Was sie sagen,
die Vorfahren,
geht uns vielleicht gar nichts an.
Wir sehen, was sie tun, was sie taten,
aber ob es sie waren?Ich könnte in die Bibliothek gehen
und lesen, was eigentlich gemeint war,
und schreien.
Ich könnte die Blödheit im Schnitt der Steine,
vermergelt mit Weisheit, erkennen
und schreien,
eingemauert in diese Geschichte.Es muss Geschwister geben (alle so Schwesta, Bruda, Cousin)
unterschiedlich reagierend auf den gleichen Schas,
gleich (gemeinsam) im Unterschiedlichen,und ich bin blöde zu meinem Glück
wie ein Götterbaum ein, zwei Meter wachsend im Jahr,
das kann ich,
mit dem ganzen Körper in die Bewegung lehnen.Die Anleitungen: Was sagen sie, was — wohin fallen sie,
Ann Cotten (aus: Die Anleitung der Vorfahren. Berlin: Suhrkamp 2023, s. 138)
dahin fallen wir auch und dann sagen wirs nicht.
Schau mich an,
wir sind die Ruinen
für alle Idyllen,
wir sind die Minen
für Ironie
Schlagwort: ann cotten
Ins Netz gegangen am 10.3.:
- Liebe Raubkopierer bei der SPD, | taz Hausblog — Sebastian Heiser mahnt SPD-Gruppierungen ab, weil sie eines seiner Fotos nicht lizenzgemäß verwandten:
Normalerweise stört es mich nicht, wenn andere Leute meine Texte oder Bilder weiterverbreiten. Falls es mich doch mal stört, schreibe ich eine freundliche E‑Mail oder greife zum Telefon (außer bei Kai Diekmann). Aber in diesem Fall dachte ich mir: Warum sollen unter dem kaputten Urheberrecht immer nur die Leute leiden, die damit täglich arbeiten müssen? Und nicht auch mal die, die dafür verantworlich sind?
- Hubert Fichte — Der schwarze Engel — (Nachtrag zur Erinnerung an seinen Todestag am 8. März)
- Sybille Lewitscharoff: Sybille Bergs Gedanken zur Skandalrede — SPIEGEL ONLINE — Sybille Bergs heutige Kolumne könnte man Satz für Satz zitieren — sie hat einfach Recht …
Unverständlich jedoch: Was bringt scheinbar gesunde, gutsituierte Menschen dazu, unverdrossen über Dinge zu reden, die sie nicht betreffen, sondern nur die Trägheit ihres Geistes offenbaren? Homophobie, Angst vor Randgruppen und Ekel vor in Retorten gezeugtem Leben sagen nur etwas über den Verstand der lallenden Kritiker aus. Sie sagen: Ich bin am Ende mit meiner Weisheit. Ich will nicht denken, ich will mich nicht neu orientieren. Ich will keine Welt, in der alle Menschen gleich sind.
- Justiz: Bitte entschuldigen Sie, Herr Edathy | ZEIT ONLINE — Thomas Fischer, Richter am BGH, in der “Zeit” über die Rolle der Staatsanwaltschaft im Strafrecht, ihre Entwicklung und ihren gegenwärtigen Zustand — natürlich aus aktuellem Anlass:
Man wagt es kaum zu sagen: Vielleicht sollte sich der Rechtsstaat – jedenfalls vorläufig, bis zum Beweis des Gegenteils – bei dem Beschuldigten Sebastian Edathy einfach entschuldigen. Er hat, nach allem, was wir wissen, nichts Verbotenes getan. Vielleicht sollten diejenigen, die ihn gar nicht schnell genug in die Hölle schicken wollen, vorerst einmal die eigenen Wichsvorlagen zur Begutachtung an die Presse übersenden. Vielleicht sollten Staatsanwaltschaften weniger aufgeregt sein und sich ihrer Pflichten entsinnen. Vielleicht sollten Parteipolitiker ihren durch nichts gerechtfertigten herrschaftlichen Zugriff auf den Staat mindern. Vielleicht sollten aufgeklärte Bürger ernsthaft darüber nachdenken, wo sie die Grenze ziehen möchten zwischen Gut und Böse, zwischen dem Innen und Außen von Gedanken und Fantasien, zwischen legalem und illegalem Verhalten. Zwischen dem nackten Menschen und einer “Polizey”, die alles von ihm weiß.
- Ann Cotten im Interview: Die Abweichung bejahen | Frankfurter Rundschau — Judith von Sternburg spricht mit Ann Cotten
Als ich einmal Ornamente gezeichnet habe, fiel mir auf, dass in meiner Struktur offenbar etwas angelegt ist, das die Abweichung immer bejaht. Ich versuche, den absolut schönen Kreis, die gerade Linie zu zeichnen, aber meine Finger sind bis in die Spitzen darauf trainiert, die Abweichung gutzuheißen. […]
Ich glaube, es wäre voreilig, sich damit zufrieden zu geben, nicht perfekt sein zu wollen. Natürlich kann ich nicht wie ein Computer zeichnen, aber die Bemühung darum macht etwas mit mir. Ich habe genug Chaos in mir, um froh zu sein, wenn ich mich um klare Formen bemühe. Ohne die Liebe zur unerreichbaren Perfektion, zu Gott, wie immer Sie es nennen wollen, wäre Kunst auch nur so ein Kacken. Wenn man sich damit zufrieden gibt, das Fleischliche, Fehlerhafte zu feiern.
Augé plädiert in diesem Essay dafür, Vergessen als Teil der Erinnerung vom Ruch des Makels zu befreien: Vergessen ist für ihn insofern unauflöslich mit dem Erinnern verbunden, weil überhaupt nur durch das Vergessen von manchem manches erinnert werden kann und als Erinnerung verfügbar sein kann. Die Sicht ist die des Ethnologen (und die Reflektion seiner Methode(n) nimmt erheblichen Raum ein): Die zeitliche Gebundenheit der Fiktion (bzw. der Narration) des Lebens, aus der der Ethnologe (bei Augé gibt es keine Frauen ;-)) seine Erzählungen formt, sind ein wiederkehrendes Motiv. Und diese Erzählungen sind für ihn auf allen Ebenen immer Produkte des Gedächtnisses, womit das Vergessen wieder ins Spiel kommt. Fast nebenbei liefert er dazu viel Material und Anekdoten aus dem Schatz des Ethnologen zu Erinnern und Vergessen, aber eigentlich vor allem zu Fiktion und Erzählung (in die Vergessen und Erinnern hier immer eingebunden sind).
Vergessen ist für Augé nicht nur als Element der Erinnerung zu verstehen, sondern als produktiver Vorgang der Erzählung (und damit Gestaltung) der Wirklichkeit — denn Vergessen, so Augé, öffnet Möglichkeiten, Potentialitäten der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft. Also genau das, was Individuen und Gemeinschaften brauchen:
Gedächtnis und Vergessen bedingen sich gegenseitig, beide sind notwendig zum umfassenden Gebrauch der Zeit. […] Das Vergessen führt uns zur Gegenwart zurück […]. Man muss vergessen, um anwesend zu bleiben, vergessen, um nicht zu sterben, vergessen, um treu zu bleiben. (102f.)/
Strophen ist ein extrem deskriptiver Titel, denn das Lyrikdebüt Losses enthält genau das: Strophen. Genauer: 62 einzelne Strophen, alles Vierzeiler (eine sechsversige Strophe ist auch dabei) mit dem sehr auffallendenen Element des Kreuz- bzw. umarmende Reims organisiert. Getragen werden die kurzen Gedichte Losses durch ihre Liedhaftigkeit. Auch eine gewisse, schwebende Leichtigkeit ist ihrer Sprache eigen. Vor allem spricht aus ihnen (fast) allen aber ein großer, existentieller Ernst: “Verwüstung eine Seele schuf” heißt es zum Beispiel gleich in der ersten Strophe. Fragende Metaphern, offen für Antworten oder Einwürfe bestimmen die meisten Strophen. Sie können sich auch recht gut verlieren — in der Kürze, der Kleinheit und der (festen, vorgebenen, unangetasteten) Form. Und manchmal bleiben sie auch einfach in der Banalität des Reims und der religiös-christlich-kirchlichen Metaphern stecken, so dass ich nicht so recht weiß, ob ich — bei einigen sicherlich sehr guten „Strophen“ — den ganzen Band wirklich richtig gut finde …
XLVI
Gehst so leise in die Kirche,
fliehst so spät zum untern Grund.
Wessen Hand hat nur berühret,
wessen Weg dich hergeführet,
wessen Opfer schweigt dein Mund.
Gehst so leise in die Kirche.
großartig: Die Form des Kaddish, des jüdischen Trauergebetes, nutzt Böhmer, um den Leser mit so ziemlich allem zu konfrontieren, was sich denken lässt: Im Modus der Vergänglichkeit tauchen Sexualität und Phantasie, Bildung und Erleben, Hochkultur und Underground neben‑, über- und hintereinander auf. Das ist in seiner Dichte und vor allem der permanenten Anspannung kaum am Stück zu lesen. Zehn Kaddishs versammelt Böhmer in diesem Band (inzwischen ist ja noch ein zweiter erschienen), als eine Art Langgedichte mit 12 bis 50 Druckseiten Länge — also ganz schöne Brocken. Und da Böhmer immer mit einer kunstvoll gesuchten, ungeheuer vielfältigen, reichen Sprache auf höchstem Niveau arbeitet, verlangt das auch dem Lesen viel Konzentration, Aufmerksamkeit und Durchhaltewillen ab — Anstrengungen, die sich aber lohnen, denn in seiner konzentrierten Erschöpfung der Vergänglichkeit der Welt und des Lebens ist Böhmer ein großartiger Lyriker.
Der Verlag — und auch einige Rezensenten — können sich ja vor Begeisterung über diesen Wälzer kaum einkriegen. Ganz so ging es mir nicht. Das liegt aber nur zum Teil an Fried selbst, sondern auch am Verlag. Nervig fand ich die — für einen Verlag wie Beck! — extrem niedrige Lektorakts- und Produktionsqualität. Ein paar Beispiele: die Kapitälchen ohne Kleinbuchstaben, Flüchtigkeitsfehler (wie die falsche Verortung Ingelheims auf der Karte oder falsche, nicht erklärte Abkürzungen im Text) und der auf Dauer etwas steife Stil, der etwas lektorierende Glättung durchaus vertragen hätte, falsche Anmerkungen, die verwirrende Nummerierung der Abbildungen und Farbtafeln, das fehlende Abbildungsverzeichnis, der falsche Kolumnentitel im Appendix, der billige Umschlag …
Aber es geht ja um den Text selbst. Der bietet sehr, sehr viel — aber nicht unbedingt das, was der Untertitel verspricht. “Eine Biographie” ist das nämlich allerhöchstens peripher, eigentlich überhaupt nicht. Das Leben eines karolingischen Herrschers ist ja nicht mehr auszuloten, worauf Fried selbst natürlich hinweist — also breitet ein Mittelalter-Historiker alles aus, was er aus und über diese Zeit weiß. Das ist manchmal sehr allgemein und manchmal sehr speziell (wie sich überhaupt mir manchmal der Eindruck aufdrängte, dass Fried nicht so genau wusste, für wen er eigentlich schreiben will: für den interessierten Laien? — Dafür setzt er ziemlich oft sehr gründliche Vorkenntnisse voraus. Für die Fachkollegen? Dafür ist manches etwas allgemein bis überflüssig (und die Anmerkungen bzw. das Literaturverzeichnis etwas ungenau …). Gerade das Panorama der frühmittelalterlichen Welt macht diesen Karl aber so wertvoll.
Und Frieds Ansatz, Karls Leben und Handlungen mit zwei Motivationssträngen — den im Untertitel genannten Komplexen “Gewalt” und “Glaube” — zu erklären, ist durchaus nachvollziehbar und richtig. Auch wenn, wie er es selbst entwickelt, die “Gewalt” — insbesondere eben die Kriege wie die gegen die Sachsen — (fast) immer aus dem “Glauben” erwächst. Das gelingt Fried übrigens sehr schön, der Versuch, Karl und seine Motivation aus dem Wissen und den Überzeugungen seiner Zeit zu erklären. Fast bestechend wird das etwa bei der Frage nach der Kaiserkrone — ein Unternehmen, dass Fried durchaus schlüssig mit dem Verweis auf die verbreitete und wahrgenommene Endzeitstimmung um 800 erklären kann.
Obwohl ich Ann Cotten als Lyrikerin durchaus mit Wertschätzung und Interesse wahrgenommen habe, kann ich mit ihrem ersten Erzählungsband eher wenig anfangen. Das ist sehr wild, ungezähmt, ungeformt scheint es oft — wuchernd in Phantasie und Stil. Meistens/immer geht es um Liebesbeziehungen, um den Beginn einer Vertrautheit und Zuneigung und Liebe — aber in sehr seltsamen Konfigurationen und Beschreibungen. Schön und klug sind die eingearbeiteten (oft eher unauffälligen, selten expliziten) Gender-Thematisierungen. Manches hat durchaus poetisches Potential, das sich auch beim ersten Lesen zeigt. Anderes erschien mir eher fahrig und ausufernd, mehr Einfall als Form, mehr Idee als Ausarbeitung, mehr Prätention als Einlösung. Aber vielleicht bin ich da etwas ungerecht — jedenfalls verspürte ich öfters einfach keine Lust, micht auf diese Textwelten wirklich einzulassen (warum auch immer).
Ann Cotten liest von unerwiederter Liebe, Prinzipienbastelei, Selbstschau und Ekel — und ein Text wie “Der schaudernde Fächer”, in dem Wendungen wie “indulgierte Idiosynkrasien” vorkommmen, verheißt mir Lesevergnügen … Zum Anschauen/Anhören muss man sich leider zur “Zeit” hinüber begeben, das Video lässt sich nicht einbinden: klick.
‘Kay. Brauchen wir einen Absatz für eine Zeile.
Oder? Ruf ich ein Wort, und es kommt ein Gedicht,
steht belämmert herum wie Rilkes Zombiemädchen,
wie die einst Gerufenen noch immer, mit karolisch
langsamen Bärten Redaktionsgesänge durchsegeln,
wie das niedliche Gestampf in der Bar, die gern unsere wäre,
so haben alle recht, denn die Temperaturen sind da,
“10 Derrida”, sagt man zueinander, und noch mal,
denn der Witz ist scharf genug für ne ganze Zeile.