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Kategorie: geschichte Seite 1 von 6

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Wikipedia-Geschichtsschreibung

In ein­er Geschichtss­chrei­bung, wie Wikipedia sie vorn­immt und die Leben in ide­ol­o­gisierte Kurz­fas­sun­gen zer­hackt, wird eben jed­er Satz zum Urteil. Mar­lene Streeruwitz über Bertha von Sut­tner, 25

martin-luther-denkmal, dresden

Reformationsrelevanz

Eine Frage, die angesichts der ger­ade kul­minieren­den Luther- und Refor­ma­tions­feier­lichkeit­en eine beson­dere Bedeu­tung hat: Wie ste­ht es eigentlich mit der Ref­or­ma­tion und uns? Wie wichtig ist die heute noch? Oder so:

Wie rel­e­vant ist die Ref­or­ma­tion noch, um die heutige kul­turelle­und poli­tis­che Sit­u­a­tion in der EU — und im glob­alen Zusam­men­hang — zu ver­ste­hen? War sie mehr als eine region­algeschichtliche Aus­d­if­feren­zierung in den nordalpinen Regio­nen, die einige Jahrhun­derte 8zum Teil blutige) Rel­e­vanz hat­te, aber heute nicht mehr zu Ver­ständ­nis­prob­le­men inner­halb der west­lichen Gesellschaften führt und für das Ver­ständ­nis der Prob­leme des heuti­gen Europa weit weniger rel­e­vant ist als etwa das Ost-West-Schis­ma von 1054? Würde die Ref­or­ma­tion auch dann noch einen so hohen Kred­it für die Geschichte der Säku­lar­isierung bekom­men, wenn nicht immer schon fest­stünde, dass mit der Ref­or­ma­tion die Neuzeit begin­nt? Bern­hard Jussen, Richtig denken im falschen Rah­men? Warum das “Mit­te­lal­ter” nicht in den Lehrplan gehört. In: GWU 67 (2016), 571

Der ins­ge­samt sehr anre­gende und inter­es­sante Beitrag von Bern­hard Jussen beschäftigt sich eigentlich mit dem makro­his­torischen Konzept Mit­te­lal­ter, sein­er seit langem bekan­nten und unbe­strit­ten Unsin­nigkeit und Unhalt­barkeit und dann mit der Über­legung, warum es sich trotz­dem hält und aber eigentlich gar keine Rolle mehr spie­len sollte und dürfte, son­dern durch geeignetere Mod­elle abgelöst wer­den muss — und zwar unbe­d­ingt nicht nur in der Forschung, son­dern auch und ger­ade in Schul­büch­ern und im Unter­richt.

Diese The­ma­tisierung der Ref­or­ma­tion gibt mir außer­dem Gele­gen­heit, auch noch auf den aktuellen Blog von Achim Landwehr hinzuweisen, der sich in inter­es­san­ten Beiträ­gen mit dem aktuellen Refor­ma­tion­sju­biläum vor allem unter dem Gesicht­spunkt der Bedeu­tung für unsere momen­tane Geschichts- und Gedenkkul­tur auseinan­der­set­zt: Mein Jahr mit Luther. Unter­wegs in der deutschen Geschicht­skul­tur.

Sonnenfinsternis 1321

In diesem Jahre gab es am Tag der sel. Mär­tyr­er Johannes und Paulus am Fre­itag eine Son­nen­fin­ster­n­is, die von der ersten Stunde bis zur drit­ten dauerte. Als das geschehen war, wur­den die Körn­er und Samen aller Bodenpflanzen, die vorher in gutem Zus­tand waren, sicht­bar verklein­ert. Es fol­gten große Über­schwem­mungen an den Flüssen, die auf den Feldern, in den Städten, an den Mauern und Dör­fern großen Schaden anrichteten.

so heißt es unter der Über­schrift “Das Jahr des Her­rn 1321. Von der Hand­lungsweise König Johanns und von anderem” in der Königsaaler Chronik. Etwas später, immer noch im 10. Kapi­tel des zweit­en Buch­es der Chronik, wird dann berichtet:

Es soll allen, die bei Gott an Chris­tus glauben, bekan­nt wer­den, dass im Jahr des Her­rn 1321, am Fre­itag nach der Geburt des heili­gen Johannes des Täufers, in der Graf­schaft Anjou und Touraine eine schreck­liche Son­nen­fin­ster­n­is stat­tfand, sodass bald über vier Stun­den dieses Tages die Sonne glühend und blutrot war, und in der Nacht des­sel­ben Tages war der Mond verun­stal­tet und ver­dunkelt wie ein Sack, sodass die Ein­wohn­er des Lan­des­glaubten, es sei das jüng­ste Ende der Welt.
Und am sel­ben Tag war ein unglaublich­er Don­ner zu hören und unaussprech­liche Blitze zu sehen, sodass viele sahen, dass sehr viele Feuer­globen vom Him­mel auf die Erde und auf Häuser fie­len, sodass die Däch­er, die mit Stroh gedeckt waren, an eini­gen Orten ver­bran­nten, und es war ein schreck­lich­er Drache in der Luft zu sehen, durch dessen Atem und übel­riechen­des
Geschnaube nicht wenige Men­schen aus­gelöscht wur­den. Darüber hin­aus gab es an eini­gen Orten und anderen ein Erd­beben, sodass die ganze Erde zit­terte, sodass durch dieses Zit­tern viele Gebäude, die jen­seits des englis­chen Meeres gele­gen waren, ein­stürzten.

Mal sehen, was heute noch so alles auf uns zukommt …

Kollektives Gedächtnis

Begriff Erin­nerungskul­tur
Mod­erne Struk­turmerk­male zeich­nen Demokratisierung fern­er des All­t­ags und der Ver­gan­gen­heit. An Gedanken­fra­gen gehören natür­lich selb­stver­ständlich bild­kün­st­lerische Werke der Erfahrung.
Es ist ein Brauch, die Ich-Erfahrung nicht. Sozusagen hat es nicht damit zu tun und wir tra­gen zur Kollek­tiv­en Erin­nerung bei. Bedeu­tung kann zu Beginn was auf­taucht. Haupt­säch­lich im 19. Jahrhun­dert. Nation­aldenkmal. […] Viele Gesten das (die) man nicht wirk­lich unter­sucht zwie Zeit­en später passiert. Nach­schauen im gar nicht direkt 70 Jahre späte 1871, da wer­den dop­pelt Zeit ent­fer­nt. Wie das Denkmal entste­ht gedenkt heißt. Juden­platz fand ich wirkt, wie Leute das sehen.

—Niš­ta Nije Niš­ta, Kollek­tives Gedächt­nis (auf: 4 Wolves Attack)

Nista Nije Nista: Kollek­tives Gedächt­nis

Beim Klick­en auf das und beim Abspie­len des von YouTube einge­bet­teten Videos wer­den (u. U. per­so­n­en­be­zo­gene) Dat­en wie die IP-Adresse an YouTube über­tra­gen.

Siegen


via mur­suppe

Objektive Geschichte

Man kann keine richtige (objek­tive) Geschichte schreiben. Alle Aus­sagen wider­sprechen einan­der

—Peter Weiss, Notizbüch­er 1971–1980 (I, 237)

Digitalisierung?

Natür­lich kön­nte man sie [Urkun­den zur Mainz­er Stadt­geschichte von 1251 bis 1260] auch dig­i­tal­isieren – Vasil Bivolarov, Mither­aus­ge­ber von der His­torischen Kom­mis­sion Darm­stadt, hielt diese Meth­ode im Umgang mit den Jahrhun­derte alten Schriften und Tex­ten allerd­ings für ungeeignet und war sich darin mit den anderen His­torik­ern einig.

Wenn er das wirk­lich so gesagt hat, wie ihn die All­ge­meine Zeitung Mainz anlässlich der Vorstel­lung eines Regesten-Ban­des (! — also nicht mal ein­er voll­ständi­gen Edi­tion!) zitiert, dann beantrage ich, der Hes­sis­chen His­torischen Kom­mis­sion Darm­stadt sämtliche För­der­mit­tel zu entziehen. Denn offen­sichtlich hat sie ja kein Inter­esse daran, dass ihre Ergeb­nisse auch gele­sen, genutzt, gekan­nt wer­den von denen, die dafür bezahlen. Denn diese reflex­hafte, unre­flek­tierte Ablehnung der Dig­i­tal­isierung wird ja langsam lächer­lich.

Mahnmale

Je mehr Mah­n­male, desto weniger fühlen sich die Men­schen betrof­fen.
Jedes Denkmal legt Erin­nerun­gen für immer ad acta.

—Wal­ter Kem­pows­ki: Hamit. Tage­buch 1990 (10)

Der Erste Weltkrieg: Die Modefarben 1914

die mod­e­far­ben von 1914 waren
Blu­men­feld (Berlin/New York) zufolge,
waren diesem sprachen-fotograf zufolge
ziem­lich zuerst:

nil.
ein grün natür­lich, anori­en­tal­isiertes abend-
land, das großbürg­er­tum hin­ter schw­eren
portieren, bei indi­rek­ter beleuch­tung trägt
Berlin auf, was Paris trägt.

tan­go.
das orange, die trauer
früchte die den blick verkan­ten.
süd­früchte wur­den kaum gekan­nt
sie kamen im beam­ten­tume vor:
auf dem wei­h­nacht­steil­er, auf dem
börsen­par­kett tan­go, schiff­bau
stahl bestens notiert, und:

ciel.
ist der ver­drehte him­mel.
blue pills und stahlpar­kett,
zur früh­jahrs­sai­son natür­lich
von marne gar noch nicht
die rede, ab herb­st war dann
das kleine schwarz natür­lich
ange­sagt.
*
gesagtes kleines schwarz.
gesagte schwarztöne, die all­ge­mein­er wur­den;
besagte zunah­men, zunah­men in dem maße wie die herz­gruben und
‑töne schwäch­er, dann weg- und abgeschal­tet wur­den, und
die lis­ten (»ciel«) sprachüber­lagert von namen und
aber­sprachn. noch war die grippe
nicht in sicht
*
lauf­steg lauf­graben.
*
den toten wie den witwen, immer in den nachricht­en,
immer voll drauf, voll zwis­chen die beine gefilmt und -

[…]

*
gespräch­sun­ter­brechung durch
unrhyth­mis­chn his­torik­er. zer­streut
wirkt dieses durchge­sup­pte sprecherchen und
bam­mel­mann, fidel wie die erhängten­le­iche,
mit seinem:
»nix nil, nix tan­go. ohne ciel oder unter freiem
him­mel. oder-oder, oder nich mehr so jet­zt, spr-
rache über pro­jek­tile blue pills, blaue bohnen wohin
man tritt, das is sprache! oder
was andres.«
*

[…]

weit­ere und weit­ere auf­fal­tun­gen:
die auf­drucke (parol) auf den eis­er­nen ratio­nen;

die aufw­er­fun­gen von erde, etwa die querung
steiniger bach­bet­ten, gebüsche. buchen, birken,

tan­nen­wälder. beschuß an reißendn flüssn. im
lehm­bett, in nässe: wie die ges­tam­melte brief­schaft

durch­we­icht, diese zeilen, dieses ziehen in der
Schul­ter: dieses wer­fen, diese abzieh-gräbm, soweit

reichen die — wie weit reichen die ohren? wieweit
reichen meine ohren: meine augn fest­ge­fressen.

[…]

*
rhyth­mis­che his­to­ria.
nicht weniger absent ist diese sprecherin:
das war, mit pho­tos von Blu­men­feld,
der far­be­nan­fall für 1914; entschuldigen
möcht­en wir uns für den
*
total­bil­daus­fall.

—Thomas Kling: Der Erste Weltkrieg: Die Mod­e­far­ben 1914 (gekürzt, nach dem Abdruck in: Merkur 53 (1999), Heft 600, S. 266–268).

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