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Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

eislermaterial

endlich habe ich es ein­mal geschafft, hein­er goebbels eisler­ma­te­r­i­al auch ein­mal live zu sehen — das ensem­ble mod­ern und joseph bier­bich­ler sind ja erst acht jahre mit der pro­duk­tion unter­wegs. und ihre cd (bei ecm erschienen) gehört schon lange zu meinen lieb­sten und meist­ge­spiel­ten.

was mich unge­heuer beein­druckt hat: wie stark diese musik, mit­samt ihren min­i­mal­is­tis­chen szenis­chen ele­menten (der büh­ne­nauf­bau vor allem mit der kleinen, kaum erkennbaren eissler-stat­uette in der mitte, die im zum zuschauer­raum offe­nen u sitzen­den musik­er, weit verteil über die ganze büh­nen­rän­der, auf ein­fachen schwarzen bänken, mit beson­ders ein­fachen noten­stän­dern, die wech­sel­nden licht­stim­mungen — ganz unauf­dringlich, aber eben, typ­isch für goebbels-pro­duk­tio­nen, stim­mig bis ins let­zte detail) immer noch auf mich wirkt, auch wenn ich sie eigentlich schon tausend­mal gehört habe und wirk­lich sehr gut kenne.

befremdet hat mich ander­er­seits, wie lustig das pub­likum war, an welch unpassenden stellen es zu teils ziem­lich heftigem gelächter kam — die eissler-lieder sind in meinen augen eher tragis­che zeug­nisse als komisch. denn ger­ade mit ihrer unbändi­gen hoff­nung auf eine bessere (arbeiter-)welt, ihren glauben an die möglichkeit ein­er rev­o­lu­tion, sind sie, kon­fron­tiert man sie mit der unverän­dert bedrück­enden­den (glob­alen) wirk­lichkeit, eigentlich tragisch: nach so vie­len jahren sind sie immer noch kein schnee von gestern, nicht ver­gan­gen­heit — etwas schlim­meres kann ihnen, betra­chtet man sie von dem stand­punkt ihrer entste­hung aus, eigentlich gar nicht passieren. lustig sind dabei für mich allen­falls teile der bei­den hör­musiken, die goebbels aus ton­band­kon­ser­ven von äußerun­gen eisslers zusam­mengeschnit­ten hat. die waren ton­tech­nisch allerd­ings auch am wenig­sten überzeu­gend, sie fan­den keinen platz im raum des frank­furter schaus­piels. die musik dage­gen ist live um län­gen bess­er als die — eigentlich auch nicht schlechte — cd-ver­sion. mit einem kleinen manko: die stimme von bier­bich­ler, elek­tro­n­isch ver­stärkt, ist ziem­lich stark abge­hoben. aber das fügt sich nach weni­gen minuten auch. die musik an sich ist vor allem um ein vielfach­es plas­tis­ch­er und durch­hör­bar­er. die sam­pler-spur beispiel­sweise ist durch­weg erhe­blich deut­lich­er wahrzunehmen als auf der auf­nahme. auch son­st ist die große räum­lichkeit, die weit auseinan­derge­zo­ge­nen musik­er — es sind ja nur 15 leute, die über rund um die nicht ger­ade kleine bühne verteilt sind — live natür­lich erhe­blich drastis­ch­er und ein­drück­lich­er zu erleben.

die hohe kraft dieser musik auf mein gemüt hat aber vor allem eine quelle: joseph bier­bich­ler. ihn als sänger zu nutzen war ein­deutig ein geniestre­ich hein­er goebbels. denn ger­ade seine etwas zit­trige stimme, seine kleinen unsicher­heit­en — etwa sein nicht ger­ade seltenes leicht­es voraneilen — ver­lei­hen dem ganzen eine faszinierende, unge­heure authen­tiz­ität. wie er am ende der wiegen­lieder für arbeit­er­müt­ter die let­zten wörter sprechend leicht nach oben zieht und so das ganze gle­ich immer wieder in zweifel zieht, das ist ein­fach wahnsinn: so viel wirkung mit so wenig aufwand, so präzise geset­zt. daneben sind es aber auch, das ist mir hier beson­ders deut­lich gewor­den, die fan­tastis­chen arrange­ments goebbels, die dem ganzen nicht nur eine musikalis­che geschlossen­heit, son­dern auch überzeu­gungskraft und emo­tion­al­ität ver­lei­hen. also ein­fach ein wahnsin­nig gutes kunst­werk.

ja ja, diese jugend …

was machen wir bloß mit der …, wohin soll die ewig par­ty und das ständi­ge abhän­gen nur führen? das muss doch endlich – und zwar ganz gewaltig bald – im total­en absturz, im endgülti­gen nieder­gang und chaos deutsch­lands enden. joachim lottmann schlägt sich damit ja immer wieder gerne rum: die jugend von heute. ihr zus­tand, ihre pläne, ihr benehmen, ihre orte, ihre musik, ihre was-auch-immer… lassen ihn auch im mit­tler­weile recht fort­geschrit­te­nen alter nicht los. das ist immer etwas erk­lärungs­bedürftig, und das weiß lottmann auch sehr genau. nur kann oder will er es nicht recht klar machen, warum sein erzäh­ler immer noch den jun­gen leuten hin­ter­her­hechelt, in ihnen immer noch die erlös­er vom all­t­ag sucht.das gilt natür­lich für kein text weniger als für „die jugend von heute“mischung aus rainald goetz auf der einen und ben­jamin lebert sowie stuck­rad-barre auf der anderen seite. nur eben bei weit­em nicht so kon­se­quent wie goetz (auch lange nicht so fähig zur analyse), aber lei­der auch nicht so leicht und harm­los wie die anderen pseu­do-pop­per. deshalb bleibt das weit­ge­hend indif­fer­ent und nichtssagend – egal, von welchem blick­winkel aus man das büch­lein betra­chtet.

vor allem aber ist es eine fund­grube für lust­barkeit­en und schöne aussprüche, die ich zwar ger­ade abgetippt hat­te, die mir word­press aber jet­zt geklaut hat und die deshalb hier nicht mehr ste­hen. überig geblieben ist nur:

  • „unser kul­tur, also die jugend­kul­tur, war erken­nt­nisim­mun.“ (81)
  • „diese ganze musikin­dus­trie war für kinder gemacht, für men­schen zumin­d­est, die noch niemals vom baum der erken­nt­nis genascht hat­ten und es auch nie tun wür­den.“

jolo (wie der autor seinen stel­lvertreter, die erzäh­ler­fig­ur im buch nen­nt) würde sich wahrschein­lich krumm und scheck­ig lachen über all die, die diesen text auf irgend eine art und weise ernst nehmen… – vor satire- und ironiemerk­malen wim­melt es ja nur so im text…

man kön­nte ihn natür­lich einen bor­der­line-jour­nal­is­ten nen­nen, aber das wäre blödsinn. denn damit würde man lottmann natür­lich vol­lkom­men missver­ste­hen – was lottmann wiederum freuen würde, denn genau darauf spekuliert er ja, darauf legt er es an. es geht natür­lich um etwas anderes: wahrheit – was ist das? eine über­flüs­sige, anachro­nis­tis­che, in die irre führende idee, deren haupt­man­gel es naturgemäß ist, dass sie mit der wirk­lichkeit nicht zurande kommt, nichts mit dem erleben des lebens, dem „wahren“ leben also (ha, was für ein witz…) ein­fach keine verbindung mehr einge­hen kann. bzw. möglicher­weise eh‘ nie kon­nte… er selb­st for­muliert das dann so: „Die Jugend von heute hat einen erweit­erten Wirk­lichkeits­be­griff. […] Meinen. Sie glauben an nichts mehr, also an alles. Sie unter­schei­den nicht zwis­chen wahr und unwahr oder gut und böse. Sie däm­mern einem offe­nen Zukun­fts­feld ent­ge­gen. Wo andere noch eine Schädeldecke haben, hat die Jugend von heute eine weit offene Tür. So ein crazy Lottmann-Text kommt da ger­ade recht.“
(aus der taz, wo holm friebe, der als chef­denker der zen­tralen intel­li­genz-agen­tur auch mehrfach im text auf­taucht, dann dazu meint: “Alles Teil der Lottmann’schen Ver­schleierungstak­tik.”)

das prob­lem mit lottmann ist halt nur, dass er damit über­haupt nicht weit kommt. ihm fehlt ein­fach nicht nur die ana­lytis­che schärfe, son­dern auch die gestal­ter­ische kraft, die fähigkeit des formes unter ästhetis­chen gesicht­spunk­ten – da hat ihm halt ein autor wie rainald goetz (übri­gens in bei­den kat­e­gorien) einiges voraus … er selb­st sieht das (vgl. taz-bericht) nicht als nachteil: als „eth­nologe“ schreibe er eben nur auf, ohne wer­tung. das ist freilich schon wieder blödsinn, denn etwas auf­schreiben ohne wer­tung – wie soll das denn gehen? er hätte halt bess­er mal bei hubert fichte nach­le­sen sollen, wie so etwas ausse­hen und (sog­ar unter ver­schiede­nen gesicht­spunk­ten) funk­tion­ieren kann. olaf karnik bewun­dert das dann: „sein umher­schweifend­es Schreiben, seine unver­frorene Aufze­ich­nung banaler All­t­ags­beobach­tun­gen, motiviert von keck­er Selb­ster­mäch­ti­gung.“ aber das sind auch wieder nur leere hülsen: was ist an der aufze­ich­nung, die natür­lich über­haupt keine reine aufze­ich­nung ist, so unver­froren? und was ist an der selb­ster­mäch­ti­gung (mal abge­se­hen davon, dass die wohl jed­er autor aufzuweisen hat…) so keck? immer­hin ist das noch tre­f­fend­er als die behaup­tun­gen auf single-generation.de. “Mit seinem neuen Buch wird er zum Avant­gardis­ten des Anti-Pop.” ste­ht da – aber stimmt das? nein, denn er bleibt natür­lich pop. nur ist der pop halt nicht mehr der der 80er – das kann man bedauern oder feiern, aber es ist halt ein­fach so…

joachim lottmann: die jugend von heute. köln: kiepen­heur & witsch 2004.
eine web­seite zum buch gibt es auch, freilich fast ohne inhalt, dafür mit film­chen: www.young-kraut.de

protestanten und ihr ‑ismus

sie müssen aus­ge­sprochen gute lek­toren beim beck-ver­lag in münchen haben für diese rei­he, die „wissen“-taschenbücher. die sind näm­lich immer aus­ge­sprochen gut les­bar, für laien ver­ständlich, ohne deshalb flach zu sein. dieser band (der protes­tantismus von friedrich wil­helm graf) ist dabei schon ver­gle­ich­sweise voraus­set­zungsre­ich, und – um es gle­ich zu sagen – mir fehlt auch ein wenig der kern: da wird viel geschrieben über die äußere entwick­lung des protes­tantismus, viel über die kul­turelle und poli­tis­che seite, aber der eigentlich nuk­leus, die spez­i­fis­che form des glaubens und der fröm­migkeit, ist für meine begriffe etwas kurz abge­han­delt – es kommt natür­lich vor und ist selb­stver­ständlich angesichts der (hier auch gut dargestell­ten) vielfalt protes­tantis­ch­er strö­mungen sich­er eine schwierige auf­gabe, aber ger­ade da hätte ich mir ein biss­chen mehr infor­ma­tion gewün­scht, die über die kon­sta­tierung des prob­lems hin­aus­ge­ht: „alle aus­sagen über ein ‚wesen des protes­tantismus‘ lassen sich durch vielfältige wider­strebende phänomen in einzel­nen protes­tantis­chen lebenswel­ten rel­a­tivieren“ – geschenkt, das ist bil­lig. das „protes­tantis­che“ als solch­es, so sug­geriert schon der blick ins inhaltsverze­ich­nis (und die lek­türe bestätigt das lei­der cum gra­no salis) inter­essiert graf nur mehr am rande: wenn es um „die zukun­ft des protes­tantis­chen“, so heißt das abschließende kapi­tel, geht.der protes­tantismus scheint also, wenn man nur grafs darstel­lung vor augen hat, mehr ein kul­tur­phänomen als eine religiöse erschei­n­ung zu sein. sein haup­tkapi­tel ist dann auch fol­gerichtig so betitelt: „protes­tantismus und kul­tur“. hier ver­sucht graf, dem wesen des protes­tantismus auf die spur zu kom­men. und eben mit den genan­nten schwierigkeit­en. aber doch, um hier nicht nur blöd rumzumeck­ern, auch wieder nicht ganz vergebens. auf­fal­l­end ist allerd­ings die sehr vari­abel konzise argu­men­ta­tion und fak­ten­dichte: es gibt seit­en, da rei­ht sich (direk­tes oder indi­rek­tes) zitat an zitat, da fliegen die dat­en nur so um die köpfe der leser. und es gibt seit­en, da kommt graf auf ein­mal wieder zu ein­er les­baren darstel­lungs­form – schade, dass die var­i­anz so arg groß ist.

die protes­tanten und staat, bil­dung, indi­vidu­um, inner­lichkeit – das sind seine haupt­the­men. und das ganze vorzüglich an quellen des 18. und 19. jahrhun­derts dargestellt, von denen graf eine unüberse­hbare menge zu ken­nen scheint. was das 20. jahrhun­dert ange­ht, wird es aber ganz plöt­zlich ganz dünn, über die zwanziger hin­aus gibt es kaum etwas, als hätte sich das prob­lem bere­its erledigt, als würde kein­er mehr darüber nach­denken …

so kreist graf also eigentlich immer weit­er um ganz wenige the­men: die indi­vid­u­al­isierung (v.a. des glaubens, die aber nicht ohne fol­gen für das weltliche denken und leben blieb…) und das, was seit max weber die „protes­tantis­che ethik“ genan­nt wird, die bemühung um ökonomis­chen etc. erfolg im dies­seits als zeichen eines from­men, gottge­fäl­li­gen lebens, die hand in hand geht mit der entwick­lung des bürg­er­lichen leis­tungsethos: „die in allen protes­tantis­chen lebenswel­ten zu beobach­t­ende sym­bol­is­che kom­mu­nika­tion, in der inner­lichkeit religiös insze­niert und reflex­iv gesteigert wird, läßt sich deshalb auch als erfind­ung von indi­vid­u­al­ität beschreiben.“ (73) – schon recht, aber ist das nicht ein wenig ein­seit­ig? spiel­ten da nicht – auch – noch andere fak­toren eine rolle? z.b. der tief­greifende wan­del der ökonomis­chen und poli­tis­chen ver­fas­sung der gesellschaft seit dem mit­te­lal­ter? deren zunehmende beschle­u­ni­gung? das sind natür­lich alles fak­toren, die nie alleine betra­chtet wer­den kön­nen, immer in heftig­sten inter­de­pen­den­zen ste­hen und die sache deshalb so höl­lis­che kom­pliziert machen… lustiger­weise (aber: eigentlich ist das nicht so wahnsin­nig lustig…) schreibt graf selb­st zwei sätze weit­er: „die aufk­lär­er und die lib­eralen des 19. und 20. jahrhun­derts feierten die ref­or­ma­tion deshalb als jene religiös …

zum steindamm, die erste

heute war ich zum ersten mal mit den leuten vom mainz­er kanu­vere­in unter­wegs, auf ihrer stan­dard­tour: den rhein hoch bis kurz hin­ter die auto­bahn­brücke, dort dann in den gin­sheimer altrhein bis zu dessem ende, dem soge­nan­nten stein­damm, wo immer ein paar spiel­er mit ihren miniatur­booten herumwuseln, weil es beim ein­fluss des rheins in den altrhein eine kleine welle, je nach wasser­stand wohl auch mit klein­er walze, gibt. heute war recht wenig wass­er, also rel­a­tiv harm­los — nur eben mit ordentlich­er strö­mung. vom rhein aus hätte man dur­chaus auch mit meinem boot durch­fahren kön­nen, also recht unspek­takulär. wir sind dann allerd­ings nicht über den damm gek­let­tert und den rhein mit dem fluss hin­unter, son­dern im altrhein­arm wieder zurück­ge­fahren. eine sehr schöne, sehr ruhige strecke. und das wet­ter war wun­der­bar: son­nig mit nur leichter bewölkung, wieder viel zu warm für ende novem­ber… ich bin bar­fuss und mit kurz­er hose gefahren, was auf dem rück­weg freilich dann doch zunehmd etwas kalt wurde, meine füße waren sehr schön durchge­froren. außer­dem habe ich fest­stellen müssen, dass mir für solche fahrten noch etwas wesentlich­es fehlt: eine boots­beleuch­tung, eine run­dum­lampe wie sie immer­hin einige der anderen (selb­st­ge­baut aus taschen­lam­p­en.…) auf ihr heck set­zten. denn bis wir aus dem altrhein wieder in den rhein kamen, war es tat­säch­lich schon fast ganz dunkel — das ist so ganz ohne lampe dann ziem­lich riskant. die wasser­polizei ist zwar an uns vor­beig­er­auscht, hat aber nicht gemeck­ert, dass wir immer­hin zwei von sechs booten ohne beleuch­tung hat­ten… nun, auf die idee war ich bish­er auch noch gar nicht gekom­men.

schiller, ach schiller

warum hast du nur so lange dra­men geschrieben? aber da muss man ja erst ein­mal drauf kom­men: schillers “räu­ber” am stück und voll­ständig, von der “unter­drück­ten vorrede” bis zum “dem mann kann geholfen wer­den” sich gegen­seit­ig vor­lesen. daniel hat­te die idee und hat heute dazu neun leute in seinem wohnz­im­mer ver­sam­melt — und vorzüglich bewirtet. um die schnö­den leib­lichen begier­den braucht­en wir uns also nicht küm­mern, son­dern kon­nten uns ganz dem heili­gen text von schillers ersten dra­ma zuwen­den. die idee, das ein­fach mal laut und mit verteil­ten rollen zu lesen, ist ja schon ein wenig spleenig — und natür­lich typ­isch für daniel… beson­ders schön fand ich ja auch die idee der aus­lo­sung der rollen, und zwar für jede szene neu: so kam es gar nicht erst zu iden­ti­fika­tio­nen, der abstand zum text blieb immer gewahrt und ermöglichte ihm ger­ade dadurch eine beson­dere eigen­ständigkeit. denn eigentlich ist es nur eine schwund­form sein­er eigentlich gestalt, der auf­führung auf der bühne. dafür aber voll­ständig, um kein wort gekürzt — und auch entsprechend lang. mit eini­gen kleinen pausen haben wir immer­hin so etwa sechs stun­den gebraucht — das macht im the­ater ja kaum noch ein pub­likum heute mit. über­haupt ist es inter­es­sant und mir hier wieder ein­mal sehr deut­lich gewor­den, wie sehr sich das zeit­ge­fühl um 1800 von dem heuti­gen unter­schieden haben muss. inzwis­chen sind ja auch viele the­ater dem dik­tat des kinos und sein­er neun­zig­minüti­gen stan­dard­länge für jedes the­ma gefol­gt und fordern die aus­dauer des pub­likums, sich über mehrere stun­den zu konzen­tri­eren und sich so ganz und gar ein­er erfahrung eines kunst­werkes, und zwar nur eines einzi­gen, nicht eines ganzen reigens ver­schieden­er, hinzugeben. das stück selb­st enthüllt, wenn man es so stur und unver­drossen liest, dur­chaus einige unge­wollte komik. vor allem dann näm­lich, wenn das hier manch­mal noch etwas über­schüs­sige, noch nicht so fein (wie es schiller später ver­stand) aus­ge­formte pathos der rede mit dem zwang des vom-blatt-lesens kol­li­diert, wenn die hohen worte nur eine beiläu­fige stimm­liche verkör­pe­rung efahren — dann offen­bart sich doch einiges an witz und humor. über­haupt hat mich erstaunt, wie frisch und lebendig der text allein durch seine sprach­liche mate­ri­al­i­sa­tion noch heute, immer­hin mehr als zwei­hun­dert jahre nach sein­er nieder­schrift, sein kann. gut, im fün­ften akt wurde es dann ab und an etwas hol­prig, die konzen­tra­tion ließ am trüben, ver­reg­neten novem­ber­nach­mit­tag spür­bar nach — da kon­nte auch der prompt servierte kaf­fee nicht mehr viel helfen. aber trotz­dem: das ist eine angehme erfahrung gewe­sen. umso mehr, als ich zunächst dur­chaus skep­tisch (wenn auch sofort wil­lens, das wag­nis auszupro­bieren) war, was die real­isierung von daniels plan anging und vor allem zweifel hat­te, ob der und ger­ade dieser text so etwas über­haupt sin­nvoll zulässt. doch er lässt es nicht nur zu, es macht auch nicht nur spaß, son­dern fördert auch gute ein­drücke (vielle­icht nicht so tiefge­hend wie die ein­er wirk­lich guten insze­nierung), aber auf jeden fall bleibende ein­drücke. und jet­zt — wom­öglich machen wir das noch öfter, vielle­icht aber doch mit ten­den­ziell kürz­eren tex­ten.…

gesund oder krank: das ich in der postmoderne

rain­er funk macht sich gedanken darüber: ist die spezielle ich-ori­en­tierung des sub­jek­ts in der post­mod­erne psy­cho­an­a­lytisch gese­hen etwas gutes oder schlecht­es? es ist natür­lich etwas defizientes, im grunde krankes: sie ist nicht-pro­duk­tiv (und noch eine menge anderes). da ich von psy­cho­nanalyse ja eigentlich kein­er­lei ahnung habe, kann ich nicht wirk­lich beurteilen, wie gut funk dabei ist. was ich aber sagen kann ist, dass sich die lek­türe des eigentlich gar nicht so umfan­gre­ichen büch­leins (ca. 240 seit­en im taschen­buch in sehr großer schrift­type) erstaunlich zäh hinzieht. und dass einiges auf­fällt. etwa, dass funk außer sieg­mund freud und seinem großen vor­bild und meis­ter erich fromm fast keine lit­er­atur ver­wen­det (außer eini­gen weni­gen sozi­ol­o­gis­chen unter­suchun­gen). entsprechend monogam ist die argu­men­ta­tion. und da ist noch ein schwach­punkt: funk reit­et ewig auf den sel­ben ent­deck­un­gen herum, führt sie immer wieder und wieder und wieder neu aus. denn so viel hat er gar nicht zu sagen: die ich-ori­en­tierung der post­mod­erne ist kein ego­is­mus, kein narziss­mus, son­dern eine eigene form, eine psy­chis­che reak­tion auf die erfahrung der „gemacht­en welt“, der unendlichen möglichkeit der fik­tion etc. pp.

damit rühren wir an eine grund­sät­zliche frag­würdigkeit für mich: sind die dig­i­tal­en wel­ten, die funk als so wesentlich für die post­mod­erne aus­macht, wirk­lich etwas kat­e­go­r­i­al neues? wenn man sie näm­lich wie funk auf ihre fik­tion­al­ität (als gege­nen­twurf zu oder flucht aus der real­ität) beschränkt, scheinen sie für mich zunächst gar nicht so sehr unter­schieden von den möglichkeit­en der ver­gan­gen­heit, ins­beson­dere der mod­erne, aber sog­ar auch früher­er zeit­en: da wären natür­lich jede art von lit­er­atur (was ist ein roman denn anderes als ein alter­na­tiv­er lebensen­twurf?), da wäre auch das the­ater und natür­lich schon von anfang an der (kino-)film. neu wäre möglicher­weise ihr aus­maß – aber selb­st das würde ich nicht so ohne weit­eres behaupten wollen, das müsste schon noch ein wenig fak­tisch unter­mauert wer­den – dass funke das nicht leis­tet, ver­wun­dert kaum.

denn seine unter­suchung zum ich in der post­mod­erne hat noch eine weit­ere ganz große lücke: seine post­mod­erne. die wird, wie so oft, zunächst sehr vage und unge­nau als philosophis­che strö­mung beschrieben, die dann aber auf ein­mal, in ein­er hoff­nungslosen über­be­w­er­tung ihres ein­flusses, den gesamten all­t­ag der men­schen erfasst (über­flüs­sig zu sagen, dass für funke irgend­wie nur men­schen der europäis­chen, vielle­icht noch amerikanis­chen län­der über­haupt vorkom­men), ihr denken und han­deln bes­timmt und dementsprechend ihre psy­che bee­in­flusst. genau das aber zeigt funke über­haupt nicht (es wäre auch nicht ganz anspruch­s­los…): ob die post­mod­erne der philoso­phie und ihrer ästhetis­chen auswirkun­gen (und da fängt es ja schon an – ganz große teile der kun­st ignori­eren ihre ideen schließlich ein­fach ganz und gar) wirk­lich unser leben in diesem aus­maße bes­timmt (hat), ist doch mehr als fraglich. und deshalb bleibt funkes buch auch so beschei­den im ertrag. und da ich ger­ade dabei bin, fällt mir doch noch etwas ein: wie alle „errun­gen­schaften“ der post­mod­erne sowieso in ihrer fak­tiz­ität fraglich sind, ist auch der von funke beobachtete/diagnostizierte post­mod­erne men­sch wohl nur sel­ten in freier wild­bahn anzutr­e­f­fen. heute noch sel­tener als in sein­er hochzeit, den neun­ziger jahren. denn inzwis­chen hat sich doch alles schon wieder dreimal geän­dert…

rain­er funk: ich und wir. psy­cho­analyse des post­mod­er­nen men­schen. münchen: dtv 2005
siehe auch: per­len­tauch­er, eine kurzver­sion in der “welt am son­ntag”

oper — eine aussterbende kunst

war’s das dann schon? stirbt die oper als kun­st­form und gat­tung jet­zt nach 400 jahren oder so tat­säch­lich doch noch aus? und nur, weil kein­er mehr hinge­ht? möglich ist das — und es scheint immer wahrschein­lich­er zu wer­den. jens malte fis­ch­er hat im aktuellen merkur (heft 691, novem­ber 2006, s. 1067–1072) schon fast einen nachruf geschrieben. er ist nicht sehr zuver­sichtlich, was die zukun­ft des musik­the­aters ange­ht — das zeigt schon der titel: oper wohin? schon im ersten absatz schreibt fis­ch­er, mit sicher­heit alles andere als ein verächter der oper: “wohin sie geht, ist unklar­er denn je.” akuteller anlass für die aus­las­sun­gen fis­ch­ers ist unter anderem der berlin­er wahlkampf, in dem die oper(nhäuser) ja wieder mal eine große rolle spiel­ten — heute ist bekan­nt gewor­den, dass der kul­turse­n­a­tor berlins in der neuen regierung nicht mehr existiert, seine auf­gaben wer­den vom regieren­den bürg­er­meis­ter (”dessen ver­hält­nis zur kul­tur als besten­falls ungek­lärt zu beze­ich­nen ist” (fis­ch­er)) übernommen.das grundle­gende prob­lem für fis­ch­er ist fol­gen­des: oper ist aufwändig und teuer. die ein­nah­men der opern­häuser kön­nen aber nicht beliebig erhöht wer­den: “opernkarten sind bere­its über­all in deuts­d­ch­land nicht ganz bil­lig, wenn man nicht clever, stu­dent oder schüler, steh­platzkom­pat­i­bel ist, am besten alles zusam­men. daß die deutschen für urlaub­sreisen unendlich viel mehr aus­geben als für kul­tur, wird man ihnen nicht mehr ausre­den kön­nen, da das recht auf urlaub­sreisen ja im grundge­setz ver­ankert ist.” trotz­dem, es gibt sie ja immer (noch), die opernbe­such­er und ‑fans: es gilt weit­er­hin, “daß pro jahr in deutsch­land mehr men­schen die the­ater, konz­erte und fest­spiele besuchen als die fußball­sta­di­en, aber es ist nun ein­mal so: 35,6 mil­lio­nen besuch­er waren es in der spielzeit 2003/2004.” und das alles fordert ja ger­ade mal einen rel­a­tiv gese­hen aus­ge­sprochen lächer­lichen anteil der öffentlichen aus­gaben — bei großzügiger rech­nung, also bei weit­em nicht nur oper, sind es auf allen gliederungsebe­nen seit ewigkeit­en unge­fähr 0,2 prozent! die oper ist nur, wegen ihrer aus­ge­sprochen hohen fes­ten kosten (orch­ester, chor, etc. pp.) “der prob­lema­tis­chste ort der deutschen the­ater­land­schaft”.

prob­lema­tisch ist das vor allem, weil die oper ras­ant an pub­likum ver­liert: rasende über­al­terung etwa — “gäbe es in den opern­häusern (auch inter­na­tion­al gese­hen) nicht einen treuen stamm der schwulen opern­f­reak-kul­tur, […] wäre das bild noch des­o­later.” denn woraus rekru­tierte sich das opern­pub­likum: in erster lin­ie aus dem (bildungs-)bürgertum. doch das “zer­fällt zu staub wie drac­u­la in den alten ham­mer-fil­men”. — und dann wird es richtig düster: “das pub­likum wächst ein­fach nicht mehr nach, und damit fehlen die vertei­di­ger der kun­st­form oper, wenn sie gefährdet ist. der zur unken­ntlichkeit min­imiert musikun­ter­richt in den schulen umge­ht die oper weiträu­mig”, “an den uni­ver­sitäten kommt die oper so gut wie gar nicht vor.” vor allem aber muss fis­ch­er (das ist wed­er neu noch beson­ders über­raschend für jeden, der ab und an opern besucht…) fest­stellen: “das opern­pub­likum in aller welt ist, man muß es lei­der so deut­lich sagen, das reak­tionärste und dümm­ste von allen the­ater­pub­li­ka (deswe­gen fühlen sich die spon­soren auch dort so wohl), liebt aber die kom­plizierteste, anspruchsvoll­ste und anforderungsre­ich­ste kun­st­form über­haupt.” — sehr schön und genau auf den punkt gebracht, diese ewige para­dox­ie, aus der es heute weniger denn je einen ausweg zu geben scheint. denn “oper erfordert, um tiefen­wirkung ent­fal­ten zu kön­nen, eine gewisse anstren­gung des zuhörens, lesens, vor- und nach­bere­it­ens. begreifen, was einen ergreift, daß heißt ger­ade in der oper mehr zu investieren als die kurze lust des augen­blicks, das opern­haus ist kein stun­den­ho­tel.” aber genau das bräuchte der aller­größte teil des pub­likums heute und genau so ver­hält er sich auch in der oper… die bestand­sauf­nahme der trau­ri­gen sit­u­a­tion hat fis­ch­er damit schon ziem­lich been­det — gut, oper wird es auch weit­er­hin geben, aber wohl nur in der schwund­form der kul­turindus­triellen pop­u­lar­isierung, die ja schon deut­lich zugenom­men hat — lösun­gen weiß fis­ch­er halt auch keine. gibt es aber auch gar keine: denn nötig wäre ein­fach eine ästhetis­che erziehung des volkes im gesamten, ein bewusst­sein für den wert solch­er anstren­gen­den kul­tur, nicht nur ihrer fes­tlichen äußer­lichkeit­en…

ach ja, ein hüb­sch­er seit­en­hieb fehlt noch: “der hirn- und maßstab­slose rum­mel um eine stimm­lich begabte, als kün­st­lerin und inter­pretin unter­en­twick­elte sopranistin namens anna netre­bko zeigt, daß die kul­turindus­trie inzwis­chen auch im opern­bere­ich alles durch­set­zen kann, was ihr beliebt.”

ja, ja, das gibt’s immer noch: musik, die am besten dazu genutzt wird, einzuschlafen. tord gus­tavsens trio ist so etwas…: schön sen­ti­men­tal, garantiert nicht störend, nie­man­den ver­störend, immer schön brav ger­adeaus…

drei män­ner mit­tleren alters schlen­dern auf die bühne, machen hun­dert minuten musik und gehen wieder. unspek­takulär­er geht es kaum.
genau das ist aber auch das ziel des tord gus­tavsen trios: sich nicht ablenken lassen und den zuhör­ern pure und reine musik schenken. eine musik, die in bester roman­tis­ch­er manier auch auf dem gebi­et des kam­mer­musikalis­chen trio-jazz immer noch und wieder auf der suche nach inni­gen momenten ist. und sie find­en fast erschreck­end viele davon. denn bei ihnen scheint das gar nich so sehr aufwändig zu sein: sie machen ein­fach ihre musik. und sie versenken sich ganz darin. tord gus­tavsen etwa will anscheinend immer wieder in seinen flügel hineinkriechen, der kör­p­er krümmt sich um die tas­tatur bis die nase fast an die fin­ger stößt. das ergeb­nis gibt ihnen aber immer wieder recht. ohne sich in irgen­dein­er weise um die zumu­tun­gen der mod­erne zu küm­mern, träu­men und phan­tasieren sie vor sich hin. freilich geschieht das nie völ­lig los­gelöst, eine gewisse ord­nung bleibt immer gewahrt: die aus­ge­wo­ge­nen melo­di­en bleiben schön im vorder­grund, kein plöt­zlich­er aus­bruch stört die kom­pak­ten for­men des arrange­ments, keine wider­borstige ecke, noch nicht ein­mal eine scharfe kante kann in dieser insel der glück­seligkeit aufmerk­samkeit fordern. ihre musik wird dadurch zwar nicht unbe­d­ingt span­nen­der, durch das ewige ver­weilen in engen har­monis­chen räu­men und gle­ich­bleiben­den mustern aber auf eine sehr inspierende und anre­gende weise ent­las­tend: der ver­stand und das denken haben jet­zt ruhep­ause, nun darf die seele ganz in ruhe, ohne ablenkung, baumeln. und die drei nor­weger wer­den sie ruck­zuck in ein har­monis­ches gle­ichgewicht ver­set­zen.
ihre musik, durch­weg eigenkom­po­si­tio­nen, wälzt und schlän­gelt sich durch die zeit wie ein großer mahlstrom, ein einzi­gar­tiger fluß in unabläs­siger bewe­gung, ohne staustufen, plöt­zliche knicke oder son­stige hin­dernisse – das wass­er bleibt an der ober­fläche immer schön glatt. immer­hin gibt das trio dem pub­likum wenig­stens ab und an gele­gen­heit, seine begeis­terung kund zu tun. und die mainz­er lauscht­en angestrengt und hoch konzen­tri­ert, eine fast sakrale atmo­sphäre herrscht im lück­en­haft beset­zten frank­furter hof. eine feier des gut­müti­gen und pos­i­tiv­en denkens set­zt diese musik in gang, die nur das vol­lkommene aufge­hen in diesem zus­tand der feier­lichen schwebe akzep­tiert.

und noch einmal: mozarts requiem

so etwas sieht st. peter sel­ten: eine lange schlange windet sich noch wenige minuten vor beginn über den vor­platz. die kirche ist schon lange dicht beset­zt, selb­st die steh­plätze auf der empore sind heute begehrt: mozarts requiem ist es, dass die leute in massen anzieht. oder sind es doch eher die chöre des peter-cor­nelius-kon­ser­va­to­ri­ums und der mainz­er fach­hochschule?
aus welchem grund auch immer die zuhör­er gekom­men waren, sie hat­ten ein durchwach­se­nen konz­ertabend vor sich. zur ein­stim­mung gab es ein erst ein mal eine dröh­nende ver­sion des „te deum“ von marc antoine char­p­en­tier, das der diri­gent roland r. pel­ger erstaunlich blass und nichtssagend abwicklen ließ. und vom himm­lichen lobpreis ging es dann im bru­tal­en schnitt hinein in das dunkel des requiems. aber so nach und nach stellte sich her­aus, dass der wech­sel von char­p­en­tier zu mozart doch nicht ganz so hart war: immer stärk­er ließ pel­ger das requiem näm­lich auch wieder eine riesige ruhe ausstrahlen und schuf damit eine stim­mung gläu­biger gelassen­heit, die sich trotz aller verzwei­flung und todesnot umfan­gen und gebor­gen weiß. nicht, dass pel­ger damit ein reines kuschel-requiem abgeliefert hätte. die markige pathos-keule wird von ihm und seinen mit­stre­it­ern dur­chaus wuchtig geschwun­gen. dabei fehlte aber oft das gespür für das rechte quan­tum. im beginn des dies irae zum beispiel erschlug er damit kon­se­quent jede nuancierung und fein­heit. was dann aber doch ent­täuschen musste, war die schnel­ligkeit, mit der sich solche grund­sät­zlich pos­i­tiv­en ansätze immer wieder in belan­glosen all­ge­mein­plätzen ver­loren. doch da pel­ger das feuer immer wieder neu ent­fachen kon­nte, pen­delte das requiem ständig zwis­chen inten­siv gefühlter span­nung und lasch­er par­ti­tur-exeku­tion. immer­hin ver­fügte er über gut prä­pari­erte chöre, die mit ihrer jugendlichen geschmei­digkeit leicht­es spiel hat­ten. auch die solis­ten sind durch­weg bewährte kräfte: die klar strahlende nicole tam­buro genau­so wie bar­bara arneke, die ihre kraftvolle stimme erfreulich genau dosierte. dazu noch der solide, unbeir­rbare bass von daniel böhm und der hell her­austechende daniel sans: die sänger fügten sich fast zu unauf­fäl­lig ein. denn wesentliche impulse kon­nten sie nicht beis­teuern, das steuern über­ließen sie ganz und gar pel­ger. der hat­te damit auch keine prob­leme und hielt klaren kurs – nur sein antrieb schwächelte eben von zeit zu zeit.

ja, sie kön­nen. und nicht ein­mal schlecht. gut, das reper­toire ist recht eingeschränkt — echte meis­ter­w­erke gibt es wohl nicht. und der klang wird auch sehr leicht bloß flächig und ein­tönig. aber die bratschen­gruppe des mainz­er phil­har­monis­chen orch­esters hat das trotz­dem nicht schlecht gemacht — sehr unter­halt­sam mod­eriert von malte schae­fer, ein net­ter abend (auch wenn die zugabe, an der schö­nen blauen donau, etwas über­pro­por­tion­al lang war…)

es sind dann doch ein paar mehr gewor­den. eigentlich wollte malte schae­fer ja keine witze erzählen, son­dern sein pub­likum in die unbekan­nte welt der musik für drei bis acht bratschen ein­führen. aber irgend­wie musste der solo­bratsch­er des phil­har­monis­chen orch­esters im kleinen haus ja die vie­len umbau­pausen über­brück­en. und die auswahl an bratschen­witzen ist ja auch sehr groß. ganz im gegen­satz zum reper­toire für mehrer violen ohne irgend welche anderen, stören­den begleit­er. und das wenige, das es gibt, ist selb­stver­ständlich vol­lkom­men unbekan­nt, nicht ein­mal die namen ihrer schöpfer sind geläu­fig. wer tut sich auch frei­willig so etwas wan, acht bratschen pur und ohne ablenkung? viele scheint so etwas nicht zu inter­essieren, wed­er kom­pon­is­ten noch zuhör­er.
aber denen ent­ge­ht doch einiges. zum beispiel die „fan­ta­sia for four vio­las“ des englis­chen erzro­man­tik­ers york bowen. nein, den muss man wirk­lich nicht ken­nen. aber seine fan­ta­sia ist trotz­dem bedrück­end schön – vor allem, weil sie sich der klang­welt der vio­la voll und ganz aus­liefert. es ist aber auch ein span­nen­der hörkri­mi bei nacht und nebel, mit ver­fol­gun­s­jag­den, hitzi­gen ver­hören und müh­samer spuren­suche. die vier musik­er spie­len das aber auch mit ein­er solchen hingabe und tiefen, aus­drucksvollen versenkung, das man ihren ver­führun­gen und überzeu­gungskün­sten vol­lends aus­geliefert ist. fast genau­so ver­lock­end präsen­tieren sie auch max rit­ter von weinzierls „nacht­stück“. das ist in den meis­ten teilen seines episo­den­haften ver­laufs wun­der­bar zart, luftig und son­nig – das bratschen so unbeschw­ert klin­gen kön­nen, ist hier noch eine über­raschung. es wurde dann aber schnell zur selb­stver­ständlichkeit. denn die mainz­er bratschen­gruppe machte wirk­lich ernst und zog auch musik der leichteren fas­son her­an: leonard bersteins „some­where“ etwa, oder jean paul mar­tini­nis „plaisir d’amour“ – für solche schmacht­fet­zen ist der warme, fül­lige klang der vio­la natür­lich bestens geeignet.
damit war das oktett aber noch lange nicht zufrieden. sie haben dem chordi­rek­tor sebas­t­ian her­nan­dez-lav­erny auch noch eine kom­po­si­tion ganz speziell für ihre beset­zung ent­lockt: „intro­duk­tion, cantabile und phan­tastis­che fuge“ heißt die urauf­führung. und sie hat es wirk­lich in sich. im leicht­en spiel der ver­satzstücke wer­den die tech­nis­chen fähigkeit­en der stre­ich­er außeror­dentlich gefordert. und auch die zuhör­er mussten sich anstren­gen, in der acht­stim­mi­gen fuge nicht den überblick zu ver­lieren. ver­wick­lun­gen gibt es in dieser phan­tastis­chen mix­tur mehr als genug – aber ein pub­likum, das sich frei­willig acht bratschen anhört, hält auch das aus.

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