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Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

zum bei­spiel die 1892 (!) kom­po­nier­te schau­spiel­mu­sik „le fils des étoi­les“ – so an die neun­zig minu­ten auf der stel­le tre­ten – bru­tal, aber irgend­wie auch span­nend. bei „mainz musik“ war sie jetzt kom­plett zu hören, ergänzt außer­dem durch eine licht­in­stal­la­ti­on.

immer wei­ter ins unbe­kann­te und unbe­que­me führt der weg von „mainz musik“. der fes­ti­val­lei­ter lud­wig strie­gel hat jetzt selbst wie­der einen gro­ßen schritt in die­se rich­tung getan: mit der auf­füh­rung von erik saties „le fils des étoi­les“. die nennt sich zwar eine schau­spiel­mu­sik zu einem thea­ter­stück des deca­dence-autors jose­phin pelá­dan, ist aber als sol­che nur schwer vor­zu­stel­len und wohl auch kaum jemals genutzt wor­den. denn dafür ist sie viel zu mäch­tig und vor allem zu eigen­sin­nig. für das jahr 1892, im dem satie „le fils des étoi­les“ kom­po­nier­te, ist das außer­dem eine unge­heu­re moder­ni­tät. heu­te hat man sich ja an sol­che klän­ge gewöhnt, aber die weni­gen pari­ser, die das damals gehört haben, müs­sen unter die­sen per­ma­nen­ten häu­fun­gen von quar­ten und dis­so­nan­zen doch erheb­lich gelit­ten haben.

ihre kunst ist vor allem, mit mög­lichst vie­len noten nichts zu sagen – ein musik, die vor allem eines erzeugt: lee­re. und die greift auch auf den hörer über. irgend­wann setzt die­se bau­kas­ten­ar­ti­ge rei­hung von simp­les­ten moti­ven und schrä­gen akkor­den das den­ken außer gefecht. in einen ganz eigen­ar­ti­gen zustand der schwe­be kann man dabei gera­ten – da hat fast etwas von einer trance. denn das gesche­hen die­ser musik ist gera­de der still­stand, das expli­zi­te nicht-pas­sie­ren von eigent­lich genu­in musi­ka­li­schen momen­ten wie ent­wick­lung und ver­än­de­rung. strieg­ler spiel­te das mit bewun­ders­wer­ter kon­zen­tra­ti­on: neun­zig minu­ten hin­durch häm­mert er immer wie­der die­se bana­len moti­ve, die­se end­los auf­ge­schich­te­ten akkor­de in das kla­vier.

das ist zunächst, auf der kör­per­li­chen erfah­rungs­ebe­ne, eine har­te stra­pa­ze: eine der­ma­ßen gleich­för­mi­ge musik ist unge­heu­er anstren­gend zu hören. aber in der esg-kir­che wur­de sie noch durch die licht­in­stal­la­ti­on von tan­ja löhr ergänzt. die sorgt zunächst schein­bar für opti­sche abwechs­lung: eine abfol­ge von geo­me­tri­schen for­men, wan­dern­den lini­en und recht­ecken, sich aus­deh­nen­den und wie­der zusam­men­schrump­fen­den flä­chen wer­den in gif­ti­gem gründ und grel­lem pink auf die kir­chen­wand pro­ji­ziert. spä­ter kom­men zwar noch zwei far­ben – rot und blau – und auch ab und an eine kreis­form hin­zu, doch die meis­te zeit belässt es löhr bei die­sen ein­fa­chen zuta­ten. durch die per­ma­nen­te bewe­gung ent­ste­hen immer neue for­men und mus­ter, neue kon­stel­la­tio­nen von far­ben und zustän­den. die opti­sche gestal­tung schließt damit direkt an die akus­ti­sche ästhe­tik der ver­wei­ge­rung saties an: das ist nichts, was man unmit­tel­bar ver­ste­hen kann – das kann man nur mehr erfah­ren.

manchmal ist sogar neue musik ganz harmlos

und manch­mal ist sie auch ein­fach nur ver­spä­te­te roman­tik – und in die­sem fall meist auch ein wenig lang­wei­lig, die roman­tik hat­ten wir halt schon ein­mal, dazu fällt nur noch den wenigs­ten kom­po­nis­ten wirk­lich neu­es ein. aber der pia­nist war nicht schlecht, sei­ne impro­vi­sa­tio­nen zwar ein biss­chen lang­at­mig, aber auch sehr gut anzu­hö­ren – das war also das zwei­te kon­zert der dies­jäh­ri­gen aus­ga­be von mainz musik:

drau­ßen zwit­schern die vögel noch froh­ge­mut, doch drin­nen trau­ern sie herz­er­wei­chend. im alten musik­saal auf dem cam­pus ist die­se ver­blüf­fen­de gleich­zei­tig­keit mög­lich. denn der jun­ge pia­nist tomasz trz­cin­ski begann sein „con­cer­to fes­tivo“ für „mainz musik“ mit den „oise­aux tris­tes“ aus mau­rice ravels „miro­irs“. er tat das sehr rück­sichts­voll und vor­sich­tig – genau so, wie er auch den flü­gel behan­del­te. denn der ist ihm offen­bar mehr als ein blo­ßes instru­ment, eine schnö­de ansamm­lung von holz und metall, son­dern eine ver­län­ge­rung sei­ner hän­de und damit schon fast zu einem teil sei­nes kör­pers gewor­den. und er behan­delt ihn ent­spre­chend: er zwingt ihm nie sei­nen wil­len auf, er akzep­tiert sei­ne schwä­chen und ver­sucht, sie mög­lichst unauf­fäl­lig und sinn­voll zu nut­zen. das führt zu über­ra­schen­den ergeb­nis­sen: schon mit dem zwei­ten stück aus ravels miro­irs, „la val­lée des clo­ches“, bringt er den raum mit prä­sen­ter, aber sehr sorg­sam dosier­ter kraft zum zit­tern und dröh­nen – die vögel haben jetzt nichts mehr zu mel­den.

es war auch sonst eher die nach­denk­li­che, geruh­sa­me musik, der er beson­de­re sorg­falt ange­dei­hen ließ. die „cha­conne“ von uljas voi­to pulk­kis, die ant­ti siira­la bei der urauf­füh­rung im frank­fur­ter hof im letz­ten jahr als spie­le­ri­sche plau­de­rei spiel­te, nimmt trz­cin­ski eher als roman­ti­sche träu­me­rei, als weit­läu­fi­ge fan­ta­sie. und mit sei­ner sam­ti­gen klan­gober­flä­che gewinnt das stück unter sei­nen hän­den erheb­li­ches poten­zi­al – ein immer wie­der­keh­ren­der drang zum auf­be­geh­ren wird hier auf ein­mal hör­bar. zwar lässt der kom­po­nist die­se aus­bruchs­ver­su­che aus der stren­gen form immer wie­der in die lee­re lau­fen, aber immer­hin kann trz­cin­ski die wider­strei­ten­den kräf­te der cha­conne klang­lich umset­zen, ohne sie voll­ends zu zäh­men.

mit die­sen eska­pis­ti­schen aus­flü­gen ver­ab­schie­de­te sich der pia­nist von sei­nen noten – jetzt gab es nur noch ihn, den flü­gel und sei­ne impro­vi­sa­ti­ons­kunst. dar­in erwies er sich schnell als ver­sier­ter tech­ni­ker. mit viel the­ma­ti­scher arbeit ver­blüff­te er vor allem durch sei­ne rapi­den über­lei­tun­gen: ehe man sich ver­sah, war er von frei schwei­fen­den bli­cken über medi­ter­ra­ne land­schaf­ten zu ver­träum­ten, aus­schließ­lich nach innen fokus­sier­ten gedan­ken­flüs­sen gewech­selt. und all­mäh­lich ent­stand dar­aus auch so etwas wie frei­heit – aller­dings immer mit der mög­lich­keit des rück­zugs in die ver­gleichs­wei­se siche­ren gefil­de der moti­vi­schen ver­ar­bei­tun­gen und tra­di­tio­nel­len varia­ti­ons­for­men. auch hier blieb trz­cin­ski voll­kom­men gelas­sen: das ist kei­ne erkämpf­te oder erober­te musik, son­dern ein unge­hin­der­tes, ent­spann­tes flie­ßen.

neue musik ist kein schrecken

ganz tol­le neue musik, zum nach­den­ken, zum hören und genie­ßen, auch wenn man sie viel­leicht gar nicht ver­ste­hen kann/​mag/​will, gab es beim ers­ten kon­zert der dies­jäh­ri­gen auf­la­ge von mainz-musik, dem mini-fes­ti­val der main­zer musik­hoch­schu­le, in der esg-kir­che. zwei dozen­ten, lutz man­dler und pierre-sté­pha­ne meu­gé haben neue und neu­es­te musik für saxophon(e) und trom­pe­te bzw. deren mund­stü­cke auf­ge­führt, das gan­ze noch mit einem klei­nen biss­chen licht­de­sign – im grun­de nur ein­fa­che wech­seln­de beleuch­tun­gen – und vor allem beson­de­rer inte­gra­ti­on des rau­mes in die inter­pre­ta­ti­on – ein wirk­lich außer­or­dent­lich her­aus­ra­gen­des kon­zert­er­eig­nis – nicht nur wegen der muti­gen pro­gram­mie­rung, son­dern gera­de auch wegen der erst­klas­si­gen, kei­ne wün­sche offen­las­sen­den umset­zung. „in freund­schaft“ etwa habe ich noch nie der­ma­ßen kon­sis­tent und durch­gän­gig struk­tu­riert, der­ma­ßen klar und doch leben­dig, nie kalt und kon­stru­iert, aber immer als künst­le­ri­sche for­mung mar­kiert, gehört.

in der „off­zi­el­len“ form liest sich das dann so:

die fest­spiel­zeit ist ein untrüg­li­ches zei­chen: jetzt hat der som­mer begon­nen. ln mainz ist es in die­sem jahr die musik­hoch­schu­le, die den rei­gen eröff­net – mit einem kon­zert der ech­ten extra­klas­se. lutz man­dler und pierre-sté­pha­ne meu­gé haben mit dem auf­takt­kon­zert in der esg-kir­che näm­lich her­aus­ra­gen­des für die neue und neu­es­te musik geleis­tet.

und dazu gehört immer wie­der das suchen nach neu­en for­men des zusam­men­spie­lens. vin­ko glo­bo­kars „dos à dos“ ist so eine fahn­dung: saxo­phon und trom­pe­te pro­bie­ren die mög­lich­kei­ten des mit­ein­an­der und gegen­ein­an­der spie­lend aus. da das mit der für glo­bo­kar typi­schen wucht und dem ent­spre­chen­den kraft­i­auf­wand pas­siert, ist es eine hoch­dra­ma­ti­sche sache. über­haupt fiel in der esg-kir­che immer wie­der die unglaub­li­che ener­gie der bei­den musi­ker auf. selbst einem eher intro­ver­tier­ten und nach­denk­li­chem werk wie mau­ri­zio pisa­tis „ö“ lie­ßen sie davon nicht ab. bei­de ver­su­chen hier die stil­le in klang zu über­füh­ren – mit lan­gen momen­ten abso­lu­ter ruhe, die von dem dunk­len, erns­ten klang der sym­bio­tisch mit­ein­an­der ver­schmelznden instru­men­te immer stär­ker struk­tu­riert wer­den. die anhäu­fung von bedeu­tungs­vol­len, aber vagen momen­ten ent­lädt sich zum schluss in einer hoch­dra­ma­tisch nach­hal­len­den stil­le.

mit der urauf­füh­rung des „tage­buch ii“ von hyun-sik jin prä­sen­tier­te sich man­dler auch als solist. die­se erkun­dun­gen des sub­jekts, deren ziel frei­lich ver­bor­gen bleibt, geben dem inter­pre­ten man­nig­fal­ti­ge mög­lich­kei­ten, sei­ne tech­ni­schen fähig­kei­ten unter beweis zu stel­len. man­dler tut dies mit gro­ßer sou­ve­rä­ni­tät und sub­ti­li­tät. gelas­sen schien auch meu­gé in sei­nem solo, einem ech­ten klas­si­ker: „in freund­schaft“ von karl­heinz stock­hausen. unter der sehr genau arti­ku­lier­ten ober­flä­che ver­ber­gen sich hier aller­dings gewal­ti­ge span­nun­gen, die schon so man­chem blä­ser das genick gebro­chen haben. meu­gé dage­gen führt das ganz selbst­ver­ständ­lich zu einer phä­no­me­nal struk­tu­rier­ten ver­füh­rung der sin­ne zusam­men, in der man sich als hörer voll­ends gebor­gen und hei­misch füh­len kann.

und als wäre die­se rei­he erleb­nis­rei­cher höhe­punk­te noch nicht genug an ver­füh­rung, setz­te das duo mit den „bou­chées dou­bles“ von ernest h. papier dem abend die kro­ne auf: denn nur beim zwei­kampf ohne instru­ment, aus­schließ­lich mit ihren mund­stü­cken bewaff­net, lässt sich der wah­re meis­ter ermit­teln. das duell lief über meh­re­re, sich dra­ma­tisch zuspit­zen­de run­den. zunächst klop­fend und rückend for­der­ten sich die bei­den kom­bat­tan­ten schnell zu immer wage­mu­ti­ge­ren geräusch- und ton­kas­ka­den her­aus. doch auch in der hit­ze des gefech­tes konn­ten die bei­den sich auf ein unent­schie­den eini­gen, ihre feh­de bei­le­gen un noch ein letz­tes mal ganz har­mo­nisch, in lie­be ver­eint, zusam­men spie­len.

ja, so kann es manch­mal gehen: der cel­list ist krank gewor­den – da wird auch dem kam­mer­mu­sik­abend natür­lich nix mehr. die pia­nis­tin hat sich erbarmt und spielt ein­fach ein solo­pro­gramm – und ein ziem­lich über­zeu­gen­des. das mei­ne ich dazu:

hal­be sachen sind je meist kein grund für beson­de­res freun­de­aus­brü­che. hal­be kon­zer­te schon gar nicht. aber man­cha­mal sind sie ein ganz beson­de­rer, unver­hoff­ter genuss. so soll­te das vom main­zer haus bur­gund und dem erba­cher hof ver­an­stal­te­te kon­zert im rah­men des „fes­ti­val musi­cal des grand crus de bour­go­gne“ eigent­lich musik für cel­lo und kla­vier bie­ten. der cel­list her­ni demar­quet­te muss­te aller­dings das bett hüten und ließ sei­ne kla­vier­part­ne­rin clai­re désert allein. das war aller­dings alles ande­re als eine kata­stro­phe. denn désert zau­ber­te im erba­cher hof einen beein­dru­cken­den kla­vier­abend her­vor. schon die pro­gramm­aus­wahl ließ auf­mer­ken. die­se pia­nis­tin muss sich ihrer fähig­kei­ten sehr sicher sein: cla­ra schu­manns varia­tio­nen op. 20, robert schu­manns „davids­bünd­ler­tän­ze“, beet­ho­vens sona­te nr. 17 und noch zwei pre­ludes von clau­de debus­sy – das ist bestimmt kei­ne ver­le­gen­heits­lö­sung. und clai­re désert hat sich mit die­sem tech­nisch und musi­ka­lisch anspruchs­vol­len pro­gramm auch nicht über­ho­ben. nur der klei­ne flü­gel setz­te deut­li­che limits. mit einem bes­se­re instru­ment wären die klang­flu­ten, die aus den hän­den der pia­nis­tin ent­stan­den, sicher noch beein­dru­cken­der gewe­sen. auch so war die schie­re mäch­tig­keit, die über­bor­den­de fül­le ihres spiels aller­dings schon auf rein phy­si­scher ebe­ne sehr über­wäl­ti­gend. das ist oft ein rich­tig­ge­hen­des tönen­des schlach­ten­ge­mäl­de: das don­nert und blitzt mit erschre­cken­der rea­li­tät auch ohne tech­ni­sche kino-effek­te. die musik wird hier zur reli­ef­kunst: mit aus­ge­spro­chen deut­li­cher plas­ti­zi­tät wer­den ecken und kan­ten, wohl­be­kann­te und bizarr-erschre­cken­de for­ma­tio­nen hör­bar.: eine uner­müd­li­che fol­ge von ganz sorg­fäl­tig gear­bei­te­ten, schein­bar unmit­tel­ba­ren schal­l­erup­tio­nen. die­se musik ist offen­bar auch weni­ger von intel­lek­tu­el­len über­le­gun­gen, son­dern von for­scher, unver­hoh­le­ner musi­ka­li­tät gesteu­ert. für die beet­ho­ven-sona­te ist das aller­dings nicht ganz hin­rei­chend, das bleibt zu ein­sei­tig, zu stark auf den stür­misch drän­gen­den impuls der sona­te kon­zen­triert. für schu­manns „davids­bünd­ler­tän­ze“ hät­te es aller­dings kaum pas­sen­der sein kön­nen. in ganz natür­li­chem kolo­rit und mit geschick­ter balan­ce zwi­schen anmut und unver­hoh­len­der kräft­de­mons­tra­ti­on fließt die musik voll­kom­men frei und unbe­schwert, als könn­te es gar nicht anders sein – und das alles ande­re als eine hal­be sache.

eine wunderbar sprechende „gegensprechstadt“

ja genau, so heißt näm­lich der neu­es­te lyrik­band von ger­hard falk­ner. genau­er gesagt: gegen­sprech­stadt – ground zero. und im grun­de ist es auch gar kein lyrik­band, son­dern nur ein gedicht, ein lan­ges eben – so ca. 70 sei­ten. und es kommt nicht nur in der kook­books-typi­schen aus­stat­tung daher, son­dern auch noch mit cd. dadrauf hat falk­ner gro­ße tei­le (lei­der nicht alles) sei­nes gedich­tes gele­sen, und david moss macht ein wenig musik dazu. aller­dings sehr wenig – das ist ziem­lich ent­täu­schend: ein mit­schnitt einer live-lesung, zu der moss nicht beson­ders viel ein­ge­fal­len ist – ein eher unge­wöhn­li­cher zustand für die­sen künst­ler.

egal, eigent­lich geht es ja vor allem um das gedicht. nach­dem mich falk­ners alte meis­ter nicht so sehr begeis­tern konn­te, schafft gegen­sprech­stadt das vom ers­ten bis zum letz­ten vers. das ist nicht nur das bes­te (und in dem umfang auch ers­te) ber­lin-gedicht, das ich ken­ne. das ist auch eine sehr zeit­ge­mä­ße form des dich­tens: mit geschich­te gesät­tigt, ohne des­halb so bedeu­tungs­hu­be­risch-bil­dungs­schwer daher­zu­kom­men wie die letz­ten durs-grün­bein-bän­de. falk­ner treibt das spiel mit den allu­sio­nen, den zita­ten und den quer­ver­wei­sen ziem­lich kunst­voll – und ziem­lich weit. es ist öfters kurz davor, wirk­lich zu ner­ven, die stän­di­gen halb-bedeu­ten­den pop­kul­tu­rel­len anspie­lun­gen. aber sie tun es dann meis­tens eben doch nicht. denn „moti­ve bekann­ter gedich­te“ „sind humus. mon­ta­ge­teil. zitat. anlei­he. link. refe­renz. ver­beu­gung.“ (74) – ein klei­ner hieb auf die „pop­li­te­ra­ten“ darf in einem sol­chen fall nicht feh­len: „eine zeit, in der man bei künst­lern /​wenn man sie aus­zieht /​auf ck- oder joop!-unterwäsche stößt /​(als letz­te schicht sozu­sa­gen /​vor der eigent­li­chen inspi­ra­ti­on) /​ist reif für eine revi­si­on /​sie soll­te bei tschechow /​wie­der in die leh­re gehen, /​oder mit pyn­chon her­aus­zu­fin­den ver­su­chen /​wo die wirk­li­chen ver­fol­ger ste­cken /​damit sie zurück­fin­det /​(um im bild der spra­che zu blei­ben) /​zum ehr­li­chen baum­woll­ripp mit ein­griff /​denn gro­ße poe­sie /​auch wo sie glück­lich ver­wirrt /​ist mar­ken und moden abhold“ (36)

das gan­ze chan­giert dann ziem­lich unre­gel­mä­ßig (nach dem ers­ten lek­tü­re­ein­druck) zwi­schen his­to­risch vor­ge­form­ten lang­ge­dicht und der vor­lie­be für ein­zel­im­pres­sio­nen, anein­an­der­ge­reiht und sequen­ziert. die üer­gän­ge – und das macht gegen­sprech­stadt wahr­schein­lich so geschmei­dig – blei­ben aber immer flie­ßend. denn falk­ner schafft es eben, dem all­täg­li­chen nach­zu­bli­cken, das musi­ka­li­sche detail der stadt ber­lin über­all zu fin­den und in wor­te zu fas­sen – aber auch, die gro­ßen momen­te, die revo­lu­tio­nen und kata­stro­phen, den 11. sep­tem­ber, den 3. okto­ber und den 15. märz (falk­ners geburts­tag, iden des märz) mit ein­zu­be­zie­hen.

rhyth­misch erscheint das aufs ers­te, ohne genaue­re ana­ly­se, sehr leicht und unbe­schwert: ein unge­zwun­ge­ner umgang mit vers­for­men macht das gedicht – und davon legt gera­de falk­ners lesung beson­ders deut­lich zeug­nis ab – sehr flie­ßend. die­se „poly­me­re poe­sie“, wie der autor das nennt, kreist immer wie­der um phä­no­me­ne der zeit, ihrer sub­jek­tiv total zer­split­ter­ten wahr­neh­mung, um das zäh­len. spra­che scheint da als medi­um und bewe­gung glei­cher­ma­ßen ret­tung zu bie­ten – als flucht­punkt und als ver­ar­bei­tungs­mög­lich­keit: „auch die­ses gedicht ist ein gedicht ohne einen /​hel­den ist natür­lich ein gedicht /​ohne einen hel­den ist natür­lich /​ein gedicht“ (56). und ein gedicht ist das hier auf jeden fall – ein wirk­lcih beein­dru­cken­des – schon lan­ge nicht mehr so begeis­tert lyrik ver­schlun­gen.

ger­hard falk­ner: gegen­sprech­stadt – ground zero. gedicht & cd mit music by david moss. idstein: kook­books 2005.

30 Jahre Krieg als Trauma und integrierender Faktor für Deutschland

„der drei­ßig­jäh­ri­ge krieg ist das bis ins 20. jahr­hun­dert nach­wir­ken­de trau­ma des deut­schen vol­kes.“ (83) heißt es in georg schmidts klei­ner abhand­lung der drei­ßig­jäh­ri­ge krieg (mün­chen: beck 6/​2003). als sol­cher hat er natür­lich ent­spre­chend vie­le (um-)deutungen und ver­ein­nah­mun­gen erfah­ren. georg schmidt, ein aus­ge­wie­se­ner ken­ner der deut­schen geschich­te und spe­zia­list für das alte reich hat sich davon nur inso­fern beein­dru­cken las­sen, als er sich um ein mög­lichst sach­li­che und zunächst wert­neu­tra­le dar­stel­lung der abläu­fe und gescheh­nis­se bemüht. beson­de­ren stel­len­wert erfah­ren in sei­ner dar­stel­lung immer wie­der die viel­fäl­ti­gen kreuz- und quer lie­gen­den ver­bin­dun­gen, die eine wirk­li­che kau­sa­li­tät der gescheh­nis­se gera­de die­ser zeit so schwer erken­nen las­sen und leicht für ver­wir­rung sor­gen. schmidt hat das pro­blem ziem­lich gut und über­zeu­gend gemeis­tert, sein klei­ner text ist trotz der enor­men kon­zen­tra­ti­on noch erstaun­lich gut les­bar und leicht ver­ständ­lich – auch ohne all­zu gro­ßes vor­wis­sen.

tref­fend schon die sich ver­bin­den­den ursa­chen, die ver­kno­ten­den lini­en der auf­lö­sung der reichs­ge­walt oder der kohä­si­on des rei­ches durch die von der kon­fes­sio­na­li­sie­rung und ihrer immer wie­der auf­flam­men­den riva­li­tä­ten sowie der ver­här­te­ten lager­bil­dung in katho­li­sche liga und pro­tes­tan­ti­sche uni­on erreich­ten blo­cka­de der ent­schei­den­den insti­tu­tio­nen (reichs­kam­mer­ge­richt, reichs­ver­samm­lung, reichs­tag etc.). was inso­fern beson­ders pro­ble­ma­tisch ist, als das reich in sei­ner kom­pli­ziert aus­ta­rier­ten ver­fasst­heit ganz beson­ders auf den kon­sens aller betei­lig­ten ange­wie­sen war. in dem zusam­men­hang spielt natür­lich vor allem das recht­sys­tem des rei­ches eine beson­de­re rol­le: mit dem eher pro­tes­tan­tisch aus­ge­rich­te­ten reichs­kam­mer­ge­richt und dem eher kai­ser­na­hen reichs­hof­rat stan­den zwei gro­ße juris­ti­sche regu­la­ri­en zur ver­fü­gung, die auch rege genutzt wur­den. der drei­ßig­jäh­ri­ge krieg führt also zu einer (erneu­ten) ver­recht­li­chung des deut­schen staa­ten­ge­bil­des, die jetzt mit den para­gra­phen der west­fä­li­schen frie­de vor allem die macht des kai­sers und damit eines ein­heit­li­chen, zen­tra­len mon­ar­chi­schen sys­tems in deutsch­land erheb­lich ein­schränkt, ande­rer­seits auch – wie­der – die grund­la­gen für die abso­lu­tis­ti­sche territorialherrschaft(en) sichert – zwar unter ein­be­zug der stän­de, aber eben im gro­ßen und gan­zen mit der spä­ter offen­bar wer­den­den ten­denz zur zer­split­te­rung des reichs-gebie­tes. schmidt zeigt dabei ins­be­son­de­re die kon­ti­nui­tä­ten zur zeit vor dem drei­ßig­jäh­ri­gen krieg auf: „all dies hat­te sich bereits vor dem drei­ßig­jäh­ri­gen krieg ein­ge­pen­delt, und all dies ließ der west­fä­li­sche frie­den unan­ge­tas­tet.“ (82) – schmidt spricht des­halb auch von einem „bei­na­he per­fek­ten poli­ti­schen sys­tem, das allen betei­lig­ten grup­pen rech­te, frei­räu­me und teil­ha­be­mög­lich­kei­ten garan­tier­te, ohne des­we­gen sei­ne hand­lungs­fä­hig­keit einz­bü­ßen.“ (98) und er weist dar­auf hin, dass ins­be­son­der die zer­stö­rung der „alten über­re­gio­na­len wirt­schafts­be­zie­hun­gen“ durch die kriegs­er­eig­nis­se wesent­lich zum auf­stieg des abso­lu­tis­mus bei­tru­gen: jeder lan­des­fürst muss­te nun selbst „regu­lie­rend in das sozi­al- und wirt­schafts­sys­tem ein­grei­fen“ (92), um das land aus der öko­no­mi­schen star­re der kriegs­zeit wie­der zu erwe­cken. dabei ist aller­dings auch wie­der zu beach­ten: „in deutsch­land fand aller­dings weder wäh­rend noch nach dem krieg eine groß­flä­chi­ge wirt­schaft­li­che moder­ni­sie­rung statt.“ (93) dem­entspre­chend kam es ende der 1640er auch nicht zum öko­no­mi­schen boom (ange­sichts der zer­stö­run­gen einer­seits und des bevöl­ke­rungs­rück­gangs ande­rer­seits durch­aus denk­bar), son­dern nur zu einer müh­sa­men wie­der­be­le­bung. ana­lo­ges kann schm­dit für das sozia­le sys­tem kon­sta­tie­ren: „der drei­ßig­jäh­ri­ge krieg erscheint mit blick auf das gesell­schafts­sys­tem als stör­fall ohne gro­ße nach­wir­kun­gen: aus der aus­nah­me­si­tua­ti­on wech­sel­ten die men­schen zurück in ihren all­tag“ (95).

wei­ter­hin legt er beson­de­ren wert auf die ver­knüp­fung der (eigent­lich) deut­schen pro­ble­me mit letzt­lich ganz euro­pa, unter beson­de­rer beach­tung der aus­wir­kun­gen auf deut­sche staat­lich­keit. des­halb unter­nimmt schmidt auch die abwehr des 1998 auf­ge­kom­me­nen schlag­wor­tes vom „euro­päi­schen frie­den“ – ihm geht es v.a. dar­um, „krieg und frie­den als inte­grie­ren­de fak­to­ren der deut­schen natio­nal­ge­schich­te zu begrei­fen“ (103) das schlägt sich ent­schei­dend in der dar­stel­lung nie­der. ins­be­son­de­re die moti­ve erfah­ren eine ent­spre­chen­de wür­di­gung: es geht nicht dar­um, rich­tig oder falsch zu kon­sta­tie­ren, son­dern (mög­li­che) grün­des die­ses und jenes hand­lens auf­zu­zei­gen – dar­in ist schmidt sehr kon­se­quent. was man evtl. bemän­geln könn­te, ist sein hang, alle oder doch zumin­dest die meis­ten gesche­hen und ver­wick­lun­gen nicht nur in ihrer (ver­mu­te­ten) kau­sa­li­tät zu beschrei­ben, son­dern dies so zu tun, dass sie ger­ne als zwangs­läu­fi­ge, ein­zig mög­li­che ent­wick­lun­gen daste­hen. am schlech­tes­ten komm dabei fer­di­nand II. weg, der immer wie­der vor­ge­hal­ten bekommt, dass er mit sei­nem stur katho­li­zis­ti­schem behar­ren auf dem rekon­sti­tu­ti­ons­edikt vie­le chan­cen zum frü­he­ren frie­den ver­spielt habe. so schreibt schmidt den krieg dann vor allem als geschich­te von macht­drän­gen, nicht ein­ge­hal­te­nen abspra­chen und gegen­sei­ti­gen ver­su­chen der über­trump­fung bzw. aus­schal­tung zwi­schen den fürs­ten, in denen die kon­fes­si­on bald und oft genug kaum mehr als ein anlass war – aller­dings auf bei­den sei­ten…

ein beson­de­res augen­merk erfährt natür­lich wal­len­stein, der hier als (let­zer) kriegs­un­ter­neh­mer mit maß­geb­li­chem ein­fluss auf das gesche­hen in deutsch­land por­trä­tiert wird – nicht nur mili­tä­risch, son­dern auch poli­tisch (durch sein eige­nes macht­stre­ben und vor allem als angst­ku­lis­se für kai­ser, habs­bur­ger und den rest der liga). das ist ange­nehm sach­lich und ohne unnö­ti­ge über­hö­hung oder dämo­ni­sie­rung, ande­rer­seits auch ohne all­zu denk­mal­stür­ze­ri­schen ges­tus. ähn­li­ches gilt für den nüch­tern-skep­ti­schen blick auf gus­tav adolf (genau, den „löwen aus mit­ter­nacht“).

zusam­men genom­men „…wird deut­lich, wie wich­tig das locker gefüg­te poli­ti­sche sys­tem des hei­li­gen römi­schen rei­ches deut­scher nati­on für die euro­päi­sche ord­nung war. das nicht expan­si­ve reich stell­te kei­ne gebiets­an­sprü­che an sei­ne nach­barn und paß­te sich jeder ver­schie­bung im mäch­te­sys­tem an. es wirk­te als über­di­men­sio­na­ler puf­fer zwi­schen den staa­ten und mäch­ten: jeder such­te und fand hier ver­bün­de­te. das reich und die vor­mo­der­ne euro­päi­sche frie­dens­ord­nung beding­ten ein­an­der.“ (64)
der sehr zu emp­feh­len­de band wird dann noch durch eine aus­führ­li­che, gut kom­men­tier­te biblio­gra­phie, die lei­der etwas unüber­sicht­lich gewor­den ist, abge­run­det.

junge musik im staatstheater

beim kon­zert für jun­ge leu­te im staats­thea­ter – sehr schön zu beob­ach­ten, wie sich eine inter­pre­ta­ti­on noch ent­wi­ckeln kann. und was es für einen unter­schied macht, wenn das orches­ter mit lust und lau­ne und etwas ent­spann­ter spielt:

für eine ordent­li­che por­ti­on musi­ka­li­schen jugend­wahns ist das kon­zert für jun­ge leu­te genau der rich­ti­ge platz. cathe­ri­ne rück­wardt hat sich zum letz­ten kon­zert die­ser rei­he in der lau­fen­den spiel­zeit nicht nur musik von jun­gen kom­po­nis­ten aus­ge­sucht, son­dern auch einen sehr jun­gen main­zer pia­nis­ten ein­ge­la­den. arne gies­hoff hat zwar im ver­gan­ge­nen jahr den bun­des­wett­be­werb von jugend musi­ziert gewon­nen, wirkt aber immer noch sehr zurück­hal­tend und ver­schlos­sen: die zuga­be muss­te die diri­gen­tin rich­tig aus ihm her­aus­kit­zeln. und sie war dann auch kein bra­voustück­chen, son­dern ein eige­nes inter­mez­zo, ein nach­denk­lich-medi­ta­ti­ve minia­tur. bra­vour gab’s davor auch mehr als genug: denn in cho­pins opus 2, den varia­tio­nen über ein the­ma aus mozarts don gio­van­ni, muss der pia­nist über eine soli­de tech­nik ver­fü­gen. gies­hoff kann das, und so konn­te nicht viel schief gehen beim vir­tuo­sen wir­bel. was ihm aller­dings noch ein wenig fehlt, ist einer­seits die behaup­tung gegen­über dem orches­ter. und die klang­li­che gestal­tung – es klingt ein­fach noch zu ein­sei­tig, um wirk­lich die gan­ze par­ti­tur zu erfas­sen. aber das wäre von einem 17-jäh­ri­gen wohl zu viel ver­langt. denn nicht jeder gute musi­ker ist gleich ein genie wie cho­pin oder mozart. die haben, und dafür gab das kon­zert genug stoff, in dem alter schon ziem­lich aus­ge­fuchst kom­po­niert – cho­pin eben die varia­tio­nen. und mozart war auch erst zwei jah­re älter, als er „la fin­ta giar­di­nie­ra“ kom­po­nier­te. mit einem zügi­gen marsch durch die ouver­tü­re hat­te das phil­har­mo­ni­sche staats­or­ches­ter den abend eröff­net. ans ande­re ende von mozarts leben führ­te sie das publi­kum dann mit mozarts g‑moll sin­fo­nie. die hat rück­wardt im moment wohl beson­ders ins herz geschlos­sen. nach der auf­füh­rung im ach­ten sin­fo­ni­kon­zert und dem son­der­kon­zert in der phö­nix­hal­le nahm sie mozarts letz­te sin­fo­nie nun auch noch in das kon­zert für die jun­gen leu­te. und die ste­te beschäf­ti­gung mit mozart tut sowohl dem orches­ter als auch der musik gut. wenn dazu noch die fami­liä­re atmo­sphä­re die­ses kon­zer­tes kommt, klingt das nicht ganz anders als im letz­ten sin­fo­nie­kon­zert, aber doch ein gan­zes stück frei­er und unbe­sorg­ter. mit druck­vol­ler wucht und kräf­ti­gen impul­sen musi­zie­ren sie und machen die letz­ten bei­den sät­ze zu einem rich­ti­gen bedro­hungs­sze­na­rio, so klar kon­tu­riert und drän­gend packt rück­wardt das an. noch ein paar auf­führ­run­gen und das wird rich­tig spit­ze.

kroetz gibt auf

heu­te gele­sen in einer der lie­gen geblie­be­nen aus­ga­ben der süd­deut­schen von letz­ter woche (die nach­richt beruht auf einer vor­ab­mel­dung der zeit):

franz xaver kroetz hat genug. nach­dem er zwei jah­re an sei­nem neu­es­ten thea­ter­stück „tän­ze­rin­nen & drü­cker” geses­sen habe und von sei­nem jüngs­ten gedicht­band ledig­lich 490 exem­pla­re ver­kauft habe, wol­le er das schrei­ben künf­tig sein las­sen. auch auf der büh­ne wer­de man ihn nicht mehr sehen, sag­te kroetz, der sich selbst als ‚depres­si­ver, aus­ge­brann­ter schrift­stel­ler’ bezeich­net: ‚mit dem schau­spie­lern ist es ja auch vor­bei. als regis­seur will ich arbei­ten.

ob das jetzt eine gute nach­richt ist? nach dem letz­ten erzäh­lungs­band kann ich immer­hin sei­nen ent­schluss befür­wor­ten, mit dem schrei­ben auf­zu­hö­ren … doch ob er als regis­seur noch etwas ver­nünf­ti­ges hin­be­kommt, ent­zieht sich aller­dings mei­ner kennt­nis. aber wenn er wirk­lich so spar­sam ist, dann muss er ja höchst­wahr­schein­lich auch nicht mehr viel arbei­ten…

elisabeth hagedorn singt sich durch die romantik

zum abschied aus dem main­zer ensem­ble hat die sän­ge­rin eli­sa­beth hage­dorn sich aus­ge­rech­net einen lie­der­abend aus­ge­dacht – mit einem ziem­lich kun­ter­bun­ten pro­gramm und durch­aus wech­sel­haf­ten qua­li­tä­ten:

was wohl pas­sie­ren wür­de, wenn die­se frau wirk­lich am rhein stün­de und sän­ge? gut, ihre haa­re sind ein wenig kurz – aber sonst möch­te man sich lie­ber nicht vor­stel­len, wel­che fol­gen ein lied­vor­trag eliza­beth hage­dorns am lore­lei-fel­sen auf die rhein­schiff­fahrt hät­te. im klei­nen haus setz­te sie in gül­de­nem kleid und rotem schal jeden­falls scham­los so ziem­lich alle ver­füh­rungs­küns­te ein, über die eine sän­ge­rin von ihrem for­mat gebie­tet. und wenn sie dann also traum­ver­lo­ren am flü­gel lehnt und die berühm­ten ver­se der „lore­lei“ in der ver­to­nung von franz liszt singt, ist die vol­le macht der musik zu spü­ren. dar­um geht es ihr an die­sem abend, einem abschied aus dem main­zer ensem­ble, offen­bar. so ganz klar war das zunächst aber nicht. denn wäh­rend der noten­stän­der kon­ti­nu­ier­lich von einer sei­te auf die ande­re wan­dert, wird ganz schnell klar: das spie­len ist ihre wah­re domä­ne. da, wo sie als sän­ge­rin und schau­spie­le­rin gefragt ist, singt sie auch am bes­ten: bei richard strauss, bei franz liszt und alban berg und auch noch bei den lie­dern von charles ives. mit robert schu­mann und johan­nes brahms hat sie aller­dings noch zwei kom­po­nis­ten auf ihrem pro­gramm, die viel mehr inti­mi­tät und abso­lu­te klar­heit im detail for­dern. und das ist ihre stär­ke an die­sem abend nicht so ganz. schu­manns „bel­sa­zar“ singt sie etwa mit spek­ta­ku­lä­rem stimm­li­chen auf­wand – das reißt schon mit. aber das lässt auch viel unter­ge­hen, von der iro­nie des hei­nes-gedich­tes ist nicht mehr viel zu spü­ren. auch die schlich­ten volks­lied­ver­to­nun­gen von brahms pas­sen nicht so recht zu ihrem stil: selbst hier sucht sie noch nach der gro­ßen büh­ne, dem thea­ter in der musik.

dort, wo der kom­po­nist genau das ver­langt, ist sie dann aber auch wirk­lich beein­dru­ckend. etwa richard strauss – schon das ers­te lied von ihm, „die nacht“, zeigt nicht nur die streng kon­trol­lier­te tech­nik, son­dern auch die tref­fen­de sub­ti­li­tät und das klang­li­che eben­maß ihrer stim­me. auch ihr pia­nist andre­as stoehr kann mit spinn­web-fei­nen begleit­fi­gu­ren wirk­lich über­zeu­gen.

und so geht es dann auch den rest­li­chen abend wei­ter. ob mit der idyl­lisch-rei­nen süße von liszts „fischer­kna­be“ oder alban bergs „nach­ti­gall“: eliza­beth hage­dorn ser­viert immer genau die rich­ti­ge por­ti­on expres­si­vi­tät, wech­selt vom emp­find­sa­men ver­wei­len zu schwe­ben­den traum­ge­dan­ken und lässt schließ­lich auch noch die schlich­te poe­sie der musik von charles ives erblü­hen. und immer wie­der wan­dert der noten­stän­der von der einen sei­te zur andern. ein glück nur, das die­se geball­te por­ti­on ver­füh­rung und ver­zü­ckung auf der büh­ne des klei­nen hau­ses nie­man­den von sei­nem weg ablen­ken konn­te.

ironische musik? schumanns heine-vertonungen unter der lupe

robert schu­mann und hein­rich hei­ne, die bei­den gro­ßen genies der roman­tik, haben in die­sem jahr ihren 150. todes­tag – auch wenn sich mozart vor­drängt. dabei ist gera­de die­ses traum­paar viel inter­es­san­ter. und es ist auch noch lan­ge nicht alles gesagt. bei­de ver­bin­det näm­lich nicht nur das jahr ihres todes, son­dern auch ein blick für die jeweils ande­re kunst. bei­de waren außer­dem wun­der­ba­re musik­schrift­stel­ler. und nicht zuletzt hat schu­mann eben hei­ne öfter ver­tont als jeden ande­ren dich­ter. die­se lie­der muss­ten aller­dings im lau­fe der zeit so eini­ge unbill erfah­ren. genau das hat tho­mas syn­of­zik, direk­tor des robert-schu­mann-hau­ses in zwi­ckau, offen­bar gereizt. denn sei­ne pünkt­lich zum jubi­lä­um erschie­ne­ne stu­die hat zwei zie­le: zum einen will syn­of­zik mit der rezep­ti­ons­ge­schich­te mal so rich­tig auf­räu­men. und er will das ver­hält­nis von musik und iro­nie unter die lupe neh­men. der titel ver­spricht dabei aller­dings ein wenig mehr als das buch ein­lö­sen kann. denn sein fokus bleibt beschränkt: es geht um die hei­ne-lie­der – und um nichts ande­res.

der ver­such, der roman­ti­schen iro­nie über­haupt ana­ly­tisch hab­haft zu wer­den, macht den anfang. syn­of­zik sieht sie vor allem als aus­druck der ambi­va­lenz und der ambi­gui­tät. das beob­ach­tet er in hei­nes lyrik und danach sucht er in sei­nen detail­lier­ten har­mo­ni­schen, metri­schen, melo­di­schen und struk­tu­rel­len ana­ly­sen der musik. und er fin­det dabei so vie­le und ein­deu­ti­ge musi­ka­li­schen umset­zun­gen der iro­nie, dass man die frü­he­ren ver­su­che, genau das schu­manns ver­to­nun­gen abzu­spre­chen, kaum glau­ben mag. ob es nun die boden­lo­se har­mo­nik des chor­sat­zes „die lotus­blu­me“, die tona­le ambi­va­lenz von „im wun­der­schö­nen monat mai“, die ros­si­ni-per­si­fla­ge in „die rose, die lilie, die tau­be“ oder die para­do­xen schluss­wen­dun­gen und iro­ni­schen poin­ten – syn­of­zik spürt sie mit viel ana­ly­ti­schem geschick und scharf­blick auf. was sei­nem buch gera­de am ende der lek­tü­re aller­dings ein wenig abgeht, ist der grö­ße­re zusam­men­hang. inter­es­sant wäre schon noch, wie sich die­se beob­ach­tun­gen mit ande­ren lie­der schu­manns oder hei­ne-ver­to­nun­gen ande­rer kom­po­nis­ten ver­glei­chen lie­ßen.

tho­mas syn­of­zik: hein­rich hei­ne – robert schu­mann. musik und iro­nie. köln: dohr 2006. 191 sei­ten. 24,80 euro.

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