Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Autor: Matthias Seite 203 von 206

Leser mit allerlei Ansprüchen und ausdauernder Läufer. Je nach Tagesform auch mal ausdauernder Leser und Läufer mit allerlei Ansprüchen.

elisabeth hagedorn singt sich durch die romantik

zum abschied aus dem mainz­er ensem­ble hat die sän­gerin elis­a­beth hage­dorn sich aus­gerech­net einen lieder­abend aus­gedacht — mit einem ziem­lich kun­ter­bun­ten pro­gramm und dur­chaus wech­sel­haften qual­itäten:

was wohl passieren würde, wenn diese frau wirk­lich am rhein stünde und sänge? gut, ihre haare sind ein wenig kurz – aber son­st möchte man sich lieber nicht vorstellen, welche fol­gen ein lied­vor­trag eliz­a­beth hage­dorns am lorelei-felsen auf die rhein­schiff­fahrt hätte. im kleinen haus set­zte sie in gülden­em kleid und rotem schal jeden­falls scham­los so ziem­lich alle ver­führungskün­ste ein, über die eine sän­gerin von ihrem for­mat gebi­etet. und wenn sie dann also traumver­loren am flügel lehnt und die berühmten verse der „lorelei“ in der ver­to­nung von franz liszt singt, ist die volle macht der musik zu spüren. darum geht es ihr an diesem abend, einem abschied aus dem mainz­er ensem­ble, offen­bar. so ganz klar war das zunächst aber nicht. denn während der noten­stän­der kon­tinuier­lich von ein­er seite auf die andere wan­dert, wird ganz schnell klar: das spie­len ist ihre wahre domäne. da, wo sie als sän­gerin und schaus­pielerin gefragt ist, singt sie auch am besten: bei richard strauss, bei franz liszt und alban berg und auch noch bei den liedern von charles ives. mit robert schu­mann und johannes brahms hat sie allerd­ings noch zwei kom­pon­is­ten auf ihrem pro­gramm, die viel mehr intim­ität und absolute klarheit im detail fordern. und das ist ihre stärke an diesem abend nicht so ganz. schu­manns „bel­sazar“ singt sie etwa mit spek­takulärem stimm­lichen aufwand – das reißt schon mit. aber das lässt auch viel unterge­hen, von der ironie des heines-gedicht­es ist nicht mehr viel zu spüren. auch die schlicht­en volk­slied­ver­to­nun­gen von brahms passen nicht so recht zu ihrem stil: selb­st hier sucht sie noch nach der großen bühne, dem the­ater in der musik.

dort, wo der kom­pon­ist genau das ver­langt, ist sie dann aber auch wirk­lich beein­druck­end. etwa richard strauss – schon das erste lied von ihm, „die nacht“, zeigt nicht nur die streng kon­trol­lierte tech­nik, son­dern auch die tre­f­fende sub­til­ität und das klan­gliche eben­maß ihrer stimme. auch ihr pianist andreas stoehr kann mit spin­nweb-feinen begleit­fig­uren wirk­lich überzeu­gen.

und so geht es dann auch den restlichen abend weit­er. ob mit der idyl­lisch-reinen süße von liszts „fis­cherkn­abe“ oder alban bergs „nachti­gall“: eliz­a­beth hage­dorn serviert immer genau die richtige por­tion expres­siv­ität, wech­selt vom empfind­samen ver­weilen zu schweben­den traumgedanken und lässt schließlich auch noch die schlichte poe­sie der musik von charles ives erblühen. und immer wieder wan­dert der noten­stän­der von der einen seite zur andern. ein glück nur, das diese geballte por­tion ver­führung und verzück­ung auf der bühne des kleinen haus­es nie­man­den von seinem weg ablenken kon­nte.

ironische musik? schumanns heine-vertonungen unter der lupe

robert schu­mann und hein­rich heine, die bei­den großen genies der roman­tik, haben in diesem jahr ihren 150. todestag — auch wenn sich mozart vor­drängt. dabei ist ger­ade dieses traumpaar viel inter­es­san­ter. und es ist auch noch lange nicht alles gesagt. bei­de verbindet näm­lich nicht nur das jahr ihres todes, son­dern auch ein blick für die jew­eils andere kun­st. bei­de waren außer­dem wun­der­bare musikschrift­steller. und nicht zulet­zt hat schu­mann eben heine öfter ver­tont als jeden anderen dichter. diese lieder mussten allerd­ings im laufe der zeit so einige unbill erfahren. genau das hat thomas syn­ofzik, direk­tor des robert-schu­mann-haus­es in zwick­au, offen­bar gereizt. denn seine pünk­tlich zum jubiläum erschienene studie hat zwei ziele: zum einen will syn­ofzik mit der rezep­tion­s­geschichte mal so richtig aufräu­men. und er will das ver­hält­nis von musik und ironie unter die lupe nehmen. der titel ver­spricht dabei allerd­ings ein wenig mehr als das buch ein­lösen kann. denn sein fokus bleibt beschränkt: es geht um die heine-lieder — und um nichts anderes.

der ver­such, der roman­tis­chen ironie über­haupt ana­lytisch hab­haft zu wer­den, macht den anfang. syn­ofzik sieht sie vor allem als aus­druck der ambivalenz und der ambi­gu­i­tät. das beobachtet er in heines lyrik und danach sucht er in seinen detail­lierten har­monis­chen, metrischen, melodis­chen und struk­turellen analy­sen der musik. und er find­et dabei so viele und ein­deutige musikalis­chen umset­zun­gen der ironie, dass man die früheren ver­suche, genau das schu­manns ver­to­nun­gen abzus­prechen, kaum glauben mag. ob es nun die boden­lose har­monik des chor­satzes “die lotus­blume”, die tonale ambivalenz von “im wun­der­schö­nen monat mai”, die rossi­ni-per­si­flage in “die rose, die lilie, die taube” oder die para­dox­en schluss­wen­dun­gen und iro­nis­chen pointen — syn­ofzik spürt sie mit viel ana­lytis­chem geschick und scharf­blick auf. was seinem buch ger­ade am ende der lek­türe allerd­ings ein wenig abge­ht, ist der größere zusam­men­hang. inter­es­sant wäre schon noch, wie sich diese beobach­tun­gen mit anderen lieder schu­manns oder heine-ver­to­nun­gen ander­er kom­pon­is­ten ver­gle­ichen ließen.

thomas syn­ofzik: hein­rich heine — robert schu­mann. musik und ironie. köln: dohr 2006. 191 seit­en. 24,80 euro.

ist reich-ranicki ein literaturkritiker?

die frage ist nicht ganz so banal wie sie scheint. denn es tauchen zumin­d­est bei mir immer wieder zweifel auf. ver­ste­ht er über­haupt, was lit­er­atur ist? und was kri­tik? wenn ich dann heute in der taz ein inter­view mit unser aller liebling mar­cel reich-ran­ic­ki lese, komme ich aus dem verzweifel­ten lachen kaum noch her­aus. denn wenn ein lit­er­aturkri­tik­er sätze von sich gibt wie: “der leser liest büch­er zu einem einzi­gen zweck: um sich die zeit zu vertreiben” — dann ist wohl wirk­lich hopfen und malz ver­loren. dann bleibt uns wohl wirk­lich nur noch elke hei­den­re­ich. aber noch ist es ja nicht so weit. zumin­d­est nicht ganz. ein paar rest-leser gibt es ja noch. son­st würde hand­ke auch keine büch­er verkaufen. über den will mrr sich beze­ich­nen­der­weise gar nicht erst äußern. na ja, wenn man als lit­er­aturkri­tik­er immer noch und immer wieder darauf beste­ht, dass man bei der lek­türe wis­sen muss “in welch­er sit­u­a­tion war der autor”, dann sollte man sich schleug­nist nach einem passenderen gehirn oder einem angemesseneren job umse­hen. so wird das jeden­falls nix mehr — denn was weiß er denn im gün­stig­sten fall über die sit­u­a­tion des autors? er kann vielle­icht raus­bekom­men, ob er materiell abgesichert war. ob er ger­ade irgendwelchen öffentlichen oder offen­sichtlichen ärg­er hat­te und hat. aber son­st? son­st bleibt ihm doch auch nur die lek­türe und der text. und das reicht ja auch, damit hat man doch auch mehr als genug zu tun.

aber reich-ran­ic­ki freut sich lieber über die tolle arbeit, die er mit seinem kanon geleis­tet hat — und hat immer noch nicht kapiert, wie sinn­los und über­flüs­sig diese ganze sache ist. denn erstens ließe er sich mit seinen eige­nen waf­fen schla­gen: wenn er der ansicht ist, büch­er oder lit­er­atur all­ge­mein wür­den nur zum zeitvertreib gele­sen, dann bräuchte ja nie­mand einen kanon, dann kön­nte jed­er lesen, was er lustig fände (und so ist es ja auch). das zeigt ja, wie undurch­dacht und wider­sprüch­lich mrrs posi­tion ist. wer nur den kanon lesen will — braucht er dafür einen kof­fer mit allen tex­ten? nein, natür­lich nicht. und erst recht nicht, wenn die texte sowieso alle ständig ver­füg­bar sind. damit fällt näm­lich reich-ran­ick­is haupt­ab­wehrar­gu­ment gegen kri­tik an sein­er auswahl — die ja, wie er selb­st wieder zugibt, auch eine sub­jek­tive ist, also keinen wirk­lichen “kanon” im eigentlichen sinne darstellt — schon wieder weg: würde es ihm wirk­lich darum gehen, einen verbindlichen kanon zu zemen­tieren, ließe er sich nicht von so läp­pis­chen und rein kom­merziell gedacht­en argu­menten wie dem gewicht der aus­gabe der texte seines kanons bee­in­flussen. dann kön­nte er näm­lich schlicht und ein­fach eine entsprechende liste veröf­fentlichen. aber daran zeigt sich eben: es geht ein­fach um das geld. und nicht um die lit­er­atur. deshalb ist mrr auch kein lit­er­aturkri­tik­er, son­dern — wie auch schon zu zeit­en des litearischen quar­tetts, dessen schwund­stufe jet­zt halt eine solop­er­for­mance von elke hei­den­re­ich ist — nur ein berater für die freizeit­gestal­tung. und das ist etwas ganz anderes.

ist peter licht eine trübe tasse?

ich bleibe jet­zt ein­fach mal bei der früheren schreib­weise als nor­maler name. obwohl die neue kon­trahierte form den kun­stcharak­ter dieser beze­ich­nung ja schon deut­lich­er macht. ander­er­seits war es ja ger­ade der witz, das man (zunächst) nicht wusste, wo der kün­stler aufhört und der men­sch anfängt, der den früheren peter licht inter­es­san­ter gemacht hat. auch die musik sein­er ersten bei­den alben, stratosphären­lieder und 14 lieder, hat mir bess­er gefall­en als sein aktuell­stes, die lieder vom ende des kap­i­tal­is­mus. und zwar nicht nur (aber auch ein wenig) textlich (früher: mehr witz, mehr skuril­litäten, absur­ditäten der gegen­wär­tigkeit), son­dern vor allem musikalisch — wenn peter licht so stin­knor­malen gitar­ren­pop macht, wird das ganze pro­jekt irgend­wie doch eben auch ganz nor­mal und nichts beson­deres mehr. früher war zwar nicht alles bess­er, aber seine musik hat­te den entschei­den­den kick über­drehtheit mehr, der sie inter­es­sant wirken ließ.

aber hier soll es ja eigentlich um sein buch gehen: peter­licht: wir wer­den siegen! buch vom ende des kap­i­tal­is­mus. münchen: blu­men­bar 2006. und das lässt zunächst ein­mal die üblichen befürch­tun­gen wahr wer­den: geschrieben, sozusagen schwarz auf weiß, wirkt das alles nur noch halb so gut — plöt­zlich merkt man eben, wie bil­lig und abgenutzt die wortwitzeleien in wirk­lichkeit schon sind. schwarz auf weiß ist übri­gens falsch, das buch ist in (hell-)blau (mit ein wenig blass­rot) gedruckt. und in ein­er ziem­lich katas­trophalen schrift geset­zt, mit abso­lut unmöglichen i‑ligaturen — sog­ar rück­wärts bei der verbindung gi, die einem das lesen schon fast wieder ver­lei­den. aber immer­hin kann man ja noch peter lichts kugelschreiber-gekritzel bestaunen. aber auch das gab es schon mal, in der per­fek­ten form etwa bei dieter roths tele­fonze­ich­nun­gen — wenn man sich das vor augen hält, wirkt peter licht auf ein­mal wieder wie ein ganz kleines licht (‘tschuldigung, der witz musste jet­zt mal sein).

die absolute und ganz typ­is­che all-round-ver­mark­tung hat inzwis­chen von peter licht besitz ergrif­f­en: musik, the­ater, buch, dem­nächst kommt bes­timmt noch ein kinofilm… auch seine masche mit der anonymität ist natür­lich eben nur eine masche, die bei der ökonomis­chen ver­w­er­tung hil­ft: peter­licht ist die marke, die muss erkennbar sein und sich vom rest abheben. immer­hin behauptet peter licht m.w. nicht, dass es anders sei…

was ist das also für ein buch: das ist ein nettes und hüb­sches sam­mel­suri­um: kleine erzäh­lun­gen, notate, gedanken-fund­stellen, sinnsprüche und natür­lich lied­texte (kom­plett erwartungs­gemäß die “lieder vom ende des kap­i­tal­is­mus”, aber auch andere, ältere — inklu­sive dem fast unver­mei­dlichem “son­nen­deck”, das über­raschen­der­weise zu den gelun­gen­sten seit­en dieses buch­es gehört:

“wenn ich nicht hier bin
bin ich aufm son­nen­deck
bin ich bin ich bin ich bin ich
und wenn ich nicht hier bin
bin ich aufm son­nen­deck
oder im aquar­i­um
bin ich bin ich
und alles was ist
dauert drei sekun­den:
eine sekunde für vorher eine für nach­her
und eine für mit­ten­drin
für da wo der gletsch­er kalbt
wo die sekun­den
ins blaue meer fliegen

und wenn ich nicht hier bin
bin ich aufm son­nen­deck
bin ich bin ich bin ich bin ich”

[mit den drei sekun­den hat er sog­ar mal wirk­lich recht, das haben die psy­cholo­gen ja als die unge­fähre zeitspanne der “gegen­wart” bes­tim­men kön­nen.]

daneben ste­ht aber auch etlich­es an lei­der ziem­lich ein­fältig-prim­i­tiv­en lyrik — zusam­men gemis­cht zu ein­er in jedem zeichen, in jedem banalen gekritzel bedeu­tung sug­gerieren­den mix­tur, die aber auch wieder nur leeres geblub­ber ist. das ganze dreht sich gerne immer wieder um licht & damit ver­bun­dene meta­phern. aber die zweit- oder drittver­w­er­tung sein­er ideen & gedanken, die in ihren ursprünglichen for­men — meist eben dem lied — wesentlich frisch­er & inter­es­san­ter wirken & auch sind, wie das die “trans­syl­vanis­che ver­wandte” sehr deut­lich macht, lässt sich am besten wieder mit peter licht selb­st charak­ter­isieren: “das hier macht lalala und versendet sich” punkt.

seinem spiel­trieb hat er dabei reilich freien lauf gelassen — oft wün­scht man sich nichts sehn­lich­er, als den gebrauch der ver­nun­ft und des ver­standes durch den autor. ich muss dann allerd­ings auch zugeben, dass es nicht ganz so schlimm ist, wie sich das hier jet­zt lesen mag. und dass trotz allem gemeck­er auch ein paar net­tigkeit­en dabei sind. und zwar vor allem da, wo die poet­is­che beschrei­bun­gen ein gle­ichgewicht mit den banal­itäten des all­t­ags, denen sich peter licht so gerne wid­met, auch sprach­lich einge­hen. und außer­dem lässt sich generell beobacht­en: eine gewisse leichtigkeit, ein schweben, — fast wie in der schw­erelosigkeit — die schw­erkraft ist ja, darauf hat peter licht bere­its früher hingewiesen — über­flüs­sig — im wel­traum geht’s ja auch ohne sie…

aber trotz­dem: im gesamten scheint mir das doch eben genau die art von bedeu­tungss­chwan­gerem ger­aune und pseudoin­tellek­tueller pseudokun­st zu sein, die mir den pop in sein­er ein­fachen form der gegen­wart so oft so sehr ver­lei­det. ist das jet­zt wom­öglich ein deutsches phänomen?

der einzelne gegen die masse: meisterkonzert in der rheingoldhalle

was das pro­gramm — beethoven, leonore 3; chris­t­ian jost, lux­aeter­na; rim­s­ki-kor­sakow, schehez­er­ade — zunächst gar nicht so erwarten ließ: ein span­nen­des und wirk­lich gutes, überzeu­gen­des konz­ert bei den meis­terkonz­erten in der rhein­gold­halle. der text trifft es eigentlich auch ohne ergänzun­gen ziem­lich gut:

streng und ernst ste­ht er da, von kopf bis fuß in schlicht­es schwarz gewandt. george pehli­van­ian nimmt seine auf­gabe als diri­gent der staat­sphil­har­monie rhein­land-pfalz aus­ge­sprochen ernst. zum ersten mal war der „erste gast­diri­gent“ des orch­esters beim let­zten meis­terkonz­ert in der mainz­er rhein­gold­halle. und was seine asketis­che dien­stk­lei­dung an ele­ganz ver­mis­sen lässt, macht seine dirigierkun­st wett. so ele­gant und geschmei­dig wie er dirigiert kaum ein orch­ester­leit­er.

da es bei diesem konz­ert aber offen­bar um den gegen­satz zwis­chen indi­vidu­um und gesellschaft, zwis­chen auf­begehren und anpas­sung geht, braucht der mae­stro, der sich so unauf­dringlich in sein orch­ester ein­fügte, einen gewichti­gen wider­sach­er. diese rolle füllte der sax­o­phon­ist arno bornkamp per­fekt aus. er geht ganz in sein­er rolle als kämpferisch­er indi­vid­u­al­ist, die der kom­pon­ist chris­t­ian jost ihm in seinem sax­ophonkonz­ert „lux­aeter­na“ verord­net, auf: mit ums haupt geschlun­genem stirn­band agiert er neben george pehli­van­ian bei der deutschen erstauf­führung fast wie ein stadtgueril­la – da fehlt nur noch die tarn­fleck­en-hose. der diri­gent kämpft unter­dessen um seine läs­sige ele­ganz und muss doch akzep­tieren, dass hier bornkamp die marschrich­tung vorgibt. mit allen möglichkeit­en zwis­chen klaren statet­ments, vib­ri­eren­den gefühlsaus­brüchen, schreien­der verzwei­flung und lamen­tieren­der trauer hil­ft das sax­ophon, die in ständi­ger unsicher­heit immer wieder stock­enden orch­esterk­langfelder zusam­men­zuschweißen. unaufhör­lich bringt das soloin­stru­ment melodis­che frag­mente ins spiel, während das orch­ester stärk­er in far­b­vari­a­tio­nen und raumk­län­gen organ­isiert ist. das ist zwar keine lin­eare erzäh­lung, aber doch eine form der musik, die entwick­lun­gen durch­macht, die plöt­zliche entschei­dun­gen und langes nach­denken, kämpferisches agieren und gelassenes abwarten des kampfes des einzel­nen mit und gegen die gemein­schaft in immer neuen vari­anten verbindet.

der diri­gent hat da ver­gle­ich­sweise wenig zu sagen. sein tak­stock, der sich bei beethovens drit­ter leonoren-ouvertüre als gefährlich spitzes flo­rett gebärdete, darf hier nur noch als uner­bit­tlich­er tak­t­ge­ber fungieren. dafür kann er bei niko­lai rim­s­ki-kor­sakows schehez­er­ade zum tänzel­nden, unberechen­baren der­wisch wer­den. denn pehli­van­ian spielt das orch­ester mit seinen hän­den wie ein großes instru­ment: er malt ihnen die musik förm­lich in die luft. und die lud­wigshafen­er reagieren auf diese führung wun­der­bar geschmei­dig und ein­mütig. eine blendende mis­chung aus war­men, gedeck­ten klang­far­ben und plas­tisch-kör­per­haft greif­baren struk­turen wird das – nicht nur eine augen­wei­de, son­dern auch ein ohren­schmaus.

Sprache und die Unmöglichkeiten ihrer Kritik

so, der nach­trag vom woch­enende. meine hauptlek­türe: das neueste buch von dieter e. zim­mer: sprache in zeit­en ihrer unverbesser­lichkeit. ham­burg: hoff­mann und campe 2005. ins­ge­samt nicht ganz so erquick­lich wie ich es mir erhoffte.
grund­sät­zlich hat er ja die richti­gen ideen, ins­beson­dere im ersten kapi­tel zu den grund­säztlichen möglichkeit­en der sprachkri­tik — auch wenn das arg auss­chweifend und pen­e­trant redun­dant for­muliert ist. später freilich krankt seine darstel­lung — und auch schon sein gedanken­gang — v.a. zum pri­vat­en schriftlichen all­t­ags­deutsch an einem abso­lut untauglichen kor­pus (nur inter­net-quellen, noch dazu solche wie ebay-auk­tio­nen…) und sein­er wiederum weit aus­holen­den, aber arg ein­seit­i­gen diskus­sion des anglizismen-“problems”.

im zen­trum (auch ganz pro­fan in der mitte des buch­es) des ganzen ste­ht sich­er nicht zufäl­lig die rechtschrei­bung und ihre reform inklu­sive der ausufer­n­den debat­te dazu und über­haupt die reform­fähigkeit von rechtschreib­vorschriften. hier hat zim­mer dur­chaus vernün­ftige vorschläge — was vor allem an sein­er dezi­diert prag­ma­tis­chen aus­rich­tung liegt. reform sollte schon mal sein, aber vor allem ein wenig bess­er durch­dacht, kon­se­quenter und auch jet­zt noch mit eini­gen mod­i­fika­tio­nen — etwa bei der von zim­mer abgelehn­ten, sin­nwidri­gen und unäs­thetis­chen mech­a­nis­chen tren­nung sowie natür­lich bei der getren­nt- und zusam­men­schrei­bung.
der gesamte zweite teil dient vor allem zwei zweck­en: der offizielle grund ist wohl, zu zeigen, dass große teile der lin­guis­tik aus falschen grün­den die sprachkri­tik ablehnen. der eigentlich grund scheint aber eher zu sein: seht her, das habe ich alles gele­sen, das kenne und beherrsche ich alles. zim­mer bedi­ent sich dafür äußrst großzügig am buf­fet der sprach­wis­senschaft, lässt aber auch ganz große bere­iche ein­fach außer acht, scheint sie noch nicht ein­mal zu ken­nen. das bet­rifft vor allem neuere the­o­rien sowohl der gram­matik (natür­lich nimmt er von der opti­mal­ität­s­the­o­rie keine notiz), aber auch fast die kom­plette, inzwis­chen ja sehr exper­i­mentell aus­gerichtete, psy­cholin­guis­tik würdigt er keines blick­es. entsprechend alt­back­en und mager sind die ergeb­nisse. über das niveau der ein­führungs-pros­em­inare kommt er kaum her­aus. und auch da beschränkt er sich schon außeror­dentlich stark: auf­grund seines ver­ständ­niss­es von sprachkri­tik (das er so freilich nie expliziert) als kri­tik v.a. der wort-seman­tik und des “richti­gen” gebrauchs der wörter, mit ein wenig syn­tax dazu, lässt er große teile der sprach­wis­senschaft außer acht, u.a. eben die teile der seman­tik, die über das einzelne wort hin­aus­ge­hen — das, was ja erst so richtig span­nend wird…

er bemüht sich sehr, die neu­tral­ität der lin­guis­tik zurück­zuweisen — allerd­ings aus falschen grün­den. im kern behauptet zim­mer näm­lich, die lin­guis­tik sei ide­ol­o­gisch kon­t­a­miniert und deshalb nicht wil­lens, sprachkri­tik zu betreiben. das macht er vor allem am nativis­mus der (post-)chomsky’schen aus­prä­gung fest, den er aber sehr entstellt und längst nicht mit seinen aktuelleren entwick­lun­gen vorstellt. wenn er etwa viel mühe darauf ver­wen­det, zu zeigen, dass lexi­ka nicht ange­boren sein kön­nen, weil dafür gar nicht genug “spe­icher­platz” in den genen sei, zeigt er vor allem, wie wenig er ver­standen hat. denn wenn ich recht sehe, glaubt das doch sowieso nie­mand mehr — es geht doch ger­ade darum, dass die zugrun­deliegen­den struk­turen genetisch ver­mit­telt wer­den und dann mit­tels des inputs “gefüllt” wer­den. das ist alles umso erschreck­ender, als zim­mer ger­ade den lin­guis­ten falsche und ide­ol­o­gis­che motivierte schlussfol­gerun­gen vor­wirft — seine eige­nen schlüsse erscheinen mir aber wesentlich fahrläs­siger und ein­seit­iger. das prob­lem der vererbung bzw. der entwick­lung eines “sprach­gens” scheint mir gar nicht so sehr ein prob­lem zu sein: es wurde inzwis­chen ja dur­chaus gezeigt, dass kom­plexe sys­tem sich der­art entwick­eln kön­nen — das beste beispiel dafür ist ja das auge (wom­it die kreation­is­ten ja so gerne argu­men­tieren). aber so etwas nimmt zim­mer genau­so wenig zur ken­nt­nis wie neuere forschun­gen zur evo­lu­tionären lern­barkeit von sprache, die in exper­i­menten (mit algo­rith­men etc.) ja inzwis­chen dur­chaus gesichert ist.

“lass deine sprache nicht allein” ist zim­mers faz­it — damit hat er ja recht. nur seine gründe sind lei­der die falschen. denn die lin­guis­ten dür­fen das dur­chaus — und zwar genau so, wei biolo­gen nicht naturschützer sein müssen.

noch einmal bier-prosa. diesmal von franz dobler

nach “blut & bier”, den ja wirk­lich sehr unge­wasch­enen sto­ries von franz xaver kroetz, kommt gle­ich die näch­ste alko­hol-lek­türe: bier­herz. flüs­sige prosa von franz dobler (ham­burg: nau­tilus 1994). so richtig sauber ist das hier natür­lich auch nicht, das wäre von franz dobler auch wohl zu viel ver­langt. den anfang macht die wiederver­w­er­tung des vor­wortes zu einem the­ater­stück mit dem über­raschen­den namen “bier­herz”, in dem dobler v.a. erk­lärt, dass man mit seinem stück so ziem­lich alles machen kann, so lange nur der text von irgend jemand gesprochen wird. das ganze fix verquirlt mit ein paar tief­schür­fend­en und jed­er menge flach­schür­fend­en gedanken und ideen zum bier und seinem kon­sum und fer­tig sind die ersten dreißig seit­en des neuen büch­leins.… danach kommt lei­der nicht mehr viel: eine kleines “reise­tage­buch” durch louisiana und texas mit ein paar lau­ni­gen beschrei­bun­gen der musik‑, tanz‑, bar- und bierver­hält­nisse dorten ist da noch der höhep­unkt. der rest total ver­nach­läs­sig­bar: anek­doten, lau­nig erzählt, abso­lut unschein­bar und ohne beson­dere stilmerk­male, ästhetis­che eigen­heit­en oder son­stige her­aus­ra­gende eigen­schaften: flüs­sig eben, und schnell ver­ronnen.…

joachim lottmann beobachtet zombies in freier wildbahn

der neueste anschlag lottmanns auf guten geschmack und überkommene werte: joachim lottmann: zom­bie nation. köln: kiepen­heuer & witsch 2006.

der erzäh­ler – ein autor-klon mit dem namen johan­nes­lohmer, „erfind­er“ des pop-romans – beobachtet sich beim recher­chieren / schreiben eines fam­i­lien­ro­mans, der seinem jugen­dro­man fol­gen soll: „der erste fam­i­lien­ro­man der poplit­er­atur“ behauptet der klap­pen­text (was natür­lich blödsinn ist, allein fichte hat da ja schon einiges dazu geschrieben). und natür­lich ist „zom­bie nation“ auch gar kein­er. höch­stens als per­si­flage auf die aktuelle schwemme auf dem bücher­markt. dazu ist lottmann ja immer wieder gut: als seis­mo­graph. und als schlag­wort-liefer­ant – ein beispiel? aber klar doch, gle­ich auf dem umschlag: „was frauen den män­nern antun, ist der eigentliche irak-krieg unser­er epoche.“ das ste­ht da ein­fach mal so und wartet, dass jemand drauf anspringt. was ja hier­mit offiziell erledigt wäre …

„die let­zten tage der berlin­er repub­lik“ sind das zen­trum des romans – die ansprüche sind gesunken, die men­schheit war ein­mal, heute geht es nur noch um uns: die mit­dreißiger oder vierziger kul­turschaf­fend­en… typ­isch für lottmann ist natür­lich wieder der ironie-overkill, sein schein-real­is­mus, inklu­sive vol­lz­i­tat einiger jour­nal­is­tis­chen arbeit­en lottmanns
(aus der sz und der taz), verquickt noch dazu mit eini­gen pri­vat­en abson­der­lichkeit­en — und schon ist das neue buch fer­tig. schnell geschrieben, schnell gele­sen und wahrschein­lich auch schnell wieder vergessen.

das fab­u­lieren hat lottmann aber ganz gut draf: die hyper­tro­phe meta­phern­schlacht im geiste ein­er simulierten erzäh­lerischen unschuld, die natür­lich ständig geschickt umspielt wird – genau wie das imag­inierte zwiege­spräch zwis­chen erzäh­ler und imag­inärem leser gerne mal reflek­tiert, umge­dreht wird, um dann doch keine rück­sicht zu nehmen oder ger­ade erst recht, je nach momen­tan­er stim­mung: „es fällt mir schw­er, den leser mit ein­er wieder­gabe eines frem­den lebens zu behel­li­gen, anstatt über das eigene leben zu bericht­en.“ – „der lit­er­aturbe­trieb verzei­he mir, aber ich kon­nte nicht anders, als wieder mit ihr zu schlafen.“

das gesamt­paket wird dann mit dem her­rlichen rosa des umschlags abgerun­det: die züchtige unschuld – aber dann natür­lich die stre­ichze­ichung der bar­busi­gen jungfrau mit gülden­em haar –, die beobach­tung der schreck­lich angepassten jugend des jahres 2005 und verzwei­flung über ihre sinnlosigkeit beschäfti­gen lottmann: wer schon in sein­er jugend das leben sein­er eltern führt – was soll aus dem noch wer­den? und wenn das ein ganzes volk so macht? dann amüsiert man sich mit sein­er heim­lichen liebe, der bild-zeitung: „ein schön­er beginn, eine tolle geschichte, mit einem nachteil: sie stand in der bildzeitung und war somit erfun­den.“

und wer sind nun eigentlich die zom­bies? und die zom­bie nation? keine ahnung. aber sie haben die große koali­tion ver­schuldet und ver­ant­wortet.

und noch ein konzert: (fast) nur schnittke-kammermusik

ger­ade eben noch fer­tig gewor­den: meine besprechung des heuti­gen konz­ertes der rei­he “neue musik in der alten patrone”, deren def­i­n­i­tion von neuer musik und dementsprechend auch die pro­gram­mgestal­tung mich son­st sel­ten wirk­lich zufrieden stellen kann. aber auch wenn ich immer noch kein wirk­liche fan von alfred schnit­tke bin ‑unter dem heute gehörten war doch einiges bedenkenswertes, etwa die erste sonate für cel­lo und klavier. und auch das klavierquar­tett “mahler-scher­zo” (basierend auf dem frag­ment von mahlers zweit­em satz in seinem nie vol­len­de­ten klavierquar­tett) hat dur­chaus reize ent­fal­ten kön­nen. auch wenn die dar­bi­etung zwar größ­ten­teils ziem­lich ordentlich war, aber noch luft nach oben ließ — was m.e. vor allem daran lag, dass die orch­ester­musik­er solche werke ein­fach zu oft spie­len, da fehlt die rou­tine und tech­nis­che gelassen­heit, mit der das “haup­tamtliche” kam­mer­musik­er spie­len kön­nen, ein­fach an vie­len stellen.

offiziell klingt das dann etwas gemäßigter bzw. fre­undlich­er:

so etwas gehört ja eigentlich ver­boten. denn das ist nichts anderes als emo­tionale erpres­sung, was judith tie­mann und mar­ti­na graf-nießn­er in der alten patrone mit alfred schnit­tkes erster vio­lon­cel­lo-sonate anstellen. ein­fach gemein ist es, denn jede gegen­wehr ist sowieso zum scheit­ern verurteilt. die bei­den sind ein­fach unver­schämt inten­siv, lassen die schat­ti­gen klänge dieser med­i­ta­tion und ihre grotesken anwand­lun­gen der­maßen nach­drück­lich in den raum schweben, dass man der verblüf­fend­en kohärenz dieser emphatis­chen grat­wan­derung, die die bei­den musik­erin­nen mit unfass­bar­er sicher­heit absolvieren, ein­fach nicht entkom­men kann. selb­st auf dem schmalen grat zwis­chen emo­tionaler inten­sität und purem kitsch, auf dem schnit­tke so oft wan­delt, scheuen sie selb­st große gesten nicht. und weil das für sie so selb­stver­ständlich scheint, gelingt es auch: nur wer sein­er selb­st wirk­lich sich­er ist, kann sich so etwas erlauben, ohne zu scheit­ern. dage­gen wirk­te schnit­tkes vio­lin­sonate, die anette seyfried davor gespielt hat­te, auf ein­mal ganz blass und unschein­bar. und das, obwohl sie zunächst recht strin­gend und tre­f­fend musiziert schien.

der zweite teil des konz­ertes war dann dem klavierquar­tett gewid­met, für dass sich die trois femmes malte schae­fer und seine vio­loa als ver­stärkung geholt haben. auch hier das gle­iche spiel: die suite im alten stil, von den musik­ern selb­st für klavierquar­tett arrang­iert, ist vor allem brav und rechtschaf­fen bieder, aber auch reich­lich nichtssagend und lang­weilig. doch das war ja noch nicht alles. denn für schnit­tkes klavierquar­tett „mahler-scher­zo“ bere­it­eten die vier sich zunächst mit mahlers quar­tettsatz vor. schnit­tke bezieht sich in seinem quar­tett ja auf die skizzen mahlers für den nie kom­ponierten zweit­en satz zu einem klavierquar­tett, von dem nur der anfang fer­tig wurde. der mahler klang dann in der alten patrone vor allem sehr orches­tral, reich­lich aufge­plus­tert und dadurch an entschei­den­den stellen etwas unscharf. aber das über­boten die musik­er bei schnit­tkes mahler-fortschrei­bung mit leichtigkeit: den dicht­en, eng ver­wobe­nen satz ließen sie gekon­nt zwis­chen spätro­man­tik und post­mod­erne schwanken, beton­ten geschickt immer wieder die dif­feren­zen dieser klang­wel­ten und das düster-groteske, die auflö­sung der in den mahler­schen entwür­fen noch halb­wegs zusam­men­hän­gen­den welt in den clus­tern und der klin­gen­den entropie des endes – ein passender schlusspunkt lässt sich kaum find­en.

so, das war jet­zt heute ein pro­duk­tiv­er tag.…

der kategorische medienimperativ der testcard

im orig­i­nal zwar nur eine abo-werbe-kam­pagne, aber auch davon los­gelöst eine sehr schöne und nett umge­set­zte idee:

kat­e­gorisch­er medi­en­im­per­a­tiv

der kat­e­gorische medi­en­im­per­a­tiv lautet in sein­er aktuellen, vom bun­destag ende 2009 als gesetz ver­ab­schiede­ten form:

äußere dich in den medi­en so, als kön­nten deine forderun­gen jed­erzeit auch auf dich sel­ber appliziert wer­den.

dem geset­zge­bungsver­fahren war eine öffentliche diskus­sion im gefolge dreier tragis­ch­er ereignisse voraus­ge­gan­gen:

während der fußball­welt­meis­ter­schaft 2006 wurde vertei­di­gungsmin­is­ter jung, nach­dem er laut­stark für flugzeu­gab­schüsse in gefahren­si­t­u­a­tio­nen gekämpft und diese schließlich durchge­set­zt hat­te, beim dien­sthub­schrauber­an­flug auf den bet­zen­berg von ein­er flakein­heit verse­hentlich für eine ter­ror­is­ten­waffe gehal­ten und eli­m­iniert.

mitte 2008 wurde innen­min­is­ter wolf­gang schäu­ble, der sich für die ver­wend­barkeit von unter folter erpressten geständ­nis­sen stark gemacht und diese auch erre­icht hat­te, von unbekan­nten ver­schleppt und der­art gefoltert, dass auf­grund der von den ent­führern veröf­fentlicht­en aus­sagen sowohl er selb­st als auch alt­bun­deskan­zler hel­mut kohl, min­is­ter­präsi­dent roland koch und einige andere cdu-poli­tik­er zu langjähri­gen haft­strafen verurteilt wer­den kon­nten.

fast zeit­gle­ich geschah es, dass ex-innen­min­is­ter otto schi­ly für eine drin­gende her­z­op­er­a­tion in kana­da auf ein bes­timmtes flugzeug gemusst hätte, infolge eines tech­nis­chen defek­ts im von ihm sel­ber einge­führten bio­metrischen per­son­alausweis jedoch nicht durch die absper­rung gelassen wurde. obwohl ihn jed­er gle­ich erkan­nte, kon­nte er die mas­chine nicht betreten und erlitt vor aufre­gung einen herzan­fall.

in allen fällen hat­ten die opfer bis zum schluss zu ihrer sicher­heit­spoli­tis­chen mis­sion ges­tanden (schilys let­zte worte: »recht so, ich kön­nte schließlich genau­so gut ein ter­ror­ist sein.«) und dafür viel beifall bekom­men. den­noch entspann sich in der folge eine debat­te darüber, wie man öffentliche inter­essen­vertreter kün­ftig bess­er vor den kon­se­quen­zen ihrer inter­ven­tio­nen schützen könne. diese mün­dete dann in der leg­isla­tiv­en ver­ankerung der obi­gen maxime.

gut zwei jahre nach der ein­führung ist die bilanz ges­pal­ten. tonangebende medi­en­for­mate wie die sabine-chris­tiansen-show, die maybrit-lll­ner-show oder die kom­men­tarspal­ten der frank­furter all­ge­meinen zeitung mussten kurz nach inkraft­treten der regelung kom­plett eingestellt wer­den, wodurch hochdotierte arbeit­splätze ver­nichtet wur­den. wichtige gesellschaftliche stim­men sind ver­s­tummt (z. b. dieter hundt, ex-präsi­dent des bun­desver­ban­des der deutschen arbeit­ge­berver­bände: »dann hätte ich ja sel­ber unter solchen bedin­gun­gen leben müssen, wie ich sie für arbeit­snehmer fordere. ich bin doch nicht ver­rückt, da halte ich doch lieber meinen mundt.«). auf der anderen seite stößt das gesetz dur­chaus auch auf akzep­tanz — ger­ade unter jün­geren. auf­se­hen erregte jüngst der fall eines jun­gun­ternehmerver­bandsvertreters, der in ein­er radiodiskus­sion eine anruferin, die ihre über­lebensstrate­gien auf hartz vi geschildert hat­te, für ihre vor­bildliche eigenini­tia­tive lobte. gle­ich der näch­ste anruf kam vom kat­e­gorischen medi­en­im­per­a­tivsüberwachungsamt, das dem ver­bandsvertreter per com­put­er­stimme mit­teilte, sein ver­mö­gen und papis erbteil seien kon­fisziert, er sei ab sofort auf hartz iv und könne nun die von ihm für vor­bildlich erk­lärte eigenini­tia­tive zeigen. woraufhin der junge mann in einen weinkrampf aus­brach und »ich wider­rufe!« schrie.

(aus: test­card #15, s. 302)

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