So ist das Leben, und so muss man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd — trotz alledem.
Rosa Luxemburg, Brief aus dem Gefängnis (1917)
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Niemand hat je bezweifelt, daß es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist, niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet. Lügen scheint zum Handwerk nicht nur der Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören. Hannah Arendt, Wahrheit und Politik (1963)
Niemand mag politische Parteien, und das ist nichts Neues. Ihr Aufkommen war ein theoretisch nicht vorgedachter Betriebsunfall praktizierter Demokratie. […] Ihre Funktion, zwischen einem eingesessenen gesellschaftlichen Establishment und dem demokratischen Wahlvolk zu vermitteln, bestätigt den Verdacht, dass Parteien demokratische Herrschaft weniger ermöglichen als verhindern, indem sie eine weitere Ebene korporatistischer Oligarchie in die Politik einbauen. Der Widerspruch zwischen allgemeiner Abneigung und der schwer zu bestreitenden praktischen Notwendigkeit von Parteien für Demokratien ließ sich solange überdecken, wie Parteien zumindest Teilhabe an Macht versprachen. Heute haben sie in westlichen Demokratien auch deswegen einen so schlechten Ruf, weil niemand mehr an dieses Versprechen glaubt. Im Verfall politischer Parteien verbindet sich die politische Selbstentmächtigung derjenigen, die von ihrer Herrschaft profitieren könnten, mit einer Radikalisierung moralischer Anforderungen an Politik.
Christoph Möllers, Wir, die Bürger(lichen), in: Merkur 818, 7
Es klingt viel zynischer, als es gemeint: Aber (inzwischen) habe ich mehr Angst vor den politischen und gesellschaftlichen Diskussionen (und natürlich den entsprechenden Gesetzesänderungen) nach Gewalttaten als vor der Gewalt selbst.
Sozusagen aus psychosozialer Hygiene verordne ich mir inzwischen regelmäßig beim Bekanntwerden von gewalttätigen Ereignissen eine gewisse Medienabstinenz. Sobald klar und absehbar ist, dass es mich nicht unmittelbar betrifft — weil ich zum Beispiel nicht in München bin und auch niemand, der mir nahe steht, gerade dort weilt — meide ich den Blick auf Twitter, Reddit, die Nachrichtenseiten etc. Denn dort wird es gefühlt immer schlimmer und ritualisierter. Noch während sich ein Ereignis entfaltet, noch während Menschen sterben und die meisten ganz und gar keine genauen Informationen haben (und ja auch nicht unmittelbar und sofort benötigen), tauchen die Leute auf, die es schon immer gewusst haben. Und dann auch die Leute, die schon immer wussten, dass jetzt die Leute, dies es schon immer gewusst haben, auftauchen. Und so weiter — das spiralisiert sich ganz schnell und ganz unangenehm.
Und natürlich gibt es immer wieder die gleichen Reflexe: Noch mehr Polizei, noch mehr Überwachung, noch mehr Geheimdienst, jetzt neu: noch mehr bewaffnete Streitkräfte im Inneren (also zwangsläufig, denn dafür sind sie ja da: Noch mehr Tote.). Und die Metadiskussion läuft auch gleich noch mit, ohne wahrnehmbare Zeitverzögerung. Das ganze wirkt auch mich inzwischen regelrecht surreal, weil es von den tatsächlichen Ereignissen (und vor allem: dem Wissen darüber, das in großen Teilen der Diskussion zwangsläufig ein Nichtwissen ist) so abgekoppelt und beinahe unberührt erscheint. Da helfen dann auch die ritualisierten Mitleidsbekundungen nicht mehr. Die werden ja auch immer monumentaler — jetzt leuchtet der Eiffelturm in den Farben der deutschen Flagge (nachdem Hollande sich am Wochenende ja mit seinen abseitigen Spekulationen nicht gerade mit Ruhm bekleckerte …). Aber ist das, was in München passierte, wirklich unbedingt eine nationale Tragödie? Wie viele Menschen müssen gewaltsam sterben, damit die Beleuchtung eingeschaltet wird? Und wo müssen sie sterben? Natürlich ist es traurig und aus der Ferne kaum fassbar, wie viel Leid ein Mensch so schnell anrichten kann. Aber stimmen unsere Mitleidsmaßstäbe? Sind die acht bis zehn Menschen, die Tag für Tag durch den motorisierten Verkehr in Deutschland umgebracht werden, weniger Mitleid wert? Von den Toten in anderen Ländern, anderen Kriegen, anderen Kontinenten gar nicht zu reden (natürlich spielt Nähe immer eine Rolle). Mir geht es nicht darum, die Toten gegeneinander aufzurechnen. Mir geht es darum, Vernunft zu walten lassen — Vernunft und rationale Abwägung bei den Gefahren, denen wir ausgesetzt sind. Und natürlich auch bei den Maßnahmen, die zur Gefahrenabwehr (wie es so schön technokratisch heißt) notwendig oder möglicherweise zu ergreifen sind.
Irgendwie gehen Erregungs- Mitleids- und Vernunftmaßstäbe Stück für Stück, Schritt für Schritt, Interview für Interview immer mehr verloren (und das ist beileibe nicht nur ein Problem der AfD oder anderer rechts(radikaler) Parteien, sondern nahezu des gesamten politischen Systems) und verändern so unsere Gesellschaft mehr und nachhaltiger, als Gewalt und Gewalttäter — seien sie extremistische Terroristen oder psychisch Kranke — es bisher vermögen.
Und es bleibt die Angst, dass diese Gesellschaft vor lauter Hysterie und Sicherheitswahn bald nicht mehr meine ist. Und die Ratlosigkeit, was dagegen zu tun wäre …
Nachtrag: Der kluge Georg Seeßlen hat bei der “Zeit” einige interessante Überlegungen zu Gewalt, Medien und Gesellschaft aufgeschrieben. Er schließt mit dem aufklärerischen Appell:
Es ist nötig, was an aufklärerischer Energie noch vorhanden ist, zu bündeln, um eine offene, an keine Verdrängungsgebote oder soziale Taktiken gebundene Theorie der Subjekte des Terrors zu entwickeln, die nicht anders kann, als auch eine Theorie der Gesellschaft und ihrer Erosion und eine Theorie der Medien und ihrer Entfesselung zu enthalten. Niemand kann eine Katastrophe verhindern, denn es gibt kein System, das immun gegen Angriffe und immun gegen innere Widersprüche sei. Eines der großen Versprechen der Demokratie allerdings war es, dass es nicht nur ein anpassungsfähiges, sondern auch ein lernendes System sei, eines, das immer mehr Bewusstsein von sich und der Welt hat, kurzum, dass es zugleich Garant von Freiheiten und Instrument der Aufklärung sei.
Zum Projekt der Aufklärung zurück zu finden ist eine schwere Aufgabe, umso mehr, als auch sie sich in einer paradoxen Falle befindet: Jeder Terroranschlag und jeder Amoklauf ist auch ein Anschlag auf die Möglichkeit von Aufklärung. Jeder Terroranschlag und jeder Amoklauf ist auch eine Forderung, Aufklärung zu verwirklichen. Insofern wären wir schon einen Schritt weiter, wenn wir nicht länger so gebannt der Dramaturgie von Hysterisierung und Vergessen folgten.
Wir können nicht verhindern, dass soziale, politische und menschliche Katastrophen geschehen. Aber wir können verhindern, dass sie zum unaufgeklärten, unverstandenen, medialisierten, ideologisch manipulierten, politisch und ökonomisch missbrauchten Normalfall werden.
Und auch Mario Sixtus weist auf einen interessanten Punkt hin, der eventuell einen Ausweg aus dem immergleichen Reflex böte:
Wenn man Taten wie die in München verhindern will, muss man den mühsamen Perspektivwechsel nach innen vornehmen, in die eigene Gesellschaft hineinblicken, auf die eigenen Leute, auf die eigenen Werte.
ein ganz und gar grottiger, grausamer, gräßlicher text von robert roßmann zur verteidigung und verehrung von heiko maas steht heute in der süddeutschen zeitung — völlig unangebracht das alles. denn dahinter steht eine position, die auch in der spd weit verbreitet zu sein scheint: hauptsache regieren — was dann gemacht wird/werden kann, ist zweitrangig, macht um der macht willen ist die hauptsache (und dann wundern sie sich, dass sie niemand mehr wählt). interessant ist hier übrigens auch die wortwahl im detail: leutheuser-schnarrenberger hat eine “brutalen Blockadepolitik” der vorratsdatenspeicherung betrieben und ist sogar zurückgetreten — das jemand in der bundespolitik auf höchster ebene für seine überzeugungen eintritt, scheint für roßmann eher ein unfall als ein lobenswerter (charakter-)zu zu sein: die lähmung der merkeljahre schlägt voll durch … manchmal ist das echt zum verzweifeln …
Aus meinem Mailwechsel mit dem Polizeipräsidum Südhessen:
Zu Ihrer Anfrage zur Möglichkeit eines elektronisch sicheren Kommunikationsweges, z.B. mit PGP-Signaturen, können wir folgendermaßen Stellung nehmen:
Aus IT-sicherheitstechnischen Gründen ist es derzeit nicht möglich, derartige in das Polizeinetz eingehende E‑Mails zustellbar zu machen. Grundsätzlich entwickeln die jeweiligen Fachdienststellen für die IT-Sicherheit jedoch alle Fachverfahren — darunter auch Exchange/E‑Mail — fortlaufend weiter.
Aus sicherheitstechnischen Gründen ist es nicht möglich, sicher zu kommunizieren. Das ist der Technologiestandort Deutschland. (Mal abgesehen davon, dass es zeigt, wie ernst die Sicherheitsbehörden die Kommunikation mit den Bürgern nehmen.)
„Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören.“ Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt, zu übertreffen, und indem durch die darauf verwandten Kosten der Friede endlich noch drückender wird als ein kurzer Krieg, so sind sie selbst Ursache von Angriffskriegen, um diese Last loszuwerden; wozu kommt, daß, zum Tödten oder getödtet zu werden in Sold genommen zu sein, einen Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines Andern (des Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen läßt.
— Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, 1795; Abschnitt I, Artikel 3
Der “Spiegel” schreibt über die “Tafel”-Bewegung und ihre Probleme. Und er schafft es, das zentralste aller Probleme mit dieser Organisation vollkommen auszublenden: Ihre Notwendigkeit. Denn sollte es in einem der reichsten Länder der Welt nicht selbstverständlich sein, dass der Staat, der dafür mannigfaltige Instrumente (die aus Abgaben der Bevölkerung bezahlt werden) zur Verfügung hat, eine grundsätzliche Lebenssicherung seiner gesamten Bevölkerung und nicht nur der arbeitenden gewährleisten? Das ist auch genau der Grund, warum ich die “Tafeln” — so ehrenwert sie im Einzelnen sind — für die falsche Aktion halte: Die gnadenvolle und barmherzig Abgabe von “Rest”-Lebensmitteln an Bedürftigen — das ist ein Rückfall ins katholische 19. Jahrhundert. Die richtige Lösung ist natürlich der Anspruch auf entsprechende Versorgungsleistungen, z.B. eben über ausreichende Hartz-IV-Sätze. Dass der “Spiegel” das nicht merkt, halte ich für ziemlich schwach — und typisch, denn dieser Punkt geht in der Diskussion immer wieder verloren.
Mancherorts übernahmen die Wohltätigkeitsvereine Aufgaben des Sozialstaats.
So heißt es dann auch noch — fast wie im Hohn — im “Spiegel”-Artikel, wenn es um Zusatzleistungen der “Tafeln” wie Kursangebote etc. geht. Mir bleibt fast die Sprache weg, wenn ich so etwas lese.
Der beste Datenschutz, das ist eine Binsenweisheit, ist die Vermeidung von Daten. Deshalb haben SPD & CDU in ihrer unendlichen Weisheit im Koalitionsvertragsentwurf beschlossen, die Daten aller Bürger einfach mal auf Vorrat zu speichern — vielleicht will ein Geheimdienst ja wissen, wo dich du vor ein paar Wochen so rumgetrieben hast. Wer die Logik dahinter nicht versteht, ist sicher nicht allein. Auch wenn es halt im September zu wenig waren, die darauf geachtet haben.