„Wir genie­ßen die himm­li­schen Freu­den“ – das Mot­to für sei­ne Inter­pre­ta­ti­on scheint der Diri­gent Peter Hirsch direkt aus dem Schluss­satz der vier­ten Sin­fo­nie von Gus­tav Mahler genom­men zu haben. Damit ende­te er das drit­te Sin­fo­nie­kon­zert im Staats­thea­ter – und damit tri­um­phier­ten er und das Phil­har­mo­ni­sche Staats­or­ches­ter. Anfangs, bei Leos Janá­ceks Orches­ter-Bal­la­de „Des Spiel­manns Kind“, reagier­te das Main­zer Publi­kum noch sehr zurück­hal­tend. Nicht ganz ohne Grund, denn das blieb wirk­lich noch ziem­lich blass. Gefal­len hat­ten auch Alban Bergs „Drei Bruck­stü­cke“ aus des­sen Oper Woz­zeck nicht – obwohl Hirsch und die Sopra­nis­tin Mar­le­ne Mild den grau­si­gen Schre­cken die­ser Musik sehr über­legt und gekonnt Gestalt wer­den las­sen. Aber ob das Publi­kum dann so eine Mahler-Sin­fo­nie erwar­tet hat­te? Denn Hirsch ging einen eige­nen, sehr gefähr­li­chen Weg: Er radi­ka­li­sier­te die 1901 urauf­ge­führ­te Sin­fo­nie total – zu einer emi­nent moder­nen Musik.

Der in die­ser Hin­sicht durch­aus extre­mis­ti­sche Diri­gent änder­te auch sein Auf­tre­ten voll­kom­men: Er schwebt fast vor dem Orches­ter, der Takt­schlag ist kaum noch zu erken­nen, für jeden Klang formt er eine eige­ne Ges­te, ja fast eine eige­ne Erschei­nung. Per­ma­nent ver­wan­delt er sich vom impo­san­ten Groß­meis­ter und Domp­teur zum scheu­en Kitz, vom stei­fen Zele­bran­ten zum wild fuch­teln­den Der­wisch: Und jeder Klang, jede Phra­se klingt dann auch ganz eigen. Die­se Sin­fo­nie ist ein ein­zi­ges Fest der Ambi­va­len­zen: Hirsch lässt sie im Zustand der per­ma­nen­ten Stö­rung spie­len. Ruhe und Ord­nung, oder auch nur so etwas wie Gleich­ge­wicht, gibt es hier nicht. Oder höchs­tens ganz kurz­zei­tig. Leicht geht hier nichts, Ver­zö­ge­run­gen und Stol­pern wer­den zur geplan­ten Nor­mal­be­we­gung.

Und doch ist das Phil­har­mo­ni­sche Orches­ter immer ganz bei sich: Sein durch­weg sehr kla­rer, schlan­ker Klang wird dann im zwei­ten Satz etwa wun­der­bar hohl. Und vor allem ist das Orches­ter in der Lage, die irr­sin­ni­gen Span­nun­gen, die Hirsch for­dert, wirk­lich aus­zu­hal­ten. Er zer­dehnt die Musik ger­ne bis an die Schmerz­gren­ze, for­ciert Brü­che bis kurz vor das Rei­ßen – und das immer wie­der und wie­der. Ein uner­mess­lich ris­kan­tes Spiel ist das: Schafft er es, die schwe­ren Zen­tri­fu­gal­kräf­te noch im Schach zu hal­ten? Oder fliegt ihm gleich alles um die Ohren? Man erwar­tet die Kata­stro­phe fast in jedem Takt, nach jeder Phra­se rech­net man mit dem Cha­os – und jedes Mal wird man erneut ent­täuscht. Oder eben begeis­tert: Selbst im unend­lich quä­lend lang­sa­men drit­ten Satz wird die Span­nung nahe­zu uner­träg­lich aus­ge­wei­tet. Doch alles hält – auch dank Mar­le­ne Mild, die mit unschul­dig-kla­rem Ton fast über­deut­lich wirkt. In der Kom­bi­na­ti­on ist das eine nahe­zu absur­de Ener­gie, die Hirsch aus der Sin­fo­nie ent­wi­ckelt. Und damit hat der Diri­gent fast geschafft, dass die Schluss­zei­len wahr wer­den: „Kein‘ Musik ist ja nicht auf Erden, die unse­rer ver­gli­chen kann wer­den.“

(geschrie­ben für die Main­zer Rhein-Zei­tung.)