»Nächstens mehr.«

Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

eine wunderbar sprechende “gegensprechstadt”

ja genau, so heißt näm­lich der neueste lyrik­band von ger­hard falkn­er. genauer gesagt: gegen­sprech­stadt — ground zero. und im grunde ist es auch gar kein lyrik­band, son­dern nur ein gedicht, ein langes eben — so ca. 70 seit­en. und es kommt nicht nur in der kook­books-typ­is­chen ausstat­tung daher, son­dern auch noch mit cd. dadrauf hat falkn­er große teile (lei­der nicht alles) seines gedicht­es gele­sen, und david moss macht ein wenig musik dazu. allerd­ings sehr wenig — das ist ziem­lich ent­täuschend: ein mitschnitt ein­er live-lesung, zu der moss nicht beson­ders viel einge­fall­en ist — ein eher ungewöhn­lich­er zus­tand für diesen kün­stler.

egal, eigentlich geht es ja vor allem um das gedicht. nach­dem mich falkn­ers alte meis­ter nicht so sehr begeis­tern kon­nte, schafft gegen­sprech­stadt das vom ersten bis zum let­zten vers. das ist nicht nur das beste (und in dem umfang auch erste) berlin-gedicht, das ich kenne. das ist auch eine sehr zeit­gemäße form des dicht­ens: mit geschichte gesät­tigt, ohne deshalb so bedeu­tung­shu­berisch-bil­dungss­chw­er daherzukom­men wie die let­zten durs-grün­bein-bände. falkn­er treibt das spiel mit den allu­sio­nen, den zitat­en und den querver­weisen ziem­lich kun­stvoll — und ziem­lich weit. es ist öfters kurz davor, wirk­lich zu ner­ven, die ständi­gen halb-bedeu­ten­den pop­kul­turellen anspielun­gen. aber sie tun es dann meis­tens eben doch nicht. denn “motive bekan­nter gedichte” “sind humus. mon­tageteil. zitat. anlei­he. link. ref­erenz. ver­beu­gung.” (74) — ein klein­er hieb auf die “poplit­er­at­en” darf in einem solchen fall nicht fehlen: “eine zeit, in der man bei kün­stlern / wenn man sie auszieht / auf ck- oder joop!-unterwäsche stößt / (als let­zte schicht sozusagen / vor der eigentlichen inspi­ra­tion) / ist reif für eine revi­sion / sie sollte bei tsche­chow / wieder in die lehre gehen, / oder mit pyn­chon her­auszufind­en ver­suchen / wo die wirk­lichen ver­fol­ger steck­en / damit sie zurück­find­et / (um im bild der sprache zu bleiben) / zum ehrlichen baum­woll­ripp mit ein­griff / denn große poe­sie / auch wo sie glück­lich ver­wirrt / ist marken und mod­en abhold” (36)

das ganze chang­iert dann ziem­lich unregelmäßig (nach dem ersten lek­türeein­druck) zwis­chen his­torisch vorge­formten langgedicht und der vor­liebe für einze­limpres­sio­nen, aneinan­derg­erei­ht und sequen­ziert. die üergänge — und das macht gegen­sprech­stadt wahrschein­lich so geschmei­dig — bleiben aber immer fließend. denn falkn­er schafft es eben, dem alltäglichen nachzublick­en, das musikalis­che detail der stadt berlin über­all zu find­en und in worte zu fassen — aber auch, die großen momente, die rev­o­lu­tio­nen und katas­tro­phen, den 11. sep­tem­ber, den 3. okto­ber und den 15. märz (falkn­ers geburt­stag, iden des märz) mit einzubeziehen.

rhyth­misch erscheint das aufs erste, ohne genauere analyse, sehr leicht und unbeschw­ert: ein ungezwun­gener umgang mit vers­for­men macht das gedicht — und davon legt ger­ade falkn­ers lesung beson­ders deut­lich zeug­nis ab — sehr fließend. diese “poly­mere poe­sie”, wie der autor das nen­nt, kreist immer wieder um phänomene der zeit, ihrer sub­jek­tiv total zer­split­terten wahrnehmung, um das zählen. sprache scheint da als medi­um und bewe­gung gle­icher­maßen ret­tung zu bieten — als flucht­punkt und als ver­ar­beitungsmöglichkeit: “auch dieses gedicht ist ein gedicht ohne einen / helden ist natür­lich ein gedicht / ohne einen helden ist natür­lich / ein gedicht” (56). und ein gedicht ist das hier auf jeden fall — ein wirkl­cih beein­druck­endes — schon lange nicht mehr so begeis­tert lyrik ver­schlun­gen.

ger­hard falkn­er: gegen­sprech­stadt — ground zero. gedicht & cd mit music by david moss. idstein: kook­books 2005.

30 Jahre Krieg als Trauma und integrierender Faktor für Deutschland

„der dreißigjährige krieg ist das bis ins 20. jahrhun­dert nach­wirk­ende trau­ma des deutschen volkes.“ (83) heißt es in georg schmidts klein­er abhand­lung der dreißigjährige krieg (münchen: beck 6/2003). als solch­er hat er natür­lich entsprechend viele (um-)deutungen und vere­in­nah­mungen erfahren. georg schmidt, ein aus­gewiesen­er ken­ner der deutschen geschichte und spezial­ist für das alte reich hat sich davon nur insofern beein­druck­en lassen, als er sich um ein möglichst sach­liche und zunächst wert­neu­trale darstel­lung der abläufe und geschehnisse bemüht. beson­deren stel­len­wert erfahren in sein­er darstel­lung immer wieder die vielfälti­gen kreuz- und quer liegen­den verbindun­gen, die eine wirk­liche kausal­ität der geschehnisse ger­ade dieser zeit so schw­er erken­nen lassen und leicht für ver­wirrung sor­gen. schmidt hat das prob­lem ziem­lich gut und überzeu­gend gemeis­tert, sein klein­er text ist trotz der enor­men konzen­tra­tion noch erstaunlich gut les­bar und leicht ver­ständlich – auch ohne allzu großes vor­wis­sen.

tre­f­fend schon die sich verbinden­den ursachen, die ver­kno­ten­den lin­ien der auflö­sung der reichs­ge­walt oder der kohä­sion des reich­es durch die von der kon­fes­sion­al­isierung und ihrer immer wieder auf­flam­menden rival­itäten sowie der ver­härteten lager­bil­dung in katholis­che liga und protes­tantis­che union erre­icht­en block­ade der entschei­den­den insti­tu­tio­nen (reich­skam­merg­ericht, reichsver­samm­lung, reich­stag etc.). was insofern beson­ders prob­lema­tisch ist, als das reich in sein­er kom­pliziert aus­tari­erten ver­fass­theit ganz beson­ders auf den kon­sens aller beteiligten angewiesen war. in dem zusam­men­hang spielt natür­lich vor allem das recht­sys­tem des reich­es eine beson­dere rolle: mit dem eher protes­tantisch aus­gerichteten reich­skam­merg­ericht und dem eher kaiser­na­hen reichshofrat standen zwei große juris­tis­che reg­u­lar­ien zur ver­fü­gung, die auch rege genutzt wur­den. der dreißigjährige krieg führt also zu ein­er (erneuten) ver­rechtlichung des deutschen staatenge­bildes, die jet­zt mit den para­graphen der west­fälis­chen friede vor allem die macht des kaisers und damit eines ein­heitlichen, zen­tralen monar­chis­chen sys­tems in deutsch­land erhe­blich ein­schränkt, ander­er­seits auch – wieder – die grund­la­gen für die abso­lutis­tis­che territorialherrschaft(en) sichert – zwar unter ein­bezug der stände, aber eben im großen und ganzen mit der später offen­bar wer­den­den ten­denz zur zer­split­terung des reichs-gebi­etes. schmidt zeigt dabei ins­beson­dere die kon­ti­nu­itäten zur zeit vor dem dreißigjähri­gen krieg auf: „all dies hat­te sich bere­its vor dem dreißigjähri­gen krieg eingepen­delt, und all dies ließ der west­fälis­che frieden unange­tastet.“ (82) – schmidt spricht deshalb auch von einem „beina­he per­fek­ten poli­tis­chen sys­tem, das allen beteiligten grup­pen rechte, freiräume und teil­habe­möglichkeit­en garantierte, ohne deswe­gen seine hand­lungs­fähigkeit einzbüßen.“ (98) und er weist darauf hin, dass ins­beson­der die zer­störung der „alten über­re­gionalen wirtschafts­beziehun­gen“ durch die kriegsereignisse wesentlich zum auf­stieg des abso­lutismus beitru­gen: jed­er lan­des­fürst musste nun selb­st „reg­ulierend in das sozial- und wirtschaftssys­tem ein­greifen“ (92), um das land aus der ökonomis­chen starre der kriegszeit wieder zu erweck­en. dabei ist allerd­ings auch wieder zu beacht­en: „in deutsch­land fand allerd­ings wed­er während noch nach dem krieg eine großflächige wirtschaftliche mod­ernisierung statt.“ (93) dementsprechend kam es ende der 1640er auch nicht zum ökonomis­chen boom (angesichts der zer­störun­gen ein­er­seits und des bevölkerungsrück­gangs ander­er­seits dur­chaus denkbar), son­dern nur zu ein­er müh­samen wieder­bele­bung. analoges kann schmdit für das soziale sys­tem kon­sta­tieren: „der dreißigjährige krieg erscheint mit blick auf das gesellschaftssys­tem als stör­fall ohne große nach­wirkun­gen: aus der aus­nahme­si­t­u­a­tion wech­sel­ten die men­schen zurück in ihren all­t­ag“ (95).

weit­er­hin legt er beson­deren wert auf die verknüp­fung der (eigentlich) deutschen prob­leme mit let­ztlich ganz europa, unter beson­der­er beach­tung der auswirkun­gen auf deutsche staatlichkeit. deshalb untern­immt schmidt auch die abwehr des 1998 aufgekomme­nen schlag­wortes vom „europäis­chen frieden“ – ihm geht es v.a. darum, „krieg und frieden als inte­gri­erende fak­toren der deutschen nation­algeschichte zu begreifen“ (103) das schlägt sich entschei­dend in der darstel­lung nieder. ins­beson­dere die motive erfahren eine entsprechende würdi­gung: es geht nicht darum, richtig oder falsch zu kon­sta­tieren, son­dern (mögliche) grün­des dieses und jenes han­dlens aufzuzeigen – darin ist schmidt sehr kon­se­quent. was man evtl. bemän­geln kön­nte, ist sein hang, alle oder doch zumin­d­est die meis­ten geschehen und ver­wick­lun­gen nicht nur in ihrer (ver­muteten) kausal­ität zu beschreiben, son­dern dies so zu tun, dass sie gerne als zwangsläu­fige, einzig mögliche entwick­lun­gen daste­hen. am schlecht­esten komm dabei fer­di­nand II. weg, der immer wieder vorge­hal­ten bekommt, dass er mit seinem stur katholizis­tis­chem behar­ren auf dem rekon­sti­tu­tionsedikt viele chan­cen zum früheren frieden ver­spielt habe. so schreibt schmidt den krieg dann vor allem als geschichte von macht­drän­gen, nicht einge­hal­te­nen absprachen und gegen­seit­i­gen ver­suchen der übertrump­fung bzw. auss­chal­tung zwis­chen den fürsten, in denen die kon­fes­sion bald und oft genug kaum mehr als ein anlass war – allerd­ings auf bei­den seit­en…

ein beson­deres augen­merk erfährt natür­lich wal­len­stein, der hier als (let­zer) krieg­sun­ternehmer mit maßge­blichem ein­fluss auf das geschehen in deutsch­land porträtiert wird – nicht nur mil­itärisch, son­dern auch poli­tisch (durch sein eigenes macht­streben und vor allem als angstkulisse für kaiser, hab­s­burg­er und den rest der liga). das ist angenehm sach­lich und ohne unnötige über­höhung oder dämon­isierung, ander­er­seits auch ohne allzu denkmal­stürz­erischen ges­tus. ähn­lich­es gilt für den nüchtern-skep­tis­chen blick auf gus­tav adolf (genau, den „löwen aus mit­ter­nacht“).

zusam­men genom­men „…wird deut­lich, wie wichtig das lock­er gefügte poli­tis­che sys­tem des heili­gen römis­chen reich­es deutsch­er nation für die europäis­che ord­nung war. das nicht expan­sive reich stellte keine gebi­et­sansprüche an seine nach­barn und paßte sich jed­er ver­schiebung im mächt­esys­tem an. es wirk­te als überdi­men­sion­aler puffer zwis­chen den staat­en und mächt­en: jed­er suchte und fand hier ver­bün­dete. das reich und die vor­mod­erne europäis­che frieden­sor­d­nung bed­ingten einan­der.“ (64)
der sehr zu empfehlende band wird dann noch durch eine aus­führliche, gut kom­men­tierte bib­li­ogra­phie, die lei­der etwas unüber­sichtlich gewor­den ist, abgerun­det.

junge musik im staatstheater

beim konz­ert für junge leute im staat­sthe­ater — sehr schön zu beobacht­en, wie sich eine inter­pre­ta­tion noch entwick­eln kann. und was es für einen unter­schied macht, wenn das orch­ester mit lust und laune und etwas entspan­nter spielt:

für eine ordentliche por­tion musikalis­chen jugend­wahns ist das konz­ert für junge leute genau der richtige platz. cather­ine rück­wardt hat sich zum let­zten konz­ert dieser rei­he in der laufend­en spielzeit nicht nur musik von jun­gen kom­pon­is­ten aus­ge­sucht, son­dern auch einen sehr jun­gen mainz­er pianis­ten ein­ge­laden. arne gieshoff hat zwar im ver­gan­genen jahr den bun­deswet­tbe­werb von jugend musiziert gewon­nen, wirkt aber immer noch sehr zurück­hal­tend und ver­schlossen: die zugabe musste die diri­gentin richtig aus ihm her­auskitzeln. und sie war dann auch kein bravoustückchen, son­dern ein eigenes inter­mez­zo, ein nach­den­klich-med­i­ta­tive miniatur. bravour gab’s davor auch mehr als genug: denn in chopins opus 2, den vari­a­tio­nen über ein the­ma aus mozarts don gio­van­ni, muss der pianist über eine solide tech­nik ver­fü­gen. gieshoff kann das, und so kon­nte nicht viel schief gehen beim vir­tu­osen wirbel. was ihm allerd­ings noch ein wenig fehlt, ist ein­er­seits die behaup­tung gegenüber dem orch­ester. und die klan­gliche gestal­tung – es klingt ein­fach noch zu ein­seit­ig, um wirk­lich die ganze par­ti­tur zu erfassen. aber das wäre von einem 17-jähri­gen wohl zu viel ver­langt. denn nicht jed­er gute musik­er ist gle­ich ein genie wie chopin oder mozart. die haben, und dafür gab das konz­ert genug stoff, in dem alter schon ziem­lich aus­ge­fuchst kom­poniert – chopin eben die vari­a­tio­nen. und mozart war auch erst zwei jahre älter, als er „la fin­ta gia­r­diniera“ kom­ponierte. mit einem zügi­gen marsch durch die ouvertüre hat­te das phil­har­monis­che staat­sor­ch­ester den abend eröffnet. ans andere ende von mozarts leben führte sie das pub­likum dann mit mozarts g‑moll sin­fonie. die hat rück­wardt im moment wohl beson­ders ins herz geschlossen. nach der auf­führung im acht­en sin­fonikonz­ert und dem son­derkonz­ert in der phönix­halle nahm sie mozarts let­zte sin­fonie nun auch noch in das konz­ert für die jun­gen leute. und die stete beschäf­ti­gung mit mozart tut sowohl dem orch­ester als auch der musik gut. wenn dazu noch die famil­iäre atmo­sphäre dieses konz­ertes kommt, klingt das nicht ganz anders als im let­zten sin­foniekonz­ert, aber doch ein ganzes stück freier und unbe­sorgter. mit druck­voller wucht und kräfti­gen impulsen musizieren sie und machen die let­zten bei­den sätze zu einem richti­gen bedro­hungsszenario, so klar kon­turi­ert und drän­gend packt rück­wardt das an. noch ein paar auf­führrun­gen und das wird richtig spitze.

kroetz gibt auf

heute gele­sen in ein­er der liegen gebliebe­nen aus­gaben der süd­deutschen von let­zter woche (die nachricht beruht auf ein­er vor­ab­mel­dung der zeit):

franz xaver kroetz hat genug. nach­dem er zwei jahre an seinem neuesten the­ater­stück „tänz­erin­nen & drück­er” gesessen habe und von seinem jüng­sten gedicht­band lediglich 490 exem­plare verkauft habe, wolle er das schreiben kün­ftig sein lassen. auch auf der bühne werde man ihn nicht mehr sehen, sagte kroetz, der sich selb­st als ‚depres­siv­er, aus­ge­bran­nter schrift­steller’ beze­ich­net: ‘mit dem schaus­piel­ern ist es ja auch vor­bei. als regis­seur will ich arbeit­en.

ob das jet­zt eine gute nachricht ist? nach dem let­zten erzäh­lungs­band kann ich immer­hin seinen entschluss befür­worten, mit dem schreiben aufzuhören … doch ob er als regis­seur noch etwas vernün­ftiges hin­bekommt, entzieht sich allerd­ings mein­er ken­nt­nis. aber wenn er wirk­lich so sparsam ist, dann muss er ja höchst­wahrschein­lich auch nicht mehr viel arbeit­en…

elisabeth hagedorn singt sich durch die romantik

zum abschied aus dem mainz­er ensem­ble hat die sän­gerin elis­a­beth hage­dorn sich aus­gerech­net einen lieder­abend aus­gedacht — mit einem ziem­lich kun­ter­bun­ten pro­gramm und dur­chaus wech­sel­haften qual­itäten:

was wohl passieren würde, wenn diese frau wirk­lich am rhein stünde und sänge? gut, ihre haare sind ein wenig kurz – aber son­st möchte man sich lieber nicht vorstellen, welche fol­gen ein lied­vor­trag eliz­a­beth hage­dorns am lorelei-felsen auf die rhein­schiff­fahrt hätte. im kleinen haus set­zte sie in gülden­em kleid und rotem schal jeden­falls scham­los so ziem­lich alle ver­führungskün­ste ein, über die eine sän­gerin von ihrem for­mat gebi­etet. und wenn sie dann also traumver­loren am flügel lehnt und die berühmten verse der „lorelei“ in der ver­to­nung von franz liszt singt, ist die volle macht der musik zu spüren. darum geht es ihr an diesem abend, einem abschied aus dem mainz­er ensem­ble, offen­bar. so ganz klar war das zunächst aber nicht. denn während der noten­stän­der kon­tinuier­lich von ein­er seite auf die andere wan­dert, wird ganz schnell klar: das spie­len ist ihre wahre domäne. da, wo sie als sän­gerin und schaus­pielerin gefragt ist, singt sie auch am besten: bei richard strauss, bei franz liszt und alban berg und auch noch bei den liedern von charles ives. mit robert schu­mann und johannes brahms hat sie allerd­ings noch zwei kom­pon­is­ten auf ihrem pro­gramm, die viel mehr intim­ität und absolute klarheit im detail fordern. und das ist ihre stärke an diesem abend nicht so ganz. schu­manns „bel­sazar“ singt sie etwa mit spek­takulärem stimm­lichen aufwand – das reißt schon mit. aber das lässt auch viel unterge­hen, von der ironie des heines-gedicht­es ist nicht mehr viel zu spüren. auch die schlicht­en volk­slied­ver­to­nun­gen von brahms passen nicht so recht zu ihrem stil: selb­st hier sucht sie noch nach der großen bühne, dem the­ater in der musik.

dort, wo der kom­pon­ist genau das ver­langt, ist sie dann aber auch wirk­lich beein­druck­end. etwa richard strauss – schon das erste lied von ihm, „die nacht“, zeigt nicht nur die streng kon­trol­lierte tech­nik, son­dern auch die tre­f­fende sub­til­ität und das klan­gliche eben­maß ihrer stimme. auch ihr pianist andreas stoehr kann mit spin­nweb-feinen begleit­fig­uren wirk­lich überzeu­gen.

und so geht es dann auch den restlichen abend weit­er. ob mit der idyl­lisch-reinen süße von liszts „fis­cherkn­abe“ oder alban bergs „nachti­gall“: eliz­a­beth hage­dorn serviert immer genau die richtige por­tion expres­siv­ität, wech­selt vom empfind­samen ver­weilen zu schweben­den traumgedanken und lässt schließlich auch noch die schlichte poe­sie der musik von charles ives erblühen. und immer wieder wan­dert der noten­stän­der von der einen seite zur andern. ein glück nur, das diese geballte por­tion ver­führung und verzück­ung auf der bühne des kleinen haus­es nie­man­den von seinem weg ablenken kon­nte.

ironische musik? schumanns heine-vertonungen unter der lupe

robert schu­mann und hein­rich heine, die bei­den großen genies der roman­tik, haben in diesem jahr ihren 150. todestag — auch wenn sich mozart vor­drängt. dabei ist ger­ade dieses traumpaar viel inter­es­san­ter. und es ist auch noch lange nicht alles gesagt. bei­de verbindet näm­lich nicht nur das jahr ihres todes, son­dern auch ein blick für die jew­eils andere kun­st. bei­de waren außer­dem wun­der­bare musikschrift­steller. und nicht zulet­zt hat schu­mann eben heine öfter ver­tont als jeden anderen dichter. diese lieder mussten allerd­ings im laufe der zeit so einige unbill erfahren. genau das hat thomas syn­ofzik, direk­tor des robert-schu­mann-haus­es in zwick­au, offen­bar gereizt. denn seine pünk­tlich zum jubiläum erschienene studie hat zwei ziele: zum einen will syn­ofzik mit der rezep­tion­s­geschichte mal so richtig aufräu­men. und er will das ver­hält­nis von musik und ironie unter die lupe nehmen. der titel ver­spricht dabei allerd­ings ein wenig mehr als das buch ein­lösen kann. denn sein fokus bleibt beschränkt: es geht um die heine-lieder — und um nichts anderes.

der ver­such, der roman­tis­chen ironie über­haupt ana­lytisch hab­haft zu wer­den, macht den anfang. syn­ofzik sieht sie vor allem als aus­druck der ambivalenz und der ambi­gu­i­tät. das beobachtet er in heines lyrik und danach sucht er in seinen detail­lierten har­monis­chen, metrischen, melodis­chen und struk­turellen analy­sen der musik. und er find­et dabei so viele und ein­deutige musikalis­chen umset­zun­gen der ironie, dass man die früheren ver­suche, genau das schu­manns ver­to­nun­gen abzus­prechen, kaum glauben mag. ob es nun die boden­lose har­monik des chor­satzes “die lotus­blume”, die tonale ambivalenz von “im wun­der­schö­nen monat mai”, die rossi­ni-per­si­flage in “die rose, die lilie, die taube” oder die para­dox­en schluss­wen­dun­gen und iro­nis­chen pointen — syn­ofzik spürt sie mit viel ana­lytis­chem geschick und scharf­blick auf. was seinem buch ger­ade am ende der lek­türe allerd­ings ein wenig abge­ht, ist der größere zusam­men­hang. inter­es­sant wäre schon noch, wie sich diese beobach­tun­gen mit anderen lieder schu­manns oder heine-ver­to­nun­gen ander­er kom­pon­is­ten ver­gle­ichen ließen.

thomas syn­ofzik: hein­rich heine — robert schu­mann. musik und ironie. köln: dohr 2006. 191 seit­en. 24,80 euro.

ist reich-ranicki ein literaturkritiker?

die frage ist nicht ganz so banal wie sie scheint. denn es tauchen zumin­d­est bei mir immer wieder zweifel auf. ver­ste­ht er über­haupt, was lit­er­atur ist? und was kri­tik? wenn ich dann heute in der taz ein inter­view mit unser aller liebling mar­cel reich-ran­ic­ki lese, komme ich aus dem verzweifel­ten lachen kaum noch her­aus. denn wenn ein lit­er­aturkri­tik­er sätze von sich gibt wie: “der leser liest büch­er zu einem einzi­gen zweck: um sich die zeit zu vertreiben” — dann ist wohl wirk­lich hopfen und malz ver­loren. dann bleibt uns wohl wirk­lich nur noch elke hei­den­re­ich. aber noch ist es ja nicht so weit. zumin­d­est nicht ganz. ein paar rest-leser gibt es ja noch. son­st würde hand­ke auch keine büch­er verkaufen. über den will mrr sich beze­ich­nen­der­weise gar nicht erst äußern. na ja, wenn man als lit­er­aturkri­tik­er immer noch und immer wieder darauf beste­ht, dass man bei der lek­türe wis­sen muss “in welch­er sit­u­a­tion war der autor”, dann sollte man sich schleug­nist nach einem passenderen gehirn oder einem angemesseneren job umse­hen. so wird das jeden­falls nix mehr — denn was weiß er denn im gün­stig­sten fall über die sit­u­a­tion des autors? er kann vielle­icht raus­bekom­men, ob er materiell abgesichert war. ob er ger­ade irgendwelchen öffentlichen oder offen­sichtlichen ärg­er hat­te und hat. aber son­st? son­st bleibt ihm doch auch nur die lek­türe und der text. und das reicht ja auch, damit hat man doch auch mehr als genug zu tun.

aber reich-ran­ic­ki freut sich lieber über die tolle arbeit, die er mit seinem kanon geleis­tet hat — und hat immer noch nicht kapiert, wie sinn­los und über­flüs­sig diese ganze sache ist. denn erstens ließe er sich mit seinen eige­nen waf­fen schla­gen: wenn er der ansicht ist, büch­er oder lit­er­atur all­ge­mein wür­den nur zum zeitvertreib gele­sen, dann bräuchte ja nie­mand einen kanon, dann kön­nte jed­er lesen, was er lustig fände (und so ist es ja auch). das zeigt ja, wie undurch­dacht und wider­sprüch­lich mrrs posi­tion ist. wer nur den kanon lesen will — braucht er dafür einen kof­fer mit allen tex­ten? nein, natür­lich nicht. und erst recht nicht, wenn die texte sowieso alle ständig ver­füg­bar sind. damit fällt näm­lich reich-ran­ick­is haupt­ab­wehrar­gu­ment gegen kri­tik an sein­er auswahl — die ja, wie er selb­st wieder zugibt, auch eine sub­jek­tive ist, also keinen wirk­lichen “kanon” im eigentlichen sinne darstellt — schon wieder weg: würde es ihm wirk­lich darum gehen, einen verbindlichen kanon zu zemen­tieren, ließe er sich nicht von so läp­pis­chen und rein kom­merziell gedacht­en argu­menten wie dem gewicht der aus­gabe der texte seines kanons bee­in­flussen. dann kön­nte er näm­lich schlicht und ein­fach eine entsprechende liste veröf­fentlichen. aber daran zeigt sich eben: es geht ein­fach um das geld. und nicht um die lit­er­atur. deshalb ist mrr auch kein lit­er­aturkri­tik­er, son­dern — wie auch schon zu zeit­en des litearischen quar­tetts, dessen schwund­stufe jet­zt halt eine solop­er­for­mance von elke hei­den­re­ich ist — nur ein berater für die freizeit­gestal­tung. und das ist etwas ganz anderes.

ist peter licht eine trübe tasse?

ich bleibe jet­zt ein­fach mal bei der früheren schreib­weise als nor­maler name. obwohl die neue kon­trahierte form den kun­stcharak­ter dieser beze­ich­nung ja schon deut­lich­er macht. ander­er­seits war es ja ger­ade der witz, das man (zunächst) nicht wusste, wo der kün­stler aufhört und der men­sch anfängt, der den früheren peter licht inter­es­san­ter gemacht hat. auch die musik sein­er ersten bei­den alben, stratosphären­lieder und 14 lieder, hat mir bess­er gefall­en als sein aktuell­stes, die lieder vom ende des kap­i­tal­is­mus. und zwar nicht nur (aber auch ein wenig) textlich (früher: mehr witz, mehr skuril­litäten, absur­ditäten der gegen­wär­tigkeit), son­dern vor allem musikalisch — wenn peter licht so stin­knor­malen gitar­ren­pop macht, wird das ganze pro­jekt irgend­wie doch eben auch ganz nor­mal und nichts beson­deres mehr. früher war zwar nicht alles bess­er, aber seine musik hat­te den entschei­den­den kick über­drehtheit mehr, der sie inter­es­sant wirken ließ.

aber hier soll es ja eigentlich um sein buch gehen: peter­licht: wir wer­den siegen! buch vom ende des kap­i­tal­is­mus. münchen: blu­men­bar 2006. und das lässt zunächst ein­mal die üblichen befürch­tun­gen wahr wer­den: geschrieben, sozusagen schwarz auf weiß, wirkt das alles nur noch halb so gut — plöt­zlich merkt man eben, wie bil­lig und abgenutzt die wortwitzeleien in wirk­lichkeit schon sind. schwarz auf weiß ist übri­gens falsch, das buch ist in (hell-)blau (mit ein wenig blass­rot) gedruckt. und in ein­er ziem­lich katas­trophalen schrift geset­zt, mit abso­lut unmöglichen i‑ligaturen — sog­ar rück­wärts bei der verbindung gi, die einem das lesen schon fast wieder ver­lei­den. aber immer­hin kann man ja noch peter lichts kugelschreiber-gekritzel bestaunen. aber auch das gab es schon mal, in der per­fek­ten form etwa bei dieter roths tele­fonze­ich­nun­gen — wenn man sich das vor augen hält, wirkt peter licht auf ein­mal wieder wie ein ganz kleines licht (‘tschuldigung, der witz musste jet­zt mal sein).

die absolute und ganz typ­is­che all-round-ver­mark­tung hat inzwis­chen von peter licht besitz ergrif­f­en: musik, the­ater, buch, dem­nächst kommt bes­timmt noch ein kinofilm… auch seine masche mit der anonymität ist natür­lich eben nur eine masche, die bei der ökonomis­chen ver­w­er­tung hil­ft: peter­licht ist die marke, die muss erkennbar sein und sich vom rest abheben. immer­hin behauptet peter licht m.w. nicht, dass es anders sei…

was ist das also für ein buch: das ist ein nettes und hüb­sches sam­mel­suri­um: kleine erzäh­lun­gen, notate, gedanken-fund­stellen, sinnsprüche und natür­lich lied­texte (kom­plett erwartungs­gemäß die “lieder vom ende des kap­i­tal­is­mus”, aber auch andere, ältere — inklu­sive dem fast unver­mei­dlichem “son­nen­deck”, das über­raschen­der­weise zu den gelun­gen­sten seit­en dieses buch­es gehört:

“wenn ich nicht hier bin
bin ich aufm son­nen­deck
bin ich bin ich bin ich bin ich
und wenn ich nicht hier bin
bin ich aufm son­nen­deck
oder im aquar­i­um
bin ich bin ich
und alles was ist
dauert drei sekun­den:
eine sekunde für vorher eine für nach­her
und eine für mit­ten­drin
für da wo der gletsch­er kalbt
wo die sekun­den
ins blaue meer fliegen

und wenn ich nicht hier bin
bin ich aufm son­nen­deck
bin ich bin ich bin ich bin ich”

[mit den drei sekun­den hat er sog­ar mal wirk­lich recht, das haben die psy­cholo­gen ja als die unge­fähre zeitspanne der “gegen­wart” bes­tim­men kön­nen.]

daneben ste­ht aber auch etlich­es an lei­der ziem­lich ein­fältig-prim­i­tiv­en lyrik — zusam­men gemis­cht zu ein­er in jedem zeichen, in jedem banalen gekritzel bedeu­tung sug­gerieren­den mix­tur, die aber auch wieder nur leeres geblub­ber ist. das ganze dreht sich gerne immer wieder um licht & damit ver­bun­dene meta­phern. aber die zweit- oder drittver­w­er­tung sein­er ideen & gedanken, die in ihren ursprünglichen for­men — meist eben dem lied — wesentlich frisch­er & inter­es­san­ter wirken & auch sind, wie das die “trans­syl­vanis­che ver­wandte” sehr deut­lich macht, lässt sich am besten wieder mit peter licht selb­st charak­ter­isieren: “das hier macht lalala und versendet sich” punkt.

seinem spiel­trieb hat er dabei reilich freien lauf gelassen — oft wün­scht man sich nichts sehn­lich­er, als den gebrauch der ver­nun­ft und des ver­standes durch den autor. ich muss dann allerd­ings auch zugeben, dass es nicht ganz so schlimm ist, wie sich das hier jet­zt lesen mag. und dass trotz allem gemeck­er auch ein paar net­tigkeit­en dabei sind. und zwar vor allem da, wo die poet­is­che beschrei­bun­gen ein gle­ichgewicht mit den banal­itäten des all­t­ags, denen sich peter licht so gerne wid­met, auch sprach­lich einge­hen. und außer­dem lässt sich generell beobacht­en: eine gewisse leichtigkeit, ein schweben, — fast wie in der schw­erelosigkeit — die schw­erkraft ist ja, darauf hat peter licht bere­its früher hingewiesen — über­flüs­sig — im wel­traum geht’s ja auch ohne sie…

aber trotz­dem: im gesamten scheint mir das doch eben genau die art von bedeu­tungss­chwan­gerem ger­aune und pseudoin­tellek­tueller pseudokun­st zu sein, die mir den pop in sein­er ein­fachen form der gegen­wart so oft so sehr ver­lei­det. ist das jet­zt wom­öglich ein deutsches phänomen?

der einzelne gegen die masse: meisterkonzert in der rheingoldhalle

was das pro­gramm — beethoven, leonore 3; chris­t­ian jost, lux­aeter­na; rim­s­ki-kor­sakow, schehez­er­ade — zunächst gar nicht so erwarten ließ: ein span­nen­des und wirk­lich gutes, überzeu­gen­des konz­ert bei den meis­terkonz­erten in der rhein­gold­halle. der text trifft es eigentlich auch ohne ergänzun­gen ziem­lich gut:

streng und ernst ste­ht er da, von kopf bis fuß in schlicht­es schwarz gewandt. george pehli­van­ian nimmt seine auf­gabe als diri­gent der staat­sphil­har­monie rhein­land-pfalz aus­ge­sprochen ernst. zum ersten mal war der „erste gast­diri­gent“ des orch­esters beim let­zten meis­terkonz­ert in der mainz­er rhein­gold­halle. und was seine asketis­che dien­stk­lei­dung an ele­ganz ver­mis­sen lässt, macht seine dirigierkun­st wett. so ele­gant und geschmei­dig wie er dirigiert kaum ein orch­ester­leit­er.

da es bei diesem konz­ert aber offen­bar um den gegen­satz zwis­chen indi­vidu­um und gesellschaft, zwis­chen auf­begehren und anpas­sung geht, braucht der mae­stro, der sich so unauf­dringlich in sein orch­ester ein­fügte, einen gewichti­gen wider­sach­er. diese rolle füllte der sax­o­phon­ist arno bornkamp per­fekt aus. er geht ganz in sein­er rolle als kämpferisch­er indi­vid­u­al­ist, die der kom­pon­ist chris­t­ian jost ihm in seinem sax­ophonkonz­ert „lux­aeter­na“ verord­net, auf: mit ums haupt geschlun­genem stirn­band agiert er neben george pehli­van­ian bei der deutschen erstauf­führung fast wie ein stadtgueril­la – da fehlt nur noch die tarn­fleck­en-hose. der diri­gent kämpft unter­dessen um seine läs­sige ele­ganz und muss doch akzep­tieren, dass hier bornkamp die marschrich­tung vorgibt. mit allen möglichkeit­en zwis­chen klaren statet­ments, vib­ri­eren­den gefühlsaus­brüchen, schreien­der verzwei­flung und lamen­tieren­der trauer hil­ft das sax­ophon, die in ständi­ger unsicher­heit immer wieder stock­enden orch­esterk­langfelder zusam­men­zuschweißen. unaufhör­lich bringt das soloin­stru­ment melodis­che frag­mente ins spiel, während das orch­ester stärk­er in far­b­vari­a­tio­nen und raumk­län­gen organ­isiert ist. das ist zwar keine lin­eare erzäh­lung, aber doch eine form der musik, die entwick­lun­gen durch­macht, die plöt­zliche entschei­dun­gen und langes nach­denken, kämpferisches agieren und gelassenes abwarten des kampfes des einzel­nen mit und gegen die gemein­schaft in immer neuen vari­anten verbindet.

der diri­gent hat da ver­gle­ich­sweise wenig zu sagen. sein tak­stock, der sich bei beethovens drit­ter leonoren-ouvertüre als gefährlich spitzes flo­rett gebärdete, darf hier nur noch als uner­bit­tlich­er tak­t­ge­ber fungieren. dafür kann er bei niko­lai rim­s­ki-kor­sakows schehez­er­ade zum tänzel­nden, unberechen­baren der­wisch wer­den. denn pehli­van­ian spielt das orch­ester mit seinen hän­den wie ein großes instru­ment: er malt ihnen die musik förm­lich in die luft. und die lud­wigshafen­er reagieren auf diese führung wun­der­bar geschmei­dig und ein­mütig. eine blendende mis­chung aus war­men, gedeck­ten klang­far­ben und plas­tisch-kör­per­haft greif­baren struk­turen wird das – nicht nur eine augen­wei­de, son­dern auch ein ohren­schmaus.

Sprache und die Unmöglichkeiten ihrer Kritik

so, der nach­trag vom woch­enende. meine hauptlek­türe: das neueste buch von dieter e. zim­mer: sprache in zeit­en ihrer unverbesser­lichkeit. ham­burg: hoff­mann und campe 2005. ins­ge­samt nicht ganz so erquick­lich wie ich es mir erhoffte.
grund­sät­zlich hat er ja die richti­gen ideen, ins­beson­dere im ersten kapi­tel zu den grund­säztlichen möglichkeit­en der sprachkri­tik — auch wenn das arg auss­chweifend und pen­e­trant redun­dant for­muliert ist. später freilich krankt seine darstel­lung — und auch schon sein gedanken­gang — v.a. zum pri­vat­en schriftlichen all­t­ags­deutsch an einem abso­lut untauglichen kor­pus (nur inter­net-quellen, noch dazu solche wie ebay-auk­tio­nen…) und sein­er wiederum weit aus­holen­den, aber arg ein­seit­i­gen diskus­sion des anglizismen-“problems”.

im zen­trum (auch ganz pro­fan in der mitte des buch­es) des ganzen ste­ht sich­er nicht zufäl­lig die rechtschrei­bung und ihre reform inklu­sive der ausufer­n­den debat­te dazu und über­haupt die reform­fähigkeit von rechtschreib­vorschriften. hier hat zim­mer dur­chaus vernün­ftige vorschläge — was vor allem an sein­er dezi­diert prag­ma­tis­chen aus­rich­tung liegt. reform sollte schon mal sein, aber vor allem ein wenig bess­er durch­dacht, kon­se­quenter und auch jet­zt noch mit eini­gen mod­i­fika­tio­nen — etwa bei der von zim­mer abgelehn­ten, sin­nwidri­gen und unäs­thetis­chen mech­a­nis­chen tren­nung sowie natür­lich bei der getren­nt- und zusam­men­schrei­bung.
der gesamte zweite teil dient vor allem zwei zweck­en: der offizielle grund ist wohl, zu zeigen, dass große teile der lin­guis­tik aus falschen grün­den die sprachkri­tik ablehnen. der eigentlich grund scheint aber eher zu sein: seht her, das habe ich alles gele­sen, das kenne und beherrsche ich alles. zim­mer bedi­ent sich dafür äußrst großzügig am buf­fet der sprach­wis­senschaft, lässt aber auch ganz große bere­iche ein­fach außer acht, scheint sie noch nicht ein­mal zu ken­nen. das bet­rifft vor allem neuere the­o­rien sowohl der gram­matik (natür­lich nimmt er von der opti­mal­ität­s­the­o­rie keine notiz), aber auch fast die kom­plette, inzwis­chen ja sehr exper­i­mentell aus­gerichtete, psy­cholin­guis­tik würdigt er keines blick­es. entsprechend alt­back­en und mager sind die ergeb­nisse. über das niveau der ein­führungs-pros­em­inare kommt er kaum her­aus. und auch da beschränkt er sich schon außeror­dentlich stark: auf­grund seines ver­ständ­niss­es von sprachkri­tik (das er so freilich nie expliziert) als kri­tik v.a. der wort-seman­tik und des “richti­gen” gebrauchs der wörter, mit ein wenig syn­tax dazu, lässt er große teile der sprach­wis­senschaft außer acht, u.a. eben die teile der seman­tik, die über das einzelne wort hin­aus­ge­hen — das, was ja erst so richtig span­nend wird…

er bemüht sich sehr, die neu­tral­ität der lin­guis­tik zurück­zuweisen — allerd­ings aus falschen grün­den. im kern behauptet zim­mer näm­lich, die lin­guis­tik sei ide­ol­o­gisch kon­t­a­miniert und deshalb nicht wil­lens, sprachkri­tik zu betreiben. das macht er vor allem am nativis­mus der (post-)chomsky’schen aus­prä­gung fest, den er aber sehr entstellt und längst nicht mit seinen aktuelleren entwick­lun­gen vorstellt. wenn er etwa viel mühe darauf ver­wen­det, zu zeigen, dass lexi­ka nicht ange­boren sein kön­nen, weil dafür gar nicht genug “spe­icher­platz” in den genen sei, zeigt er vor allem, wie wenig er ver­standen hat. denn wenn ich recht sehe, glaubt das doch sowieso nie­mand mehr — es geht doch ger­ade darum, dass die zugrun­deliegen­den struk­turen genetisch ver­mit­telt wer­den und dann mit­tels des inputs “gefüllt” wer­den. das ist alles umso erschreck­ender, als zim­mer ger­ade den lin­guis­ten falsche und ide­ol­o­gis­che motivierte schlussfol­gerun­gen vor­wirft — seine eige­nen schlüsse erscheinen mir aber wesentlich fahrläs­siger und ein­seit­iger. das prob­lem der vererbung bzw. der entwick­lung eines “sprach­gens” scheint mir gar nicht so sehr ein prob­lem zu sein: es wurde inzwis­chen ja dur­chaus gezeigt, dass kom­plexe sys­tem sich der­art entwick­eln kön­nen — das beste beispiel dafür ist ja das auge (wom­it die kreation­is­ten ja so gerne argu­men­tieren). aber so etwas nimmt zim­mer genau­so wenig zur ken­nt­nis wie neuere forschun­gen zur evo­lu­tionären lern­barkeit von sprache, die in exper­i­menten (mit algo­rith­men etc.) ja inzwis­chen dur­chaus gesichert ist.

“lass deine sprache nicht allein” ist zim­mers faz­it — damit hat er ja recht. nur seine gründe sind lei­der die falschen. denn die lin­guis­ten dür­fen das dur­chaus — und zwar genau so, wei biolo­gen nicht naturschützer sein müssen.

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