Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: sinfonie

Tanzende Klänge

Diri­gen­ten erkennt man an zwei Din­gen: Ihrem Umgang mit dem Klang und ihren Bewe­gungs­mus­tern. Und meis­tens hängt das eng zusam­men. Aber sel­ten wird das so wun­der­bar hör- und sicht­bar wie bei Jona­than Nott. Der kam mit dem SWR-Sin­fo­nie­or­ches­ter Baden-Baden und Frei­burg als Gast zum let­zen Main­zer Meis­ter­kon­zert der Sai­son in die Rhein­gold­hal­le. Und was der Bri­te da vor­führ­te, war gran­di­os: Der Diri­gent tanzt die Musik, er malt und zeich­net mit den Hän­den und Armen, zele­briert und emp­fin­det mit dem gan­zen Kör­per. Beet­ho­vens vier­te Sin­fo­nie diri­giert Nott in einer der­ar­ti­gen Deut­lich­keit, dass man fast die Par­ti­tur danach rekon­stru­ie­ren könn­te. Kein Wun­der, dass das Orches­ter ent­spre­chend plas­tisch und beseelt spielt: Sel­ten hat die Vier­te eine der­ar­ti­ge Prä­senz erfah­ren, sel­ten ist sie aber auch als solch revo­lu­tio­nä­re Musik zu hören. Denn Nott begreift Beet­ho­ven über­haupt nicht als Klas­si­ker, son­dern immer als Neue­rer und Erfin­der. Das Pathe­ti­sche inter­es­siert ihn dabei wenig, die fein­geis­ti­gen Klan­ge­de­tails und for­ma­len Beson­der­hei­ten aber dafür umso mehr. Er dehnt etwa die Ein­lei­tung des ers­ten Sat­zes bis ins unheim­li­che – und die­se Ahnung des Unge­wis­sen ver­liert sei­ne Inter­pre­ta­ti­on dann auch in den kna­ckigs­ten Momen­ten nicht mehr.

Auch das drit­te Kla­vier­kon­zert zeich­ne­te die­sen Weg vor. Gemein­sam mit dem Pia­nis­ten Till Fell­ner zeigt das Orches­ter unter Nott mit fas­zi­nie­ren­der Deut­lich­keit im Detail, wie modern Beet­ho­ven gele­sen wer­den kann. Sicher, die Wie­ner Tra­di­ti­on klingt immer noch mit, ein zart-schmel­zen­des Wie­ne­risch umweht den sam­ti­gen Klang. Aber wie Fell­ner dann den Anfang des zwei­ten Sat­zes als ver­wun­sche­ne Mär­chen­stim­mung spielt, zeigt wie­der, dass dies nur noch eine fer­ne Erin­ne­rung ist. Inter­es­san­ter ist für Nott und Fell­ner offen­sicht­lich die Ahnung der Moder­ne, die sie in der Par­ti­tur schon ent­de­cken, die revo­lu­tio­nä­re Sei­te des Klas­si­kers Beet­ho­ven. Das SWR-Sin­fo­nie­or­ches­ter lässt sich dabei durch­aus auch als Beet­ho­ven-Orches­ter hören – zumin­dest für einen Beet­ho­ven, der so modern ist. Das liegt auch am Kon­text, den Nott schafft: Den ver­meint­li­chen Klas­si­ker Beet­ho­ven ergänzt er mit zwei Klas­si­kern der Moder­ne, mit Alban Bergs „Lyri­scher Suite“ von 1928 und den 1971 kom­po­nier­ten „Melo­dien für Orches­ter“ von Györ­gy Lige­ti. Pro­blem­los wan­dert das Orches­ter zwi­schen den Epo­chen und Sti­len hin und her: Genau­so fas­zi­nie­rend wie Beet­ho­vens Vier­te gelin­gen auch die Lyri­sche Suite von Alban Berg und vor allem die „Melo­dien“ von Lige­ti. Das Orches­ter spielt die wun­der­bar gelas­sen, in einer prä­zi­sen Klar­heit und Kon­tu­riert­heit, die man sich öfters wünscht: Wie ein rei­ner Gebirgs­bach spru­deln und wir­beln die Klän­ge, deren Unter­grund und Struk­tur dabei immer kris­tall­klar und trans­pa­rent her­vor­strahlt – die Klän­ge tan­zen, genau wie ihr Diri­gent.

(geschrie­ben für die Main­zer Rhein-Zei­tung.)

Mysteriöse Großtat: Das Landesjugendorchester spielt Bruckner

„Kro­ne der Musik“ oder „Mys­te­ri­um“: Die ach­te Sin­fo­nie von Anton Bruck­ner for­dert Super­la­ti­ve gera­de­zu her­aus. Denn sie ist selbst alles ande­re als beschei­den. Zu ihrer Zeit – also 1892 – war die Ach­te die längs­te Sin­fo­nie über­haupt. Knapp 90 Minu­ten dau­ert es, die­sen monu­men­ta­len Bro­cken auf­zu­füh­ren – andert­halb Stun­den der Span­nung und Erlö­sung, aber auch der Anstren­gung. Und das nicht nur beim Hören, son­dern auch beim Spie­len. Denn die­ses Rie­sen­werk ver­langt ins­be­son­de­re den Blech­blä­sern viel ab, benö­tigt eine gro­ße Aus­dau­er und viel Kraft – bei tota­ler Prä­zi­si­on im Ide­al­fall. Nahe dran ist das beim Jubi­lä­ums­kon­zert des rhein­land-pfäl­zi­schen Lan­des­ju­gend­or­ches­ters im Gro­ßen Haus des Staats­thea­ters zu erle­ben. Und das ist erstaun­lich und bewun­derns­wert, denn Bruck­ners Ach­te ist auch für gestan­de­ne Pro­fis har­te Arbeit. Umso mehr muss man schät­zen, was die Jugend­li­chen da gestemmt haben. Zum 40jährigen Bestehen die­ses außer­ge­wöhn­li­chen Orches­ters durf­te und soll­te es aber etwas Außer­ge­wöhn­li­ches sein: Zwei Wochen haben die über 80 jun­gen Instru­men­ta­lis­ten dafür geprobt. Und das Kon­zert im Staats­thea­ter beweist, dass sich die­se Arbeit gelohnt hat.

Der Diri­gent Klaus Arp führt sie beson­nen durch Untie­fen und über Gip­fel, erklimmt mit dem Lan­des­ju­gend­or­ches­ter die stei­len Wän­de und gelei­tet sie sicher am Abgrund ent­lang. Denn die Ach­te gleicht in fast jedem Moment einem Tanz auf dem Vul­kan, zwi­schen Absturz ins Ver­der­ben und Auf­he­ben ins Gran­dio­se liegt hier nur ein schma­ler Grat. Und das ist genau das, was man viel­leicht das Pro­gramm die­ser Sin­fo­nie nen­nen könn­te.

Gera­de im Scher­zo, dem zwei­ten Satz, wur­de die­ser Tanz unmit­tel­bar hör­bar – ein Tanz auf schma­lem Grat, aber mit siche­ren Füßen, die sich kei­nen Fehl­tritt erlau­ben: Strah­lend und bers­tend geht Arp das Scher­zo an, dämpft das Trio dann mit viel Ruhe zur himm­li­schen Län­ge ab, um in der Repri­se erneut alles an gepfef­fer­ter Erre­gung und auf­ge­wühl­ten Gemü­tern zu ent­fes­seln. Schon von Beginn des ers­ten Sat­zes an führ­te er das Lan­des­ju­gend­or­ches­ter zu einem sehr deut­li­chen Klang mit kla­ren Akzen­ten. Dabei bleibt Arp aber zugleich vor­sich­tig und tas­tend in der Anla­ge und macht die Sin­fo­nie zu einem ech­ten Rät­sel – einem Mys­te­ri­um eben. Beson­ders spür­bar wird das im drit­ten Satz, der sich vor­sich­tig ins Unge­wis­se vor­tas­tet und mit beson­de­rer Zer­brech­lich­keit gefällt. Die geht zwar manch­mal etwas weit, wenn der Satz in Ein­zel­epi­so­den zer­fällt, behält aber doch so viel Nach­druck, dass man den Vor­schein der Unend­lich­keit zu hören glaubt.

Gran­di­os ist dann das Fina­le, die Wuch­tig­keit, die das Lan­des­ju­gend­or­ches­ter hier ent­wi­ckelt, wie fein zise­liert die rie­si­gen Klang­wän­de noch im größ­ten Lär­men blei­ben: Das ist eine wun­der­ba­re Ver­bin­dung von kör­per­li­cher Klang­er­fah­rung und Tran­szen­denz. Ein Tri­umph der Musik und der Musi­ker, ganz frag­los.

(geschrie­ben für die Main­zer Rhein-Zei­tung.)

Nationalmusikerexperimente: Beethoven, Sibelius & Nielsen

Beet­ho­ven wur­de erst nach sei­nem Tod zum urdeut­schen Kom­po­nis­ten. Carl Niel­sen und Jean Sibe­l­i­us waren schon zu Leb­zei­ten natio­na­le Iko­nen. Beson­ders bei Sibe­l­i­us wird das ganz deut­lich: Die fin­ni­sche Regie­rung gab zu sei­nem 50. Geburts­tag die Kom­po­si­ti­on einer Sym­pho­nie – es wird sei­ne fünf­te – in Auf­trag. Im 9. Sin­fo­nie­kon­zert des Staats­thea­ters erklang sie zusam­men mit der Heli­os-Ouver­tü­re von Carl Niel­sen und dem vier­ten Kla­vier­kon­zert von Beet­ho­ven. Also nicht nur drei ver­schie­de­ne Natio­nal­mu­si­ken, son­dern auch Wer­ke, die mit ihren For­men expe­ri­men­tie­ren. Beet­ho­vens vier­tes Kla­vier­kon­zert ist genau dafür berühmt: Das es neue Mög­lich­kei­ten des Zusam­men­spiels von kon­zer­tie­ren­dem Kla­vier und Orches­ter erprobt. Die Solis­tin in Mainz, Anna Vin­nit­ska­ya posi­tio­niert sich da sehr ein­deu­tig: Schon mit ihren ers­ten ein­lei­ten­den Tak­ten, von Beet­ho­ven erst­mals dem Kla­vier allei­ne anver­traut, zeigt sie sich als über­le­ge­ne Kraft. Nir­gends­wo wird das so deut­lich wie im zwei­ten Satz: Vin­nit­ska­ya spielt das Phil­har­mo­ni­sche Staats­or­ches­ter in Grund und Boden – ganz wie der Kom­po­nist es dach­te. Und nicht etwas, weil Phil­har­mo­ni­sche Orches­ter so schlecht wäre. Nein, die Par­ti­tur ver­langt das gera­de zu. Das wird aber nicht immer so deut­lich wie bei Anna Vin­nit­ska­ya. Ihre Prä­zi­si­on auf allen Ebe­nen macht das mög­lich: Die genau gestuf­te Ton­ge­bung, die über­le­gen ein­ge­setz­te Arti­ku­la­ti­on und ihre natür­li­che Phra­sie­rung bestechen immer wie­der durch hohe Genau­ig­keit, die sich auch im Orches­ter­part wie­der­fin­det.

Denn das Phil­har­mo­ni­sche Staats­or­ches­ter ist kurz vor der Som­mer­pau­se in her­vor­ra­gen­der Form. Das zeig­te schon die kla­re Ton­spra­che der Heli­os-Ouver­tü­re von Carl Niel­sen am Beginn, vor allem aber die fünf­te Sym­pho­nie von Jean Sibe­l­i­us. Er selbst hat sie mal als eine ein­zi­ge, auf den Tri­umph des Schlus­ses aus­ge­rich­te­te Stei­ge­rung beschrie­ben. Und das passt auch auf die Main­zer Auf­füh­rung. Denn Diri­gent Her­mann Bäu­mer zeigt in hörens­wer­ter Klar­heit die Moder­ni­tät der vor fast hun­dert Jah­ren ent­wor­fe­nen Musik. Das beginnt mit der ver­schlei­er­ten Form des ers­ten Sat­zes und erstreckt sich bis in den letz­ten Schluss­klang. Vor allem aber wird Sibe­l­i­us Fünf­te im Thea­ter ein klang­li­ches Fest: Von den fan­tas­tisch klar und ein­präg­sam klin­gen­den ers­ten Abschnit­ten der Holz­blä­ser am Beginn bis zu der gran­di­os unge­heu­er­li­chen Span­nung des letz­ten Sat­zes, die bis in den aller­letz­ten Moment der irr­sin­nig zer­ri­schenen Schluss­ak­kor­de reicht: Unter Bäu­mers Hän­den wird die Par­ti­tur plas­tisch und leben­dig, wie ein erweck­ter Orga­nis­mus, wie zu Leben gekom­me­ne Ideen und wie eine voll­kom­me­ne Nach­bil­dung des mys­ti­schen Natur­er­leb­nis, das Sibe­l­i­us zu die­ser Musik inspi­rier­te.

(geschrie­ben für die Main­zer Rhein-Zei­tung.)

Meisterkonzert mit und ohne Weihnachten

Es sieht fast wie ein nor­ma­les Meis­ter­kon­zert aus: Eine klei­ne Haydn-Sin­fo­nie, dann Beet­ho­vens vier­tes Kla­vier­kon­zert und zum Abschluss ein rich­tig gro­ßes sin­fo­ni­sches Werk, die ach­te Sin­fo­nie von Schu­bert. Aber Weih­nach­ten macht sich auch im Meis­ter­kon­zert bemerk­bar – zumin­dest ein biss­chen: Die Sin­fo­nie Nr. 26 von Haydn trägt näm­lich den Bei­na­men „Weih­nachts­sin­fo­nie“. Das ist zwar eigent­lich ein Feh­ler, denn Haydn hat sie als Pas­si­ons­mu­sik kom­po­niert. Aber der besinn­li­che zwei­te Satz lässt sich auch im Advent gut hören. Vor allem, wenn ihn die Deut­sche Staats­phil­har­mo­nie Rhein­land-Pfalz unter ihrem Gast­di­ri­gen­ten Fabri­ce Bol­lon so far­big und bild­haft musi­ziert wie beim vier­ten Meis­ter­kon­zert. In der Rhein­gold­hal­le hat­te Bol­lon schon mit den ers­ten Haydn-Tak­ten die Rich­tung vor­ge­ge­ben: Kräf­tig zupa­ckend formt er vor allem sehr sat­te Strei­ch­er­klän­ge und bemüht sich um deut­li­che, manch­mal sogar grel­le Far­ben. Pracht­voll und sehr reprä­sen­ta­tiv wir­ken da selbst die andäch­ti­gen Klän­ge des Mit­tel­sat­zes.

Ähn­lich rus­ti­kal ließ er das Lud­wigs­ha­fe­ner Orches­ter dann die ach­te Sin­fo­nie von Franz Schu­bert musi­zie­ren. Die hat ihren Bei­na­men „Gro­ße“ zwar vor allem bekom­men, weil Schu­bert noch eine zwei­te, frü­he­re C‑Dur-Sin­fo­nie kom­po­niert hat, die ein­fach deut­lich kür­zer ist. Bei Bol­lon ist das „groß“ aber durch­aus ent­schei­dend: Mäch­tig und wuch­tig sta­pelt er die dicken Akkor­de auf das fel­se­fes­te Fun­da­ment der dröh­nen­den Posau­nen. Unge­heu­er mas­siv wirkt da fast jeder Ton, jede Phra­se wie für die Ewig­keit. Fra­gen oder gar Zwei­fel fin­det der Diri­gent in die­ser Par­ti­tur über­haupt kei­ne, befiehlt statt­des­sen fel­sen­fes­te Gewiss­hei­ten. Das ist natür­lich, gera­de im zwei­ten Satz und schließ­lich vor allem im Scher­zo, eine uner­bitt­li­che Ver­ein­fa­chung. Eine Ver­ein­fa­chung, die trotz ihrer Ver­zer­rung klang­lich durch­aus wir­ken kann, auch wenn im Fina­le die Kan­tig­keit und Schär­fe die­ser Klang­kon­struk­ti­on lei­der etwas ver­lo­ren geht.

Viel fas­zi­nie­ren­der blieb da Beet­ho­vens vier­tes Kla­vier­kon­zert in Erin­ne­rung. Denn Jas­min­ka Stan­cul spiel­te das wun­der­bar schnör­kel­los und tro­cken, mit fast hei­li­gem Ernst. Dabei blieb das Kon­zert im Kern auch bei ihr natür­lich unver­kenn­bar roman­tisch. Aber die zart­füh­li­ge Poe­sie ihrer Phra­sie­rung ver­band sich wun­der­bar mit ihrer kla­ren Ton­ge­bung. Vor allem aber gelang der Pia­nis­tin und dem Orches­ter ein erre­gen­des Mit­ein­an­der – und genau dar­auf kommt es bei die­sem Kon­zert an. Zumal Bol­lon aus dem Orches­ter auch fei­ne Klang­far­ben kit­zeln konn­te, die die Staats­phil­har­mo­nie in der Rhein­gold­hal­le nicht immer bie­tet. So aus­ge­wo­gen und balan­ciert im Hin und Her der Musik war das wirk­lich ein intel­lek­tu­ell und emo­tio­nal auf­re­gen­des Spiel – und ganz unab­hän­gig von der Jah­res­zeit.

(geschrie­ben für die Main­zer Rhein-Zei­tung.)

Himmlische Freuden

„Wir genie­ßen die himm­li­schen Freu­den“ – das Mot­to für sei­ne Inter­pre­ta­ti­on scheint der Diri­gent Peter Hirsch direkt aus dem Schluss­satz der vier­ten Sin­fo­nie von Gus­tav Mahler genom­men zu haben. Damit ende­te er das drit­te Sin­fo­nie­kon­zert im Staats­thea­ter – und damit tri­um­phier­ten er und das Phil­har­mo­ni­sche Staats­or­ches­ter. Anfangs, bei Leos Janá­ceks Orches­ter-Bal­la­de „Des Spiel­manns Kind“, reagier­te das Main­zer Publi­kum noch sehr zurück­hal­tend. Nicht ganz ohne Grund, denn das blieb wirk­lich noch ziem­lich blass. Gefal­len hat­ten auch Alban Bergs „Drei Bruck­stü­cke“ aus des­sen Oper Woz­zeck nicht – obwohl Hirsch und die Sopra­nis­tin Mar­le­ne Mild den grau­si­gen Schre­cken die­ser Musik sehr über­legt und gekonnt Gestalt wer­den las­sen. Aber ob das Publi­kum dann so eine Mahler-Sin­fo­nie erwar­tet hat­te? Denn Hirsch ging einen eige­nen, sehr gefähr­li­chen Weg: Er radi­ka­li­sier­te die 1901 urauf­ge­führ­te Sin­fo­nie total – zu einer emi­nent moder­nen Musik.

Der in die­ser Hin­sicht durch­aus extre­mis­ti­sche Diri­gent änder­te auch sein Auf­tre­ten voll­kom­men: Er schwebt fast vor dem Orches­ter, der Takt­schlag ist kaum noch zu erken­nen, für jeden Klang formt er eine eige­ne Ges­te, ja fast eine eige­ne Erschei­nung. Per­ma­nent ver­wan­delt er sich vom impo­san­ten Groß­meis­ter und Domp­teur zum scheu­en Kitz, vom stei­fen Zele­bran­ten zum wild fuch­teln­den Der­wisch: Und jeder Klang, jede Phra­se klingt dann auch ganz eigen. Die­se Sin­fo­nie ist ein ein­zi­ges Fest der Ambi­va­len­zen: Hirsch lässt sie im Zustand der per­ma­nen­ten Stö­rung spie­len. Ruhe und Ord­nung, oder auch nur so etwas wie Gleich­ge­wicht, gibt es hier nicht. Oder höchs­tens ganz kurz­zei­tig. Leicht geht hier nichts, Ver­zö­ge­run­gen und Stol­pern wer­den zur geplan­ten Nor­mal­be­we­gung.

Und doch ist das Phil­har­mo­ni­sche Orches­ter immer ganz bei sich: Sein durch­weg sehr kla­rer, schlan­ker Klang wird dann im zwei­ten Satz etwa wun­der­bar hohl. Und vor allem ist das Orches­ter in der Lage, die irr­sin­ni­gen Span­nun­gen, die Hirsch for­dert, wirk­lich aus­zu­hal­ten. Er zer­dehnt die Musik ger­ne bis an die Schmerz­gren­ze, for­ciert Brü­che bis kurz vor das Rei­ßen – und das immer wie­der und wie­der. Ein uner­mess­lich ris­kan­tes Spiel ist das: Schafft er es, die schwe­ren Zen­tri­fu­gal­kräf­te noch im Schach zu hal­ten? Oder fliegt ihm gleich alles um die Ohren? Man erwar­tet die Kata­stro­phe fast in jedem Takt, nach jeder Phra­se rech­net man mit dem Cha­os – und jedes Mal wird man erneut ent­täuscht. Oder eben begeis­tert: Selbst im unend­lich quä­lend lang­sa­men drit­ten Satz wird die Span­nung nahe­zu uner­träg­lich aus­ge­wei­tet. Doch alles hält – auch dank Mar­le­ne Mild, die mit unschul­dig-kla­rem Ton fast über­deut­lich wirkt. In der Kom­bi­na­ti­on ist das eine nahe­zu absur­de Ener­gie, die Hirsch aus der Sin­fo­nie ent­wi­ckelt. Und damit hat der Diri­gent fast geschafft, dass die Schluss­zei­len wahr wer­den: „Kein‘ Musik ist ja nicht auf Erden, die unse­rer ver­gli­chen kann wer­den.“

(geschrie­ben für die Main­zer Rhein-Zei­tung.)

Es ist vollbracht: Gardiners Brahms-Aufnahmen

John Eli­ot Gar­di­ner hat eine Vor­lie­be für gro­ße und unge­wöhn­li­che Pro­jek­te. Nach der Bach-Pil­grimage hat er sich inzwi­schen einem ande­ren gro­ßen B zuge­wen­det: Brahms und sei­nen Sin­fo­nien. Des­sen vier Sym­pho­nien rei­chen aber nicht, das war dem Diri­gen­ten offen­bar zu wenig. Also hat Gar­di­ner für sei­ne Live-Auf­nah­men noch gro­ße Chor­wer­ke hin­zu­ge­fügt – vorn Brahms, sei­nen Zeit­ge­nos­sen, aber auch von ganz alten Meis­tern wie Gabrie­li, Schütz und Bach. Er will damit vor allem die Vok­al­tät der Brahms­schen Orches­ter­wer­ke her­vor­he­ben. Inzwi­schen ist er damit auch fer­tig: Vier wun­der­schön klin­gen­de und auch schön anzu­schau­en­de CDs sind es gewor­den, die er mit „sei­nem“ Orches­ter, dem Orchest­re Révo­lu­ti­on­naie et Roman­tique, und dem Mon­te­ver­di-Choir ein­ge­spielt hat und auf sei­nem eig­nen Label Soli Deo Glo­ria ver­öf­fent­licht hat (vgl. Neue Chor­zeit xx/​xx).

Die drit­te Sym­pho­nie wird aus­schließ­lich von Chor­wer­ken des Meis­ters selbst gerahmt. Vor allem der „Gesang der Par­zen” und die „Nänie” ste­chen posi­tiv her­vor: Mit Augen­maß lässt Gar­di­ner den Mon­te­ver­di-Choir sowohl den dra­ma­ti­schen Ges­tus als auch fei­ne Details der Text­aus­deu­tung rea­li­sie­ren.

Auch die vier­te CD die­ser Rei­he fängt ganz aus­ge­spro­chen dra­ma­tisch an, mit Beet­ho­vens Corio­lan-Ouver­tü­re. Und geht dann auch so wei­ter . Geschmei­dig und dis­zi­pli­niert zugleich ist Gar­di­ners Inter­pre­ta­ti­on aller vier Sym­pho­nien, die schwung­voll die Dra­ma­tik der Par­ti­tur weckt, ohne je bemüht zu wir­ken. Genau­so natür­lich und ganz ent­spannt selbst­ver­ständ­lich (dar­in wir­ken die­se Auf­nah­men fast klas­sisch) lässt er den Mon­te­ver­di-Choir auch die Vokal­wer­ke sin­gen. Selbst die etwas sprö­de­ren Brahms­schen „Fest- und Gedenk­sprü­che” flie­ßen bei ihm ganz har­mo­nisch aus den Laut­spre­chern. Nicht nur hier, auch bei den aus­ge­wähl­ten Chor­sät­zen von Gio­van­ni Gabrie­li, Hein­rich Schütz und Johann Sebas­ti­an Bach, zeich­nen sich die­se Auf­nah­men immer durch eine ange­neh­me Kom­bi­na­ti­on aus Freu­de an der Detail­ge­nau­ig­keit und groß­zü­gi­ger klang­li­cher Gestal­tung aus.

Ob die unmit­tel­ba­re Nach­bar­schaft der gro­ßen Vokal­wer­ke die Sym­pho­nien nun wirk­lich in einem ganz ande­ren Licht erschei­nen lässt, ist eigent­lich egal. Jeden­falls gelin­gen Gar­di­ner alle vier in vor­züg­li­cher Wei­se. Und wenn es dazu noch inter­es­san­te Chor­mu­sik gibt – umso bes­ser.

(geschrie­ben für die Neue Chor­zeit.)

genies der klassik – bekannte und weniger bekannte

Genies waren sie egent­lich alle drei. Und doch hat nur Wolf­gang Ama­de­us Mozart geschafft, was Lou­is Spohr und Lui­gi Che­ru­bi­ni ver­wehrt blieb: Dau­er­haft im Bewusst­sein der Musik­lieb­ha­ber und auf den Kon­zert­po­di­en prä­sent zu sein. Sei­ne 29. Sin­fo­nie stand im vier­ten Sin­fo­nie­kon­zert des Thea­ters neben dem ein­zi­gen sin­fo­ni­schen Werk Che­ru­bi­nis, dass eher sel­ten zu hören ist. Auch Spohr ist wenn über­haupt mit Kam­mer­mu­sik zu hören – ganz bestimmt nicht mit sei­nem Con­cer­tan­te für zwei Vio­li­nen und Orches­ter. Denn wann sind schon zwei Vio­li­nis­ten von Rang bereit, sich gegen­sei­tig die Schau zu steh­len? Selbst Ingolf Tur­ban und Kol­ja Les­sing machen das nicht all­zu oft. Lei­der. Denn sie kön­nen es wahr­lich vor­treff­lich. Ihre per­fek­te, oft bei­na­he sym­bio­tisch schei­nen­de Ergän­zung in musi­ka­li­scher Hin­sicht demons­trier­ten sie im Staats­thea­ter schon vor dem ers­ten Ton – mit einer genau syn­chro­ni­sier­ten Ver­beu­gung. Und so fuh­ren sie dann auch fort. Klang­lich gelang ihnen der Spa­gat zwi­schen voll­kom­me­ner Über­ein­stim­mung und behar­ren­der Indi­vi­dua­li­tät erstaun­lich gut. Obwohl kei­ner der bei­den sei­ne eige­nen Qua­li­tä­ten ver­leug­ne­te, ergänz­ten sich Tur­bans deut­li­ches, prä­sen­tes Spiel und Les­sigs emo­tio­na­ler gefärb­te Klang­welt vor­züg­lich. Die Viel­falt der Ein­fäl­le, die immer neu­en Wen­dun­gen und nicht enden wol­len­der Mit­tei­lungs­drang Spohrs fan­den in den bei­den Solis­ten jeden­falls sehr ener­gi­sche, detail­ver­lieb­te und sorg­sa­me Für­spre­cher.
Stark war auch das Enga­ge­ment Cathe­ri­ne Rück­wardts mit dem Phil­har­mo­ni­schen Staats­or­ches­ter für Che­ru­bi­nis D‑Dur-Sin­fo­nie. Die birgt von sich aus eini­ges dra­ma­ti­sches Poten­zi­al und vie­le Gele­gen­hei­ten zum effekt­vol­len Auf­trump­fen. In sol­cher Umge­bung bewähr­te sich die ruhi­ge Hand der Diri­gen­tin ganz beson­ders. Denn Rück­wardt ließ sich nicht von der wir­kungs­mäch­ti­gen Ober­flä­che ver­füh­ren, son­dern schau­te tie­fer. Und ent­deck­te da nicht nur zau­ber­haf­te klang­li­che Bil­der, son­dern auch ein gekonnt aus­ge­ar­bei­te musi­ka­li­sche Erzäh­lung. Die­se Musik wogt im Thea­ter ganz plas­tisch hin und her, zwit­schert und plät­schert, stürmt vor­an, schreckt auch zurück, prallt sogar auf Wider­stän­de und lässt sich den­noch trei­ben, – und das alles ist auch noch in klas­si­sche For­men ver­packt: Ein typisch klas­si­ches Genie­werk eben.

(geschrie­ben für die main­zer rhein-zei­tung)

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