Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Kategorie: literatur Seite 1 von 37

Tor August

schw­er­fäl­liger mahlt
der grosse motor som­mer
gedanken kauen­der tor
zum abend geneigt
ste­ht mit­tag im feld
prack­tvoll sinkt rot
unterm wolken­brokat
schon am herb­st­saum
treiben die wiesen
das tor in den tag
angelehnt
du ich zwis­chen
tür und angel

Ste­fan Döring (aus: Monate Jahre (in: WENN WELT. Berlin, Schup­fart 2024 (rough­books 064), S. 83.))

#20books Book Challenge

Ich bin wieder mal hoff­nungs­los late to the par­ty, dafür gibt es gle­ich alles auf einen Stre­ich und hier, nicht auf Mastodon, wo die Chal­lenge herkommt: “20 Büch­er, die dich geprägt haben. Ein Buch pro Tag, 20 Tage lang.”.

Die Auswahl war gar nicht so ein­fach: Manche Büch­er waren sehr schnell klar, bei anderen war es schwieriger, sich auf ein konkretes Buch festzule­gen — oft ist es dann doch eher ein Autor/eine Autorin oder eine Gruppe von Tex­ten, die mich beson­ders bee­in­flussten. Nichts­destotrotz, das ist die Liste, die nach einigem Über­legen rauskam (ohne beson­dere Rei­hen­folge):

  1. Judith Kerr, Als Hitler das rosa Kan­inchen stahl
  2. Gudrun Pause­wang, Die Wolke
  3. Michael Ende, Momo
  4. Thomas Mann, Der Zauber­berg
  5. Peter Weiss, Ästhetik des Wider­stands
  6. Peter Kurzeck, Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kauf­st. Die Idylle wird bald ein Ende haben!
  7. Friedrich Hölder­lin, Hype­r­i­on oder der Eremit in Griechen­land
  8. Max Horkheimer/Theodor W. Adorn, Dialek­tik der Aufk­lärung. Philosophis­che Frag­mente
  9. Thomas Bern­hard, Aus­löschung. Ein Zer­fall
  10. Georg Büch­n­er, Lenz
  11. Georg Büch­n­er, Der Hes­sis­che Land­bote
  12. Georg Friedrich Wil­helm Hegel, Ästhetik
  13. Rainald Goetz, Irre
  14. Thomas Mann, Dok­tor Faus­tus
  15. Judith Buth­ler, Das Unbe­ha­gen der Geschlechter
  16. Friedrich Schiller, Über die ästhetis­ch­er Erziehung des Men­schen
  17. Michel de Mon­taigne, Essais
  18. Car­lo Ginzburg, Der Käse und die Würmer
  19. Thomas Mei­necke, Tomboy
  20. Thomas Kling, Erprobung herzstärk­ender Mit­tel, Geschmacksver­stärk­er, Brennstabm, Nacht.Sicht.Gerät. Aus­gewählte Gedichte 1981 — 1993

Juniverse

him­mel­wärts gezo­gen
die striche der gräs­er
mit lüften ver­flocht­en
unter fed­er­wolke gesang
flug auf unlin­iertem blatt
samen gefiedert steigt
hinge­sunkene fed­er
getaucht in hol­un­der­schat­ten
schreibt

Ste­fan Döring (aus: Monate Jahre (in: WENN WELT. Berlin, Schup­fart 2024 (rough­books 064), S. 81.))

Das Nicht-Erin­nerte ist Tag-gerecht,
Irdis­che Into­na­tion und hand­volle
Blüte, nicht Nachah­mung.
Bild mehr!

Petra Gan­glbauer (aus: Wass­er im Gespräch, 2016, S. 39, Karg­er Läm­mer­mond)

Frühlingsbeginn

Die Wein­bergsch­necke ist fort
gekrochen, den zarten Deck­el aus
Kalk oder Elfen­bein ließ
sie auf der Mauer zurück.

Michael Buselmeier (aus: In den Sanden bei Mauer. Let­zte Gedichte, 2023, S. 14)

Schweigen

Was sie sagen,
die Vor­fahren,
geht uns vielle­icht gar nichts an.
Wir sehen, was sie tun, was sie tat­en,
aber ob es sie waren?

Ich kön­nte in die Bib­lio­thek gehen
und lesen, was eigentlich gemeint war,
und schreien.
Ich kön­nte die Blöd­heit im Schnitt der Steine,
ver­mergelt mit Weisheit, erken­nen
und schreien,
einge­mauert in diese Geschichte.

Es muss Geschwis­ter geben       (alle so Schwes­ta, Bru­da, Cousin)
unter­schiedlich reagierend auf den gle­ichen Schas,
gle­ich (gemein­sam) im Unter­schiedlichen,

und ich bin blöde       zu meinem Glück
wie ein Göt­ter­baum ein, zwei Meter wach­send im Jahr,
das kann ich,
mit dem ganzen Kör­p­er in die Bewe­gung lehnen.

Die Anleitun­gen: Was sagen sie, was — wohin fall­en sie,
dahin fall­en wir auch       und dann sagen wirs nicht.
Schau mich an,
wir sind die Ruinen
für alle Idyllen,
wir sind die Minen
für Ironie

Ann Cot­ten (aus: Die Anleitung der Vor­fahren. Berlin: Suhrkamp 2023, s. 138)

Zukunft

Sev­en Lines About Future

Die Zukun­ft wird kom­men.
Auch die der Lit­er­atur.
Sie wird wenig Heimat haben,
wenn sie kommt.
Aber Tag und Nacht und
die Kör­p­er, die sie lieben.

Lud­wig Fels, Mit mir hast du keine Chance, 5
Snowflake in close-up

Schnee

Schnee: wer
dieses Wort zu Ende
denken kön­nte
bis dahin
wo es sich auflöst
und wieder zu Wass­er wird

das die Wege aufwe­icht
und den Him­mel in
ein­er schwarzen

blanken Pfütze
spiegelt, als wär er
aus nichtros­ten­dem Stahl

und bliebe
unverän­dert blau.

Rolf Dieter Brinkmann (aus: Le Chant du Monde)[Rolf Dieter Brinkmann: Stand­pho­tos. Gedichter 1962–1970. Rein­bek: Rowohlt 1980, S. 40]

Herbst

Die Blät­ter fall­en, fall­en wie von weit,
als welk­ten in den Him­meln ferne Gärten;
sie fall­en mit verneinen­der Gebärde.

Und in den Nächt­en fällt die schwere Erde
aus allen Ster­nen in die Ein­samkeit.

Wir alle fall­en. Diese Hand da fällt.
Und sie dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Ein­er, welch­er dieses Fall­en
unendlichen san­ft in seinen Hän­den hält.

Rain­er Maria Rilke, Herb­st (Das BUch der Bilder)

Gedichte

Bei Gedicht­en hil­ft zwei Mal lesen immer. Das kann nie falsch sein. Denn meis­tens ist schon nach dem zweit­en Mal klar, ob das Ding vor uns über­haupt ein Gedicht ist oder nicht. Wenn näm­li­uch nach dem zweit­en Mal klar ist, was da ste­ht, und eben­so duelitch, dass da nichts weit­er ist, als was man ver­standen hat, dann ist es kein Gedicht. Weil ein Gedicht eben nicht das ist, was man gemein­hin meint, wenn man sagt: Ich habe ver­standen.

Urs Engel­er, Mein Lieber Lühr (in: MÜtze #33, 1671)

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