Ich probiere mal wieder etwas Neues … Da ich meine Meldungen “Aus-Lese” mit einer kurzen subjektiven Skizze der jeweiligen Lektüre und meines Eindruckes dazu versehen habe, bedeutet das einen (zwar kleinen) gewissen Aufwand, der mich in der letzten Zeit weitgehend davon abgehalten hat, die Serie fortzuführen. Also gibt es jetzt einen neuen Versuch im deutlich reduzierten Format …
Heimito von Doderer: Unter schwarzen Sternen. Erzählungen. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1973. 153 Seiten. ISBN 978–3‑423–00889‑1.
Der schmale Band mit Erzählungen — überwiegend aus den 1950er und 1960er Jahren — hat es nicht geschafft, meine respektvolle Distanz zu Doderer zu verringern. Ich erkenne (und schätze) die Kunstfertigkeit und das Stilbewusstsein des Autors, aber davon abgesehen bleiben mir die Texte (das ging mir mit seinen Romanen ähnlich) eher fremd.
Eine nette kurze Feierabendlektüre, die den Menschen Marcus Tullius Cicero flott, unterhaltsam, auch pointiert porträtiert. Dabei klingt das große (selbstverständliche) Fachwissen der römischen Geschichte immer mit. Mir fehlt allerdings etwas die genauere und ausführlichere Beschäftigung mit den Inhalten von Ciceros Werken. Der Band bleibt (absichtlich) weitgehend (nicht nur, aber doch überwiegend) am Äußeren von Ciceros Leben. — Natürlich wäre das auch viel verlangt, beides auf 100 Seiten zufriedenstellend zu erledigen, das ist mir durchaus bewusst. Für meinen Geschmack hätte eine zumindest teilweise Verschiebung des Fokus aber dennoch gut getan.
Gerhard Poppenberg: Herbst der Theorie. Erinnerungen an die alte Gelehrtenrepublik Deutschland. Berlin: Matthes & Seitz 2018 (Fröhliche Wissenschaft 111). 239 Seiten. ISBN 978–3‑95757–386‑5.
Ein faszinierender Text. Ich könnte aber nur schwer genau sagen, was das eigentlich ist — und worauf der Text hinaus will. Auf der Suche nach so etwas wie einer geistigen Signatur der BRD liest Poppenberg Autoren und ihre Rückblicke auf die letzten Jahrzehnte. So kommen Philipp Felsch, Frank Witzel, Ulrich Raulff und Friedrich Kittler gemeinsam in den Blick, werden genau (!) gelesen und mit durchaus sujektive gefärbten Darstellungen und Erinnerungen kombiniert. Das klingt jetzt viel seltsamer als es im Text ist. Der ist nämlich durchaus faszinierend und gelehrt — eine überaus anregende Mischung und auch eine anregende Lektüre.
Valentin Senger: Kaiserhofstraße 12. 4. Auflage der Neuausgabe. Frankfurt am Main: Schöffling 2012. 316 Seiten. ISBN 978–3‑89561–485‑9.
Roman oder autobiographische Erzählung — eigentlich ist das ja egal. Was es auf jeden Fall ist: Eine — angesichts des Sujets — erstaunlich leichte und leichtfüßige Erzählung der jüdischen Familie Senger vor und während des Nationalsozialismus. Das einzigartige daran ist, das merkt der Erzähler auch selbst, wie wundervoll das gelingt: Ein Wunder ist das Überleben, ein Wunder ohne Staunen. Natürlich gibt es, ganz klassisch, Schwierigkeiten zu überwinden. Aber um Ende siegt doch die Leichtigkeit, das Leben, die fast unverschämte Unvernunft und Unbesorgtheit des Erzählers und seiner Familie. Das ganze ist sehr direkt, unmittelbar erzählt — ein Text, dem man sich kaum entziehen kann (und es ja eigentlich auch nicht möchte). Die meistenteils knappen Kapitel, fast Erinnerungsbruchstücke (vor allem im ersten Teil, der frühen Kindheit des Erzählers) machen dne Text auch gut zugänglich und konsumierbar — sicherlich auch ein Faktor, der zum Erfolg des Buches, das seit 1978 in mehreren Auflagen und Ausgaben (und Verlagen) erschienen ist.
Norbert Frei/Christian Morina/Franka Maubach/Maik Tändler: Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus. Berlin: Ullstein 2019. 224 Seiten. ISBN 978–3‑550–20015‑1.
Der Titel kündigt eigentlich eher eine Streitschrift an: “Wider die Rückkehr des Nationalismus”. Das kann der Band aber kaum einlösen. Was er aber kann, und das durchaus recht gut und überzeugend: Hintergründe für Entwicklungen geben. Die Autor*innen bieten nämlich eine Rückschau auf die deutsche Geschichte seit 1945, in West und Ost, mit dem Fokus auf die diversen rechten, nationalistischen Strömungen, Diskussionen und Parteien, von der Entnazifizierung bis in die ungefähre Gegenwart. Das ist als Einordnung und Argumentationshilfe gut gemacht und gut zu nutzen. Die gesamtdeutsche Perspektive ist dabei durchaus hilfreich — unsicher bin ich allerdings, ob Bücher wie diese ihr Ziel wirklich erreichen können …
Almut Tina Schmidt: Zeitverschiebung. Graz, Wien: Droschl 2016. 189 Seiten. ISBN 978–3‑85420–978‑2.
Eigentlich ist SchmidtsZeitverschiebung eine Geschichte des erweiterten Erwachsenwerdens: Das Ende des Studiums, die ersten Jobs, sich verfestigende Beziehungen, die Liebe und dann das Kind, ein neuer Job, Zusammenziehen mit dem Partner und ein Happy End — das ist das Gerüst des Romans. Aber das ist auch der weniger interessante Teil des Romans. Schnell wird aber klar — der Titel ist in dieser Hinsicht ja überdeutlich … -, dass etwas anderes das eigentliche Thema ist: Die Zeit, genauer vielleicht: ihre Wahrnehmung, oder die wahrgenommene Positionierung der Ich-Erzählerin in ihrem strömenden Fließen.
Zeit ist ohnehin eine Illusion. (140)
Das Erleben und vor allem das Erzählen der Zeit verbindet sich mit ähnlich abstrakten Konzepten wie Fortuna oder Zufall. Denn die Verspätung — um die Zeitverschiebung etwas banaler zu verpassen — ist das zentrale Moment des Texte. Die chronologische Verspätung ist das eine, aber Verspätung ist eben auch ein Lebensgefühl (oder genauer: das Lebensgefühl einer Phase des Lebens): Das übermächtige Gefühl des Verpassens, des „zwischen“, „noch nicht“, und des immer schon zu spät sein, des Eindrucks, immer schon den Anfang verpasst zu haben … Aber selbst das happy end schlägt sich doch auch noch auf das Zeit(empfinden) — hier des eigenen, kleinen Kindes — nieder: „Und nimmt sich alle Zeit der Welt.“ (189) ist der Schlusssatz, der schön zum Anfangssatz passt: „Ich war ohnehin zu spät, konnte mir also Zeit lassen.“ (5)
Das Thema der Zeitverschiebung ist damit auf individueller Ebene sozusagen erledigt. Aber es wird eben deutlich (wie so oft in diesem Roman: überdeutlich), dass es in der nächsten Generation (wieder/noch) ein Thema sein kann. Allerdings, da schließt sich der Kreis nicht ganz: Noch ist das ein Kind, das “alle Zeit der Welt” hat. Vielleicht gelingt ihm/ihr (?) ja das Erwachsenwerden der Zeit(empfindung) gemäß den gesellschaftlichen Konventionen/Erwartungen parallel zum restlichen Erwachsenwerden? (Wobei Zeitverschiebung ja eigentlich eher die Frage aufwirft, ob man ohne dieses spezielle, d.h. “normale” Empfinden der Zeit, das Behagen darin, überhaupt erwachsen geworden ist — der Text verneint das eher und situiert seine Protagonistin ja mehr als deutlich in einem Zwischen, einem Übergangsstadium (klassisch: Pubertät), unabhängig von ihrem Alter.
Gerade der Anfang ist durchaus charmant erzählt, das muss man Schmidt attestieren, mit lässiger und heiterer Ironie-Distanz. Überhaupt ist die Sprache oft lakonisch, knapp und direkt mit Tendenz zum Humor. Es gibt wenig Ausschmückung, das hohe Tempo des Geschehens nimmt der Text gut auf: Die Zeit ist einfach nie genug, vor allem — so behauptet die Erzählerin immer wieder — lebt sie im Bewusstsein, sie zu verschwenden und hat permanent das Gefühl, die Zeit nicht genügend auszukosten, nicht ausreichend zu nutzen, immer nicht das Digentliche (des Lebens) zu tun, sondern nur einen Notbehelf, eine Zwischenlösung. Leider wird die Erzählung und die Sprache zunehmend konventioneller — sozusagen parallel zum Leben, dem Lebensentwurf der Erzählerin. Und damit verliert der Text leider meines Erachtens etwas: Sicher, das ist in Übereinstimmung mit der geschilderten Entwicklung. Aber es machte den Text für mich gegen Ende auch deutlich langweiliger.
Ich verschwendete mehr und mehr Zeit damit zu fürchten, meine Zeit ernsthaft zu verschwenden. (105)
Niemand ist das Alphabet einer seltsamen, schwierigen Vater-Tochter-Beziehung, die durch Abwesenheiten wesentlich mitbestimmt ist und von der Tochter nach dem Tod ihres Vaters erforscht und aufgeschrieben wird. Der wird uns als Melancholiker gezeigt, der auch daran stirbt (naja, eigentlich dann doch am Herzinfarkt), dessen Leben bestimmt ist vom Wahnsinn der Melancholie (?) und der sich immer wieder temporär in stationärer Behandlung befindet, zugleich aber (!) hoch angesehener Jura-Professor. Niemand nutzt für diesen nachträglichen Abschied den emotionalen, psychischen und literarischen Nachlass des Vater, aus dessen Schriften (teilweise auch fiktional gedacht) wird immer wieder zitiert. Denn zugleich ist der Roman auch ein Versuch des Erinnerns, mehr noch: der Vergegenwärtigung des Vaters durch die Auseinandersetzung, Aufarbeitung (Durcharbeitung) des Verhältnisses der Ich-Erzählerin mit ihm und ein Versuch, ihn — als Menschen, als Person — zu verstehen. Schwierig ist das insofern, als er schon während dem Leben verschwindet, (oder das zumindest als — in seinen Niederschriften offenbartes — Ziel hatte): eben ein Niemand werden, ein Mann ohne Eigenschaften.
Die Erzählerin verliert sich wunderbar in ihren eigenen Sätzen, häuft immer mehr Details und Erinnerungen an, türmt das auf, fügt immer neue Ergänzungen, Präzisierungen, Erweiterungen an. Die Sätze fangen oft ganz harmlos an und ufern dann maßlos aus. Aber das ist ja aber gerade der schöne und sympathische Witz des Textes: die ungetüme, wilde, chaotisch-fragmentarische Erinnerung wird nur durch das Alphabet der Kapitel gezähmt — zumindest scheinbar. Und letztlich bleibt der Versuch der Ordnung, ein kohärentes Ganzes dadurch zu schaffen (von Anfang bis Schluss in einer festgefügten Abfolge) auch vergeblich, eben nur ein Versuch, der im Text einmal als „Ordnung ohne Bedeutung“ klassifiziert wird (147). Aber sie ist wohl doch mehr: Denn die Buchstaben stehen ja nicht alleine, sondern werden in den Kapitelüberschriften zum Wort (mit Ausnahme des “Y”, wo die Ordnung dann eben auch reflektiert wird …).
„Nun gehen die Buchstaben aus, diese Ordnung ohne Bedeutung, mit deren Hilfe ich versucht habe, seine Unordnung und meine in den Griff zu bekommen, unsere Erinnerungen zu glätten und stammelnd dieses sehr alte Wissen zu buchstabieren, zu dem ich nicht durchgedrungen bin, als ob diese Wörter und Sätze, die unter dem Impuls und der Notwendigkeit einer anderern Ordnung, der seinigen – einer Aufforderung oder eines Versprechens (einen Roman daraus machen) –, hingeschrieben wurden, sogleich wieder in ihre ursprünglichen Bestandteile auseinanderfallen würden […] (147)
Michael Fehr: Glanz und Schatten. Erzählungen. Luzern: Der gesunde Menschenversand 2017. 141 Seiten. ISBN 9783038530398.
Simeliberg hatte mich ziemlich begeistert. Glanz und Schatten kann da leider nicht ganz mithalten. Vor allem die starke Konzentration und die fremde Härte, jeweils in Form und Sprache, von Simeliberg fehlt mir hier. Ganz oft weiß ich spontan (und später) überhaupt nicht, was die Texte wollen und/oder sollen, die Fremdheit ist und bleibt oft ziemlich groß: Irgendwie finde ich nicht zu dem Text. Dessen “Thema” könnte man oft nennen: die kalte, erbarmungslose Welt des (Spät-)Kapitalismus und des Konsums, die Zurichtungsmaschinen und ‑mechanismen der („freien“) Gesellschaft, wie sie sich vor allem in der Fremdbestimmung (statt Individualität) äußern — aber der Fremdbestimmung einer gesichtslosen, anonymen Macht. Das spielen die Texte mit dem Vorführen von Rollenbildern und ‑klischees, v.a. denen der Geschlechter, durch. Gewalt spielt dabei immer wieder eine außerordentlich Rolle: als Ventil, als Ausbruch aus den unentkommbaren Zwängen, als Umschlagen der Energien. Nico Bleutge hat in seiner Rezension des Bandes vorgeschlagen, die Texte als zum Vortrag bestimmte zu lesen — vielleicht ist das wirklich hilfreich, denn “alleine”, als blanker Text, finde ich nur in einigen wenigen (zum Beispiel dem intensiven “Studentin” oder “Mais”) genügend Faszination bei der Lektüre.
Felix Hartlaub: Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto. Herausgegeben von Wolfram Pyta und Wolfgang M. Schwiedrzik. Neckargemünd, Wien: Edition Mnemosyne 2017 (GegenSatz 8). 292 Seiten. ISBN 9783934012301.
Eine geschichtswissenschaftliche Dissertation aus dem Jahr 1940 über ein Ereignis aus dem Jahr 1571 — lohnt die Lektüre eines solchen Textes heute noch? Durchaus, kann man sagen, wenn der Verfasser Format hatte. Und das muss man Felix Hartlaub bescheinigen. Deshalb ist Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto tatsächlich auch noch interessant, als historische Darstellung eines historischen Ereignisses. Interessant ist auch die Form: Hartlaub arbeitet erzählend, er bringt (fast) keine Zitate und nutzt auch vergleichsweise wenige Quellen (und sowieso zur gedruckte): Als geschichtswissenschaftliche Qualifikationsschrift hätte das heute wohl keine Chance mehr. Auch als “Sachbuch” bin ich mir nicht ganz sicher, ob sich die Lektüre heute wirklich noch so unbedingt lohnt, wie die Herausgeber betonen … Sicher, die Stilisierung des sowieso schon zur Weltgeschichte hochstilisierten Ereignisses ist gekonnt umgesetzt. Aber viel mehr sehe ich da jetzt nicht unbedingt …
Die letzte Sinngebung des Tages von Lepanto gewann wir auch so noch nicht. An die Seite solcher Überlegungen muß wohl die Ahnung treten, daß der Tag von Lepanto zu den seltenen Ereignissen gehört, die, wenn man es so ausdrücken darf, auf einer höheren Ebene der Geschichte liegen und bei denen die Frage nach den tatsächlichen Folgen im letzten nicht angemessen ist. Nur materiell betrachtet, gehörte der Sieg freilich wohl zu den — im Verhältnis zu dem Erfolge — allzu verschwenderischen Blutopfern, an denen vor allem auch die deutsche Geschichte so reich ist. In dieser Hinsicht ist manche aus den unmittelbar folgenden Jahren erhaltene Äußerung aufschlußreich. Das ideal Bild der Schlacht aber, die noch überall, in den Galeeren im Hafen, in den Waffen und Narben gegenwärtig war, löste sich rasch aus dem Gefüge menschlicher Planungen; es war ganz in sich abgeschlossen, man konnte keinerlei Abwandlungen und Fortsetzungen ersinnen. (237)
außerdem gelesen:
Axel Matthes: Georges Bataille nach Allem. Berlin: blauwerke 2016 (splitter 07). 66 Seiten. ISBN 978–3‑945002–07‑0.
Günter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie. Überarbeitete und vermehrte Neufassung. Frankfurt: Fischer 2013. 350 Seiten. ISBN 9783100096449.
Hans Jürgen von der Wense: Das Nordlicht. Herausgegeben von Valeska Bertoncini und Reiner Niehoff. Mit einem Beiwort von Valeska Bertoncini. Berlin: blauwerke 2016 (splitter 11). 58 Seiten. ISBN 9783945002117.
Hans Jürgen von der Wense: Das lose Werk. Mappe Nr. 01: Wolken. Berlin: blauewerke 2016. ISBN 978–3‑945002–02‑5.
Ruth Klüger: Marie von Ebner-Eschenbach. Anwältin der Unterdrückten. Wien: Mandelbaum 2016 (Autorinnen feiern Autorinnen). 56 Seiten. ISBN 9783854765219.
Marlene Streeruwitz: Marlene Streeruwitz über Bertha von Suttner. Wien: Mandelbaum 2014 (Autorinnen feiern Autorinnen). 61 Seiten. ISBN 9783854764564.
Und stets orientiert man sich dabei an der vermeintlich „schönen“ Vergangenheit. Zeitgenössisch-verbindliche Vorstellungen über das Schöne scheinen zu fehlen. Also das, was Immanuel Kant seinerzeit „Gemeinsinn“ nannte. Heute scheint das Vormoderne aus der Geschichte als einzige Norm für die Gegenwart als verbindlich. Und seltsamerweise wird – zumindest in ästhetischer Hinsicht – von den meisten das Frühere dem Heutigen vorgezogen. […] Retrospektive Ästhetik und Rekonstruktion von (Alt‑)Bauten und ganzer Stadträume bis hin zu Wiederauferstehung des abgerissenen Berliner Schlosses füllen die Leere, die der Verlust des Gemeinsinns für das Schöne in der Gegenwart mit sich gebracht hat.
Bei der Beschäftigung mit der Frage, warum sich einer wie ich mit Gedichten befasst und Rezensionen zu Gedichtbänden schreibt, gelangt man zu ähnlichen Einsichten, wie sie Nicolas Born 1970 formuliert hat: Es hat mit dem eigenen Existieren zu tun, mit dem Versuch, dem Rätsel des eigenen Daseins auf die Spur zu kommen. Beim Lesen von Gedichten ist man fast immer mit den Fragen nach den letzten Dingen konfrontiert, wir werden unmittelbar und ohne schützende Einleitung in medias res geworfen. Die Verse der Gedichte, die wir lesen, vermitteln uns das «punktuelle Zünden der Welt im Subjecte», wie es ein Schüler des Philosophen Hegel formulierte. […] Beim Lesen von Gedichten wird ein Riss sichtbar in dem Weltgebäude, das uns eben noch vertraut schien. Ein Riss wird sichtbar im Weltgebäude, und – so sagt es einmal der russische Weltpoet Ossip Mandelstam – die poetische Rede weckt uns mitten im Wort auf. Gedichte sprechen von dem skandalösen Faktum, dass wir geboren worden sind und dass wir in noch nicht vorstellbarer, aber doch nicht allzu ferner Zukunft sterben werden.
Denn unser Schulsystem hat so viele grundlegende Mängel, dass ich mir oft die Frage stelle, ob es das überhaupt geben kann: ein richtiges Lehrerleben im falschen Schulsystem. Im Laufe der Zeit habe ich einige (Über-)Lebensstrategien entwickelt.
Die Change-Management-Fachkraft einer großen Unternehmensberatung und ein Student im dunklen Kapuzenpulli legen in der Schlange nacheinander ihre Gürtel, die Geldbörsen und ihre Laptops in die Durchleuchtungs-Schalen auf das Band der Sicherheitskontrolle. Sie schauen sich kurz lächelnd an, weil beide dasselbe Laptop-Modell aus ihren Handgepäck-Reisetaschen nesteln.
Lieber über gute Radwege ohne Helm als über schlechte mit.
Jüdisch, ehrenhalber | FAZ → claudius seidl sehr richtig zu dem blödsinnigen geschwätz von “jüdisch-christlicher prägung”:
Insofern schließt die Rede von der „jüdisch-christlichen Prägung“ nicht nur den Islam aus – was ja der eigentliche Zweck dieser Behauptung ist. Auch Aufklärung und Atheismus, auch die, gerade in der deutschen Literaturgeschichte, so wichtige Sehnsucht nach jenem heitereren Himmel, in welchem die menschlicheren Götter der Griechen wohnen, werden von dieser Rede, wenn nicht ausgeschlossen, dann doch zu den Apokryphen einer Tradition, deren Kanon angeblich jüdisch-christlich ist (man möchte die Namen all derer, die diese Rede zu Fremden macht in der deutschen Kultur, gar nicht aufzählen müssen).
Wunderbarer Eigensinn| Faust Kultur → ein wunderbares, kluges gespräch mit dem lyrikkritiker michael braun, den ich immer wieder gerne lese (auch wenn ich nicht in allem mit ihm übereinstimme …):
Ich würde für mich sagen: Es muss eine Störung der geläufigen Sprachstrukturen erfolgen, wir müssen beim Sprechen und Schreiben die Vertrautheit verlieren – auch in unserem Verstehen -, wir müssen ausgehebelt werden beim Lesen solcher Verse, sonst kann kein gutes Gedicht entstehen. […] Das poetische Selbstgespräch vermag manchmal eben doch andere zu erreichen. Und ob das nun 17 oder 97 oder 1.354 sind, spielt keine Rolle. Also, 1.354, diese berühmte Enzensbergersche Konstante, ist ja noch zu optimistisch angelegt. Nicht 1.354 Menschen pro Population, ob in Island oder den USA, greifen zu Gedichtbänden, sondern nur 135,4 Lyrikleser! Also die Enzensbergersche Konstante müsste durch 10 geteilt werden. 135,4 Rezipienten pro Gedichtband ist die neue Konstante für öffentliche Aufmerksamkeit auf Gedichte.
Das ist in meinen Augen ein sehr schwacher Roman, der mich sehr enttäuscht hat. Schon Gesellschaft mit beschränkter Haftung hat mich zwar auch nicht großartig begeistert, war aber doch deutlich besser, was etwa die Konstruktion und die stilistische Ausarbeitung angeht — beide Romane bestärken eigentlich nur meinen Wunsch, von Bossong (wieder) mehr Lyrik zu lesen …
Der Text von 36,9° wirkt merkwürdig müde und erschöpft. Vielleicht ist das ja eine beabsichtigte Parallele von Inhalt und Form (schließlich geht es um das aufzehrende, schwierige, harte Leben des Antonio Gramcsi), aber mich hat das trotzdem aus Gründen, die ich nicht so genau benennen kann, eher abgestoßen. Erzählt wird in zwei Perspektiven in zwei (groben) Zeitebenen das Leben Gramcsis und eine Art Forschungsaufenthalt des Gramcsi-Spezialisten Anton Stöver, der in Rom nach einem verschollenen Manuskript sucht. Wieso es diese Doppelung von Erzähler und Zeiten eigentlich gibt, ist mir nicht so ganz klar geworden — nur um die Überzeitlichkeit zu betonen? Um nicht in den Verdacht zu geraten, eine Gramcsi-Biographie zu schreiben? Und wozu ist dann der Manskript-Krimi (der ja als solcher überhaupt nicht funktioniert, weil er nicht richtig erzählt wird, sondern nur als Hilfsmittel dient und ab und an hervorgeholt wird …) gut? Oder sollen die Zeitebenen nur signalisieren, dass dies kein „normaler“ historischer Roman ist? (Der in den Gramsci-Kapiteln als solcher auch eher schlecht funktioniert, aber das ja wiederum auch gar nicht sein will …)
Zur Politik bleibt der Text dabei merkwürdig distanziert, die Leidenschaft etwa Gramcsi (im wahrsten Sinne, nämlich mit all den Leiden) wird vor allem behauptet, aber nicht eigentlich erzählt. Und das private fühlt sich oft aufdringlich, etwas schmierig an (wie Boulevardjournalismus). Das erschien mir oft als eine Art ungewollte Nähe, ein intimes Stochern, von deren Notwendigkeit die Erzähler selbst nicht so ganz überzeugt schienen. Zumal Stöver ist ja auch ein ausgesprochener Unsympath — und auch Gramcsi bleibt eine seltsame Figur. Beide Charaktere sind dabei seltsam rücksichtslos gegen sich selbst und ihr privates Umfeld. Und gerade das, was ja der Kern des Romans zu sein scheint, bleibt extrem blass, kaum motiviert — weil die Ideen, die diese Rücksichtslosigkeit erfordern, höchstens angerissen werden.
Wenn die Verlagswerbung das Ziel des Buches richtig beschreibt: „Nora Bossong erzählt vom Konflikt zwischen den großen Gefühlen und dem Kampf für die ganze Menschheit“, dann funktioniert 36,9° überhaupt nicht. Und das liegt unter anderem eben daran, dass der “Kampf für die ganze Menschheit”, die Weltverbesserung eigentlich gar nicht vorkommt, der Text bleibt viel zu sehr im individuellen, biographischen Klein-klein stecken. Dazu kommt dann noch eine für mich unklare Struktur — die Reihenfolge der Kapitel mit den Vor- und Rückblenden sowie die Erzählerwechsel erschließen sich mir einfach nicht. Ab und an funkelt mal ein schöner Satz, ein gelungener Abschnitt. Aber der Rest ist ein grau zerfließend Textbrei, der mich weder faszinieren noch überzeugen kann.
[…] ich wollte die Dinger nicht mehr bis zum Grund durchschauen, denn was lag dort? Nur Steine und Kiesel, nur Fußnoten und Quellenangaben. (25)
Ulf Stolterfoht: Wurlitzer Jukebox Lyric FL — über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte. München: Stiftung Lyrik Kabinett 2015. 32 Seiten.
Der Titel der Münchner Rede zur Poesie von Ulf Stolterfoht, dem Autor so vorzüglicher Zyklen wie den Fachsprachen und jetzt Verleger der Brueterich-Press (der selbst viel zu wenig veröffentlicht …) sagt eigentlich schon alles: „Über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte“ spricht er. Stolterfoht, der sich als „Experte für Euphorie“ (7) vorstellt und „Ahnung“ von „der“ Lyrik erst einmal kategorisch verneint, führt anhand einer reihe Gedichte exemplarisch vor, was Lyrik ist und kann, was Sprache im Gedicht ausmacht und natürlich auch, was „schwierige Lyrik“ (heutzutage ja fast ein Pejorativum) eigentlich ist. Und er betont, dass das „Nicht-verstehen-müssen“ dieser Gedichte eine großartige Erfahrung ist — für Leser und Schreiber. Für beide Seiten ist das eine Befreiung, die einen unerschöpflichen Reigen an Möglichkeiten eröffnet.
Nebenbei weist er darauf hin, dass das — heute vielleicht mehr als je zuvor vorhandene — Wissen und Können im Umgang mit Sprache und Gedichten noch lange keine Experimentierfreudigkeit ist. Stolterfoht bedauert ausdrücklich, dass „die Bereitschaft stark abgenommen hat, ein höheres ästhetisches Risiko einzugehen“ (29). Auch wenn er dann das Gelingen eines Gedichtes eher traditionell als „Regel“-Erfüllung beschreibt, oder besser als: „dass ein zuvor gefasster Plan, sei er formaler und / oder inhaltlicher Art, glückhaft erfüllt wurde“ (29), sollte für Stolterfoht, das macht er unter anderem mit mehrfachen Bezügen auf Diedrich Diederichsen deutlich, aber zumindest ergänzt werden um so etwas wie Authentizität, einen Moment des Kairos vielleicht. Trotz des deutlich betonten Emphatiker-Standpunktes (Lyrik kann alles und ermöglicht Leben erst!) steht dahinter aber genaueste Lektüre und Analyse fremder und eigener Gedichte, ohne die Euphorie des erkennenden (und identifizierenden) Lesens dadurch zu verneinen oder auszuschalten, sondern geradezu zu verstärken.
Und wie konnte es sein, dass ich kein Wort, keinen Satz verstand, und doch genau wusste, dass ich genau das immer hatte lesen wollen, und dass ich es jetzt gefunden hatte, und dass ich nie mehr etwas anderes würde lesen wollen. Das Gefühl, eine Mauer durchbrochen zu haben, einfach so, ganz leicht, ohne jede Anstrengung, und hinter dieser Mauer tat sich etwas auf, ein Raum, ein wirklicher Raum, in dem man würde leben können. (11)
Franz Richard Behrens: Erschossenes Licht. Herausgegeben von Michael Lentz. Wiesenburg: hochroth 2015. 36 Seiten.
Es ist für mich immer wieder erstaunlich, welch große und großartige Gedichte die Expressionisten in den Jahre während und um den Ersten Weltkrieg schrieben. Und ich entdecke immer wieder, dass ich viel zu wenige davon kenne. Auch Franz Richard Behrens gehört zu diesen Dichtern. Er war eigentlich genau nur in dieser engen Zeitspanne überhaupt dichterisch tätig: Ein einziger Band Lyrik — Blutblüte — ist von ihm 1917 erschienen. Während des Nationalsozialismus kann man ihn vielleicht zur „Inneren Emigration“ zählen, 1961 übersiedelte er dann nach Ostberlin. Aber die ganzen Jahre bis zu seinem Tod 1977 blieben ohne weitere literarische Veröffentlichungen. Offenkundig war der Weltkrieg da so eine Art Katalysator, der die Lyrikproduktion auslösten/vorantrieb.
Auffällig ist nun, finde ich, wie avanciert diese wenigen Gedichte waren und sind — und wie zeitgemäß und zeitgenössisch sie heute noch erscheinen. Aus allen Gedichten, die Michael Lentz in dieser kleinen Auswahlausgabe für den feinen hochroth-Verlag zusammengestellt hat, spricht eine beeindruckende Intensität und auch eine große Freiheit: Sie sind frei von formalen Zwängen und Traditionen, lassen so ziemlich alle Konventionen hinter sich. Hier erscheint Sprache als reiner Ausdruck, hier spürt man, wie ein Dichter um Ausdrucksmöglichkeit für ganz neue und neuartige Erlebnisse — vor allem die Gewalt und Sinnlosigkeit eines mechanisierten Krieges — ringt. Und wie er sie auch findet und den Vollzug des Erlebens am und im Wort fixiert und nachvollzieht. Ein Moment der Seriatlität gehört dazu, mit minimalistischen Elementen, etwa in „Preußisch“ oder „Quer durch Ostpreußen“. Aber auch gleich das eröffnende „Expressionist Artillerist“ zeigt das, mit der Verschränkung einzelner Gedichtzeilen und einem kontinuierlichen Zählen (ich lese das “Ein-und-zwanzig” etc. als das Abzählen von Sekunden, etwa bis zum Einschlag der Granate …), das ganz geschickt ins Hinken gerät bzw. einzelne Zahlen überspringt, wenn die geschilderte Wahrnehmungsdichte sozusagen steigt und das nicht mehr in einen Vers passt:
[…]
Neun-und-zwanzig die Luft stinkt Millionen Schwefel, Kohle Blutabsinth die Luft ist stahl und rein Ein-und-dreissig die Granattrichter tüpfeln garnich harmonisch Zwei-und-dreissig […]
Die kunstvoll hergestellte Unmittelbarkeit dieser Lyrik ist, denke ich, kaum zu übersehen. Ein anderes, von Behrens bevorzugtes Element, ist etwa die verbale Nutzung von Adjektiven. Bei aller Direktheit und Lebensnähe sind die Gedichte, das zeigt etwa das titelgebende „Erschossenes Licht“ oder das wunderbare „Italien“, sowohl inhaltlich als auch stilistisch und formal sehr sorgsam konstruiert. (Und außerdem ist das wieder hochroth-typisch ein sehr fein und schön gemachtes Heftlein …)
[…]
Schneiden das Land in Streifen. Begreifen kann das mal Die Generalstabskarte. Vormarsch im Regen (14)
Hier wäre der Ort, zu sagen, dass ich vollkommen normal bin, auch wenn ich Erzählungen schreibe. Ich weiß, dass dies die Dinge erschwert, aber alles andere an mir ist absolut in Ordnung. (78f.)
„Verspielt, elegant und mit allen Wassern der Postmoderne gewaschen“ behauptet der Klappentext — und hat tatsächlich mal recht. Denn Gospodinov ist ein wahrer Geschichtenerzähler: Es geht ihm wirklich darum, „Geschichten“ zu erzählen, nicht Erzählungen zu schreiben. Der Band ist dann auch richtig interessant und kurzweilig-unterhaltsam, weil Gospodinov dabei ein vielseitiger und vielfältiger, technisch sehr versierter Erzähler ist, was die Figuren und die Storys angeht.
Abwechslungsreich pendeln die meist sehr kurzen Texte (auf den 140 Seiten finden sich immerhin 19 Erzählungen) zwischen einer sympathischen Weltoffenheit, die sich ausdrücklich auch aufs Phantastische, das eigentlich sowieso normal ist, erstreckt, und einer spürbaren Leichtigkeit — einer Lockerheit des Erzählens, des Lebens, des Wahrnehmens. Gospodinov, der sich bzw. seine Erzähler gerne als Geschichtensammler bzw. ‑aufschreiber, nicht als Geschichtenerfinder inszeniert — vom „Anlocken von Geschichten“ (84) schreibt er an einer Stelle — schafft es dabei, zugleich kosmopolitisch und heimatverbunden zu wirken, zugleich witzig (im Sinne von komisch) und traurig (im Sinne von tiefernst) zu sein. Immer wieder spielen die letzten Tage, die letzten Momente, das endgültige Ende, die Apokalypse als eigentlich ganz schelmisches, gewitztes Unternehmen eine große Rolle in seinen Erzählungen. Das ist schon in der eröffnenden (und titelgebenden) Geschichte „8 Minuten und 19 Sekunden“ so, die die Zeit, die das Licht von der Sonne zur Erde braucht beschreibt — also die Zeit, die bleibt, bis die Erde nach dem Ende der Sonne im Dunkel versinkt. Immer, wenn das nicht passiert, weiß man also, dass noch 8 Minuten 19 Sekunden bleiben … Die Implikationen dieser gleitenden Apokalypse spielt die Geschichte sehr schön und dabei durchaus knapp durch.
Außerdem ist auch eine der „schönsten“ Geschichten zum 11. September hier zu finden: „Do not disturb“. Die erzählt von einem just für diesen Moment als Sprung aus dem Hochhausfenster eines New Yorker Hotels geplanten Selbstmord. Und da Gospodinov ein schwarzer Erzähler ist, gibt es natürlich kein Happy End — der Selbstmord findet dann zwar nicht statt, wird aber natürlich später nachgeholt. Das klingt in der knappen Nacherzählung etwas banal — aber darum geht es Gospodinov ja nicht nur. Zwar sind seine Erzählungen ohne ihre Handlung nicht zu denken, ihre Wirkung erlangen sie aber nicht zuletzt durch die geschickte und gelassen-verspielte erzählerische Inszenierung, die das zu einer sehr kurzweiligen Lektüre werden lässt.
Außerdem kam es mir so vor, als finge Z. an, die Geschichte zu ruinieren, indem er ihr mehr Pathos und Literarizität verlieh als notwendig. Und ich war immerhin der Käufer dieser Erzählung. (54)
Michael Braun, Michael Buselmeier: Der gelbe Akrobat 2. 50 deutsche Gedichte der Gegenwart, kommentiert. Neue Folge (2009–2014). Leipzig: Poetenladen 2016. 18 Seiten.
Roland Barthes: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, hrsg. v. Eric Marty, übers. von. Horst Brühmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. 346 Seiten.
Dieter Hein: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. München: Beck 2015. 132 Seiten.
Christoph Kleßmann: Arbeiter im ‘Arbeiterstaat’ DDR. Erfurt: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen 2014. 141 Seiten.
Sexismus ist wie Regen. Er ist einfach da, manchmal schwächer, manchmal stärker. Manchmal können wir uns irgendwo unterstellen, manchmal hört er vielleicht sogar für ne Weile auf. Manchmal kommt er aus heiterem Himmel und mit einer Gewalt, mit der wir nicht rechnen konnten. Aber, und das ist mein Punkt: Wenn es regnet, können wir nichts dagegen unternehmen. […]
Sexismus strukturiert die symbolische Ordnung, die uns umgibt, er lässt sich durch Argumentationen nicht wegkriegen. Sexismus ist eine Tatsache, keine Meinung. Feminismus bedeutet die Arbeit an dieser symbolischen Ordnung, und das funktioniert in der Tat hauptsächlich durch Sprache. […] Es ist keine Frage der Logik, sondern eine der Kultur, tief verwurzelt, unsichtbar, normal. Es funktioniert nicht so, dass wir die sexistische Struktur unserer symbolischen Ordnung nur erst einmal lückenlos beweisen müssten, und dann geht sie weg.
Im Tunnel beschleunigen ist mühsam, wie Peter Müller, Projektleiter von Siemens, berichtet […]. Denn unter der Erde schiebt der Zug eine Luftsäule vor sich her.
Elfriede Brüning hat als kleines Kind noch den Ersten Weltkrieg erlebt. Als Erwachsene kämpfte die Schriftstellerin für eine bessere Welt, wurde von der Gestapo verhaftet und eckte in der DDR an. Drei Monate vor ihrem Tod erzählte die Sozialistin der SZ aus ihrem außergewöhnlichen Leben.
Periodic Table of Storytelling — coole idee, coole umsetzung: alle (…) notwendigen elemente des geschichtenerzählen, gesammelt von tvtropes.org
Es wird mal wieder höchste Zeit für die nächste Aus-Lese …
Benjamin Stein: Das Alphabet des Rabbi Löw. Berlin: Verbrecher 2014. 286 Seiten.
Das Alphabet, ganz frisch vom Verlag, ist dennoch schon einige Jahre alt: Denn Stein legt hier ein Überarbeitung seines Erstlings vor. Das ist eine sehr aufwändig konstruierte, vertrackte Geschichte, die ich jetzt gar nicht rekonstruieren (oder gar nacherzählen) möchte — und wohl auch kaum noch könnte. Was mich wieder einmal überzeugt und beeindruckt hat, ist das Erzählen des Erzählens als Thema selbst, mit dem fast schon obligatorischen Verwischen von Erzähltem und Realität, bei dem die Grenzen zwischen erzählendem und erzählten Ich schnell überwunden (bzw. unkenntnlich gemacht) werden. Wo das Wirkliche unwirklich wird (zu werden scheint) — und die Phantasie auf einmal real: Da ist man in einem Text von Bejamin Stein. Seraphin mit Seelen aus Feuer tauchen hier auf, Selbstentzündungen der untreuen Liebhaber — überhaupt brennt hier ziemlich viel -: Engel, Golem und Rabbis, Worte und Namen und ähnliches bevölkeren dieses amüsante Verwirspiel auf vielen Ebenen der Erzählung und der Wirklichkeit (aber ist eine Wirklichkeit, in der es Engel gibt, Menschen, die selbst entzünden, Wiedergeburt/-erscheinen nach mehreren hundert Jahren als identische Person, ist so eine Wirklichkeit überhaupt „wirklich“?), angereichert mit religiösen Themen (und einigen Kuriosa, zumindest für mich, der ich mich in der jüdischen Religion so gar nicht auskenne). Und wie in Agententhrillern/-filmen/-serien wird sozusagen im nachhinein immer noch eine Ebene der Täuschung/Illusion/Erzählung/Fiktion eingebaut, die jeweils erst sichtbar wird, in dem sie zerstört wird, aufgelöst wird — und entsprechend rückwirkend den ganzen Text auflöst, entkernt, … Das ist ein alter Erzählertrick, gewiss, den Stein hier aber durchaus nett umsetzt. Manche Passagen sind für meinen Geschmack etwas krimihaft, manchmal auch etwas argl plauderend erzählt, zu sehr darauf angelegt, gemeinsame sache mit dem Leser machen. Mit Rationalität allein wird man diesem Buch über Engel, das zugleich ein vertrackter Mehrgenerationen-Familiengeschichte(n) im 20. Jahrhundert ist, in der alle mit allen zusammenhängen, kaum gerecht. Und sehr schön ist es übrigens auch, mal wieder ein in Leinen gebundenes Buch in der Hand zu haben — das liegt da gleich ganz anders …
Was weißt du schon? erwiderte die Stimme. Und das war der Satz, den er von nun an immer wieder hören sollte: Was weißt du schon? Sei nicht dumm. Es gibt ein Bild hinter dem Spiegel und eine Stadt tief unter dir. Es gibt Engel, die werden als Menschen geboren, und Menschen, die gehen in Flammen auf, weil die Buchstaben keck ihre Plätze tauschen und die Welt auf den Kopf stellen, nicht mehr als ein Spiel. (201f.)
Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt lesen! Orientierungshilfe für Erstleser und Wegweiser im Literaturdschungel. Südwesthörn: Edition ReJOYCE 2014. 168 Seiten.
Ein schöner, kurzer und knackiger Überblick aus der Rathjen-Werkstatt: Zugleich eine ganz kurze Einführung in die Biographie Schmidts und ein Überblick über sein Schaffen. Das geschieht vor allem im Modus der Kurzcharakteristik aller Werke, die Rathjen chronologisch abhandelt und so zugleich auch ein bisschen Rezeptionsgeschichte — vor allem für die nachgelassenen Publikationen und Edition — bietet. Dazu gehört, den jeweiligen Werken zugeordnet, ein doch recht ausführliches Verzeichnis der (wichtigen?) Sekundärliteratur — leider ohne Kommentar und deshalb also ein doch nicht ganz so potenter „Wegweiser“. Als Hilfsmittel und Anregung für den (noch) nicht vollständigen Schmidtianer ist Arno Schmdit lesen! aber trotzdem nützlich, auch wenn für meinen Geschmack die Textlein zu den Werken manchmal doch arg kurz geraten sind. Doch weil Rathjen ein guter Kenner des Schmidtschen-Kosmos ist, hat das Büchlein durchaus seinen Wert, der naturgemäß für Schmidt-Kenner geringer ist als für Novizen.
Ilma Rakusa: Einsamkeit mit rollendem »r«. Erzählungen. Graz: Droschl 2014. 158 Seiten.
In Kürze: Ganz tolle Erzählungen sind hier zu finden, unbedingt empfehlenswert — wenn man kleine Geschichten zwischen Reportage und Momentaufnahme aus der Fremde Europas mit einem Hang zu leichter Melancholie und Traurigkeit mag. Meist geben sie kurze Einblicke in Leben und Charakter einer Person (die den Titel der jeweiligen Geschichte bildet), oft durch eine nahestende Erzählerin, einen Freund etwa. Das hat oft etwas von einer Pseudo-Reportage, wie es etwa eingearbeitete Zitate der Protagonisten einer Erzählung zur Darstellung ihres Hintergrunds, ihrer Geschichte nutzt, als stammten sie aus einem Gespräch. Dazu passt auch die Schlichtheit der Sätze — zumindest syntaktisch, lexikalisch ist das durchaus kunstvoll: Daher kommt auch der lyrische, oft leicht schwebende Ton der Erzählerinnen aus der Feder Rakusas.
Immer wieder werden beschädigte Leben erzählen: Heimatverlust oder überhaupt Heimatlosigkeit, das (ewige) Weiterziehen, die Suche nach einem Platz/Ort (nicht nur, aber auch geographisch) im Leben bestimmen den Weg der Protagonisten, die ganz überwiegend suchend sind, sich auf dem Weg beinden, immer unterwegs — nach Leben, Sinn etc., auch nach Erleuchtung (mehrmals suchen sie die ganz plakativ in Indien): entwurzelte Menschen der Moderne zeigt Rakusa uns. Momentan oder zeitweise, vorübergehend kann die Einsamkeit aufgehoben oder suspendiert werden — in Freundschaft(en) und Liebe etwa, wobei die Enthebung aus der Einsamkeit immer als solche, als nicht dauernde Erleichterung, auch wahrgenommen und erkannt wird: Das Bewusstsein der Endlichkeit der „Geselligkeit“ ist immer vorhanden, ihre Fragilität gewusst. So spielen sich in den Figuren Drama und Trauma der Gegenwart ab: Kapitalismus, Krieg und Krankheiten als Verursacher der „Störung“. Und: Europa außerhalb Deutschlands/Mitteleuropa wird gezeigt, mit Krieg und Kriegsfolgen, Armut, Leere, Verzweiflung, Leid, Trauer und Traurigkeit — ohne deshalb total schwarz zu sein, grundiert diese dunkle Erfahrung doch nicht nur das Leben der Protagonistinnen, sondern auch den Ton der meisten Erzählungen: dunkel, aber nicht depressiv; hart, aber nicht verzweifelt. Auch die Orte sind keineswegs alles Idyllen: Koljansk etwa wird als reiner Höllenort erzählt: Trostlos, aussichtslos, rettungslos: „Ein Punkt, der bald verschwunden sein wird. Dort.“ (158) — das sind zugleich die letzten Worte des Buches — die dem Ganzen noch einemal einen etwas überraschend düsternen, trostlos-grauen Dreh geben
Wie geht das: im Leben eine Seite umwenden? Aussteigen, weggehen, auf nichts hoffen als auf die Richtigkeit der Entscheidung. (73)
Wir waren kurz sehr lange weg gewesen. (79)
Tim B. Müller: Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien. Hamburg: Hamburger Edition 2014. 174 Seiten.
Demokratien sind labile Gebilde, Dauerhaftigkeit gibt es nicht, die Demokratie muss immer neu hergestellt werden. Deswegen benötigen sie Entscheidungen, Reagieren — und Entwicklung, sie verzeihen aber auch Fehler. Ganz besonders gilt das für Momente der Krise. Müller zeigt das anhand “der” Krise der modernen Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg am Ende der 1920er Jahre, im Umfeld der Wirtschaftskrise. Dabei zeigt Müller auch, wie eng soziale Demokratie (mit ihrer Umverteilung (die aus dem Gleichheitspostulat resultiert), also der „Wohlfahrtsstaat“ und demokratische Organisation sowie Gesinnung (der Bevölkerung) im 20. Jahrhundert in Europa (und den USA) zusammenhängen.
Demokratie will Müller verstanden wissen als Prozess, ständige Diskussion, Vergewisserung und Anpassung sind notwendig und wesenhaft. Das geschieht nicht in allen Ländern und Gesellschaften gleichzeitig und auf gleiche Weise. Für Deutschland stellt er etwa fest:
Demokratie als Kultur und Lebensweise musste in Deutschland mit besonderem Nachdruck verankert werden, weil Kriegsverlauf und Niederlage eine schwierige Ausgangslage geschaffen hatten: Die Kriegsniederlage führte zur Demokratie, was die Demokratie belastete. (81)
Und später heißt es:
Es bedurfte einer gewaltigen Erschütterung, um dieses Gefüge ins Wanken zu bringen. Die Weltwirtschaftskrise ließ die Entwicklung, die den Zeitgenossen seit dem Ersten Weltkrieg unaufhaltsam erschienen war, stillstehen. Das war nicht der Untergang. Aber die Routinen und Konventionen der Demokratien, die auch unter großem Druck so lange so gut funktioniert hatten, gerieten ins Stottern. Jetzt kam es auf kluges Regieren an, jetzt konnte jeder falsche Schritt in den Abgrund führen, jetzt waren antidemokratische Kräfte und Traditionen imstande, zur Bedrohung zu werden. Die liberale und soziale Demokratie war nicht am Ende. Sie ging sogar gestärkt aus der großen Krise hervor. Nur nicht in Deutschland. (112f.)
Das ist genau der Punkt, um den dieser Essay kreist: Die Entwicklung der Geschichte war — auch in Deutschland — keine zwangsläufige, der Weg aus der Krise hätte auch anders aussehen können. Versagen sieht Müller hier vor allem bei Brüning, dem er bescheinigt:
Vom Blickwinkel der Geschichte der Demokratie aus war es nicht diese oder jene Maßnahme der Brüning-Regierung, die den Untergang der Demokratie einleitete, nicht das Sparen selbst, sondern ein fundamentales intellektuelles Versagen, die Unfähigkeit, Politik in einer der Demokratie angemessenen Komplexität zu denken. (120)
Die Modi, Lösungen oder Strategien zur Bewältigung der Krise der Demokratie, darauf weist Müller ausdrücklich hin, hätten aber gerade das zur Bedingung gehabt: Die Beherrschung des „Theaters der Demokratie“ (127) — das scheint für Müller nicht nur der/ein wesentlicher Unterscheid zwischen Brüning und Roosevelt zu sein, sondern ein wesentliches Element erfolgreicher Krisenbewältigung. Zumindest kann man sein Lob von Roosevelts „demokratische[m] Experimentieren“ (129), das Müller wohl als angemessenstes Verfahren, die Krise zu be-/überwältigen, ansieht, so sehen.
Im Grunde ist das auch schon ein wesentlicher Teil des Hauptarguments: „Wirtschaftswachstum, Wohlfahrtsstaat und Demokratie waren unauflöslich miteinander verwoben.“ (138f.). Und da sind, gerade in Krisenzeiten, für Müller handelnde Personen gefragt, Individuen (hier eben Politiker (& Keynes ;-))), die diese Komplexität erkennen und zugleich im demokratischen Diskurs (dem “Theater”) angemessen argumentieren können. In allen seinen Beispielen macht Müller Aktive aus, die die Demokratie „retten“ (oder im falle Brünings, eben nicht). Angelegt ist das dabei durchaus in Strukturen, aber die Notwendigkeit der/einer Entscheidung und — das ist im demokratischen Handeln eben immer genauso wichtig — des Überzeugens bleibt (als vornehmlich individuelle Leistung!).
Als konkrete Überlebensstrategien von Demokratien identifiziert Müller dann vor allem drei Momente: Erstens die „soziale Stabilisierung durch Sozialpolitik“ (das heißt auch, in wirtschaftlichen Krisenzeiten die staatlichen Investitionen auszuweiten statt blind zu sparen), zweitens die „politische Integration durch demokratisches Pathos, durch Partizipation und Mobilisierung der Bürger“ und drittens eine Wirtschaftspolitik mit intensivem eingreifen in ökonomische Strukturen, „ohne Rücksicht auf ökonomische Effizienz“, d.h. hier v.a. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (152). Das kann man übrigens, so deutet Müller sehr vorsichtig an, durchaus auch für die gegenwärtige Krise als Lösungsfaktoren annehmen … Über alle Krisen hinaus aber gilt:
Demokratien mussten sich ihrer ständigen Gefährdung auch in guten Zeiten bewusst bleiben. Unter allen Umständen galt es, ihr zivilisatorischen Minimum zu bewahren. (152)
Alexander Gumz: ausrücken mit modellen. Berlin: kookbooks 2011. 88 Seiten.
Seltsam: das fesselt oder berührt mich so gar nicht — ohne dass ich sagen könnte, warum. Irgendwie zünden die Bilder nicht, die Sprache (Stil und Form) setzt sich nicht fest, die Inhalte interessieren mich nicht. Die Formlosigkeit (gerne in langen Zweizeiler) ist zwar irgendwie gefühlt kookbooks-typisch, aber ich erkenne nichts, was die Texte für mich interessant machte. Vielleicht braucht’s nochmal eine Re-Lektüre in ein paar Wochen — wer weiß, möglicherweise sieht der Leseeindruck dann schon ganz anders aus …
Nette Momente hat das nämlich schon — zum Beispiel im ersten Zyklus, „zerbeultes gelände“: Der Wald, der wie auf Drogen scheint. Überhaupt spielen Zeichen (in) der Natur eine Rolle: das heißt nicht zufällig „zerbeultes gelände“, geht es doch immer wieder um die Einwirkung und die Eingriffe der Menschen in die Natur bzw. den Wald. Aber dann lese ich eben auch vieles, was mir nur seltsam und gewollt erscheint: wie gesagt, die Resonanz fehlt bei mir (was durchaus an diesem spezifischen Leser liegen kann): das sind nur lose gereihte gewollte Bilder für mich, nach den ersten Seiten ist aber auch dieser Reiz weg.
wir lehnen an der grenze zum gewitter, schütteln die köpfe.
unter unseren füßen dehnt sich der steg. (11, zerbeultes gelände)
Christoph Bangert: War Porn. Heidelberg, Berlin: Kehrer 2014. 189 Seiten.
Ein hartes, sehr hartes und grausames Buch. War Porn sammelt Kriegsfotografie aus Irak und Afghanistan vor allem, die in Zeitungen und Zeitschriften nicht gedruckt wird. Sie zeigt nämlich vor allem die Opfer, die Reste, die von Menschen manchmal nur noch übrig bleiben, nach dem der Krieg über sie hinweg gegangen ist. Aber das ist eben auch eminent wichtig, so etwas zu sehen, sich selbst zuzumuten — Krieg, Gewalt passiert ja nicht einfach, sondern wird gemacht. Von Menschen. Überall und immer wieder. Daran muss man erinnern: wie das aussieht — abseits der schicken Kampfjets oder der harmlos verniedlichten “Drohnen”. Klug ist das insofern, als Bangert sehr wohl um die „Normalität“ seiner Bilder weiß: Die sind — und das gilt eben leider auch für das dargestellte — keineswegs außergewöhnlich. Ungewöhnlich ist nur, dass sie gezeigt werden. Das — als Buch — zu loben, hat einen bitteren Beigeschmack: Denn das ist zwar durchaus ein schönes Buch, schöner wäre es aber, wenn es War Porn gar nicht gäbe.
What you see in this book is my personal experience. And in a way it’s yours, too, because these things happened in your lifetime. You as a viewer are complicit. (3)
außerdem:
Peter Weiss, Ästhetik des Widerstands — großartig und erschlagend, fesselnd und langweilend ohne Ende (je nach dem, wo man gerade ist — im 2. Buch hatte ich ganz schöne Durchhänger …)
Johann Beer (das “Tagebuch”, Jucundi Jucundissimi wunderliche Lebens-Beschreibung u.a.)
Christian Reuter, Schmelmuffskys wahrhafftige curiöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und Lande
Joseph Roth, Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters
Marc Augé: Die Formen des Vergessens. Berlin: Matthes & Seitz 2013. 106 Seiten.
Augé plädiert in diesem Essay dafür, Vergessen als Teil der Erinnerung vom Ruch des Makels zu befreien: Vergessen ist für ihn insofern unauflöslich mit dem Erinnern verbunden, weil überhaupt nur durch das Vergessen von manchem manches erinnert werden kann und als Erinnerung verfügbar sein kann. Die Sicht ist die des Ethnologen (und die Reflektion seiner Methode(n) nimmt erheblichen Raum ein): Die zeitliche Gebundenheit der Fiktion (bzw. der Narration) des Lebens, aus der der Ethnologe (bei Augé gibt es keine Frauen ;-)) seine Erzählungen formt, sind ein wiederkehrendes Motiv. Und diese Erzählungen sind für ihn auf allen Ebenen immer Produkte des Gedächtnisses, womit das Vergessen wieder ins Spiel kommt. Fast nebenbei liefert er dazu viel Material und Anekdoten aus dem Schatz des Ethnologen zu Erinnern und Vergessen, aber eigentlich vor allem zu Fiktion und Erzählung (in die Vergessen und Erinnern hier immer eingebunden sind).
Vergessen ist für Augé nicht nur als Element der Erinnerung zu verstehen, sondern als produktiver Vorgang der Erzählung (und damit Gestaltung) der Wirklichkeit — denn Vergessen, so Augé, öffnet Möglichkeiten, Potentialitäten der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft. Also genau das, was Individuen und Gemeinschaften brauchen:
Gedächtnis und Vergessen bedingen sich gegenseitig, beide sind notwendig zum umfassenden Gebrauch der Zeit. […] Das Vergessen führt uns zur Gegenwart zurück […]. Man muss vergessen, um anwesend zu bleiben, vergessen, um nicht zu sterben, vergessen, um treu zu bleiben. (102f.)/
Alexander Losse: Strophen. Berlin: Karin Kramer 2010. 65 Seiten.
Strophen ist ein extrem deskriptiver Titel, denn das Lyrikdebüt Losses enthält genau das: Strophen. Genauer: 62 einzelne Strophen, alles Vierzeiler (eine sechsversige Strophe ist auch dabei) mit dem sehr auffallendenen Element des Kreuz- bzw. umarmende Reims organisiert. Getragen werden die kurzen Gedichte Losses durch ihre Liedhaftigkeit. Auch eine gewisse, schwebende Leichtigkeit ist ihrer Sprache eigen. Vor allem spricht aus ihnen (fast) allen aber ein großer, existentieller Ernst: “Verwüstung eine Seele schuf” heißt es zum Beispiel gleich in der ersten Strophe. Fragende Metaphern, offen für Antworten oder Einwürfe bestimmen die meisten Strophen. Sie können sich auch recht gut verlieren — in der Kürze, der Kleinheit und der (festen, vorgebenen, unangetasteten) Form. Und manchmal bleiben sie auch einfach in der Banalität des Reims und der religiös-christlich-kirchlichen Metaphern stecken, so dass ich nicht so recht weiß, ob ich — bei einigen sicherlich sehr guten „Strophen“ — den ganzen Band wirklich richtig gut finde …
XLVI Gehst so leise in die Kirche, fliehst so spät zum untern Grund. Wessen Hand hat nur berühret, wessen Weg dich hergeführet, wessen Opfer schweigt dein Mund. Gehst so leise in die Kirche.
Paulus Böhmer: Kaddish I‑X. Frankfurt am Main: Schöffling 2002. 345 Seiten.
großartig: Die Form des Kaddish, des jüdischen Trauergebetes, nutzt Böhmer, um den Leser mit so ziemlich allem zu konfrontieren, was sich denken lässt: Im Modus der Vergänglichkeit tauchen Sexualität und Phantasie, Bildung und Erleben, Hochkultur und Underground neben‑, über- und hintereinander auf. Das ist in seiner Dichte und vor allem der permanenten Anspannung kaum am Stück zu lesen. Zehn Kaddishs versammelt Böhmer in diesem Band (inzwischen ist ja noch ein zweiter erschienen), als eine Art Langgedichte mit 12 bis 50 Druckseiten Länge — also ganz schöne Brocken. Und da Böhmer immer mit einer kunstvoll gesuchten, ungeheuer vielfältigen, reichen Sprache auf höchstem Niveau arbeitet, verlangt das auch dem Lesen viel Konzentration, Aufmerksamkeit und Durchhaltewillen ab — Anstrengungen, die sich aber lohnen, denn in seiner konzentrierten Erschöpfung der Vergänglichkeit der Welt und des Lebens ist Böhmer ein großartiger Lyriker.
Johannes Fried: Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie. München: Beck 2013. 736 Seiten.
Der Verlag — und auch einige Rezensenten — können sich ja vor Begeisterung über diesen Wälzer kaum einkriegen. Ganz so ging es mir nicht. Das liegt aber nur zum Teil an Fried selbst, sondern auch am Verlag. Nervig fand ich die — für einen Verlag wie Beck! — extrem niedrige Lektorakts- und Produktionsqualität. Ein paar Beispiele: die Kapitälchen ohne Kleinbuchstaben, Flüchtigkeitsfehler (wie die falsche Verortung Ingelheims auf der Karte oder falsche, nicht erklärte Abkürzungen im Text) und der auf Dauer etwas steife Stil, der etwas lektorierende Glättung durchaus vertragen hätte, falsche Anmerkungen, die verwirrende Nummerierung der Abbildungen und Farbtafeln, das fehlende Abbildungsverzeichnis, der falsche Kolumnentitel im Appendix, der billige Umschlag …
Aber es geht ja um den Text selbst. Der bietet sehr, sehr viel — aber nicht unbedingt das, was der Untertitel verspricht. “Eine Biographie” ist das nämlich allerhöchstens peripher, eigentlich überhaupt nicht. Das Leben eines karolingischen Herrschers ist ja nicht mehr auszuloten, worauf Fried selbst natürlich hinweist — also breitet ein Mittelalter-Historiker alles aus, was er aus und über diese Zeit weiß. Das ist manchmal sehr allgemein und manchmal sehr speziell (wie sich überhaupt mir manchmal der Eindruck aufdrängte, dass Fried nicht so genau wusste, für wen er eigentlich schreiben will: für den interessierten Laien? — Dafür setzt er ziemlich oft sehr gründliche Vorkenntnisse voraus. Für die Fachkollegen? Dafür ist manches etwas allgemein bis überflüssig (und die Anmerkungen bzw. das Literaturverzeichnis etwas ungenau …). Gerade das Panorama der frühmittelalterlichen Welt macht diesen Karl aber so wertvoll.
Und Frieds Ansatz, Karls Leben und Handlungen mit zwei Motivationssträngen — den im Untertitel genannten Komplexen “Gewalt” und “Glaube” — zu erklären, ist durchaus nachvollziehbar und richtig. Auch wenn, wie er es selbst entwickelt, die “Gewalt” — insbesondere eben die Kriege wie die gegen die Sachsen — (fast) immer aus dem “Glauben” erwächst. Das gelingt Fried übrigens sehr schön, der Versuch, Karl und seine Motivation aus dem Wissen und den Überzeugungen seiner Zeit zu erklären. Fast bestechend wird das etwa bei der Frage nach der Kaiserkrone — ein Unternehmen, dass Fried durchaus schlüssig mit dem Verweis auf die verbreitete und wahrgenommene Endzeitstimmung um 800 erklären kann.
Ann Cotten: Der schauernde Fächer. Erzählungen. Berlin: Suhrkamp 2013. 253 Seiten.
Obwohl ich Ann Cotten als Lyrikerin durchaus mit Wertschätzung und Interesse wahrgenommen habe, kann ich mit ihrem ersten Erzählungsband eher wenig anfangen. Das ist sehr wild, ungezähmt, ungeformt scheint es oft — wuchernd in Phantasie und Stil. Meistens/immer geht es um Liebesbeziehungen, um den Beginn einer Vertrautheit und Zuneigung und Liebe — aber in sehr seltsamen Konfigurationen und Beschreibungen. Schön und klug sind die eingearbeiteten (oft eher unauffälligen, selten expliziten) Gender-Thematisierungen. Manches hat durchaus poetisches Potential, das sich auch beim ersten Lesen zeigt. Anderes erschien mir eher fahrig und ausufernd, mehr Einfall als Form, mehr Idee als Ausarbeitung, mehr Prätention als Einlösung. Aber vielleicht bin ich da etwas ungerecht — jedenfalls verspürte ich öfters einfach keine Lust, micht auf diese Textwelten wirklich einzulassen (warum auch immer).
Tobias Premper: Durch Bäume hindurch. Göttingen: Steidl 2013. 93 Seiten.
Und schon wieder kurze Prosa ohne Gattung: Szenen, Einfälle, … — Vignetten fasst das wohl am besten zusammen. Premper sammelt hier Absurdes, Groteskes, Komisches, Phantastisches ungeheuer verdichtet. Nur selten ist ein Text eine ganze Seite (oder mehr) lang. Das ist vor allem eines: irrsinnig amüsant. Dabei ist das aber überhaupt nicht hirnlos, denn in der Kürzest-Prosa über Bäume und Menschen, über Normalität und das Leben, über Träume und Erscheinungen, wundersame Begnungen, Abnormalitäten als Grundstimmung, Normalität als Ausnahme stecken alles großen Fragen — selbst wenn das als “Szene aus dem wirklichen Leben” überschrieben ist. Vor allem zeigt Premper aber immer wieder die Absurdität der Banalität des Alltags, des ganz normalen Lebens mit seinen unzähligen, immer gleichen Handlungen, Momenten und Erfahrungen. Ein wirklich großartiges Vergnügen!
“Warum mann Bücher machen muss”: Weil man sonst wieder Frauen verbrennt und Schafe fickt. (38)
Moritz Rinke: Wir lieben und wissen nichts. Reinbek: Rowohlt 2013. 124 Seiten.
Wir lieben und wissen nichts ist ein nettes Kammerspiel über moderne Paare, über Liebe, Beziehung, Kommunikation und den ganzen Rest — eine Variation eines bekannten Themas also:
Kann man zusammenbleiben, wenn man sich die Wahrheit sagt? (121)
Ganz geschickt gemacht ist das, und gut verpackt — da merkt man die Erfahrung Rinkes. Und natürlich spielen auch und vor allem die Zumutungen des (post-)modernen Kapitalismus eine wesentliche Rolle: “[…] ich glaube, die Liebe ist irgendwann mit dem Kapitalismus zusammengestoßen und dabei kaputtgegangen.” (112)
Peter Salomon: Die Jahre liegen auf der Lauer. Neue Gedichte. Eggingen: Edition Isele 2012. 90 Seiten.
Leider fand ich den Band nicht ganz so spannend, wie die Rezension erwarten ließ. Salomon schreibt hier vor allem so etwas wie erzählende Gedichte: Viele “intakte” Sätze, die nur behutsam umgebrochen und so in die lyrische Form gebracht werden. Es geht viel ums Erinnern, viele Madeleines, und viel alte BRD tauchen hier auf, aber auch viel Glück — das aber nie dauerhaft und sicher ist: “Ich ging nach Hause, ich glaube / Glücklich — ” (66) schließen die “Momente des Glücks”, die genau so einen Moment des Endens der Vergangenheit, des Niederlegens eines alten Gebäudes aufzeigen. Genau dieser das Ende offen lassende, andeutende Gedankenstrich beschließt nicht wenige seiner Gedichte (“Es war, als gäbe es nie ein Ende — ” (71)) Vieles ist hier ganz nett, aber berührt mich nicht sehr nachdrücklich: Vielleicht ist es deshalb für mich nicht so spannend, weil Salomon der Kraft und Gestalt der “normalen” Sprache weitgehend vertraut — ich bevorzuge momentan Lyriker, die Sprache sozusagen gegen den Strich bürsten, wesensfremd verwenden — und daraus Bedeutung(en) erzeugen. Das passiert hier nicht.
Das Buch als Magazin #2: Woyzeck
Sehr schön und inspirierend: Gute grafische Gestaltung, vor allem spannende und anregende Fotografien. Und natürlich auch interessante, fesselnde Texte. Zum Beispiel das wunderbare Interview mit einer psychatrischen Oberärtztin …
Georg Büchner: Lenz. Herausgegeben von Eva-Maria Vering and Werner Weiland. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001 (=Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe), Band 5).
Ein Klassiker, natürlich … Ein bisschen Büchner-Lektüre muss zu seinem 200. Geburtstag auch unbedingt sein. Der Lenz fesselt mich immer wieder: Die Intensität und die gewaltige Sprache der Erzählung finde ich faszinierend. Auch wenn mir dieses Mal sehr aufgefallen, wie “unfertig” der Text eigentlich ist …
Dietmar Dath: Kleine Polizei im Schnee. Erzählungen. Berlin: Verbrecher 2012. 236 Seiten.
Kleine Polizei im Schnee ist ein typischer Dath. Natürlich ist das (wieder) eine Mischung aus Sci-Fi, Dys- & Utopie, Gegenwartsbeschreibung & ‑kritik, phantastischer und realistischer Literatur (sein Markenzeichen und eine seiner besten Qualitäten — der größte Stilist ist er schließlich nicht …). Untypisch ist nur die kleine, kurze Form von sehr unterschiedlicher Länge, die seinen Kosmos etwas zugänglicher wirken lassen als die großen Schinken. Dabei ist zugänglich aber relativ. Denn wieder prägen Verknüpfungen kreuz und quer diese Texte (die eigentlich einen großen Text bilden). Es gibt also viel zu entwirren: Dath praktiziert ein sehr faszinierendes Erzählen aus verschiedenen Richtungen. Man kann (und darf) das dann wie ein Puzzle zusammensetzen. Die einzelnen Teile sind aber auch schon sehr schön, so dass es nicht so schlimm ist, wenn das Puzzle nicht ganz fertig wird ;-). (Daths Werk gibt mal viel Arbeit für fleißige Germanisten, mit all seinen intra- und intertextuellen Allusionen und Bezügen, v.a. innerhalb seines eigenen Werkes …)
Konsequenz ist nämlich noch schöner als Erfolg. (167)
Wolfgang Frömberg: Etwas Besseres als die Freiheit. Luhmar: Hablizel 2013. 202 Seiten.
Der Rezensent der taz war von Frömbergs zweitem Roman ziemlich begeistert, ich nicht so sehr. Es fiel mir schwer, da überhaupt reinzukommen, in den Text über den Text über den Text: Die (Erzähl-)Ebenen verschwimmen hier permanent (im Roman gibt es z.B. einen Roman, der heißt wie der Roman). Das wäre ja noch kein Problem (eher ein Pluspunkt), aber Frömbergs spröder Stil, seine trockene Sprache machten es mir schwer, den verschiedenen Handlungssträngen und Figurenkonstellationen, die lose immer mal wieder mit einander verknüpft werden, ohne dass das besonders deutlich wird, zu folgen — dazu kommen noch verschiedene Zeit-Handlungs-Ebenen und Träume und Erinnerungen. Vielleicht lag’s auch an meiner Lesesituation — aber ich sehe nicht recht, was Frömberg hier eigentlich will. Es geht irgendwie um die Alt-68er und deren Kinder. Der Sohn zweier 68er und Kommunarden, Leo, ist so etwas wie die Zentralfigur. Er beschäftigt sich ablehnend mit der Geschichte seine Eltern, das als “Künstler” verarbeitend, seine Frau/Ex, die als „Detektivin“ zu den 68ern unterwegs ist/war, die aber auch schon tot sind, spielt auch eine Rolle. Und dazu kommt noch die gesamte neueste Geschichte Deutschlands und der Welt, vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, die unbedingt ind en Text hinein gepackt werden musste. Das führt zu entsprechend langen Erklärungen und Abschweifungen, trocken und zäh macht es den Text. Und wieder mal schreiben alle Figuren: Werner und sein Sohn Leo, Ursula und auch der extrimistische Aktivist Andreas, selbst die „Geologin“ Victoria — da kann man schön immer daraus zitieren, ohne sich die Zitate zu eigen machen zu müssen. Deshalb ist Etwas Besseres als die Freiheit auch voller gewichtiger Sätze, die als philosophische Erkenntnisse/Sätze/Wahrheiten daherkommen, meist aber Platitüden sind. Und natürlich endet das wieder im Schreiben: “Victoria schloss die Augen, setzte den Stift aufs Papier, öffnete die Tür und stürzte sich in eine neue Welt.” (196)
Außerdem ist das Buch ganz schlecht gesetzt: ungünstiger Seitenspiegel, schlechter Blocksatz (teilweise richtige Löcher in den Zeilen) — das sind handwerkliche Fehler, die beim Lesen ermüden, vor allem weil der Text selbst nur sehr grob gegliedert ist.
Angelika Meier: Stürzen, drüber schlafen. Kleine Geschichten und Stücke. Zürich: Diaphanes 2013. 194 Seiten.
Skuriles und Absurdes mischt sich in Meiers kleinen Geschichten mit Groteskem und auch Lustigem: Das sind Miniaturen, die unsere ach-so-bekannte Welt einfach auf den Kopf stellen und mögliche Welten erzählen. Da sich oft nur eine kleine Bedingung oder Begebenheit ändert, kann man wunderbar sehen, was dann passiert — und hat erzählte Welten, die der “Realität” unwahrscheinlich gleichen und doch ganz anders sind.
Wunderbar ist auch die Erzähltechnik Meiers, die ich schon in Heimlich, heimlich mich vergiss bewunderte. Zum Beispiel die Raffinesse der Informationsvergabe, die (meistens) sehr zurückhaltend, unaufdringlich, fast unmerklich geschieht. So kann Meier etwa lange offen lassen kann, ob die Erzählerstimme weiblich oder männlich ist (wenn es eben keine Rolle spielt). Eine souveräne Erzähltechnik, die hier oft im Dienst des Wunderns und Verwunderns steht, des Aufmerksammachen auf die Gestalt der Welt, die wir immer wieder als gegeben und “normal” hinnehmen, die ja aber oft auch ganz kontingent ist und durchaus auch (ganz) anders sein könnte — zum Beispiel so, wie Meier es uns hier mal vorführt und worüber wir dann staunen dürfen oder ratlos und perplex sein dürfen. “Ihre Miniaturen sind vergnüglich zu lesende Etüden in Sarkasmus, allesamt dazu geeignet, die Zumutungen der Wirklichkeit auf Distanz zu halten” hat Jörg Magenau das in seiner Kritik genannt — und das stimmt. Auch wenn manchmal — etwa und vor allem in den beiden Theaterstücken am Ende des Bandes das Moment der Fingerübung etwas arg deutlich wird — die beiden Texte hinterlassen mich etwas ratlos, vor allem Wasser! Element! Penthesilea liest Kleist scheint mir in erster Linie eine solche (stilistische) Fingerübung — aber vielleicht übersehe ich einfach den entscheidenden Punkt …
Berthold Seliger: Das Geschäft mit der Musik. Ein Insiderbericht. Berlin: Edition Tiamat 2013. 352 Seiten.
Der Konzerveranstalter Seliger schreibt, warum das Musikgeschäft (womit er in erster Linie das des Pop & Rock meint) so ist, wie es ist: Verkommen, korrupt, unbefriedigend. Eine “Streitschrift für eine andere Kultur” (so nennt der Klappentext das) ist dieser Bericht. Und er ist zunächst mal ernüchternd und desillusionierend: Seliger hat vieles zusammengetragen zum Zustand der Kulturindustrie, des “Geschäfts mit der Musik” — vieles, das dem aufmerksamen Zeitgenossen durchaus schon bekannt sein dürfte (GEMA, Einkommen, Konzentrationsprozesse im Label- & Verlagswesen, Musikergagen, Sponsoring & Werbung), hier aber noch mal geballt und zusammengeführt, detailliert an vielen Beispielen aufgezeigt. Besonders beschäftigen ihn die vielfältigen Konzentrationsprozesse im Geschäft rund um die Musik und die Frage: “Doch was bedeutet das [die oligarische Konzentration] für die Kultur, was bedeutet das für unsere Gesellschaft? Was bringt unsere Gesellschaft voran? Ist es die Quote, die zählen soll, oder ist es die Qualität von Kultur?” (14). Das ist nicht nur ein Vorwurf an den versagenden Markt — auch wenn dessen Neuaurichtung (shareholder-value statt stakeholder-value) seit den 1980er wesentlicher Antrieb für den “Verfall” ist, sondern auch eine Anklage an die diese Prozesse unterstützende willfährige Politik, die dem Ausverkauf der Kultur nicht nur nichts entgegensetzt, sondern ihn auch vorantreibt und finanziell unterstützt. Seliger pragnert das als Verlust der Vielfalt an — und zwar eben nicht nur musikalisch, musik-intrinsisch sozusagen, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene.
Stattdessen wünscht Seliger sich eine Kultur der Dissidenz — marktkonform ist aber immer nur der Gehorsam, weshalb die reine Marktorientierung der Kultur (als ganzes) schaden muss, weil das Moment des Gegenläufigen wegfallen muss (dazu gezwungen wird …): “Heute dagegen beherrscht der Quotenterror unser kulturelles Leben, ob beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen, bei der staatlichen Filmförderung oder bei unseren musikalischen Freizeitvergnügen. Wir leisten uns ein hochsubventioniertes Kultursystem, unterwerfen es allerdings freiwillig dem Diktat der Quote. Es zählt nur, was verkauft.” (20), oder: “Dissidenz ist in den modernen Geschäftsmodellen der Kulturindustrie nicht als Möglichkeit vorgesehen.” (21). Das ist keine neue oder überraschende Erkenntnis — nicht ohne Grund ist Adorno (mit seinen Arbeiten über die Kulturindustrie) sein Kronzeuge -, aber weil Seliger viel aus seinen langjährigen Erfahrungen mit den verschiedensten Musikern, Veranstaltern etc. erzählt, — manchmal hat das auch ein bisschen etwas von “Opa erzählt von früher” … — ist das eine durchaus spannende und anregende Lektüre. Er klagt dabei auch so ziemlich alle Beteiligten an, von der Musikerin bis zum Hörer/Konsumenten, vom Label über Konzernveranstalter, Werbende bis zu Journalistinnen oder Medienarbeiter. Und natürlich auch die Politik (Urheberrecht! Fördergelder!). Er sieht das Problem aber immer als eines des Systems, nicht des Individuums — ohne diesem allerdings Handlungsmöglichkeit und Verantwortung abzunehmen oder abzusprechen (dafür führt er ja auch Gegenbeispiele an, die sich dem Zwang zur absoluten Unterwerfung unter den Markt und seine (scheinbaren) Gesetze verweigern). Letzlich hängt auch für ihn alles an der “Haltung” des Individuums: “In einer Zeit, in der das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe weltweit durch multinationale Konzerne massiv gefährdert ist, kommt es mehr denn je darauf an, Haltung zu zeigen.” (348) — das ist so etwas wie der Kern, Ausgangs- und Endpunkt des Buches.
Christian Hwakey: Sonette mit elisabethanischem Maulwurf. Übertragen von Uljana Wolf. Berlin: hochroth 2010. 38 Seiten.
Eigentlich ganz spannende und vielfältige Gedichte, die Sonette von Hawkey. Die Übertragung von Wolf ist eigentlich eine Übersetzung, die fast eine interlineare ist — extrem nah an dem Original. Das ist mal derb und verspielt, mal hochgemut und ordinär zugleich — ein seltsames sic-et-non, ein Pendeln zwischen den Welten und Sprachen macht die Sonette Hawkeys aus — und im Umschlag des Pendels passiert die Kunst, dort, wo die Sprache glitzert und glänzt und funkelt …
& they slept, soundly. sleep was a sound & / they floated into it — sie legten sich aufs ohr & schlaf war ein laut. / sie schwebten hinein (36/37)