Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: paulus böhmer

Aus-Lese #40

Klaus Wagen­bach (Hrsg.): Störung im Betrieb­sablauf. 77 kurze Geschicht­en für den öffen­lichen Nahverkehr. Berlin: Wagen­bach 2014. 143 Seit­en.

wagenbach, störung im betriebsablaufEine lustige Edi­tion ist das, die mir zufäl­lig im Buch­laden in die Augen und Hände gefall­en ist: Klaus Wagen­bach hat kleine Texte gesam­melt, für die Lek­türe unter­wegs im ÖPNV. Der Zweck bes­timmt auch die Ord­nung der Texte nach Anlass und Länge: Kurzstreck­en, Bahn­hof, Zwei Sta­tio­nen etc. sind die Kapi­tel über­schrieben. Hin­ter der witzi­gen und sym­pa­this­chen Idee steckt aber vor allem eine schöne und vielfältige Samm­lung größ­ten­teils großar­tiger Kurzprosa: Kurzgeschicht­en, Para­beln, Anek­doten, Fabeln und vieles mehr. Wagen­bachs Auswahl beweist ein sehr hohes Qual­ität­sniveau ohne Aus­reißer: Das ist ein­fach gut aus­ge­sucht. Und vieles Bekan­ntes ist dabei, natür­lich — aber auch einiges Über­raschen­des, Uner­wartetes. Und auch beim Wieder­lesen entwick­elt so manch­es in diesem Zusam­men­hang neue Aspek­te. Das kleine Bänd­chen ist wirk­lich eine vortr­e­f­fliche Lek­türe für die Zeit des Bewegt-Wer­dens — da wün­scht man sich manch­mal beina­he eine tat­säch­liche “Störung im Betrieb­sablauf” …

Ulrike Almut Sandig: Buch gegen das Ver­schwinden. Geschicht­en. Frank­furt am Main: Schöf­fling 2015. 207 Seit­en.

sandig, verschwinden “Es ist so leicht zu ver­schwinden.” (35) Das ist das ganze Prob­lem. Denn wir Men­schen sind tat­säch­lich kaum mehr als ein Gras im Wind — ein­mal hier, bald wieder weg. Und darum geht es in diesem Geschicht­en-Band (aus­drück­lich nicht Erzäh­lun­gen!): Um das Ver­schwinden, um das Vergessen. Und darum, wie sich das (vielle­icht) doch ver­hin­dern oder auf­schieben lässt — mit dem Erzählen zum Beispiel. Aber wer sagt dann, dass das Erzählte was mit der vergangenen/verschwundenen Real­ität zu tun hat? Doch: Das ist keine philosophis­che Abhand­lung, kein Essay — und will es auch gar nicht sein. Son­dern eine Feier des Erzäh­lens. Denn Sandig ist eine großar­tige Erzäh­lerin, deren bre­ites stilis­tis­ches Reper­toire und deren Sprache ich sehr mag (das war auch schon bei den Flamin­gos so!). Ich zitiere aus Faul­heit mal die Ver­lagsweb­seite:

Ein junger Jour­nal­ist ver­sucht inmit­ten der Unruhen um den Istan­buler Gezi-Park die Erwartun­gen sein­er Mut­ter abzuschüt­teln, die nach dem Mauer­fall 1989 das Reise­fieber gepackt hat. Ein Wan­der­er geht während eines Schneesturms in den ural­ten ver­wun­sch­enen Wäldern des Engadin ver­loren. Ein kleines Mäd­chen wird zum näch­sten Venus­durch­gang von der Groß­mut­ter ans Ende der Welt geflo­gen. Wohin ihre Spuren führen, ist eines der vie­len Rät­sel dieser Geschicht­en.

Rät­sel weisen Sandigs Geschicht­en immer wieder auf. Aber keine Span­nungs- oder Kri­mi-Rät­sel, son­dern Rät­sel, die auf die Frage nach der Wahrheit, der Wirk­lichkeit der Ver­gan­gen­heit und der Erin­nerung ver­weisen. Mir ist dann die eigentlich Geschichte oft gar nicht so wichtig — ob es nun um einen Witwer geht, der sich und seine Ein­samkeit sowie seine fortschre­i­t­ende Demenz beobachtet, um einen jun­gen Jour­nal­is­ten, die Wan­der­er im Engadin, die den mythisch-verk­lärten Taman­gur-Wald ent­deck­en wollen — die Haupt­sache ist immer wieder das Erzählen selb­st.

Ja, an diesem Tag und in dieser Minute find­et sie plöt­zlich, dass sie sich diese Geschichte immer wieder anhören kön­nte und immer wieder in der jew­eils aktuellen Ver­sion, und jed­er Ver­sion würde sie Glauben schenken, wohl wis­send, dass wir, jede Einzelne von uns, die Erzäh­lerin­nen unser­er eige­nen Geschicht­en sind und dass es nicht darauf ankommt, was in Wirk­lichkeit passiert ist, solange wir eine Ver­sion haben, die uns das Leben und alle, die darin ver­schwinden, erträglich­er macht. (36f.)

Es gibt auch ein nett gemacht­es “Video zum Buch” von Har­ald Opel:

Ulrike Almut Sandig — Buch gegen das Ver­schwinden

Beim Klick­en auf das und beim Abspie­len des von YouTube einge­bet­teten Videos wer­den (u. U. per­so­n­en­be­zo­gene) Dat­en wie die IP-Adresse an YouTube über­tra­gen.
Joachim Zel­ter: Wieder­se­hen. Tübin­gen: Klöpfer und Mey­er 2015. 126 Seit­en.

zelter, wiedersehenOffiziell als “Nov­el­le” betitelt — und das haut auch hin. Ein kurz­er Text für zwis­chen­durch (die 126 Seit­en sind recht großzügig geset­zt), mit hohem Spaß­fak­tor: Der Lieblingss­chüler Arnold Lit­ten trifft nach zwanzig Jahren wieder auf seinen immer schon etwas kauzi­gen Lieblingslehrer Thorsten Korthausen, der ihn, der mit­tler­weile zum Ger­man­is­tik-Pro­fes­sor (ver­mut­lich …) gewor­den ist, damals im Fach Deutsch unter­richtet und für die Lit­er­atur begeis­tert hat. Im Rück­blick tauchen die sehr ungewöhn­lichen Lehrmeth­o­d­en Korthausens noch ein­mal auf (die jed­er Ord­nung, Ver­gle­ich­barkeit oder Plan­mäßigkeit spot­ten, aber natür­lich höchst genial waren und alle Schü­lerin­nen und Schüler enorm begeis­terten …). Jet­zt also das Wieder­se­hen, auf ein­er von Korthausen extra dafür aus­gerichteten Par­ty, bei der Lit­ten auch noch ohne Vor­war­nung einen Vor­trag hal­ten soll. Das alles geht, fast erwartungs­gemäß, fürchter­lich schief und gibt allen, vor allem aber Lit­ten selb­st, gründlich Gele­gen­heit, sich selb­st, ihre Stel­lung und ihrer (Lebens-)Ziele, aber auch die gemein­same Ver­gan­gen­heit, noch ein­mal gründlich zu über­denken. Das ist alles sehr liebevoll geschildert, mit wun­der­baren Typen (ger­ade die Neben­fig­uren sind her­rlich). Die kon­fronta­tive Sit­u­a­tion steigert sich immer mehr, bis das Ganze schließlich in eine ziem­lich wilde Groteske umkippt. Kurz vor dem Schluss (der noch ein­mal eine abso­lut unnötige “über­raschende Wen­dung” bietet) heißt es dann:

Er hätte niemals hier­herkom­men dür­fen. […] Dass es ein Fehler sei, einen Men­schen wie Korthausen nach über zwanzig Jahren ein­fach wiederzuse­hen. Dass man dabei nur ver­lieren kann, zuer­ste einen geliebten Lehrer udn dann sich selb­st. Dass man sich dadurch sein­er grundle­gen­sten Ebe­nen beraubt. Und sein­er schön­sten Bilder. (125)

Paulus Böh­mer: Werich­bin. Gedichte. Frank­furt am Main: Edi­tion Faust 2014. 56 Seit­en.

boehmer, wer ich bin“Gedichte” stimmt hier ger­ade so — es sind näm­lich genau zwei Langgedichte, die in diesem kleinen Bänchen zu find­en sind: “Werich­bin” (das scheint die bevorzugte Schreib­weise des Titels zu sein) und “Über das Zusam­men­fü­gen von Teilen”. Bei­de sind wieder typ­is­che Böh­mer-Schöp­fun­gen: Auf Mit­telachse ste­hen diese Text­türme, ohne Reim oder festes Metrum, sind sie fort­laufende Ket­ten von Ein­fällen und Assozi­a­tio­nen. For­mgebend ist beim Titelgedicht “Wer ich bin” zum Beispiel das “Wie” — “So” und “Daß” am Beginn der einzel­nen Vers­grup­pen in den drei Teilen des Titelgedichts.

Wer diesen (Vor-)Namen trägt, muss vielle­icht so schreiben: voller Bildge­walt, voller Wis­sen, immer alles wol­lend und auch alles sagen wol­lend, Texte voller Welthaltigkeit (oder vielle­icht auch Weltall­haltigkeit?) und Sprach­be­herrschung pro­duzierend. Auch “Werich­bin” über­wältigt mit dieser Vielfalt, wie immer bei Böh­mer ist das alles kaum fass­bar. Seine Gedichte hin­ter­lassen bei mir den Ein­druck von Größe und auch Erhaben­heit (das mag mit dem hym­nis­chen Ton sein­er Lyrik zusam­men­hän­gen), von Sprachge­walt und wis­sender Klugheit, die den Leser emporzuheben scheint (auch wenn ich nicht unbe­d­ingt sagen kön­nte, wohin — oder was ich daraus “gel­ernt” hätte): Man kann — und das behaupte ich ja gerne von guten Kunst­werken — das nicht lesen (bzw. sehen oder hören), ohne danach ein ander­er Men­sch zu sein. Und hat immer etwas von per­ma­nen­ter Über­forderung: Ich habe beim Lesen immer das Gefühl, dass mir viel ent­ge­ht — zugle­ich aber auch den Ein­druck, dass ich ganz viel davon habe, das jet­zt zu lesen. Michael Braun hat in sein­er Rezen­sion wohl nicht ganz zu Unrecht darauf hingewiesen, dass Böh­mers Lyrik als “Über­fluss-Pro­duk­tion” funk­tion­iere. Das macht sie aber eben schwierig und faszinierend zugle­ich …
Das kleine Bänd­chen — sozusagen Böh­mer für Ein­steiger (Kad­dish ist da allein wegen seines Umfangs ja schon abschreck­ender …) — enthält außer den bei­den Gedicht­en noch ein kurzes Nach­wort (das mir wenig brachte) und drei Col­la­gen — eine bunte vom Autor auf dem Umschlag, eine schwarz-weiße von ihm im Vor­satz und eine weit­ere von Lydia Böh­mer zu Beginn von “Über das Zusam­men­fü­gen von Teilen”.

Marc Degens: Fuckin Sushi. Köln: DuMont 2014. 320 Seit­en.

degens, sushiEin tolles Buch übers Erwach­sen­wer­den in Bonn, die Musik (und den Alko­hol), das Leben und den ganzen Rest: intel­li­gent aus­gedacht, schnell und flott geschrieben und auch zügig gele­sen — und zudem gibt es eine reich­haltige cross­me­di­ale Begleitung für die, die so etwas mögen — die fängt übri­gens mit Playlists des Pro­tag­o­nis­ten (u.a. sein erster Ipod mit “langer” Musik) schon im Buch selb­st an. Mehr zu dieser Leseempfehlung gibt es in einem eige­nen Text, näm­lich hier.

Ulrich Lap­penküper & Ulf Mor­gen­stern (Hrsg.): Dem Otto sein Leben von Bis­mar­ck. Die besten Anek­doten über den Eis­er­nen Kan­zler. München: Beck 2015. 128 Seit­en.

lappenküper, bismarckDer Titel ist natür­lich sel­ten däm­lich. Wieso sich der Beck-Ver­lag zu so einem Unsinn hin­reißen lassen hat, ver­ste­he ich nicht. Denn das Büch­lein hat ja dur­chaus einen hohen Anspruch. Sich­er, es geht um Anek­doten. Aber die sollen viel leis­ten, wie die bei­den Her­aus­ge­ber in der Ein­leitung beto­nen:

[…] hegen die Her­aus­ge­ber die Hoff­nung, mitels der hier ver­sam­melten Äußerun­gen von und über Bis­mar­ck sein­er Per­sön­lichkeit näher zu kom­men, als es manch tief­gründi­ge his­torische Darstel­lung ver­mag. (8)

Ich halte das prinzip­iell für gewagt und im Falle dieser kleinen Samm­lung auch für nicht erfüllt. So viel also zum Neg­a­tiv­en. Was bleibt dann? Eine kuriose Samm­lung von mehr oder min­der amüsan­ten Begeg­nun­gen, Begeben­heit­en und Erin­nerun­gen Bis­mar­cks und seines Umfeldes. Die ersten Jahre sind naturgemäß schwach vertreten und ger­ade dort bleibt der Pro­tag­o­nist auch blass, wenn auch seine Genial­ität natür­lich (schließlich wur­den die Anek­doten alle Jahrzehnte später niedergeschrieben) schon allen Ver­ständi­gen sicht­bar war. Über­haupt entste­ht hier das Bild eines Bis­mar­ck, der nicht so sehr “Eis­ern­er Kan­zler” war, son­dern vor allem ein gewitzter Draufgänger. Das liegt natür­lich (auch) in der Natur der hier ver­sam­melten Quellen begrün­det — wie wahr das ist, kann ich nicht wirk­lich beurteilen. Fest­stellen lässt sich aber auch ohne detail­lierte Bis­mar­ck-Ken­nt­nisse die Nei­gung zur frühen und ziem­lich voll­ständi­gen (Selbst-)Stilisierung.

Daneben wer­den aber dur­chaus auch schöne Begeben­heit­en hier berichtet. Zum Beispiel über die Rolle des Rauchens im Frank­futer Bun­destag, das schnell als Rang­merk­mal, als Sta­tussym­bol ent­deckt wird (wer darf in den Sitzun­gen rauchen?) und das fast genau­so schnell seine Untauglichkeit dafür erweist, weil schließlich (nahezu) alle rauchen, selb­st wenn sie, d.h. die Gesandten, es nur unter größtem per­sön­lichem Wider­willen tun. Auch schön: Bis­mar­cks etwas däm­lich­er Feldzug gegen die Anti­qua-Drucke und sein Beste­hen auf Frak­tur-Schriften für den Dien­st­ge­brauch. Und hier darf natür­lich nicht fehlen: Sein Wider­stand gegen die Ein­führung ein­er neuen Rechtschrei­bung (1876). Dazu heißt es in diesem Bänd­chen, das alles in allem doch eine nette Lek­türe für zwis­chen­durch ist:

Er sprach mit wahrem Ingrimm über die Ver­suche, eine neue Orthogra­phie einzuführen. Er werde jeden Diplo­mat­en in eine Ord­nungsstrafe nehmen, welch­er sich der­sel­ben bedi­ene. Man mute dem Men­schen zu, sich an neue Maße, Gewichte, Münzen zu gewöh­nen, ver­wirre alle gewohn­ten Begriffe, und nun wolle man auch noch eine Sprachkon­fu­sion ein­führen. Das sei unerträglich. Beim Lesen auch noch Zeit zu ver­lieren, um sich zu besin­nen, welchen Begriff das Zeichen aus­drücke, sei eine uner­hörte Zumu­tung. Eben­so sei es Unsinn, Deutsch mit lateinis­chen Let­tern zu schreiben und zu druck­en, was er sich in seinen dien­stlichen Beziehun­gen ver­bit­ten werde, solange er noch etwas zu sagen habe. (79)

außer­dem gele­sen:

  • Mar­cel Bey­er: XX. Licht­en­berg-Poet­ikvor­lesun­gen. Göt­tin­gen: Wall­stein 2015 (Göt­tinger Sudel­blät­ter). 80 Seit­en.
  • Bertolt Brecht: Der gute Men­sch von Sezuan. Para­bel­stück. Frank­furt am Main: Suhrkamp 1964. 144. Seit­en.
  • Got­tfried Immanuel Wen­zel: Ver­brechen aus Infamie. Eine the­atralis­che Men­schen­schilderung für Richter und Psi­cholo­gen in drei Akten. Mit einem Nach­wort her­aus­gegeben von Alexan­der Kos­en­i­na. Han­nover: Wehrhahn 2014 [1788] (The­ater­texte, Bd. 43). 64 Seit­en.

Aus-Lese #25

Marc Augé: Die For­men des Vergessens. Berlin: Matthes & Seitz 2013. 106 Seit­en.

Augé plädiert in diesem Essay dafür, Vergessen als Teil der Erin­nerung vom Ruch des Makels zu befreien: Vergessen ist für ihn insofern unau­flös­lich mit dem Erin­nern ver­bun­den, weil über­haupt nur durch das Vergessen von manchem manch­es erin­nert wer­den kann und als Erin­nerung ver­füg­bar sein kann. Die Sicht ist die des Eth­nolo­gen (und die Reflek­tion sein­er Methode(n) nimmt erhe­blichen Raum ein): Die zeitliche Gebun­den­heit der Fik­tion (bzw. der Nar­ra­tion) des Lebens, aus der der Eth­nologe (bei Augé gibt es keine Frauen ;-)) seine Erzäh­lun­gen formt, sind ein wiederkehren­des Motiv. Und diese Erzäh­lun­gen sind für ihn auf allen Ebe­nen immer Pro­duk­te des Gedächt­niss­es, wom­it das Vergessen wieder ins Spiel kommt. Fast neben­bei liefert er dazu viel Mate­r­i­al und Anek­doten aus dem Schatz des Eth­nolo­gen zu Erin­nern und Vergessen, aber eigentlich vor allem zu Fik­tion und Erzäh­lung (in die Vergessen und Erin­nern hier immer einge­bun­den sind).

Vergessen ist für Augé nicht nur als Ele­ment der Erin­nerung zu ver­ste­hen, son­dern als pro­duk­tiv­er Vor­gang der Erzäh­lung (und damit Gestal­tung) der Wirk­lichkeit — denn Vergessen, so Augé, öffnet Möglichkeit­en, Poten­tial­itäten der Ver­gan­gen­heit, der Gegen­wart oder der Zukun­ft. Also genau das, was Indi­viduen und Gemein­schaften brauchen:

Gedächt­nis und Vergessen bedin­gen sich gegen­seit­ig, bei­de sind notwendig zum umfassenden Gebrauch der Zeit. […] Das Vergessen führt uns zur Gegen­wart zurück […]. Man muss vergessen, um anwe­send zu bleiben, vergessen, um nicht zu ster­ben, vergessen, um treu zu bleiben. (102f.)/

Alexan­der Losse: Stro­phen. Berlin: Karin Kramer 2010. 65 Seit­en.

Stro­phen ist ein extrem deskrip­tiv­er Titel, denn das Lyrikde­büt Loss­es enthält genau das: Stro­phen. Genauer: 62 einzelne Stro­phen, alles Vierzeil­er (eine sechsver­sige Stro­phe ist auch dabei) mit dem sehr auf­fal­l­en­de­nen Ele­ment des Kreuz- bzw. umar­mende Reims organ­isiert. Getra­gen wer­den die kurzen Gedichte Loss­es durch ihre Lied­haftigkeit. Auch eine gewisse, schwebende Leichtigkeit ist ihrer Sprache eigen. Vor allem spricht aus ihnen (fast) allen aber ein großer, exis­ten­tieller Ernst: “Ver­wüs­tung eine Seele schuf” heißt es zum Beispiel gle­ich in der ersten Stro­phe. Fra­gende Meta­phern, offen für Antworten oder Ein­würfe bes­tim­men die meis­ten Stro­phen. Sie kön­nen sich auch recht gut ver­lieren — in der Kürze, der Klein­heit und der (fes­ten, vorgebe­nen, unange­tasteten) Form. Und manch­mal bleiben sie auch ein­fach in der Banal­ität des Reims und der religiös-christlich-kirch­lichen Meta­phern steck­en, so dass ich nicht so recht weiß, ob ich — bei eini­gen sicher­lich sehr guten „Stro­phen“ — den ganzen Band wirk­lich richtig gut finde …

XLVI
Gehst so leise in die Kirche,
fliehst so spät zum untern Grund.
Wessen Hand hat nur berühret,
wessen Weg dich herge­führet,
wessen Opfer schweigt dein Mund.
Gehst so leise in die Kirche.

Paulus Böh­mer: Kad­dish I‑X. Frank­furt am Main: Schöf­fling 2002. 345 Seit­en.

großar­tig: Die Form des Kad­dish, des jüdis­chen Trauerge­betes, nutzt Böh­mer, um den Leser mit so ziem­lich allem zu kon­fron­tieren, was sich denken lässt: Im Modus der Vergänglichkeit tauchen Sex­u­al­ität und Phan­tasie, Bil­dung und Erleben, Hochkul­tur und Under­ground neben‑, über- und hin­tere­inan­der auf. Das ist in sein­er Dichte und vor allem der per­ma­nen­ten Anspan­nung kaum am Stück zu lesen. Zehn Kad­dishs ver­sam­melt Böh­mer in diesem Band (inzwis­chen ist ja noch ein zweit­er erschienen), als eine Art Langgedichte mit 12 bis 50 Druck­seit­en Länge — also ganz schöne Brock­en. Und da Böh­mer immer mit ein­er kun­stvoll gesucht­en, unge­heuer vielfälti­gen, reichen Sprache auf höch­stem Niveau arbeit­et, ver­langt das auch dem Lesen viel Konzen­tra­tion, Aufmerk­samkeit und Durch­hal­tewil­len ab — Anstren­gun­gen, die sich aber lohnen, denn in sein­er konzen­tri­erten Erschöp­fung der Vergänglichkeit der Welt und des Lebens ist Böh­mer ein großar­tiger Lyrik­er.

Johannes Fried: Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biogra­phie. München: Beck 2013. 736 Seit­en.

Der Ver­lag — und auch einige Rezensen­ten — kön­nen sich ja vor Begeis­terung über diesen Wälz­er kaum einkriegen. Ganz so ging es mir nicht. Das liegt aber nur zum Teil an Fried selb­st, son­dern auch am Ver­lag. Nervig fand ich die — für einen Ver­lag wie Beck! — extrem niedrige Lek­torak­ts- und Pro­duk­tion­squal­ität. Ein paar Beispiele: die Kapitälchen ohne Klein­buch­staben, Flüchtigkeits­fehler (wie die falsche Veror­tung Ingel­heims auf der Karte oder falsche, nicht erk­lärte Abkürzun­gen im Text) und der auf Dauer etwas steife Stil, der etwas lek­to­ri­erende Glät­tung dur­chaus ver­tra­gen hätte, falsche Anmerkun­gen, die ver­wirrende Num­merierung der Abbil­dun­gen und Farbtafeln, das fehlende Abbil­dungsverze­ich­nis, der falsche Kolum­nen­ti­tel im Appen­dix, der bil­lige Umschlag …

Aber es geht ja um den Text selb­st. Der bietet sehr, sehr viel — aber nicht unbe­d­ingt das, was der Unter­ti­tel ver­spricht. “Eine Biogra­phie” ist das näm­lich aller­höch­stens periph­er, eigentlich über­haupt nicht. Das Leben eines karolingis­chen Herrsch­ers ist ja nicht mehr auszu­loten, worauf Fried selb­st natür­lich hin­weist — also bre­it­et ein Mit­te­lal­ter-His­torik­er alles aus, was er aus und über diese Zeit weiß. Das ist manch­mal sehr all­ge­mein und manch­mal sehr speziell (wie sich über­haupt mir manch­mal der Ein­druck auf­drängte, dass Fried nicht so genau wusste, für wen er eigentlich schreiben will: für den inter­essierten Laien? — Dafür set­zt er ziem­lich oft sehr gründliche Vorken­nt­nisse voraus. Für die Fachkol­le­gen? Dafür ist manch­es etwas all­ge­mein bis über­flüs­sig (und die Anmerkun­gen bzw. das Lit­er­aturverze­ich­nis etwas unge­nau …). Ger­ade das Panora­ma der früh­mit­te­lal­ter­lichen Welt macht diesen Karl aber so wertvoll.

Und Frieds Ansatz, Karls Leben und Hand­lun­gen mit zwei Moti­va­tion­ssträn­gen — den im Unter­ti­tel genan­nten Kom­plex­en “Gewalt” und “Glaube” — zu erk­lären, ist dur­chaus nachvol­lziehbar und richtig. Auch wenn, wie er es selb­st entwick­elt, die “Gewalt” — ins­beson­dere eben die Kriege wie die gegen die Sach­sen — (fast) immer aus dem “Glauben” erwächst. Das gelingt Fried übri­gens sehr schön, der Ver­such, Karl und seine Moti­va­tion aus dem Wis­sen und den Überzeu­gun­gen sein­er Zeit zu erk­lären. Fast bestechend wird das etwa bei der Frage nach der Kaiserkro­ne — ein Unternehmen, dass Fried dur­chaus schlüs­sig mit dem Ver­weis auf die ver­bre­it­ete und wahrgenommene Endzeit­stim­mung um 800 erk­lären kann.

Ann Cot­ten: Der schauernde Fäch­er. Erzäh­lun­gen. Berlin: Suhrkamp 2013. 253 Seit­en.

Obwohl ich Ann Cot­ten als Lyrik­erin dur­chaus mit Wertschätzung und Inter­esse wahrgenom­men habe, kann ich mit ihrem ersten Erzäh­lungs­band eher wenig anfan­gen. Das ist sehr wild, ungezähmt, unge­formt scheint es oft — wuch­ernd in Phan­tasie und Stil. Meistens/immer geht es um Liebes­beziehun­gen, um den Beginn ein­er Ver­trautheit und Zunei­gung und Liebe — aber in sehr selt­samen Kon­fig­u­ra­tio­nen und Beschrei­bun­gen. Schön und klug sind die eingear­beit­eten (oft eher unauf­fäl­li­gen, sel­ten expliziten) Gen­der-The­ma­tisierun­gen. Manch­es hat dur­chaus poet­is­ches Poten­tial, das sich auch beim ersten Lesen zeigt. Anderes erschien mir eher fahrig und ausufer­nd, mehr Ein­fall als Form, mehr Idee als Ausar­beitung, mehr Prä­ten­tion als Ein­lö­sung. Aber vielle­icht bin ich da etwas ungerecht — jeden­falls ver­spürte ich öfters ein­fach keine Lust, micht auf diese Tex­twel­ten wirk­lich einzu­lassen (warum auch immer).

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