polen. Aber der Bari­ton Jens Hamann ist Deutsch­er, der Tenor Deryck Huw Webb Brite – genau wie vor über vierzig Jaren. Die Voraus­set­zun­gen waren also ziem­lich gut und bere­its sehr syb­molisch aufge­laden. Nur der Raum erwies sich, trotz sein­er sym­bol­is­chen Kraft, als nur mäßig geeignet. Akustisch war die Riesenbe­set­zung in der Chris­tuskirche näm­lich nicht beson­ders gut aufge­hoben.

Klaus Arp tat aber trotz­dem sein Bestes, aus Orch­ester und Chören eine klan­gliche Ein­heit zu for­men. Und das Ergeb­nis kon­nte sich dur­chaus hören lassen. Das Jugen­dorch­ester spielte aus­ge­sprochen diszi­plin­iert und genau. Freilich ließ Arp auch nie­mand aus dem Blick: Seine Argusaugen und sein fordern­der Diri­gen­ten­stab hat­ten die Musik­er per­ma­nent voll unter Kon­trolle. Auch die jugendlich klin­gen­den Chöre: Neben dem heimis­chen Lan­desju­gend­chor und dem Kinder­chor Maîtrise de Dijon, der sich stimm­lich schon sehr erwach­sen präsen­tierte, war noch der Kam­mer­chor der Musikakademie aus Kat­towitz dabei. Doch trotz der starken Beset­zung blieb der Chor lei­der an Durch­schlagskraft hin­ter den Erwartun­gen zurück – die Sänger hat­ten es oft schw­er, gegen den sat­ten Orch­esterk­lang anzukom­men. Dafür entschädigten sie mit aus­ge­sprochen delikat­en Fein­heit­en und zarten Pianis­si­mi.

Zusam­men mit den sehr sich­er und überzeu­gend agieren­den Solis­ten enstand so in der Chris­tuskirche eine inten­siv mah­nende, von der Richtigkeit ihres Anliegens sehr überzeugte Auf­führung des „War Requiems“. Und die ließ sowohl die kleinen Unzulänglichkeit­en als auch die sym­bol­is­che Über­höhung des Konz­ertes vergessen: Denn egal wer und wo und warum das „War Requiem“ auf­führt – diese Kom­po­si­tion set­zt ihr Pro­gramm des Paz­i­fimus, der Trauer über allem Kriegsleid unbe­d­ingt durch. Erst recht, wenn sie mit so viel Engage­ment und Sachver­stand musiziert wird wie hier.

(gechrieben für die mainz­er rhein-zeitung.)

passionsmusik aus siebenbürgen

Sieben­bür­gen ist nicht ger­ade ein Zen­trum deutsch­er Kirchen­musik. Genauer gesagt, ist es eher ein Zen­trum von gar nichts. Manch­mal sind aber die Rän­der dur­chaus inter­es­san­ter als die Mitte. Etwa, wenn dort bes­timmte Tra­di­tio­nen über­leben, wie zum Beispiel die über lange Zeit weit­ergegebe­nen lokalen Pas­sion­s­musiken. Das sollte man wis­sen, wenn man sich die „Sieben­bür­gis­che Pas­sion­s­musik“ für Chor, Solis­ten und Orgel von Hans Peter Türk anhört. Denn Türk ist ein sieben­bür­gis­ch­er Kom­pon­ist.

Eine neue Matthäus-Pas­sion also, als Fort­führung noch erhal­tener Bräuche – aber den­noch über­haupt nicht bloß bewahrend, son­dern eben weit­er­führend. Denn Türk ist zwar kein Avant­gardist, aber doch – trotz sein­er geo­graphis­chen Rand­lage – als Kom­po­si­tion­spro­fes­sor ein Ken­ner der Entwick­lun­gen und Tech­niken in der Musik. Und zwar nicht nur der Musik der let­zten Jahre. Denn seine „Sieben­bür­gis­che Pas­sion­s­musik“ bedi­ent sich bei For­men und Tech­niken aus eigentlich der ganzen abendländis­chen Musikgeschichte. Das führt zu eini­gen eige­nar­ti­gen und bemerkenswerten Ergeb­nis­sen, die die Ein­spielung mit der Meißn­er Kan­tor­ei 1961 unter Christ­fried Brödel und mit Ursu­la Philip­pi an der Orgel ein­drück­lich vor­führt.
Denn wie immer, wenn sich Bekan­ntes mit Frem­dem, Ver­trautes mit Exo­tis­chem mis­cht, ent­deckt man reilich Neues und Inter­es­santes – in Bei­dem. Der Text bleibt ganz auf ver­trautem Boden, in der Musik entwick­elt der 1940 geborene Sieben­bürge aber einen eige­nen Ton. Dabei ver­traut Türk auf die Worte – und zwar sehr stark. Daraus und damit entwick­elt er eine Musik, die sich dem Hör­er unmit­tel­bar unmit­teilt. Und sie zeigt deut­lich: Hier geht es nicht darum, um jeden Preis außergewöhn­liche Musik zu find­en. Türk strebt offen­bar viel mehr danach, der Pas­sion­serzäh­lung ein zeit­gemäßes musikalis­ches Gewand zu geben, sie aber zuallererst als Erzäh­lung zu ver­ste­hen. Und das kann dann eben auch heißen, sich als Kom­pon­ist extrem zurück­zunehmen. Auch in dieser konzen­tri­erten Form, mit weni­gen Ein­wür­fen, behut­sam unter­mal­en­den Tönen der Orgel etwa gelingt es ihm ohne Weit­eres, starke Kon­traste und nahege­hende Stim­mungen zu ver­mit­teln, span­nende Rez­i­ta­tive zu schreiben, die natür­lich und kun­stvoll zugle­ich wirken. Und vor allem hochgr­a­dig ein­fühlsame, inten­siv vib­ri­erende Choräle, die den wahren Kern dieser Pas­sion­s­musik bilden.

Das ist dann in der Summe eine dur­chaus mod­erne Musik, die ver­ständlich und unbe­d­ingt zugänglich auch für Nicht-Ken­ner der zeit­genös­sis­chen Musik ist. Und eigentlich sog­ar für deren Verächter zu ertra­gen. Gut funk­tion­ierende Kirchen­musik also.

Hans Peter Türk: Sieben­bür­gis­che Pas­sion­s­musik für den Kar­fre­itag nach dem Evan­ge­lis­ten Matthäus für Chor, Solis­ten und Orgel. Ursu­la Philip­pi, Orgel. Meißn­er Kan­tor­ei 1961, Christ­fried Brödel. Musikpro­duk­tion Dabring­haus und Grimm 2009. MDG 902 1554–6.

(geschrieben für die neue chorzeit)

beethoven und das motorrad

so, erstein­mal der „offizielle” text, den ich für die mainz­er rhein-zeitung geschrieben habe:

Motor­räder kom­men im klas­sis­chen Konzertleben recht sel­ten vor. Aber ander­er­seits sind auch Posaunenkonz­erte im tra­di­tionellen Reper­toire eher dürftig gesät. Was liegt also näher, als diese bei­den Sel­tenheit­en zur poten­zierten Unwahrschein­lichkeit zu kom­binieren?
Der Posaunist Chris­t­ian Lind­berg hat keinen Hin­derungs­grund gefun­den. Er geht sog­ar noch einen Schritt weit­er: Um das „Motor­bike Con­cer­to” von Jan Sand­ström so richtig authen­tisch aufzuführen – schließlich ist es eigens für ihn kom­poniert wor­den – schlüpft er sog­ar in eine passende Motor­rad­kluft. Nur das Motor­rad fehlt also noch in der Rhein­gold­halle. Aber zusam­men mit der Staat­sphil­har­monie Rhein­land-Pfalz und deren Diri­gen­ten Ari Rasi­lainen ent­fal­tete Lind­berg immer­hin eine täuschend echte Geräuschkulisse.Das Motor­rad, das Lind­berg hier elo­quent und mit vollem Ein­satz verkör­pert, dröh­nt und röhrt, qui­etscht und braust durch die diversen Land­schaften. Sehr pit­toresk ist das alles, serviert immer mit einem gehöri­gen Schuss Komik. Denn Sand­ström hat hier Pro­gram­m­musik rein­sten Wassers geschrieben. Bekan­nter­maßen ist ja ein Motor­rad mehr als ein bloßes Fort­be­we­gungsmit­tel, son­dern ein regel­rechter Lebensstil. Und auf Tour bekommt so einiges mit – so viel, dass auch das „Motor­bike Con­cer­to” noch nach allen Seit­en von Ein­drück­en und Ein­fällen überquillt.1
Ganz im Gegen­satz dazu dann der Klas­sik­er über­haupt, Beethoven. Und gle­ich noch seine „Über&”-Sinfonie, die Fün­fte. Hochtra­bende und gewichtige Deu­tun­gen umranken und über­wuch­ern das Werk seit der Urauf­führung vor ziem­lich genau zwei­hun­dert Jahren. Aber das schein Rasi­lainen gar nicht so sehr zu beküm­mern. Ohne beson­ders übereifrige Über­höhung nimmt er sie erst ein­mal ein­fach als das, was sie schließlich ist: Musik. Und so offen bleibend, ohne der Vagheit anheim zu fall­en, entwick­elte die Staat­sphil­har­monie ein sehr geschlossenes Klang­bild. Der Diri­gent pro­fil­ierte sich als fließen­der Erzäh­ler, der ganze Lebensen­twürfe und Geschicht­en ent­fal­tet.2 Ohne Zweifel oder auch nur das leis­es­te Zögern über­ste­hen die selb­st die harten Kon­fronta­tio­nen mit der Real­ität im drit­ten Satz. Und immer wieder über­wälti­gend ist natür­lich die Wucht dieses unz­er­störten Glaubens an die Kraft des Indi­vidu­ums, die das Finale unter der her­risch gebi­etenden Hand des Diri­gen­ten ent­fal­tet. Und auch wenn die Staat­sphil­har­monie aus­gerech­net auf der Ziel­ger­aden, in den let­zten Tak­ten, das Ende schon vor­weg­n­immt und deut­lich an Präzi­sion und Klarheit ver­liert, bleibt das Zusam­men­wirken aller Kräfte selb­stver­ständlich immer noch tri­umphal – anders kann Beethovens Fün­fte gar nicht enden.3

Show 3 foot­notes

  1. und da haben wir auch schon eines der zen­tralen prob­leme: im prinzip hat sand­ström die form näm­lich über­haupt nicht bewältigt. das ist bloß eine ein­fall­slose aneinan­der­rei­hung von episo­den. ander­er prob­leme sind aber gravieren­der: die aus­sage dieser musik näm­lich gle­ich null. eigentlich ist das nur ein sehr aufwändi­ger kinder­garten: sand­ström erfuhr, was lind­berg auf der posaune so alles anstellen kann. und was er schon gehört hat. das hat er dann — weit­ge­hend tra­di­tionell (das mod­ern­ste moment ist die emanzi­pa­tion des geräusches (aber nur als geräusch, nicht als musikalis­ch­er fak­tor), die aber auch schon seit hun­dert jahren gegessen ist) — hingeschrieben. tech­nisch mag das ziem­lich bis sehr anspruchsvoll sein, der posaunist muss so einiges tun für sein geld. aber das meiste sind eben mätzchen. und die sind musikalisch so über­haupt nicht motiviert. das schlimm­ste daran ist ja fast, dass so etwas natür­lich großen erfolg beim pub­likum hat: die ober­fläche ist halt nett, nicht so arg kom­pliziert und vor allem sehr sehr pit­toresk. denken muss man nicht dabei. das ist wahrschein­lich der größte erfol­gs­fak­tor dieser musik, dass sie denkerischen mitvol­lzug eigentlich sog­ar unterbindet, nicht nur nicht fördert oder fordert.
  2. nur so neben­bei: der unter­schied zur erzählweise sand­ströms ist enorm: denn beethoven hat inhalte — so unspez­i­fisch sie im musikalis­chen aus­drucksver­fahren bleiben mögen. sand­ström hat nur eine bloße bilder­folge, keine nar­ra­tion, keine — inhaltlich gefüllte — erzäh­lung. und das ist ein wesentlich­er unter­schied. im prinzip näm­lich schon die dif­ferenz zwis­chen kun­sthandw­erk und kun­st. oder halt zwis­chen unter­hal­tungsmusik und kun­st. oder wie auch immer …
  3. nicht besprochen habe ich jet­zt die das konz­ert eröff­nen­den „egmont-ouvertüre” von beethoven und schließlich fer­di­nand davis „con­certi­no für posanue” op. 4. let­zteres muss man aber eigentlich auch nicht groß erwäh­nen — ein vir­tu­osen­stückchen halt, dass lind­berg mit tech­nis­ch­er sou­veränität sehr gelassen herun­ter­spielt. beson­ders nach­haltig ist die wirkung dieser musik nicht ger­ade. so eine dutzend­ware aus dem 19. jahrhun­dert halt — ganz nett, aber nicht sehr ein­drucksvoll. die egmont-ouvertüre hat rasi­lainen auch eher noch zum war­m­machen genutzt. auch das ist ja so eine unsitte des konz­er­twe­sens, sich während dem konz­ert noch einzus­pie­len, aufeinan­der einzustellen. passiert aber sehr häu­fig. und wird oft genug auch entsprechend geplant mit so kurzen füll­stück­en, damit wesentlich nix wichtiges ver­saut wird. nagut, so schlimm war’s auch nicht. aber halt auch nicht beson­der oder bemerkenswert.

lieder aus der fremde = gute unterhaltung?

Gefühl ist Trumpf, ohne Gefühl geht hier gar nichts. Salome Kam­mer kann sich das aber auch leis­ten. Denn die Sopranistin – den meis­ten eher als Schaus­pielerin aus den „Heimat“-Filmen bekan­nt – ist ohne weit­eres in der Lage, zwei Stun­den über und mit Gefühl zu sin­gen, ohne der Langeweile oder der Ein­tönigkeit den Hauch ein­er Chance zu geben.
Lieder auf Texte von Brecht hat sie sich aus­ge­sucht, von Kurt Weill und Hanns Eisler. Der Abend ste­ht, als Teil des Begleit­pro­gramms zur Austel­lung „Das vedächtige Sax­o­fon – ‘Entartete Musik’ im NS-Staat“, unter dem Titel „Lieder aus der Heimat – Lieder in der Fremde“. Aber darum geht es gar nicht so sehr. Das erzwun­gene Exil von Dichter und Kom­pon­is­ten, die Erfahrung der Fremde und der Unsicher­heit – all das ste­ht für Kam­mer und ihren Begleit­er Rudi Spring gar nicht unbe­d­ingt im Zen­trum des Pro­gramm. Denn den Mit­telpunkt hat ganz ein­deutig die Unter­hal­tung beset­zt. Das ist zwar ein klein­er Etiket­ten­schwindel. Aber kein schlim­mer – denn wer so gut unter­hal­ten kann wie diese bei­den Musik­er, der sollte das auf jeden Fall möglichst häu­fig tun. Wesentliche Ingre­dienz für den Erfolg ist die große Vielfalt. Und zwar in jed­er Hin­sicht: Von der Auswahl der Lieder bis zur stimm­lichen Umset­zung und angedeuteten szenis­chen und mimis­chen Präsen­ta­tion – Lang­weile hat hier im Rat­saal über­haupt keine Chance.
Aber auch die Sen­ti­men­tal­ität nicht. Denn Salome Kam­mer wird nie gefühls­duselig. Auch bei den großen Hits von Brecht/Weill, der Seeräu­ber-Jen­ny etwa oder „Und was bekam des Sol­dat­en Weib“ zeich­net sich die Sän­gerin vor allem durch die chamäloen­haftige Ver­wand­lun­gen ihrer Stim­mungen aus, die sehr genau tre­f­fen.
Noch etwas konzen­tri­ert­er, fokussiert­er – und deshalb auch wirkungsstärk­er – sang sie die Eisler-Lieder. Vor allem bei der Auswahl aus dem Hol­ly­wood-Lieder­buch kon­nte sie die knap­pen, trotz ihrer kun­stvollen Form sehr aufs Wesentliche reduzierten Lieder stark machen, sie vital und char­mant vib­ri­eren lassen.
Hier war das Duo ohne Zweifel am stärk­sten. Aber ger­ade hier stellte sich manch­mal doch die Frage: Nimmt Salome Kam­mer das nicht alles ein wenig lock­er? So anre­gend es immer wieder ist, ihr zuzuhören und zuzuschauen – manch­es Lied hat kom­plexere Inhalte und mehr zu ent­deck­en, als sie ihm zugeste­hen will. Denn bei allem Witz und bei aller Raf­fi­nesse, die Brecht und sowohl Weill als auch Eisler immer wieder ver­sprühen: Alle diese Lieder sind bis auf ihren Kern geprägt von den tragis­chen Erfahrun­gen des 20. Jahrhun­derts, wie sie ihre Schöpfer miter­lebten. Doch dieses Stim­mung und dieses Gefühl woll­ten Kam­mer und Spring nicht mit ihrem Pub­likum teilen.

geschrieben für die mainz­er rhein-zeitung.

gestern gestorben: mauricio kagel

mauri­cio kagel — ein­er der weni­gen kom­pon­is­ten, die das (neue) musik­the­ater und das (neue) hör­spiel in den let­zten jahrzehn­ten wirk­lich bere­ichert, verän­dert und bee­in­flusst hat. und natür­lich über­haupt ein großar­tiger kom­pon­ist mit viel humor — (“er liebte die musik durch die maske des harlekins” — schreibt die frank­furter rund­schau) aber nie flach, immer auch kün­st­lerisch auf der höhe der zeit.

gestern starb er nach mehr als 75 jahren leben und kom­ponieren und langer krankheit.

nachruf von hart­mut lück (frank­furter rund­schau), gespräch mit wern­er klüp­pel­holz (bei deutsch­landra­dio kul­tur, die selt­samer­weise kagel mal mauri­cio, mal mau­r­iziod schreiben)

und noch mehr nachrufe: wolf­gang sand­ner auf faz.net, elmar krekel­er bei welt.de und ein richtig guter text von max nyf­fel­er für die nzz.

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