Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Aus-Lese #25

Marc Augé: Die For­men des Vergessens. Berlin: Matthes & Seitz 2013. 106 Seit­en.

Augé plädiert in diesem Essay dafür, Vergessen als Teil der Erin­nerung vom Ruch des Makels zu befreien: Vergessen ist für ihn insofern unau­flös­lich mit dem Erin­nern ver­bun­den, weil über­haupt nur durch das Vergessen von manchem manch­es erin­nert wer­den kann und als Erin­nerung ver­füg­bar sein kann. Die Sicht ist die des Eth­nolo­gen (und die Reflek­tion sein­er Methode(n) nimmt erhe­blichen Raum ein): Die zeitliche Gebun­den­heit der Fik­tion (bzw. der Nar­ra­tion) des Lebens, aus der der Eth­nologe (bei Augé gibt es keine Frauen ;-)) seine Erzäh­lun­gen formt, sind ein wiederkehren­des Motiv. Und diese Erzäh­lun­gen sind für ihn auf allen Ebe­nen immer Pro­duk­te des Gedächt­niss­es, wom­it das Vergessen wieder ins Spiel kommt. Fast neben­bei liefert er dazu viel Mate­r­i­al und Anek­doten aus dem Schatz des Eth­nolo­gen zu Erin­nern und Vergessen, aber eigentlich vor allem zu Fik­tion und Erzäh­lung (in die Vergessen und Erin­nern hier immer einge­bun­den sind).

Vergessen ist für Augé nicht nur als Ele­ment der Erin­nerung zu ver­ste­hen, son­dern als pro­duk­tiv­er Vor­gang der Erzäh­lung (und damit Gestal­tung) der Wirk­lichkeit — denn Vergessen, so Augé, öffnet Möglichkeit­en, Poten­tial­itäten der Ver­gan­gen­heit, der Gegen­wart oder der Zukun­ft. Also genau das, was Indi­viduen und Gemein­schaften brauchen:

Gedächt­nis und Vergessen bedin­gen sich gegen­seit­ig, bei­de sind notwendig zum umfassenden Gebrauch der Zeit. […] Das Vergessen führt uns zur Gegen­wart zurück […]. Man muss vergessen, um anwe­send zu bleiben, vergessen, um nicht zu ster­ben, vergessen, um treu zu bleiben. (102f.)/

Alexan­der Losse: Stro­phen. Berlin: Karin Kramer 2010. 65 Seit­en.

Stro­phen ist ein extrem deskrip­tiv­er Titel, denn das Lyrikde­büt Loss­es enthält genau das: Stro­phen. Genauer: 62 einzelne Stro­phen, alles Vierzeil­er (eine sechsver­sige Stro­phe ist auch dabei) mit dem sehr auf­fal­l­en­de­nen Ele­ment des Kreuz- bzw. umar­mende Reims organ­isiert. Getra­gen wer­den die kurzen Gedichte Loss­es durch ihre Lied­haftigkeit. Auch eine gewisse, schwebende Leichtigkeit ist ihrer Sprache eigen. Vor allem spricht aus ihnen (fast) allen aber ein großer, exis­ten­tieller Ernst: “Ver­wüs­tung eine Seele schuf” heißt es zum Beispiel gle­ich in der ersten Stro­phe. Fra­gende Meta­phern, offen für Antworten oder Ein­würfe bes­tim­men die meis­ten Stro­phen. Sie kön­nen sich auch recht gut ver­lieren — in der Kürze, der Klein­heit und der (fes­ten, vorgebe­nen, unange­tasteten) Form. Und manch­mal bleiben sie auch ein­fach in der Banal­ität des Reims und der religiös-christlich-kirch­lichen Meta­phern steck­en, so dass ich nicht so recht weiß, ob ich — bei eini­gen sicher­lich sehr guten „Stro­phen“ — den ganzen Band wirk­lich richtig gut finde …

XLVI
Gehst so leise in die Kirche,
fliehst so spät zum untern Grund.
Wessen Hand hat nur berühret,
wessen Weg dich herge­führet,
wessen Opfer schweigt dein Mund.
Gehst so leise in die Kirche.

Paulus Böh­mer: Kad­dish I‑X. Frank­furt am Main: Schöf­fling 2002. 345 Seit­en.

großar­tig: Die Form des Kad­dish, des jüdis­chen Trauerge­betes, nutzt Böh­mer, um den Leser mit so ziem­lich allem zu kon­fron­tieren, was sich denken lässt: Im Modus der Vergänglichkeit tauchen Sex­u­al­ität und Phan­tasie, Bil­dung und Erleben, Hochkul­tur und Under­ground neben‑, über- und hin­tere­inan­der auf. Das ist in sein­er Dichte und vor allem der per­ma­nen­ten Anspan­nung kaum am Stück zu lesen. Zehn Kad­dishs ver­sam­melt Böh­mer in diesem Band (inzwis­chen ist ja noch ein zweit­er erschienen), als eine Art Langgedichte mit 12 bis 50 Druck­seit­en Länge — also ganz schöne Brock­en. Und da Böh­mer immer mit ein­er kun­stvoll gesucht­en, unge­heuer vielfälti­gen, reichen Sprache auf höch­stem Niveau arbeit­et, ver­langt das auch dem Lesen viel Konzen­tra­tion, Aufmerk­samkeit und Durch­hal­tewil­len ab — Anstren­gun­gen, die sich aber lohnen, denn in sein­er konzen­tri­erten Erschöp­fung der Vergänglichkeit der Welt und des Lebens ist Böh­mer ein großar­tiger Lyrik­er.

Johannes Fried: Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biogra­phie. München: Beck 2013. 736 Seit­en.

Der Ver­lag — und auch einige Rezensen­ten — kön­nen sich ja vor Begeis­terung über diesen Wälz­er kaum einkriegen. Ganz so ging es mir nicht. Das liegt aber nur zum Teil an Fried selb­st, son­dern auch am Ver­lag. Nervig fand ich die — für einen Ver­lag wie Beck! — extrem niedrige Lek­torak­ts- und Pro­duk­tion­squal­ität. Ein paar Beispiele: die Kapitälchen ohne Klein­buch­staben, Flüchtigkeits­fehler (wie die falsche Veror­tung Ingel­heims auf der Karte oder falsche, nicht erk­lärte Abkürzun­gen im Text) und der auf Dauer etwas steife Stil, der etwas lek­to­ri­erende Glät­tung dur­chaus ver­tra­gen hätte, falsche Anmerkun­gen, die ver­wirrende Num­merierung der Abbil­dun­gen und Farbtafeln, das fehlende Abbil­dungsverze­ich­nis, der falsche Kolum­nen­ti­tel im Appen­dix, der bil­lige Umschlag …

Aber es geht ja um den Text selb­st. Der bietet sehr, sehr viel — aber nicht unbe­d­ingt das, was der Unter­ti­tel ver­spricht. “Eine Biogra­phie” ist das näm­lich aller­höch­stens periph­er, eigentlich über­haupt nicht. Das Leben eines karolingis­chen Herrsch­ers ist ja nicht mehr auszu­loten, worauf Fried selb­st natür­lich hin­weist — also bre­it­et ein Mit­te­lal­ter-His­torik­er alles aus, was er aus und über diese Zeit weiß. Das ist manch­mal sehr all­ge­mein und manch­mal sehr speziell (wie sich über­haupt mir manch­mal der Ein­druck auf­drängte, dass Fried nicht so genau wusste, für wen er eigentlich schreiben will: für den inter­essierten Laien? — Dafür set­zt er ziem­lich oft sehr gründliche Vorken­nt­nisse voraus. Für die Fachkol­le­gen? Dafür ist manch­es etwas all­ge­mein bis über­flüs­sig (und die Anmerkun­gen bzw. das Lit­er­aturverze­ich­nis etwas unge­nau …). Ger­ade das Panora­ma der früh­mit­te­lal­ter­lichen Welt macht diesen Karl aber so wertvoll.

Und Frieds Ansatz, Karls Leben und Hand­lun­gen mit zwei Moti­va­tion­ssträn­gen — den im Unter­ti­tel genan­nten Kom­plex­en “Gewalt” und “Glaube” — zu erk­lären, ist dur­chaus nachvol­lziehbar und richtig. Auch wenn, wie er es selb­st entwick­elt, die “Gewalt” — ins­beson­dere eben die Kriege wie die gegen die Sach­sen — (fast) immer aus dem “Glauben” erwächst. Das gelingt Fried übri­gens sehr schön, der Ver­such, Karl und seine Moti­va­tion aus dem Wis­sen und den Überzeu­gun­gen sein­er Zeit zu erk­lären. Fast bestechend wird das etwa bei der Frage nach der Kaiserkro­ne — ein Unternehmen, dass Fried dur­chaus schlüs­sig mit dem Ver­weis auf die ver­bre­it­ete und wahrgenommene Endzeit­stim­mung um 800 erk­lären kann.

Ann Cot­ten: Der schauernde Fäch­er. Erzäh­lun­gen. Berlin: Suhrkamp 2013. 253 Seit­en.

Obwohl ich Ann Cot­ten als Lyrik­erin dur­chaus mit Wertschätzung und Inter­esse wahrgenom­men habe, kann ich mit ihrem ersten Erzäh­lungs­band eher wenig anfan­gen. Das ist sehr wild, ungezähmt, unge­formt scheint es oft — wuch­ernd in Phan­tasie und Stil. Meistens/immer geht es um Liebes­beziehun­gen, um den Beginn ein­er Ver­trautheit und Zunei­gung und Liebe — aber in sehr selt­samen Kon­fig­u­ra­tio­nen und Beschrei­bun­gen. Schön und klug sind die eingear­beit­eten (oft eher unauf­fäl­li­gen, sel­ten expliziten) Gen­der-The­ma­tisierun­gen. Manch­es hat dur­chaus poet­is­ches Poten­tial, das sich auch beim ersten Lesen zeigt. Anderes erschien mir eher fahrig und ausufer­nd, mehr Ein­fall als Form, mehr Idee als Ausar­beitung, mehr Prä­ten­tion als Ein­lö­sung. Aber vielle­icht bin ich da etwas ungerecht — jeden­falls ver­spürte ich öfters ein­fach keine Lust, micht auf diese Tex­twel­ten wirk­lich einzu­lassen (warum auch immer).

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Twitterlieblinge Januar 2014

  1. matthias mader (@matthias_mader)

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