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Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

ist reich-ranicki ein literaturkritiker?

die fra­ge ist nicht ganz so banal wie sie scheint. denn es tau­chen zumin­dest bei mir immer wie­der zwei­fel auf. ver­steht er über­haupt, was lite­ra­tur ist? und was kri­tik? wenn ich dann heu­te in der taz ein inter­view mit unser aller lieb­ling mar­cel reich-rani­cki lese, kom­me ich aus dem ver­zwei­fel­ten lachen kaum noch her­aus. denn wenn ein lite­ra­tur­kri­ti­ker sät­ze von sich gibt wie: „der leser liest bücher zu einem ein­zi­gen zweck: um sich die zeit zu ver­trei­ben“ – dann ist wohl wirk­lich hop­fen und malz ver­lo­ren. dann bleibt uns wohl wirk­lich nur noch elke hei­den­reich. aber noch ist es ja nicht so weit. zumin­dest nicht ganz. ein paar rest-leser gibt es ja noch. sonst wür­de hand­ke auch kei­ne bücher ver­kau­fen. über den will mrr sich bezeich­nen­der­wei­se gar nicht erst äußern. na ja, wenn man als lite­ra­tur­kri­ti­ker immer noch und immer wie­der dar­auf besteht, dass man bei der lek­tü­re wis­sen muss „in wel­cher situa­ti­on war der autor“, dann soll­te man sich schleug­nist nach einem pas­sen­de­ren gehirn oder einem ange­mes­se­ne­ren job umse­hen. so wird das jeden­falls nix mehr – denn was weiß er denn im güns­tigs­ten fall über die situa­ti­on des autors? er kann viel­leicht raus­be­kom­men, ob er mate­ri­ell abge­si­chert war. ob er gera­de irgend­wel­chen öffent­li­chen oder offen­sicht­li­chen ärger hat­te und hat. aber sonst? sonst bleibt ihm doch auch nur die lek­tü­re und der text. und das reicht ja auch, damit hat man doch auch mehr als genug zu tun.

aber reich-rani­cki freut sich lie­ber über die tol­le arbeit, die er mit sei­nem kanon geleis­tet hat – und hat immer noch nicht kapiert, wie sinn­los und über­flüs­sig die­se gan­ze sache ist. denn ers­tens lie­ße er sich mit sei­nen eige­nen waf­fen schla­gen: wenn er der ansicht ist, bücher oder lite­ra­tur all­ge­mein wür­den nur zum zeit­ver­treib gele­sen, dann bräuch­te ja nie­mand einen kanon, dann könn­te jeder lesen, was er lus­tig fän­de (und so ist es ja auch). das zeigt ja, wie undurch­dacht und wider­sprüch­lich mrrs posi­ti­on ist. wer nur den kanon lesen will – braucht er dafür einen kof­fer mit allen tex­ten? nein, natür­lich nicht. und erst recht nicht, wenn die tex­te sowie­so alle stän­dig ver­füg­bar sind. damit fällt näm­lich reich-rani­ckis haupt­ab­wehr­ar­gu­ment gegen kri­tik an sei­ner aus­wahl – die ja, wie er selbst wie­der zugibt, auch eine sub­jek­ti­ve ist, also kei­nen wirk­li­chen „kanon“ im eigent­li­chen sin­ne dar­stellt – schon wie­der weg: wür­de es ihm wirk­lich dar­um gehen, einen ver­bind­li­chen kanon zu zemen­tie­ren, lie­ße er sich nicht von so läp­pi­schen und rein kom­mer­zi­ell gedach­ten argu­men­ten wie dem gewicht der aus­ga­be der tex­te sei­nes kanons beein­flus­sen. dann könn­te er näm­lich schlicht und ein­fach eine ent­spre­chen­de lis­te ver­öf­fent­li­chen. aber dar­an zeigt sich eben: es geht ein­fach um das geld. und nicht um die lite­ra­tur. des­halb ist mrr auch kein lite­ra­tur­kri­ti­ker, son­dern – wie auch schon zu zei­ten des liteari­schen quar­tetts, des­sen schwund­stu­fe jetzt halt eine solo­per­for­mance von elke hei­den­reich ist – nur ein bera­ter für die frei­zeit­ge­stal­tung. und das ist etwas ganz ande­res.

ist peter licht eine trübe tasse?

ich blei­be jetzt ein­fach mal bei der frü­he­ren schreib­wei­se als nor­ma­ler name. obwohl die neue kon­tra­hier­te form den kunst­cha­rak­ter die­ser bezeich­nung ja schon deut­li­cher macht. ande­rer­seits war es ja gera­de der witz, das man (zunächst) nicht wuss­te, wo der künst­ler auf­hört und der mensch anfängt, der den frü­he­ren peter licht inter­es­san­ter gemacht hat. auch die musik sei­ner ers­ten bei­den alben, stra­to­sphä­ren­lie­der und 14 lie­der, hat mir bes­ser gefal­len als sein aktu­ells­tes, die lie­der vom ende des kapi­ta­lis­mus. und zwar nicht nur (aber auch ein wenig) text­lich (frü­her: mehr witz, mehr sku­r­il­li­tä­ten, absur­di­tä­ten der gegen­wär­tig­keit), son­dern vor allem musi­ka­lisch – wenn peter licht so stink­nor­ma­len gitar­ren­pop macht, wird das gan­ze pro­jekt irgend­wie doch eben auch ganz nor­mal und nichts beson­de­res mehr. frü­her war zwar nicht alles bes­ser, aber sei­ne musik hat­te den ent­schei­den­den kick über­dreht­heit mehr, der sie inter­es­sant wir­ken ließ.

aber hier soll es ja eigent­lich um sein buch gehen: peter­licht: wir wer­den sie­gen! buch vom ende des kapi­ta­lis­mus. mün­chen: blu­men­bar 2006. und das lässt zunächst ein­mal die übli­chen befürch­tun­gen wahr wer­den: geschrie­ben, sozu­sa­gen schwarz auf weiß, wirkt das alles nur noch halb so gut – plötz­lich merkt man eben, wie bil­lig und abge­nutzt die wort­wit­ze­lei­en in wirk­lich­keit schon sind. schwarz auf weiß ist übri­gens falsch, das buch ist in (hell-)blau (mit ein wenig blass­rot) gedruckt. und in einer ziem­lich kata­stro­pha­len schrift gesetzt, mit abso­lut unmög­li­chen i‑ligaturen – sogar rück­wärts bei der ver­bin­dung gi, die einem das lesen schon fast wie­der ver­lei­den. aber immer­hin kann man ja noch peter lichts kugel­schrei­ber-gekrit­zel bestau­nen. aber auch das gab es schon mal, in der per­fek­ten form etwa bei die­ter roths tele­fon­zeich­nun­gen – wenn man sich das vor augen hält, wirkt peter licht auf ein­mal wie­der wie ein ganz klei­nes licht (‚tschul­di­gung, der witz muss­te jetzt mal sein).

die abso­lu­te und ganz typi­sche all-round-ver­mark­tung hat inzwi­schen von peter licht besitz ergrif­fen: musik, thea­ter, buch, dem­nächst kommt bestimmt noch ein kino­film… auch sei­ne masche mit der anony­mi­tät ist natür­lich eben nur eine masche, die bei der öko­no­mi­schen ver­wer­tung hilft: peter­licht ist die mar­ke, die muss erkenn­bar sein und sich vom rest abhe­ben. immer­hin behaup­tet peter licht m.w. nicht, dass es anders sei…

was ist das also für ein buch: das ist ein net­tes und hüb­sches sam­mel­su­ri­um: klei­ne erzäh­lun­gen, nota­te, gedan­ken-fund­stel­len, sinn­sprü­che und natür­lich lied­tex­te (kom­plett erwar­tungs­ge­mäß die „lie­der vom ende des kapi­ta­lis­mus“, aber auch ande­re, älte­re – inklu­si­ve dem fast unver­meid­li­chem „son­nen­deck“, das über­ra­schen­der­wei­se zu den gelun­gens­ten sei­ten die­ses buches gehört:

„wenn ich nicht hier bin
bin ich aufm son­nen­deck
bin ich bin ich bin ich bin ich
und wenn ich nicht hier bin
bin ich aufm son­nen­deck
oder im aqua­ri­um
bin ich bin ich
und alles was ist
dau­ert drei sekun­den:
eine sekun­de für vor­her eine für nach­her
und eine für mit­ten­drin
für da wo der glet­scher kalbt
wo die sekun­den
ins blaue meer flie­gen

und wenn ich nicht hier bin
bin ich aufm son­nen­deck
bin ich bin ich bin ich bin ich“

[mit den drei sekun­den hat er sogar mal wirk­lich recht, das haben die psy­cho­lo­gen ja als die unge­fäh­re zeit­span­ne der „gegen­wart“ bestim­men kön­nen.]

dane­ben steht aber auch etli­ches an lei­der ziem­lich ein­fäl­tig-pri­mi­ti­ven lyrik – zusam­men gemischt zu einer in jedem zei­chen, in jedem bana­len gekrit­zel bedeu­tung sug­ge­rie­ren­den mix­tur, die aber auch wie­der nur lee­res geblub­ber ist. das gan­ze dreht sich ger­ne immer wie­der um licht & damit ver­bun­de­ne meta­phern. aber die zweit- oder dritt­ver­wer­tung sei­ner ideen & gedan­ken, die in ihren ursprüng­li­chen for­men – meist eben dem lied – wesent­lich fri­scher & inter­es­san­ter wir­ken & auch sind, wie das die „trans­syl­va­ni­sche ver­wand­te“ sehr deut­lich macht, lässt sich am bes­ten wie­der mit peter licht selbst cha­rak­te­ri­sie­ren: „das hier macht lala­la und ver­sen­det sich“ punkt.

sei­nem spiel­trieb hat er dabei rei­lich frei­en lauf gelas­sen – oft wünscht man sich nichts sehn­li­cher, als den gebrauch der ver­nunft und des ver­stan­des durch den autor. ich muss dann aller­dings auch zuge­ben, dass es nicht ganz so schlimm ist, wie sich das hier jetzt lesen mag. und dass trotz allem geme­cker auch ein paar net­tig­kei­ten dabei sind. und zwar vor allem da, wo die poe­ti­sche beschrei­bun­gen ein gleich­ge­wicht mit den bana­li­tä­ten des all­tags, denen sich peter licht so ger­ne wid­met, auch sprach­lich ein­ge­hen. und außer­dem lässt sich gene­rell beob­ach­ten: eine gewis­se leich­tig­keit, ein schwe­ben, – fast wie in der schwe­re­lo­sig­keit – die schwer­kraft ist ja, dar­auf hat peter licht bereits frü­her hin­ge­wie­sen – über­flüs­sig – im welt­raum geht’s ja auch ohne sie…

aber trotz­dem: im gesam­ten scheint mir das doch eben genau die art von bedeu­tungs­schwan­ge­rem gerau­ne und pseu­do­in­tel­lek­tu­el­ler pseu­do­kunst zu sein, die mir den pop in sei­ner ein­fa­chen form der gegen­wart so oft so sehr ver­lei­det. ist das jetzt womög­lich ein deut­sches phä­no­men?

der einzelne gegen die masse: meisterkonzert in der rheingoldhalle

was das pro­gramm – beet­ho­ven, leo­no­re 3; chris­ti­an jost, luxaeter­na; rim­s­ki-kor­sa­kow, sche­he­zer­a­de – zunächst gar nicht so erwar­ten ließ: ein span­nen­des und wirk­lich gutes, über­zeu­gen­des kon­zert bei den meis­ter­kon­zer­ten in der rhein­gold­hal­le. der text trifft es eigent­lich auch ohne ergän­zun­gen ziem­lich gut:

streng und ernst steht er da, von kopf bis fuß in schlich­tes schwarz gewandt. geor­ge peh­li­va­ni­an nimmt sei­ne auf­ga­be als diri­gent der staats­phil­har­mo­nie rhein­land-pfalz aus­ge­spro­chen ernst. zum ers­ten mal war der „ers­te gast­di­ri­gent“ des orches­ters beim letz­ten meis­ter­kon­zert in der main­zer rhein­gold­hal­le. und was sei­ne aske­ti­sche dienst­klei­dung an ele­ganz ver­mis­sen lässt, macht sei­ne diri­gier­kunst wett. so ele­gant und geschmei­dig wie er diri­giert kaum ein orches­ter­lei­ter.

da es bei die­sem kon­zert aber offen­bar um den gegen­satz zwi­schen indi­vi­du­um und gesell­schaft, zwi­schen auf­be­geh­ren und anpas­sung geht, braucht der maes­tro, der sich so unauf­dring­lich in sein orches­ter ein­füg­te, einen gewich­ti­gen wider­sa­cher. die­se rol­le füll­te der saxo­pho­nist arno born­kamp per­fekt aus. er geht ganz in sei­ner rol­le als kämp­fe­ri­scher indi­vi­dua­list, die der kom­po­nist chris­ti­an jost ihm in sei­nem saxo­phon­kon­zert „luxaeter­na“ ver­ord­net, auf: mit ums haupt geschlun­ge­nem stirn­band agiert er neben geor­ge peh­li­va­ni­an bei der deut­schen erst­auf­füh­rung fast wie ein stadt­gue­ril­la – da fehlt nur noch die tarn­fle­cken-hose. der diri­gent kämpft unter­des­sen um sei­ne läs­si­ge ele­ganz und muss doch akzep­tie­ren, dass hier born­kamp die marsch­rich­tung vor­gibt. mit allen mög­lich­kei­ten zwi­schen kla­ren sta­tet­ments, vibrie­ren­den gefühls­aus­brü­chen, schrei­en­der ver­zweif­lung und lamen­tie­ren­der trau­er hilft das saxo­phon, die in stän­di­ger unsi­cher­heit immer wie­der sto­cken­den orches­ter­klang­fel­der zusam­men­zu­schwei­ßen. unauf­hör­lich bringt das solo­in­stru­ment melo­di­sche frag­men­te ins spiel, wäh­rend das orches­ter stär­ker in farb­va­ria­tio­nen und raum­klän­gen orga­ni­siert ist. das ist zwar kei­ne linea­re erzäh­lung, aber doch eine form der musik, die ent­wick­lun­gen durch­macht, die plötz­li­che ent­schei­dun­gen und lan­ges nach­den­ken, kämp­fe­ri­sches agie­ren und gelas­se­nes abwar­ten des kamp­fes des ein­zel­nen mit und gegen die gemein­schaft in immer neu­en vari­an­ten ver­bin­det.

der diri­gent hat da ver­gleichs­wei­se wenig zu sagen. sein tak­stock, der sich bei beet­ho­vens drit­ter leo­no­ren-ouver­tü­re als gefähr­lich spit­zes flo­rett gebär­de­te, darf hier nur noch als uner­bitt­li­cher takt­ge­ber fun­gie­ren. dafür kann er bei niko­lai rim­s­ki-kor­sa­kows sche­he­zer­a­de zum tän­zeln­den, unbe­re­chen­ba­ren der­wisch wer­den. denn peh­li­va­ni­an spielt das orches­ter mit sei­nen hän­den wie ein gro­ßes instru­ment: er malt ihnen die musik förm­lich in die luft. und die lud­wigs­ha­fe­ner reagie­ren auf die­se füh­rung wun­der­bar geschmei­dig und ein­mü­tig. eine blen­den­de mischung aus war­men, gedeck­ten klang­far­ben und plas­tisch-kör­per­haft greif­ba­ren struk­tu­ren wird das – nicht nur eine augen­wei­de, son­dern auch ein ohren­schmaus.

Sprache und die Unmöglichkeiten ihrer Kritik

so, der nach­trag vom wochen­en­de. mei­ne haupt­lek­tü­re: das neu­es­te buch von die­ter e. zim­mer: spra­che in zei­ten ihrer unver­bes­ser­lich­keit. ham­burg: hoff­mann und cam­pe 2005. ins­ge­samt nicht ganz so erquick­lich wie ich es mir erhoff­te.
grund­sätz­lich hat er ja die rich­ti­gen ideen, ins­be­son­de­re im ers­ten kapi­tel zu den grund­säzt­li­chen mög­lich­kei­ten der sprach­kri­tik – auch wenn das arg aus­schwei­fend und pene­trant red­un­dant for­mu­liert ist. spä­ter frei­lich krankt sei­ne dar­stel­lung – und auch schon sein gedan­ken­gang – v.a. zum pri­va­ten schrift­li­chen all­tags­deutsch an einem abso­lut untaug­li­chen kor­pus (nur inter­net-quel­len, noch dazu sol­che wie ebay-auk­tio­nen…) und sei­ner wie­der­um weit aus­ho­len­den, aber arg ein­sei­ti­gen dis­kus­si­on des anglizismen-„problems“.

im zen­trum (auch ganz pro­fan in der mit­te des buches) des gan­zen steht sicher nicht zufäl­lig die recht­schrei­bung und ihre reform inklu­si­ve der aus­ufern­den debat­te dazu und über­haupt die reform­fä­hig­keit von recht­schreib­vor­schrif­ten. hier hat zim­mer durch­aus ver­nünf­ti­ge vor­schlä­ge – was vor allem an sei­ner dezi­diert prag­ma­ti­schen aus­rich­tung liegt. reform soll­te schon mal sein, aber vor allem ein wenig bes­ser durch­dacht, kon­se­quen­ter und auch jetzt noch mit eini­gen modi­fi­ka­tio­nen – etwa bei der von zim­mer abge­lehn­ten, sinn­wid­ri­gen und unäs­the­ti­schen mecha­ni­schen tren­nung sowie natür­lich bei der getrennt- und zusam­men­schrei­bung.
der gesam­te zwei­te teil dient vor allem zwei zwe­cken: der offi­zi­el­le grund ist wohl, zu zei­gen, dass gro­ße tei­le der lin­gu­is­tik aus fal­schen grün­den die sprach­kri­tik ableh­nen. der eigent­lich grund scheint aber eher zu sein: seht her, das habe ich alles gele­sen, das ken­ne und beherr­sche ich alles. zim­mer bedient sich dafür äußrst groß­zü­gig am buf­fet der sprach­wis­sen­schaft, lässt aber auch ganz gro­ße berei­che ein­fach außer acht, scheint sie noch nicht ein­mal zu ken­nen. das betrifft vor allem neue­re theo­rien sowohl der gram­ma­tik (natür­lich nimmt er von der opti­ma­li­täts­theo­rie kei­ne notiz), aber auch fast die kom­plet­te, inzwi­schen ja sehr expe­ri­men­tell aus­ge­rich­te­te, psy­cho­lin­gu­is­tik wür­digt er kei­nes bli­ckes. ent­spre­chend alt­ba­cken und mager sind die ergeb­nis­se. über das niveau der ein­füh­rungs-pro­se­mi­na­re kommt er kaum her­aus. und auch da beschränkt er sich schon außer­or­dent­lich stark: auf­grund sei­nes ver­ständ­nis­ses von sprach­kri­tik (das er so frei­lich nie expli­ziert) als kri­tik v.a. der wort-seman­tik und des „rich­ti­gen“ gebrauchs der wör­ter, mit ein wenig syn­tax dazu, lässt er gro­ße tei­le der sprach­wis­sen­schaft außer acht, u.a. eben die tei­le der seman­tik, die über das ein­zel­ne wort hin­aus­ge­hen – das, was ja erst so rich­tig span­nend wird…

er bemüht sich sehr, die neu­tra­li­tät der lin­gu­is­tik zurück­zu­wei­sen – aller­dings aus fal­schen grün­den. im kern behaup­tet zim­mer näm­lich, die lin­gu­is­tik sei ideo­lo­gisch kon­ta­mi­niert und des­halb nicht wil­lens, sprach­kri­tik zu betrei­ben. das macht er vor allem am nati­vis­mus der (post-)chomsky’schen aus­prä­gung fest, den er aber sehr ent­stellt und längst nicht mit sei­nen aktu­el­le­ren ent­wick­lun­gen vor­stellt. wenn er etwa viel mühe dar­auf ver­wen­det, zu zei­gen, dass lexi­ka nicht ange­bo­ren sein kön­nen, weil dafür gar nicht genug „spei­cher­platz“ in den genen sei, zeigt er vor allem, wie wenig er ver­stan­den hat. denn wenn ich recht sehe, glaubt das doch sowie­so nie­mand mehr – es geht doch gera­de dar­um, dass die zugrun­de­lie­gen­den struk­tu­ren gene­tisch ver­mit­telt wer­den und dann mit­tels des inputs „gefüllt“ wer­den. das ist alles umso erschre­cken­der, als zim­mer gera­de den lin­gu­is­ten fal­sche und ideo­lo­gi­sche moti­vier­te schluss­fol­ge­run­gen vor­wirft – sei­ne eige­nen schlüs­se erschei­nen mir aber wesent­lich fahr­läs­si­ger und ein­sei­ti­ger. das pro­blem der ver­er­bung bzw. der ent­wick­lung eines „sprach­ge­ns“ scheint mir gar nicht so sehr ein pro­blem zu sein: es wur­de inzwi­schen ja durch­aus gezeigt, dass kom­ple­xe sys­tem sich der­art ent­wi­ckeln kön­nen – das bes­te bei­spiel dafür ist ja das auge (womit die krea­tio­nis­ten ja so ger­ne argu­men­tie­ren). aber so etwas nimmt zim­mer genau­so wenig zur kennt­nis wie neue­re for­schun­gen zur evo­lu­tio­nä­ren lern­bar­keit von spra­che, die in expe­ri­men­ten (mit algo­rith­men etc.) ja inzwi­schen durch­aus gesi­chert ist.

„lass dei­ne spra­che nicht allein“ ist zim­mers fazit – damit hat er ja recht. nur sei­ne grün­de sind lei­der die fal­schen. denn die lin­gu­is­ten dür­fen das durch­aus – und zwar genau so, wei bio­lo­gen nicht natur­schüt­zer sein müs­sen.

noch einmal bier-prosa. diesmal von franz dobler

nach „blut & bier“, den ja wirk­lich sehr unge­wa­sche­nen sto­ries von franz xaver kroetz, kommt gleich die nächs­te alko­hol-lek­tü­re: bier­herz. flüs­si­ge pro­sa von franz dobler (ham­burg: nau­ti­lus 1994). so rich­tig sau­ber ist das hier natür­lich auch nicht, das wäre von franz dobler auch wohl zu viel ver­langt. den anfang macht die wie­der­ver­wer­tung des vor­wor­tes zu einem thea­ter­stück mit dem über­ra­schen­den namen „bier­herz“, in dem dobler v.a. erklärt, dass man mit sei­nem stück so ziem­lich alles machen kann, so lan­ge nur der text von irgend jemand gespro­chen wird. das gan­ze fix ver­quirlt mit ein paar tief­schür­fen­den und jeder men­ge flach­schür­fen­den gedan­ken und ideen zum bier und sei­nem kon­sum und fer­tig sind die ers­ten drei­ßig sei­ten des neu­en büch­leins.… danach kommt lei­der nicht mehr viel: eine klei­nes „rei­se­ta­ge­buch“ durch loui­sia­na und texas mit ein paar lau­ni­gen beschrei­bun­gen der musik‑, tanz‑, bar- und bier­ver­hält­nis­se dor­ten ist da noch der höhe­punkt. der rest total ver­nach­läs­sig­bar: anek­do­ten, lau­nig erzählt, abso­lut unschein­bar und ohne beson­de­re stil­merk­ma­le, ästhe­ti­sche eigen­hei­ten oder sons­ti­ge her­aus­ra­gen­de eigen­schaf­ten: flüs­sig eben, und schnell ver­ron­nen.…

joachim lottmann beobachtet zombies in freier wildbahn

der neu­es­te anschlag lott­manns auf guten geschmack und über­kom­me­ne wer­te: joa­chim lott­mann: zom­bie nati­on. köln: kie­pen­heu­er & witsch 2006.

der erzäh­ler – ein autor-klon mit dem namen johan­nes­loh­mer, „erfin­der“ des pop-romans – beob­ach­tet sich beim recher­chie­ren /​schrei­ben eines fami­li­en­ro­mans, der sei­nem jugend­ro­man fol­gen soll: „der ers­te fami­li­en­ro­man der pop­li­te­ra­tur“ behaup­tet der klap­pen­text (was natür­lich blöd­sinn ist, allein fich­te hat da ja schon eini­ges dazu geschrie­ben). und natür­lich ist „zom­bie nati­on“ auch gar kei­ner. höchs­tens als per­si­fla­ge auf die aktu­el­le schwem­me auf dem bücher­markt. dazu ist lott­mann ja immer wie­der gut: als seis­mo­graph. und als schlag­wort-lie­fe­rant – ein bei­spiel? aber klar doch, gleich auf dem umschlag: „was frau­en den män­nern antun, ist der eigent­li­che irak-krieg unse­rer epo­che.“ das steht da ein­fach mal so und war­tet, dass jemand drauf anspringt. was ja hier­mit offi­zi­ell erle­digt wäre …

„die letz­ten tage der ber­li­ner repu­blik“ sind das zen­trum des romans – die ansprü­che sind gesun­ken, die mensch­heit war ein­mal, heu­te geht es nur noch um uns: die mit­drei­ßi­ger oder vier­zi­ger kul­tur­schaf­fen­den… typisch für lott­mann ist natür­lich wie­der der iro­nie-over­kill, sein schein-rea­lis­mus, inklu­si­ve voll­zi­tat eini­ger jour­na­lis­ti­schen arbei­ten lott­manns
(aus der sz und der taz), ver­quickt noch dazu mit eini­gen pri­va­ten abson­der­lich­kei­ten – und schon ist das neue buch fer­tig. schnell geschrie­ben, schnell gele­sen und wahr­schein­lich auch schnell wie­der ver­ges­sen.

das fabu­lie­ren hat lott­mann aber ganz gut draf: die hyper­tro­phe meta­phern­schlacht im geis­te einer simu­lier­ten erzäh­le­ri­schen unschuld, die natür­lich stän­dig geschickt umspielt wird – genau wie das ima­gi­nier­te zwie­ge­spräch zwi­schen erzäh­ler und ima­gi­nä­rem leser ger­ne mal reflek­tiert, umge­dreht wird, um dann doch kei­ne rück­sicht zu neh­men oder gera­de erst recht, je nach momen­ta­ner stim­mung: „es fällt mir schwer, den leser mit einer wie­der­ga­be eines frem­den lebens zu behel­li­gen, anstatt über das eige­ne leben zu berich­ten.“ – „der lite­ra­tur­be­trieb ver­zei­he mir, aber ich konn­te nicht anders, als wie­der mit ihr zu schla­fen.“

das gesamt­pa­ket wird dann mit dem herr­li­chen rosa des umschlags abge­run­det: die züch­ti­ge unschuld – aber dann natür­lich die streich­zei­chung der bar­bu­si­gen jung­frau mit gül­de­nem haar –, die beob­ach­tung der schreck­lich ange­pass­ten jugend des jah­res 2005 und ver­zweif­lung über ihre sinn­lo­sig­keit beschäf­ti­gen lott­mann: wer schon in sei­ner jugend das leben sei­ner eltern führt – was soll aus dem noch wer­den? und wenn das ein gan­zes volk so macht? dann amü­siert man sich mit sei­ner heim­li­chen lie­be, der bild-zei­tung: „ein schö­ner beginn, eine tol­le geschich­te, mit einem nach­teil: sie stand in der bild­zei­tung und war somit erfun­den.“

und wer sind nun eigent­lich die zom­bies? und die zom­bie nati­on? kei­ne ahnung. aber sie haben die gro­ße koali­ti­on ver­schul­det und ver­ant­wor­tet.

und noch ein konzert: (fast) nur schnittke-kammermusik

gera­de eben noch fer­tig gewor­den: mei­ne bespre­chung des heu­ti­gen kon­zer­tes der rei­he „neue musik in der alten patro­ne“, deren defi­ni­ti­on von neu­er musik und dem­entspre­chend auch die pro­gramm­ge­stal­tung mich sonst sel­ten wirk­lich zufrie­den stel­len kann. aber auch wenn ich immer noch kein wirk­li­che fan von alfred schnitt­ke bin ‑unter dem heu­te gehör­ten war doch eini­ges beden­kens­wer­tes, etwa die ers­te sona­te für cel­lo und kla­vier. und auch das kla­vier­quar­tett „mahler-scher­zo“ (basie­rend auf dem frag­ment von mahlers zwei­tem satz in sei­nem nie voll­ende­ten kla­vier­quar­tett) hat durch­aus rei­ze ent­fal­ten kön­nen. auch wenn die dar­bie­tung zwar größ­ten­teils ziem­lich ordent­lich war, aber noch luft nach oben ließ – was m.e. vor allem dar­an lag, dass die orches­ter­mu­si­ker sol­che wer­ke ein­fach zu oft spie­len, da fehlt die rou­ti­ne und tech­ni­sche gelas­sen­heit, mit der das „haupt­amt­li­che“ kam­mer­mu­si­ker spie­len kön­nen, ein­fach an vie­len stel­len.

offi­zi­ell klingt das dann etwas gemä­ßig­ter bzw. freund­li­cher:

so etwas gehört ja eigent­lich ver­bo­ten. denn das ist nichts ande­res als emo­tio­na­le erpres­sung, was judith tie­mann und mar­ti­na graf-nieß­ner in der alten patro­ne mit alfred schnitt­kes ers­ter vio­lon­cel­lo-sona­te anstel­len. ein­fach gemein ist es, denn jede gegen­wehr ist sowie­so zum schei­tern ver­ur­teilt. die bei­den sind ein­fach unver­schämt inten­siv, las­sen die schat­ti­gen klän­ge die­ser medi­ta­ti­on und ihre gro­tes­ken anwand­lun­gen der­ma­ßen nach­drück­lich in den raum schwe­ben, dass man der ver­blüf­fen­den kohä­renz die­ser empha­ti­schen grat­wan­de­rung, die die bei­den musi­ke­rin­nen mit unfass­ba­rer sicher­heit absol­vie­ren, ein­fach nicht ent­kom­men kann. selbst auf dem schma­len grat zwi­schen emo­tio­na­ler inten­si­tät und purem kitsch, auf dem schnitt­ke so oft wan­delt, scheu­en sie selbst gro­ße ges­ten nicht. und weil das für sie so selbst­ver­ständ­lich scheint, gelingt es auch: nur wer sei­ner selbst wirk­lich sicher ist, kann sich so etwas erlau­ben, ohne zu schei­tern. dage­gen wirk­te schnitt­kes vio­lin­so­na­te, die anet­te sey­fried davor gespielt hat­te, auf ein­mal ganz blass und unschein­bar. und das, obwohl sie zunächst recht strin­gend und tref­fend musi­ziert schien.

der zwei­te teil des kon­zer­tes war dann dem kla­vier­quar­tett gewid­met, für dass sich die trois femmes mal­te schae­fer und sei­ne vio­loa als ver­stär­kung geholt haben. auch hier das glei­che spiel: die suite im alten stil, von den musi­kern selbst für kla­vier­quar­tett arran­giert, ist vor allem brav und recht­schaf­fen bie­der, aber auch reich­lich nichts­sa­gend und lang­wei­lig. doch das war ja noch nicht alles. denn für schnitt­kes kla­vier­quar­tett „mahler-scher­zo“ berei­te­ten die vier sich zunächst mit mahlers quar­tett­satz vor. schnitt­ke bezieht sich in sei­nem quar­tett ja auf die skiz­zen mahlers für den nie kom­po­nier­ten zwei­ten satz zu einem kla­vier­quar­tett, von dem nur der anfang fer­tig wur­de. der mahler klang dann in der alten patro­ne vor allem sehr orches­tral, reich­lich auf­ge­plus­tert und dadurch an ent­schei­den­den stel­len etwas unscharf. aber das über­bo­ten die musi­ker bei schnitt­kes mahler-fort­schrei­bung mit leich­tig­keit: den dich­ten, eng ver­wo­be­nen satz lie­ßen sie gekonnt zwi­schen spät­ro­man­tik und post­mo­der­ne schwan­ken, beton­ten geschickt immer wie­der die dif­fe­ren­zen die­ser klang­wel­ten und das düs­ter-gro­tes­ke, die auf­lö­sung der in den mahler­schen ent­wür­fen noch halb­wegs zusam­men­hän­gen­den welt in den clus­tern und der klin­gen­den entro­pie des endes – ein pas­sen­der schluss­punkt lässt sich kaum fin­den.

so, das war jetzt heu­te ein pro­duk­ti­ver tag.…

der kategorische medienimperativ der testcard

im ori­gi­nal zwar nur eine abo-wer­be-kam­pa­gne, aber auch davon los­ge­löst eine sehr schö­ne und nett umge­setz­te idee:

kate­go­ri­scher medi­en­im­pe­ra­tiv

der kate­go­ri­sche medi­en­im­pe­ra­tiv lau­tet in sei­ner aktu­el­len, vom bun­des­tag ende 2009 als gesetz ver­ab­schie­de­ten form:

äuße­re dich in den medi­en so, als könn­ten dei­ne for­de­run­gen jeder­zeit auch auf dich sel­ber appli­ziert wer­den.

dem gesetz­ge­bungs­ver­fah­ren war eine öffent­li­che dis­kus­si­on im gefol­ge drei­er tra­gi­scher ereig­nis­se vor­aus­ge­gan­gen:

wäh­rend der fuß­ball­welt­meis­ter­schaft 2006 wur­de ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter jung, nach­dem er laut­stark für flug­zeug­ab­schüs­se in gefah­ren­si­tua­tio­nen gekämpft und die­se schließ­lich durch­ge­setzt hat­te, beim dienst­hub­schrau­ber­an­flug auf den bet­zen­berg von einer flak­ein­heit ver­se­hent­lich für eine ter­ro­ris­ten­waf­fe gehal­ten und eli­mi­niert.

mit­te 2008 wur­de innen­mi­nis­ter wolf­gang schäub­le, der sich für die ver­wend­bar­keit von unter fol­ter erpress­ten geständ­nis­sen stark gemacht und die­se auch erreicht hat­te, von unbe­kann­ten ver­schleppt und der­art gefol­tert, dass auf­grund der von den ent­füh­rern ver­öf­fent­lich­ten aus­sa­gen sowohl er selbst als auch alt­bun­des­kanz­ler hel­mut kohl, minis­ter­prä­si­dent roland koch und eini­ge ande­re cdu-poli­ti­ker zu lang­jäh­ri­gen haft­stra­fen ver­ur­teilt wer­den konn­ten.

fast zeit­gleich geschah es, dass ex-innen­mi­nis­ter otto schi­ly für eine drin­gen­de herz­ope­ra­ti­on in kana­da auf ein bestimm­tes flug­zeug gemusst hät­te, infol­ge eines tech­ni­schen defekts im von ihm sel­ber ein­ge­führ­ten bio­me­tri­schen per­so­nal­aus­weis jedoch nicht durch die absper­rung gelas­sen wur­de. obwohl ihn jeder gleich erkann­te, konn­te er die maschi­ne nicht betre­ten und erlitt vor auf­re­gung einen herz­an­fall.

in allen fäl­len hat­ten die opfer bis zum schluss zu ihrer sicher­heits­po­li­ti­schen mis­si­on gestan­den (schi­lys letz­te wor­te: »recht so, ich könn­te schließ­lich genau­so gut ein ter­ro­rist sein.«) und dafür viel bei­fall bekom­men. den­noch ent­spann sich in der fol­ge eine debat­te dar­über, wie man öffent­li­che inter­es­sen­ver­tre­ter künf­tig bes­ser vor den kon­se­quen­zen ihrer inter­ven­tio­nen schüt­zen kön­ne. die­se mün­de­te dann in der legis­la­ti­ven ver­an­ke­rung der obi­gen maxi­me.

gut zwei jah­re nach der ein­füh­rung ist die bilanz gespal­ten. ton­an­ge­ben­de medi­en­for­ma­te wie die sabi­ne-chris­ti­an­sen-show, die may­brit-lll­ner-show oder die kom­men­tar­spal­ten der frank­fur­ter all­ge­mei­nen zei­tung muss­ten kurz nach inkraft­tre­ten der rege­lung kom­plett ein­ge­stellt wer­den, wodurch hoch­do­tier­te arbeits­plät­ze ver­nich­tet wur­den. wich­ti­ge gesell­schaft­li­che stim­men sind ver­stummt (z. b. die­ter hundt, ex-prä­si­dent des bun­des­ver­ban­des der deut­schen arbeit­ge­ber­ver­bän­de: »dann hät­te ich ja sel­ber unter sol­chen bedin­gun­gen leben müs­sen, wie ich sie für arbeits­neh­mer for­de­re. ich bin doch nicht ver­rückt, da hal­te ich doch lie­ber mei­nen mundt.«). auf der ande­ren sei­te stößt das gesetz durch­aus auch auf akzep­tanz – gera­de unter jün­ge­ren. auf­se­hen erreg­te jüngst der fall eines jung­un­ter­neh­mer­ver­bands­ver­tre­ters, der in einer radio­dis­kus­si­on eine anru­fe­rin, die ihre über­le­bens­stra­te­gien auf hartz vi geschil­dert hat­te, für ihre vor­bild­li­che eigen­in­itia­ti­ve lob­te. gleich der nächs­te anruf kam vom kate­go­ri­schen medi­en­im­pe­ra­tivs­über­wa­chungs­amt, das dem ver­bands­ver­tre­ter per com­pu­ter­stim­me mit­teil­te, sein ver­mö­gen und papis erb­teil sei­en kon­fis­ziert, er sei ab sofort auf hartz iv und kön­ne nun die von ihm für vor­bild­lich erklär­te eigen­in­itia­ti­ve zei­gen. wor­auf­hin der jun­ge mann in einen wein­krampf aus­brach und »ich wider­ru­fe!« schrie.

(aus: test­card #15, s. 302)

und das ist lei­der eine recht lang­wei­li­ge sache gewe­sen. es zeig­te sich näm­lich mal wie­der, dass musik, die ein­fach nur nett und unter­halt­sam sein will, gera­de in der mas­sie­rung eines kon­zer­tes eher ennu­ie­rend als unter­hal­tend ist. zumin­dest für mich, der ich eben auf einen gewis­sen – auch intel­lek­tu­el­len – anspruch an die kunst nicht auf­ge­ben will. so habe ich das gan­ze für die rhein-zei­tung gefasst:

musik darf auch mal nur spaß machen und ein­fach gefal­len wol­len. eine gan­ze grup­pe sol­cher wer­ke gab es jetzt in der fünf­ten mati­née des staats­thea­ters zu hören. im orches­ter­saal des main­zer thea­ters war das aller­dings ein wenig viel des guten: das sind zwar alles net­te stü­cke, aber auch kaum mehr. und sechs mal nett wird ganz schnell lang­wei­lig. das liegt lei­der zum teil auch dar­an, dass die musi­ker nicht immer zwin­gen­de grün­de für ihre aus­wahl haben. casi­mir lal­liets ter­zet­to zum bei­spiel ist ja in sei­ner ein­fa­chen ele­ganz und sei­nem schwung­vol­len charme ange­nehm anzu­hö­ren, aber lei­der spie­len mar­tin letz (oboe), erik meß­mer (fagott) und hatem nadim am kla­vier immer nur mit sicher­heits­re­ser­ve. sie las­sen nie los: das ist ordent­lich ein­stu­diert, aber sehr viel aus­strah­lung kann es nicht ver­mit­teln. auch die „sara­ban­de et alle­gro“ von gabri­el gro­v­lez für oboe und kla­vier ver­strömt vor allem den hauch einer unter­ge­gan­ge­nen epo­che: die ver­staub­te und aus­geb­li­che­ne ele­ganz des fin-de-siè­cle, immer ein wenig sno­bis­tisch, aber trotz aller kunst­hand­werk­li­chen fer­tig­keit doch inzwi­schen arg abge­nutzt.

eben­falls ganz nett, aber ohne beson­de­re span­nung: die obo­en­so­na­te von gor­don jacob. gut, der eng­län­der ist immer­hin schon teil­wei­se im zwan­zigs­ten jahr­hun­dert ange­kom­men. aber auch hier sind die bei­den instru­men­ta­lis­ten dann am bes­ten, wenn sie leicht gefühls­se­lig, klang­ver­lieb­ten wohl­laut her­vor­brin­gen kön­nen, wenn sie in die welt des schö­nen trau­mes und scheins schwei­fen kön­nen.

kna­ckig wird das erst mit eugè­ne boz­za. des­sen „récit, sici­li­en­ne et ron­do“ für fagott und kla­vier zeigt zwar nicht unbe­dingt genia­le kom­po­si­ti­ons­ideen, aber immer­hint packen­des musi­kan­ten­tum, das ernst meß­mer mit nach­druck und gewand­ter geläu­fig­keit vor­bringt.

das trio von jean fran­caix bringt das gan­ze dann noch ein­mal auf den punkt: musik um des spa­ßes an der musik wil­len. und hier ist das inter­pre­ten-trio auch wirk­lich wach: das spru­delt nun mit der not­wen­di­gen klang­li­chen kraft und instru­men­ta­ler prä­zi­si­on, in der das andan­te durch sei­ne coo­le läs­sig­keit und beein­dru­cken­de klar­heit beson­ders her­vor­sticht. die spie­le­ri­sche freu­de, mit der sie dann auch noch das fina­le auf­rol­len, gibt der mati­née wenigs­tens noch einen wür­di­gen abschluss, der sich nicht im puren spaß erschöpft.

mal wie­der ein beglü­cken­der abend: kar­di­nal leh­mann wird zum 70. von den dom­chö­ren mit einem mozart-kon­zert beschenkt – und die main­zer dür­fen zuhö­ren. die zeit ver­ging im flug, der dom­ka­pell­meis­ter war in hoch­form und zog alle regis­ter sei­ner kunst – bzw. eben gera­de nicht, weil er ein­fach musik mach­te und nicht kunst…

so ein geburts­tags­ge­schenk lie­ße sich wohl jeder gefal­len: ein gan­zes kon­zert, mozart pur – ein jubi­lar für den jubi­lar. aber das schö­ne am dom­kon­zert zu ehren von kar­di­nal leh­mann war ja gera­de, dass es sich jeder gefal­len las­sen konn­te. alles ande­re wäre auch bit­te­re ver­schwen­dung gewe­sen. denn mathi­as breit­schaft war ein­deu­tig in hoch­form – man könn­te fast mei­nen, er sei gedopt gewe­sen. aber er war wohl doch nur ein­fach berauscht von der musik, die da unter sei­nen hän­den ent­stand. dafür ist ja mozart immer wie­der gut – bei kaum einem kom­po­nis­ten kann man sich so leicht tra­gen las­sen von der voll­kom­men­heit der kom­po­si­ti­on, von der selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der sich ein ton an den nächs­ten fügt und mit der sich dra­ma­ti­scher aus­druck und kla­re struk­tu­ren ver­bin­den. breit­schaft lässt sich nicht nur dar­auf ein, er lässt sich davon infi­zie­ren. denn was er mit den main­zer dom­chö­ren und dem main­zer kam­mer­or­ches­ter hier ver­an­stal­tet, ist ein­fach purer über­schwang. von beginn an legt er der­ma­ßen unge­bremst und ohne beden­ken los, dass man schon als zuhö­rer zu ban­gen beginnt. kann das gelin­gen? es kann. denn breit­schaft lässt sich durch nichts ablen­ken, er kommt an kei­ner noch so glit­schi­gen stel­le ins schleu­dern, son­dern fin­det schein­bar ganz intui­tiv immer die ide­al­li­nie, die ihm ein­fach alles erlaubt. und die­se begeis­te­rung ist anste­cken­der als jeder virus. zunächst sind es die ver­sper­ae de domi­ni­ca, kv 321, die er so erblü­hen lässt. und auch wenn der dom­chor schon mal kna­cki­ger und kla­rer sang – so viel spru­deln­de fri­sche war doch sel­ten. die­se jeden moment genie­ßen­de freu­de, getra­gen von gott­ver­trau­en und selbst­be­wusst­sein, ist eine unglaub­lich star­ke mischung.

ganz beson­ders gilt das für die mis­sa kv 257, die soge­nann­te gro­ßen­cre­do-mes­se. obwohl er nie­man­dem eine noch so klei­ne erho­lungs­pau­se gönnt, kein wenigs­tens momen­ta­nes zurück­neh­men der span­nung zulässt, gerät er nie in atem­no. gut, die eine oder ande­re stel­le hät­te viel­leicht genau­er aus­ge­ar­bei­tet wer­den könn­nen, das stimm­ge­we­be etwas trans­pa­ren­ter sein kön­nen – aber die sich immer wie­der selbst ent­zün­den­de begeis­te­rung greift nicht nur auf die musi­ker über, son­dern wird ganz schnell zum flä­chen­brand, der alle anwe­sen­den über­rollt. am wenigs­ten las­sen sich selt­sa­mer­wei­se die solis­ten davon berüh­ren – allein die sopra­nis­tin sabi­ne goetz kann wirk­lich mit­hal­ten. vor allem im exsul­ta­te, jubi­la­te. das näm­lich brei­tet sie in rei­ner inten­si­tät und inni­ger ent­fal­tung ganz ent­zü­ckend aus. ein wun­der­ba­res geschenk – nicht nur für den kar­di­nal, son­dern alle zuhö­rer.

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