Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

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Hineingehört #3

Nichts als Hoffnung (aber immerhin)

Tindersticks, No Treasure but Hope (Cover)Ein neues Tin­der­sticks-Album ist ja schon ein Ereig­nis. Auch das fast mys­tisch schwebende und leichte No Trea­sure but Hope fällt in die Kat­e­gorie. Dabei ist es fast ungewöhn­lich für ein Tin­der­stick-Album, weil vieles (nicht alles aber) etwas heller und fre­undlich­er ist als auf älteren Veröf­fentlichun­gen. Natür­lich bleibt Stu­art Sta­ples Stu­art Sta­ples, aber er klingt hier deut­lich weltzuge­wandter, ja sog­ar fre­undlich­er und locker(er), nicht mehr so angestrengt, schw­er, gequält wie auf früheren Alben. Dabei bleibt die Musik irgend­wie schon noch zwis­chne der Lei­der­schaft von Nick Cave und der Verzwei­flung von Leonard Cohen ange­siedelt.

Ins­ge­samt wirkt das auf mich — nach den ersten paar Durchgän­gen — allerd­ings etwas flach­er: Das ist mir oft zu aus­ge­feilt, klan­glich zu detail­ver­liebt, fast prä­ten­tiös. Da fehlt mir dann doch etwas Unmit­tel­barkeit — und damit genau jene Qual­ität, die mich an früheren Alben stark in den Bann gezo­gen hat: Die emo­tionale Stärke, die Unmit­tel­barkeit der Gefüh­le, die die (ältere) Musik immer wieder (und immer noch, das funk­tion­iert auch nach Jahren des wieder­holten Hörens noch, ich habe es ger­ade aus­pro­biert — und das zeigt die wahre Größe dieser Musik) ausze­ich­net, das fehlt mir hier. Vielle­icht — das ist freilich nur eine Ver­mu­tung — sind Tin­der­stick ein­fach zu gut gewor­den. Das ist aber wahrschein­lich Blödsinn, auch die let­zten Alben waren ja schon aus­geze­ich­net pro­duziert.

Hier schlägt aber wohl doch stärk­er der Kunst­wille durch. Und dafür sind die For­mate der Pop­songs dann aber doch wieder zu kon­ven­tionell und deshalb zu schwach, das bleibt dann manch­mal etwas schram­mel­ing-mit­telmäßig. Das heißt nun aber über­haupt nicht, dass No trea­sure but hope schlecht sei. Auch hier gibt es wun­der­bare Momente und schöne, erfül­lende Lieder. “Trees fall” zum Beispiel, oder “Carousel” mit der typ­is­chen Tin­der­stick-Stim­mung, der melan­cholis­chne Grundierung. Und auch “See my Girls” hat dann doch wieder sehr dringliche, inten­sive Momente (und eine schöne Gitarre). Das titel­gebende “No trea­sure but hope” ist in der sehr reduzierten Konzen­tra­tion auf Klavier und Gesang dur­chaus ein kleines kam­mer­musikalis­ches, intimes Meis­ter­w­erk — und ein­fach schön.

Tin­der­sticks: No Trea­sure but Hope. Lucky Dog/City Slang 2019. Slang 50236.

Verspieltes Klavier

Stefan Aeby, Piano Solo (Cover)Ste­fan Aebys erste Soloauf­nahme (soweit ich sehe zumin­d­est), im let­zten Jahr bei Intakt erschienen. Das ist, mehr noch als die Trioauf­nah­men, im Ganzen oft sehr ver­spielt, aber ins­ge­samt vor allem sehr har­monisch: klare Struk­turen und klare Tonal­itäten bes­tim­men den Gesamtein­druck.

Beson­ders wird Piano solo aber vor allem durch den Klavierk­lang, das ist vielle­icht, zusam­men mit sein­er klan­glichen Imag­i­na­tion­skraft, Aebys größter Stärke. Denn der ist vielschichtig und feinsin­nig, mit großem Nuan­cen­re­ich­tum. Hier kommt nun noch dazu, dass das Klavier von Aeby im Stu­dio — er hat das wohl voll­ständig alleine aufgenom­men — teil­weise ver­fremdet, ergänzt und bear­beit­et wurde.

Vieles ist dann auch — wie erwartet — sehr schön. Aber vieles ist auch nicht beson­ders über­wälti­gend: So richtig umge­haut hat mich eigentlich nichts. Das ist solide, dur­chaus mit inspierten und inspieren­den Momenten, über­haupt keine Frage. Mir scheint es aber ins­ge­seamt einen Tick­en zu banal, einen Tick zu flach in der oft unge­broch­enen Schön­heit, in der Suche nach Har­monie und Wohlk­lang. Dabei gibt es dann auf Piano solo auch viele Klang­ef­fek­te. Die machen das aber manch­mal — und teil­weise sog­ar über weit­ere Streck­en — etwas arg kün­stlich für meinen Geschmack (“Dance on a Cloud” wäre dafür ein Beispiel). “Fling­ga” dage­gen ist dann aber wieder her­aus­ra­gend: da kann sein run­der, weich­er, abges­timmter Ton sich voll ent­fal­ten.

Die Idee, den Klavierk­lang nicht alleine zu lassen, ihn aufzu­pep­pen, zu erweit­ern, zu ver­frem­den, ist ja ganz schön und nett. Aber das Ergeb­nis oder bess­er die Ergeb­nisse überzeu­gen mich nicht immer vol­lends. Vor allem scheint mir die klan­gliche Erweiterung oder Ver­frem­dung nicht immer aus­re­ichend musikalisch begrün­det und zwin­gend. Zumin­d­est wurde mir das beim Hören nicht entsprechend klar. Und dann bleibt es halt vor allem eine (tech­nis­che) Spiel­erei. Trotz alle­dem ist Piano solo aber den­noch eine defin­i­tiv schöne, überzeu­gende Auf­nahme mit ein­nehmenden Klang­bildern.

Ste­fan Aeby: Piano solo. Intakt Records 2019. Intakt CD 332.

Die Winterreise als Gruppenwanderung

Schubert, Winterreise (Cover)Das ist Schu­berts Win­ter­reise — und auch wieder nicht. Denn sie ist — teil­weise — für Stre­ichquar­tett tran­skri­biert und mit Inter­mezzi verse­hen von Andreas Höricht.

Die Idee scheint ja erst ein­mal ganz vielver­sprechend: Die Win­ter­reise — bzw. ihre “wichtig­sten” (das heißt vor allem: die bekan­ntesten) Lieder — auf die Musik zu reduzieren, zum Kern vorzus­toßen, den Text zu sub­lim­ieren. Das Ergeb­nis ist aber nicht mehr ganz so vielver­sprechend. Die Inter­mezzi, die zwar viel mit Schu­bertschen Motiv­en spie­len und ver­suchen, die Stimmung(en) aufzu­greifen, sind ins­ge­samt dann doch eher über­flüs­sig. Und die Lieder selb­st: Nun ja, bei mir läuft men­tal dann doch immer der Text mit. Und es gibt dur­chaus schöne Momente, wo das Konzept aufzuge­hen scheint. Im ganzen bleibt mir das aber zu wenig: Da fehlt zu viel. Selb­st eher mit­telmäßige Inter­pre­ta­tio­nen haben heute ein Niveau, das mehr an Emo­tion und Ein­druck, mehr Inhalt und Struk­tur ver­mit­telt als es diese Ver­sion beim Voy­ager-Quar­tett tut. Als beken­nen­der Win­ter­reise-Fan und ‑Samm­ler darf das bei mir natür­lich nicht fehlen. Ich gehe aber stark davon aus, dass ich in Zukun­ft eher zu ein­er gesun­genen Inter­pre­ta­tion greifen werde …

Franz Schu­bert: Win­ter­reise for string quar­tet. Voy­ager Quar­tet. Solo Musi­ca 2020. SM 335.

Dreifache Freiheit

Kaufmann/Gratkowski/de Joode, Oblengths (Cover)Sowohl Kauf­mann als auch Gratkows­ki sind Impro­visatoren, deren Arbeit ich immer ver­suche im Blick zu haben. Sie verkör­pern näm­lich eine Form der impro­visierten Musik oder des freien Jazz (oder wie immer man das genau klas­si­fizieren mag), die ver­schiedene Aspek­te vere­int und zusam­men­bringt: Sie sind Kün­stler, die viel am und mit dem Klang arbeit­en (ger­ade bei Achim Kauf­mann fällt mir das immer wieder auf, wie klangstark er das Klavier zu spie­len weiß) und zugle­ich im freien Impro­visieren und Zusan­men­spiel Struk­turen entste­hen lassen kön­nen, die das Hören span­nend und über­raschungsvoll machen. Das gilt auch für ihre Zusam­me­nar­beit mit Wilbert de Joode, die auf Oblengths doku­men­tiert ist. Aufgenom­men wurde ein Aben im Jan­u­ar 2014 im Köl­ner Loft, veröf­fentlicht hat es das immer wieder und immer noch großar­tige Label Leo Records.

Das beste an dieser Auf­nahme ist die Kom­bi­na­tion von gle­ichen oder ähn­lich­er Musiz­er­weisen der drei Tri­opart­ner und der immer wieder über­raschen­den Vielfalt an konkreten klan­glichen Ereignis­sen, die daraus entste­hen. Da ist schon viel Gek­narze, Gerumpel, Kratzen und Fiepen. Aber auch viel Wohlk­lang: Oblengths, das ist eine der großen Stärken dieses Trios, wartet mit ein­er unge­wohn­ten Band­bre­ite vom Geräusch bis zum har­monis­chen Dreik­lang und klas­sisch gebaut­en Melo­di­en oder Motiv­en auf. Man merkt beim Hören aber eben auch unmit­tel­bar, dass das hier kein Selb­stzweck ist, son­dern einge­set­zt wird, um Zusam­men­hänge herzustellen und umfassenderen Aus­druck zu ermöglichen. Dazu passt auch, dass der Klan­graum ein wirk­lich weites Reper­toire umfasst und auch im leisen, vere­inzel­ten, sog­ar im stillen Moment noch sehr aus­d­if­feren­ziert ist. Ich würde nicht sagen, dass das Trio erzählt — aber irgend­wie ergeben sich dann doch so etwas wie Geschicht­en, Abfol­gen von Momenten, die zusam­menge­hören und eine gemein­same Struk­tur haben.

Achim Kauf­mann, Frank Gratkows­ki, Wilbert de Joode: Oblengths. Leo Records 2016. CD LR 748.

Aus-Lese #45

Rein­hard Jir­gl: Oben das Feuer, unten der Berg. München: Hanser 2016. 288 Seit­en.

–Sie wur­den geboren, arbeit­eten, und sie star­ben. Wäre Leben so=einfach so=kurz wie dieser Satz, Leben, wäre gewiß glück­voller. Leben aber dauert länger als 1 Satz. (31)

jirgl, oben das feuerOben das Feuer, unten der Berg — an dem Buch ist nicht nur der Titel selt­sam und rät­sel­haft. Ich bin ja eigentlich ein großer Bewun­der­er der Werke Rein­hard Jir­gls, aber mit diesem Roman kann ich wenig bis gar nichts anfan­gen. Das, was von ein­er Geschichte übrig ist, ist rät­sel­haft, schwankt zwis­chen Kri­mi und Ver­schwörungs­the­o­rie, Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung und Ver­bit­terung. Die auf­tauchen­den Fig­uren sind eigentlich lauter kaputte Men­schen. Oder: Sie wer­den kaputt gemacht, durch das „Sys­tem“, die Macht oder ähn­liche Instanzen. Die grausame Bru­tal­ität der Welt, der Macht und der Mächti­gen, die die Moral nur als Deck­man­tel und Beruhi­gung fürs Volk (wenn über­haupt) haben, benutzen — den ganzen Text durch­dringt eine sehr schwarze, pes­simistis­che Welt­sicht. So weit, so gut (oder auch nicht, aber das ist ja erst mal egal). Frag­würdig bleibt mir aber doch ein­fach vieles. Auf dem Schutzum­schlag ste­ht etwa: „Titel, Textvol­u­men und Rei­hen­folge der Kapi­tel im Roman sind von dem altchi­ne­sis­chen Orakel I‑Ging bes­timmt.“ — Zum einen: was soll das? Ich habe keine Ahnung … Zum anderen: Ich bezwei­fle fast, dass das über­haupt stimmt …

In den faszinieren­den, genauen, poet­is­chen (d.i. lyrischen) Beschrei­bun­gen, ja, der ger­adezu über­bor­den­den Beschrei­bungs­ge­nauigkeit liegt vielle­icht die größte Stärke des Romans, auch durch die Spezialorthografie, die näm­lich Möglichkeit­en und Deu­tun­gen der Sprache verdeut­lichen, verein­deuti­gen oder über­haupt erst eröff­nen kann. Auf der anderen Seite hat­te ich oft den Ein­druck eines „ver­wilderten“ Text, der sich von sich selb­st treiben lässt und der im Zick­za­ck-Kreis des Erzäh­lens „der“ Geschichte keine wie auch immer geart­ete Ord­nung gel­ten lässt (zumin­d­est keine, die ich erken­nen kön­nte). Selt­sam finde ich auch: Eigentlich passiert das meiste des Romans auf pri­vater, ja intimer Ebene. Aber dann will der Roman doch die ganz großen The­men behan­deln (z.B. die Macht und die Moral) — das passiert dann (damit es jed­er merkt) v.a./nur durch das neun­malk­luge Dozieren der Fig­uren, in deren Erken­nt­nis­sen, in deren Durch­schauen der Welt und der Ver­schwörun­gen) sich der Erzäh­ler (und vielle­icht auch der Autor) zu allem und jedem äußern kann, seine Posi­tion als wahre absich­ern und mit­teilen kann.

?Wo in alldieser unermeßlichen=Unendlichkeit blieb eigentlich ?mein Web­faden, ?meine=!ureigene Spur, die mich etwas Unver­wech­sel­bares in dieses uner­schöpfliche Lebenswis­chhaderge­filz hätte hin1prägen lassen. (230)

Daniela Danz: Lange Flucht­en. Göt­tin­gen: Wall­stein 2016. 146 Seit­en.
Zu dem sehr gelun­gen kleinen Roman von Daniela Danz — die übri­gens auch vortr­e­f­fliche Lyrik schreibt — habe ich vor eini­gen Tagen schon etwas geschrieben: Lange Flucht­en, gebroch­ene Men­schen.
Wil­helm Lehmann: Ein Lese­buch. Aus­gewählte Lyrik und Prosa. Her­aus­gegeben von Uwe Pörk­sen, Jut­ta Johannsen und Hein­rich Deter­ing. Göt­tin­gen: Wall­stein 2011. 160 Seit­en.

lehmann, lesebuchAuf Wil­helm Lehmann bin ich erst durch die zweite Aus­gabe des Gel­ben Akro­bat­en von Michael Braun und Michael Buselmeier aufmerk­sam gewor­den. Lehmann, der von bis vor allem an der Küste lebte, war als Lehrer sowohl ein aus­geze­ich­neter Naturbeobachter als auch ein stark­er Dichter, wie ich anhand des Lese­buchs leicht fest­stellen kon­nte. Dort bieten die drei Her­aus­ge­ber eine Auswahl aus der mehrbändi­gen Werkaus­gabe: (viel) Lyrik, etwas aus den Tage­büch­ern, einige Auszüge aus theoretischen/poetologischen Essays und ein wenig Prosa. Inwieweit das ein repräsen­ta­tives Bild abgibt, kann ich nicht beurteilen. Sagen kann ich nur, dass das, was ich hier gele­sen habe, faszinierende Momente hat. Die mich am meis­ten berühren­den Texte und Pas­sagen waren wohl die, wo sich der penible und wis­sende Naturbeobachter mit dem bild­kräfti­gen Lyrik­er verbindet.

Aus vie­len der Naturbeschrei­bun­gen der Gedichte spricht eine leise Wehmut: Die Natur ist für Lehmann ganz offen­bar ein Ort, an dem die göttliche/geschöpfte/schöpferische Ord­nung noch gilt und dann auch zu beobacht­en ist; sie bleibt vom Chaos, der Gewalt und dem Schmerz der Men­schen (den sich die Men­schen gegen­seit­ig (und ihr) zufü­gen) unberührt. Solche Lyrik ist, wie er es in einem Auf­satz ein­mal auf den Punkt bringt: „Poe­sie als Ein­willi­gung in das Sein“.

Ger­ade in der Zeit des Zweit­en Weltkrieges scheint sich das aber zu ändern: Zunehmend wer­den Natur und Menschenwelt/Zeitgeschichte im Gedicht kon­fron­tiert, meist nebeneinan­der gestellt (sozusagen ohne ter­tium com­pa­ra­tio­nis): Hier die gle­ich­för­mige (im Sinne von in einem fes­ten Rhyth­mus sich wieder­holende), ver­traute (d.h. auch: les­bare, entschlüs­sel­bare, ver­ste­hbare) Natur, dort der uner­hörte Schreck­en, das unge­se­hene und ungeah­nte Grauen des Weltkriegs. Das bleibt aber immer sehr sub­til und — ger­ade in den Beschrei­bun­gen und Schilderun­gen — sehr kun­stvoll, in fein aus­tari­erten Rhyth­men und mit oft sehr har­monisch, fast selb­stver­ständlich wirk­enden Reimen aus­gear­beit­et. Am besten verdeut­licht das vielle­icht ein Gedicht wie “Fal­l­ende Welt”:

Das Schweigen wurde
Sich selb­st zu schw­er:
Als Kuck­uck fliegt seine Stimme umher.

Mit bronzenen Füßen
Lan­det er an,
Gefleck­tes Kleid
Hat er ange­tan.

Die lose Welt,
Wird sie bald fall­en?
Da hört sie den Kuck­uck
Im Grunde schallen.

Mit schnellen Rufen
Ruft er sie fest.
Nun dauert sie
Den Zeit­en­rest.

Sabine Bergk: Gils­brod. Nov­el­le. Berlin: Dit­trich 2012. 132 Seit­en.

bergk, gilsbrod (cover)Der Ver­lag nen­nt die auf der Opern­bühne spie­lende Nov­el­le von Sabine Bergk „Übertrei­bungslit­er­atur”. Das stimmt natür­lich, trifft den Kern des vor allem phan­tastis­chen und absur­den Textes aber nur halb. Gils­brod ist eine Ein-Satz-Nov­el­le mit 130 Seit­en unge­broch­en­em stream of con­scious­ness. Das ist natür­lich nicht völ­lig neu, spon­tan fällt mir aus let­zter Zeit etwa Xaver Bay­ers Wenn die Kinder Steine ins Wass­er wer­fen (2011) ein, das ähn­lich funk­tion­iert. Hier, also in Gils­brod, lesen wir das Bewusst­sein ein­er Opern­souf­fleuse, die im entschei­den­den Moment der The­a­ter­di­va nicht aushil­ft und sie deshalb in eine impro­visierte Kadenz auf dem falschen Text treibt. Ein Ende hat der Text nicht, er bricht ein­fach ab. Bis dahin ist er aber dicht und unter­halt­sam, phan­tastisch und absurd, trau­rig und komisch zugle­ich. Oder zumin­d­est abwech­sel­nd. Den natür­lich lässt sich so ein Bewusst­sein hin und her treiben, das ist eine heftige Mis­chung von Ver­gan­gen­heit­en und Gegen­warten, Real­itäten und Träu­men, Wün­schen und Äng­sten, geschichtet und über­lagert, auch mit Ver­sio­nen der (pseudo-)Erinnerung verse­hen, der seine Ebe­nen im kreisenden Wieder­holen her­auskristallisiert.

Das funk­tion­iert recht gut, weil die Sprecherin aus der Posi­tion des unsichtbaren/unscheinbaren Beobachters, der Souf­fleuse, agiert. In der Pri­vat­mytholo­gie wird der dienend-unter­stützende Hil­fs­di­enst dieser Funk­tion für das The­ater, genauer: die Oper, zur mys­tis­chen Erfahrung hochstil­isiert, zum erfül­len­den Leben­straum. Es wird aber dur­chaus auf geschick­te und unter­gründi­ge, aber erkennbare Weise auch die eigene Posi­tion reflek­tiert, zum Beispiel im Ver­lust der Rest-Sicht­barkeit durch den mit­ti­gen Souf­fleurkas­ten und die Ver­ban­nung auf die Seit­en­bühne, die nicht gle­icher­maßen Teil der Auf­führung ist: dort unter­hal­ten sich Tech­niker und wartende Sänger während der Oper … Zugle­ich zu dieser wahrgenomme­nen Mar­gin­al­isierung — im Kon­trast dazu und zu den Erin­nerun­gen der prä­fig­uri­eren­den Demü­ti­gun­gen der Schulzeit (die sehr selt­sam als eine Art Kreuzi­gung am Rutschengerüst erin­nert wer­den, mit Lanze und Essig und allem drumherum …) ist der Bewussst­seinsstrom aber auch die Kon­struk­tion ein­er total­en Macht­po­si­tion: von ihr ist alles, ins­beson­dere eben die Diva Gils­brod abhängig — und damit das ganze The­ater, die Stadt, das Pub­likum: „mir gehört der Text“ (39).

Der Text ist aber nicht ohne Dra­maturgie gebaut, zum Beispiel ver­schränken und ver­mis­chen sich die diversen Zeit­en und Ebe­nen immer mehr. Auch das „Vor­drin­gen“ in die Fig­ur „Gils­brod“ wird geschickt zeichen­haft genutzt: Es begin­nt an der Gren­ze zwis­chen außen und innen des Kör­pers, den Zäh­nen der Sän­gerin, und dringt über den Mundraum immer weit­er vor/hinein …

Im Grunde ist Gils­brod eine große Rachep­han­tasie, die ja auch zu keinem Ende kommt: der Bewusst­seinsstrom bricht in der großen (falschen!) Kadenz der Gils­brod ab, das „non so d’amarti“ verdichtet sich, bis zu ein­er Art Mantra — wenn man das hinzuzieht, kön­nte es natür­lich auch eine (unbe­wusste) Liebe­sphan­tasie sein: „Ich weiß nicht, dass ich dich liebe“ …

[…] und deshalb gehen die Leute ja ins The­ater, weil sie nicht alleine lachen wollen und son­st die anderen denken, sie wären ver­rückt, wie sollen sie auch lachen, wenn sie nie­man­den zum Lachen haben, und so bleiben sie lieber allein in ihrem Kum­mer, dabei ist es viel bess­er, gemein­sam zu weinen und die Leute gehen ja ins The­ater, damit sie gemein­sam lachen und auch weinen kön­nen, wie auf der Beerdi­gung, sie beerdi­gen ihren Kum­mer im The­ater und beerdi­gen sich selb­st, vorzeit­ig, sie beerdi­gen sich gegen­seit­ig und beerdi­gen alles, was ist, sie beerdi­gen die Langeweile, das Leben und die Hoff­nung der Fig­uren, die Flugver­suche und die Wet­ter­wech­sel, sie beerdi­gen das Licht hin­ter den Vorhangdeck­en wie zum Schlaf und zum Abschluss gibt es rauschen­den Applaus und nie­mand denkt, dass sie ver­rückt sind, auch wenn alle nach vorne star­ren […] (69)
Titus Mey­er: Andere DNA. Leipzig: Rei­necke & Voß 2016. 56 Seit­en. ISBN 978–3‑942901–20‑8.

Ein ganz­er Roman als Palin­drom, ein Palin­drom als Roman – geht das? Ein paar mein­er Lek­türe­beobach­tun­gen zu dieser Frage und anderen, die mich beim Lesen von Mey­ers Husaren­stück bewegten, habe ich schon vor eini­gen Tagen hier notiert.

Chris­t­ian Broeck­ing: Dieses unbändi­ge Gefühl der Frei­heit. Irène Schweiz­er — Jazz, Avant­garde, Poli­tik. Die autorisierte Biografie. Berlin: Broeck­ing Ver­lag 2016. 479 Seit­en. ISBN 9783938763438.

broecking, schweizer-biografie (cover)Eine große – und außer­dem auch noch autorisierte – Biografie der großen Jaz­zpi­anistin Irène Schweiz­er wollte Chris­t­ian Broeck­ing (den ich vor allem als Autor/Interviewpartner sein­er bei­den Respect-Bände kenne) hier wohl vor­legen. Raus­gekom­men ist ein müh­samer Brock­en. Den Broeck­ing schreibt auf den immer­hin fast 500 Seit­en vielle­icht (gefühlt zumin­d­est) ein Dutzend Sätze selb­st. Diese Biografie ist näm­lich gar keine, es gibt keinen Erzäh­ler und eigentlich auch keinen Autor. An deren Stellen treten (fast) nur Quellen, das heißt Zeitzeu­gen, deren Aus­sagen zu und über Irène Schweiz­er aus Inter­views hier grob sortiert wur­den und höch­stens mit einzel­nen Sätzen not­dürftig zusam­menge­flickt wer­den. Der doku­men­tarische Anspruch – die anderen also ein­fach erzählen zu lassen (aber auch die Fra­gen stre­ichen, was manch­mal selt­same „Texte“ ergibt) – geht dann auch so weit, dass englis­chsprachige Antworten nicht über­set­zt wer­den. Viel Mate­r­i­al wird also mehr oder weniger sin­nvoll gerei­ht. Nach herkömm­lichen Maßstäben ist das eher die Samm­lung, die Vorar­beit zu ein­er eigentlichen Biografie, die das (ein-)ordnend und deu­tend erzählen würde.

Dadurch ist das vor allem eine Arbeits­bi­ogra­phie und/oder ein Musik­tage­buch: Wer wann mit wem wo gespielt hat, das gibt den Rah­men für die Lebens­beschrei­bung ab. Aber selb­st das geht mit der Zeit und den Seit­en der unendlichen Rei­hen von Kon­stel­la­tio­nen und Orten zunehmend unter, weil es ein­fach zu viel ist. Men­schen kom­men kaum/nicht vor, nur Funk­tio­nen: Musik­er, Kün­stler, Organ­isatoren, Labelchefs und (wenige) Jour­nal­iste) – deshalb bietet das Buch auch nur Innen­sicht­en aus dem Umfeld Schweiz­ers. Und Broeck­ing hil­ft durch seine Abwe­sen­heit als Autor eben auch nicht: Einen außenstehenden/neutralen (oder wenig­stens pseu­do-objek­tiv­en) Beobachter kann der Text nicht aufweisen. Ich denke, daraus rühren dann auch andere Schwächen. Vieles bleibt ein­fach ohne Erk­lärung. Und wenn ich keine Erk­lärung bekomme, brauche ich auch keine Biografie …

Zum Beispiel wird die Größe Schweiz­ers zwar immer wieder beschworen, sie bleibt dabei aber aus­ge­sprochen unklar, ohne Kon­turen und ohne Grund. Das liegt vielle­icht auch daran, dass die Musik in den (sowieso äußerst knap­pen) Beschrei­bun­gen (Analy­sen kom­men mit Aus­nahme des zehn­seit­i­gen Anhangs „Jun­gle Beats“ von Oliv­er Senn & Toni Bech­told, der anhand exem­plar­isch aus­gewählter Auf­nah­men Schweiz­ers Musik, ihren Per­son­al­stil beschreibt, fast über­haupt nicht vor) selb­st so gener­isch bleibt: frei impro­visiert, dann wird mal dieser Ein­fluss (Cecil Tay­lor etwa) her­vorge­hoben, dann mal der jen­er betont (Monk etwa). Und immer wieder wird von den Inter­viewten darauf hingewiesen, dass sie keine Noten mag. Aber was sie wie spielt, kann man halt nicht so recht lesen, nur in ver­streuten Hin­weisen und Andeu­tun­gen (die auch eher ihre Präsenz und Energie auf der Bühne betr­e­f­fen). Auch die aus­gewählten Zitate aus Kri­tiken und Presse­bericht­en bleiben erschreck­end gener­isch. Ähn­lich ist es um die poli­tis­che Dimen­sion des Lebens von Irène Schweiz­er und ihrer Musik bestellt: Bei­des wird vor allem behauptet („diese Musik ist poli­tisch“), aber wie und warum, das ste­ht nir­gends, das wird nicht erk­lärt (und ger­ade da würde es (für mich) span­nend wer­den …). Das alles führt dazu, dass mich die Lek­türe etwas unbe­friedigt zurück­ge­lassen hat: Sich­er kommt man um diesen Band kaum herum, wenn man sich mit Schweiz­er und/oder ihrer Musik befasst. Aber Antworten kann er kaum geben.

Ian Bostridge: Schu­berts Win­ter­reise. Lieder von Liebe und Schmerz. München: Beck 2015. 405 Seit­en. ISBN 978–3‑406–68248‑3.
Meine Ein­drücke von Ian Bostridges großem, umfassenden Buch über die Schu­bertsche Win­ter­reise haben einen eige­nen Ein­trag bekom­men, und zwar hier: klick.

außer­dem gele­sen:

  • Katha­ri­na Rög­gla: Crit­i­cal White­ness Stud­ies und ihre poli­tis­chen Hand­lungsmölichkeit­en für Weiße Anti­ras­sistIn­nen. Wien: man­del­baum kri­tik & utopie 2012 (Intro. Eine Ein­führung). 131 Seit­en.
  • Sel­ma Meer­baum-Eisinger: Blüten­lese. Gedichte. Stuttgart: Reclam 2013. 136 Seit­en.
  • Moni­ka Rinck: Wir. Phänomene im Plur­al. Berlin: Ver­lagshaus Berlin 2015 (Edi­tion Poet­i­con 10).

Über Lieder von Liebe und Schmerz: Ian Bostridge erklärt Schuberts Winterreise

Es ist nicht mehr als ein klein­er Auss­chnitt der fort­dauern­den Erkun­dung des kom­plex­en und schö­nen Net­zes von Bedeu­tun­gen – musikalis­che und lit­er­arische, textuelle und meta­textuelle –, inner­halb dessen die Win­ter­reise ihren Zauber her­vor­bringt.S. 396

bostridge, schuberts winterreise (cover)– Mit diesem Schluss endet der britis­che Tenor Ian Bostridge (übri­gens ein aus­ge­bilde­ter His­torik­er) sein großes, faszinieren­des und in sein­er bere­ich­ern­den Klugheit aus­ge­sprochen lesenswertes Buch über Schu­berts Win­ter­reise. Aber es ist ein Satz, der das, was auf den knapp vier­hun­dert Seit­en zuvor passiert ist, sehr gut auf den Punkt bringt. Lieder von Liebe und Schmerz hat der deutsche Ver­lag Bostridges Buch im Unter­ti­tel benan­nt. Das englis­che Orig­i­nal finde ich passender: Anato­my of an Obses­sion. Denn bei­des, das sezierende Unter­suchen als auch die obses­sive Beschäf­ti­gung mit dem Kunst­werk, bringt das Ver­hält­nis von Bostridge zur Win­ter­reise sehr gut auf den Punkt. Und bei­des, die Analyse und die emo­tionale Bindung, merkt man dem Text eigentlich auf jed­er Seite an: Jede Seite dieses großar­ti­gen Buch­es, das Lied für Lied die Win­ter­reise unter die Lupe nimmt, lässt die obses­sive Liebe und die jahrzehn­te­lange Beschäf­ti­gung mit Musik und Text, mit Dichter und Kom­pon­ist, mit Hin­ter­grün­den und Bedeu­tun­gen spüren.

Lied für Lied – diese Gliederung greift das gut gemachte (ich habe – abge­se­hen von der prinzip­iell etwas unsin­ni­gen Über­set­zung englis­ch­er Über­set­zun­gen deutsch­er Texte – nur einen Über­set­zungs­fehler bemerkt – der ist allerd­ings etwas pein­lich, weil er das englis­che b‑minor mit b‑moll statt h‑moll über­set­zt und auf der sel­ben Seite auch noch richtig vorkommt …) und schön aus­ges­tat­tete Buch auch äußer­lich auf. Bostridge fol­gt damit zwar der Dra­maturgie Schu­berts (die ja, wie er mehrfach dar­legt, von der Rei­hen­folge Müllers abwe­icht), ges­tat­tet sich aber auch Frei­heit­en: Manche Kapi­tel sind auf­fal­l­end kurz, andere etwas auss­chweifend. Manche bieten eine sehr konzen­tri­erte Analyse von Text und Musik, andere liefern vor allem geschichtliche, poli­tis­che, wirtschaftliche, sozi­ol­o­gis­che Hin­ter­gründe. Wie er prinzip­ielle Beobach­tun­gen und Anmerkun­gen über die einzel­nen Lied­kapi­tel verteilt, das ist sehr geschickt. Die sind dadurch näm­lich immer mehr als bloße Kom­mentare oder Erläuterun­gen, das Buch wird nicht zu ein­er seriell-schema­tis­chen Analyse, son­dern zu einem großen Ganzen: Alles in allem ist das eine großar­tige Samm­lung von Wis­sen aus allen Bere­ichen zu den 1820er Jahren. Da liegt aber auch schon eines der Prob­leme, die ich damit hat­te (neben der meist fehlen­den Ref­eren­zierung des ange­sam­melten Wis­sens): Bei Bostridge wer­den die 1820er in Tech­nik, Ökonomie, Gesellschaft und Poli­tik zu einem frühen Höhep­unkt der Mod­ernisierung. Ich bin mir nicht so recht sich­er, ob das stimmt (und ob es hil­fre­ich wäre). Für ein endgültiges Urteil fehlt mir da freilich etwas Wis­sen, mir scheinen diese Jahre aber doch mehr Durch­gang als Gipfel zu sein.

Ein ander­er Punkt, bei dem ich Bostridge immer wieder wider­sprechen möchte, ist die Ironie. Die find­et er in der Win­ter­reise näm­lich wesentlich häu­figer und stärk­er als ich das immer nachvol­lziehen kann. Ähn­lich geht es mir mit der poli­tis­chen Dimen­sion von Text und Musik. In bei­den Fällen möchte ich Bostridges Deu­tun­gen gar nicht von vorn­here­in ver­w­er­fen, sie scheinen mir in diesen Aspek­ten aber etwas über­spitzt. Deut­lich wird das etwa bei seinen Aus­führun­gen zum „Köh­ler“, der (bzw. dessen Hütte, er selb­st ja ger­ade nicht) in der Win­ter­reise genau ein­mal vorkommt: Das kann man als mögliche poli­tis­che Chiffre lesen, so zwin­gend, wie Bostridge das darstellt, ist diese Lesart aber meines Eracht­ens nicht. Über­haupt hat mich seine poli­tis­che Lesart viel­er Lieder (bzw. eigentlich nur ihrer Texte, in diesem Deu­tungszusam­men­hang spielt die Musik keine Rolle) nicht so sehr befriedigt, zumal sie ja doch erstaunlich indif­fer­ent bleibt. Ähn­lich ist es übri­gens um Schu­bert selb­st hier bestellt: Zum einen wird er als poli­tis­ch­er Kün­stler, der extrem unter den harten Bedin­gun­gen der vor­mär­zlichen Zen­sur litt, dargestellt. Zugle­ich ist er für Bostridge aber auch ein Kom­pon­ist, der ganz unbe­d­ingt ein Ide­al des reinen, tran­szen­den­ten Kün­stler­tums ver­fol­gt – zwei Lesarten, die hier fast naht­los ineinan­der überge­hen, die ich aber nicht so recht zusam­men bekomme.

Das alles macht aber wenig bis nicht. Denn Bostridge zu lesen, ja eigentlich: zu schmök­ern, ist auf jeden Fall ein großer Gewinn. Zumal das Buch auch, ich sagte es schon, ein­fach schön ist und auch mit Abbil­dun­gen nicht geizt. Schade fand ich allerd­ings, um das Lob gle­ich wieder ein biss­chen einzuschränken, dass Bostridge so wenig über die Musik und ihre Details spricht. Mein Ein­druck war da, dass dieses Ele­ment in der Fülle der Zugänge und Mate­ri­alien, die er zur Win­ter­reise zusam­menge­tra­gen hat, etwas unterge­ht. Von einem Sänger hätte ich mir ger­ade auf diesem Gebi­et mehr musikol­o­gis­che Analyse und Beschrei­bung gewün­scht. Aber das wäre dann vielle­icht ein anderes Buch gewor­den.

Es ist näm­lich wirk­lich selt­sam mit diesem Buch: Als Ganzes finde ich es immer noch ziem­lich großar­tig, es ist ein (über)reiches Buch, das dem Ver­ständ­nis der Win­ter­reise auf jeden Fall in großem Maße dient und das Hören (oder Musizieren) unge­mein bere­ich­ern kann. Im Detail finde ich aber vieles frag­würdig und würde oft wider­sprechen. Ein paar kleine, fast willkür­liche Beispiele: Den Nation­al­sozial­is­mus und den Zweit­en Weltkrieg aus ein­er typ­isch deutschen „roman­tis­chen Todes­be­sessen­heit“ (118) zu erk­lären wollen – das ist ein­fach Quatsch. Oder wenn ein Fer­maten­ze­ichen zu einem „allesse­hen­den Auge“ (178) wird. Manch­mal ist es auch vor allem eine große Fleißleis­tung, wenn er etwa zum „Früh­lingstraum“ über mehrere Seit­en das Vorkom­men von Eis­blu­men in der Kun­st- und Lit­er­aturgeschichte referiert, was aber wed­er mit Müller noch mit Schu­bert in Verbindung ste­ht. Da erschließt sich mir dann nicht so ganz der Zweck, den das für eine Analyse oder Inter­pre­ta­tion dieses Kunst­werkes haben soll.

Aber: Die Welt von Schu­berts Win­ter­reise kann der über­aus gebildete Bostridge mit seinem gesam­meltem Wis­sen und seinen genauen, vielfälti­gen, emphatis­chen Beobach­tun­gen eben doch ganz toll ent­fal­ten und wun­der­bar ver­mit­teln. Es ist übri­gens kein Verse­hen, wenn ich von Schu­berts Win­ter­reise sprach: Der Schw­er­punkt sein­er Betra­ch­tun­gen liegt auf Schu­bert und sein­er Musik, auch wenn der Text und sein Autor, Wil­helm Müller, nicht ganz außen vor bleiben. Auch die Rezep­tion der Win­ter­reise wird nicht vergessen. Und seine intime Ver­trautheit en detail & en gros mit dem Werk sowie seine dop­pelte Autorität als ausüben­der Sänger und forschen­der His­torik­er tun dem Buch sehr gut: Er weiß, wovon er redet. Und nach der Lek­türe seine Buch­es weiß man auch, was man da eigentlich hört (oder: hören kann!), wenn man der Win­ter­reise lauscht.

Ian Bostridge: Schu­berts Win­ter­reise. Lieder von Liebe und Schmerz. 2. Auflage. München: Beck 2015. 405 Seit­en. ISBN 978–3‑406–68248‑3.

Ins Netz gegangen (18.11.)

Ins Netz gegan­gen am 18.11.:

  • SCHUBERT online — Die Öster­re­ichis­che Akademie der Wis­senschaften hat mehr als 1000 hand­schriftliche und gedruck­te Quellen Franz Schu­berts ins Inter­net gestellt:

    Die Online-Daten­bank www.schubert-online.at enthält dig­i­tale Repro­duk­tio­nen von mehr als 500 Note­nau­to­graphen und mehr als 600 Erst- und Früh­druck­en der Werke Franz Schu­berts. Hinzu kom­men Dig­i­tal­isate von Briefau­to­graphen und Lebens­doku­menten.

    dum­mer­weise haben die dig­i­tal­isate ziem­lich fette wasserze­ichen, die in den par­ti­turen ganz schön störend auf­fall­en

  • Dop­ing im Ama­teur­sport: Der falsche Tri­umph | ZEIT ONLINE — »Dass Ärzte Dop­ing­prä­parate verord­nen, ist ein wach­sendes Phänomen.« Die “Zeit” über Dop­ing bei Ama­teur­sportlern
  • Ter­ro­ran­schläge: Mehr Überwachung ist ver­ständlich – und trotz­dem falsch | ZEIT ONLINE — sehr guter & richtiger kom­men­tar von eike kühl — das kann man leider/anscheinend gar nicht oft genug sagen
  • Barthes Stud­ies — punk­t­ge­nau zum 100. geburt­stag eine neue open-acces-zeitschrift zu/über barthes: An open-access jour­nal for research in Eng­lish on the work of Roland Barthes
  • Der Codex Lau­re­shamen­sis — der “codex lau­re­shamen­sis” (lorsch­er codex) ist online — nicht nur als fak­sim­i­le, son­dern auch als dig­i­tal auf­bere­it­ete edi­tion mit über­set­zung — sieht sehr gut aus

Aus-Lese #32

Jan Keupp, Jörg Schwarz: Kon­stanz 1414–1418. Eine Stadt und ihr Konzil. Darm­stadt: Wis­senschaftliche Buchge­sellschaft 2013. 213 Seit­en.

keupp-schwarz_konstanzEine — vor allem im ersten Teil von Jörg Schwarz — sehr gut zu lesende Darstel­lung für Nicht-Experten des späten Mit­te­lal­ters. Die erste Hälfte befasst sich mit dem eigentlichen Konzil, der Auflö­sung des großen abendländis­chen Schis­mas, bei dem aus drei Päp­sten wieder ein­er wurde und neben­bei unter anderem noch Jan Hus ver­bran­nt wurde. Das ist solide gemacht, geht aber naturgemäß nicht allzu sehr in die Tiefe. Im zweit­en Teil geht es dann in der Darstel­lung von Jan Keupp um Kon­stanz selb­st: Die Stadt, ihre Bürg­er, ihre Poli­tik, ihre Wirtschaft. Das franst dann ein biss­chen aus, der The­men­strauß wird arg bunt und es wirkt etwas ober­fläch­lich und zufäl­lig, die stärkere Kohärenz des ersten Teils wird nicht mehr erre­icht. Das ist weniger ein Prob­lem von Keupp, auch wenn er nicht ganz so ein guter Erzäh­ler ist wie Schwarz (der manch­mal freilich arg sug­ges­tiv schreibt), son­dern eines der Sache — die ist ein­fach so vielfältig, dass sie nur durch den Ort der Über­liefer­ung — Kon­stanz eben — zusam­menge­hal­ten wird. Durch reich­haltige Quel­len­z­i­tate (meist über­set­zt), vor allem aus den Rats- und Gericht­sak­ten, wird das recht lebendig. Lei­der ist aber über­haupt kein Zitat nachgewiesen — das finde ich dann doch immer schade, weil es die Benutzbarkeit natür­lich enorm ein­schränkt.

Pierre Bertaux: Hölder­lin und die Franzö­sis­che Rev­o­lu­tion. Frank­furt am Main: Suhrkamp 1969. 188 Seit­en.

bertaux, hölderlinEin Klas­sik­er der Hölder­lin-Forschung, der zu sein­er Zeit, bei seinem ersten Erscheinen, ziem­lich für Aufruhr sorgte. Denn Bertaux geht es darum, zu zeigen, dass Hölder­lin Jakobin­er — also Anhänger der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion war — und, das ist das wichtige an seinem Buch, dass sich das auch in der Dich­tung Hölder­lins nieder­schlägt. Den ersten Punkt kann ich gut nachvol­lziehen, beim zweit­en wird es schwierig, da scheint mir Bertaux’ Lek­türe von Hölder­lins Lyrik als ver­schlüs­sel­ter Code, der seine poli­tis­che Botschaft ver­steckt, zu ein­seit­ig und etwas übers Ziel hin­aus zu schießen. Let­ztlich ste­ht aber auch recht wenig zu konkreten Werken Hölder­lins drin — dafür entwick­elt Bertaux mit viel Mühe ein bre­ites Panora­ma der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion und vor allem ihrer Rezep­tion in Deutsch­land und beson­ders in Tübin­gen und Schwaben, das weit, sehr, sehr weit über Hölder­lin hin­aus geht, aber ander­er­seits zum konkreten Gegen­stand der Unter­suchung eben auch nur bed­ingt etwas beiträgt.

Worauf es ankam, war, an einem Beispiel zu zeigen, daß die »poli­tis­che« Inter­pre­ta­tion der Dich­tung Hölder­lins auch — und nicht zulet­zt — einen gülti­gen Beitrag zu einem besseren Ver­ständ­nis leis­ten kann und diese Dich­tung wieder aufleben läßt in ihrer Aktu­al­ität, als laufend­en Kom­men­tar zum Prob­lem der Rev­o­lu­tion und des Mannes im Zeital­ter der Rev­o­lu­tio­nen. (138)/

Oswald Egger: Tag und Nacht sind zwei Jahre. Kalen­dergedichte. Warm­bronn: Ulrich Keich­er 2006. 31 Seit­en.

Egger, Tag und NachtKalen­dergedichte? Wirk­lich? Das würde mich bei einem Autor wie Oswald Egger allerd­ings über­raschen. Und natür­lich ist das wed­er Kalen­der noch Gedicht — zumin­d­est nach herkömm­lichem Ver­ständ­nis. Aber das zählte für Egger ja (noch) nie. Ein ander­er, ein neuer Gang durch’s (Natur-)Jahr hat er hier aufgeschrieben — Men­schen kom­men nicht vor (nur das „ich“, das aber dur­chaus häu­fig), höch­stens ihre Arte­fak­te wie die „Fahrstraße“ (14), die Wege etc, die in der Natur liegen – ein Jahres­reigen, wirk­lich ein Reigen. Hier kann man sehen, was passiert, wenn sich ein Sprach­meis­ter und ‑magi­er wie Egger der Natur annimmt: Ihren Erschei­n­un­gen und ihrem Erklin­gen. Das ist — wie immer — phan­tastisch: Kaum jemand kann Sprache so magisch und kraftvoll ver­for­men wie Egger — und damit Bilder und Töne evozieren, die nor­male Sätze oder Wörter nicht aufrufen kön­nen: Die sind zu schwach, zu aus­ge­laugt, zu abgenutzt, sie tre­f­fen das einzi­gar­tige, beson­dere des jew­eili­gen Moments nicht — und deshalb gibt’s halt Neues. Das hat immer etwas von einem Aben­teuer: Man weiß wed­er, wo der Satz einen hin­führt, noch, was der näch­ste Satz, die näch­ste Seite/Doppelseite (ein „Gedicht“) bringt.

[…] wie far­big flam­mendere Träume / schreck­ten diese hier, kalbend­sten sel­ban­der, als Vögel / im Fieber­schlaf erstar­rt, und floureszieren etwas (wie nichts) /| auf Gran­it, die wie Por­phyrpflaster­plat­ten der Zufluß-Gneise / schiefer­n­der Wege, alles Fir­ma­ment verbleite licht­grau und / betrübt sich richtig — (richtig)? (2f.)
Moni­ka Rinck: Helle Ver­wirrung. Gedichte — Rincks Ding- und Tier­leben. Texte & Zeich­nun­gen. Idstein: kook­books 2009. 139 Seit­en.

rinck, helle verwirrungGle­ich zwei Büch­er auf ein­mal hier. Aber zwei ganz ver­schiedene Seit­en von Moni­ka Rinck. In Helle Ver­wirrung die “nor­male” Lyrik­erin, in Rincks Ding- und Tier­leben die Zeich­ner­in von kuriosen Din­gen. Aber Rinck hat ja sowieso Auge und Ohr für das Ungewöhn­liche, das Kuriose — etwas im “Begriff­sstu­dio”. Das schlägt sich vor allem in den küh­nen Bildern der Hellen Ver­wirrung nieder — und in den starken Titel der Gedichte, die — sel­ten genug — wirk­liche Titel sind: „erschöpfte konzepte: die liebe“, „immer nie“ …
Und allein der Quit­ten-Zyk­lus ist mit seinen phan­tastis­chen, vielfälti­gen und vol­lkom­men über­raschen­den Bildern den Band schon wert.

Weniger kon­nte ich dage­gen mit dem Ding- und Tier­leben anfan­gen: Das ist sehr spielerisch und humoris­tisch, mit Lust an Kon­tradik­tio­nen und Null-Sinn und dem sprach­lichen extem­po­ri­eren. Aber einen recht­en Zugang habe ich dazu nicht gefun­den.

Mein Lieblingsz­i­tat:

in jedem buch gibt es zeilen, die man gar nicht lesen darf. (14)

Schöne Stellen gibt es aber unendlich viele. Zitierenswert erschien mir auch noch das hier — vielle­icht gibt das ja einen Ein­druck, warum ich das so gern gele­sen habe:

das fand für dich auf der gren­ze statt, die meis­ten dein­er gäste / haben sich entsch­ieden für: nor­mal­ität. ein­sam waren sie trotz­dem. (16)/

Oswald Egger: Deutsch­er sein. Warm­bronn: Ulrich Keich­er 2013 (Rei­he Lit­er­aturhaus Stuttgart 4). 28 Seit­en.

Egger, Deutscher-seinEin klein­er, bei Keich­er sorgsam gedruck­ter Essay über die deutsche Sprache, ihre Struk­tur und ihren Laut, ihre Möglichkeit­en und Schwierigkeit­en. Zugle­ich geht es, der Titel ver­rät es ja, auch um die Möglichkeit­en und Beschw­ernisse, Deutsch­er zu sein. Dieses Sein scheint sich aber — für Egger ja nicht beson­ders ver­wun­der­lich — vor allem oder haupt­säch­lich in der Sprache abzus­pie­len und zu entwick­eln. Deswe­gen geht es also auch um solche Erleb­nisse wie den “Schmuggel” von Sinn und Bedeu­tung in Wörter, Sätze und Texte. Oder um Klang und Musik, Lieder und Melos des Deutschen — vor allem natür­lich des “Deutsch­land­sliedes”, der Nation­al­hymne. The­men sind außer­dem: Der Umgang “der Deutschen” — und ihrer Dichter — mit ihrer Sprache und den ihr innewohnen­den Möglichkeit­en. In An- und Halb­sätzen zeigen sich dabei auch einige Bausteine der Poet­ik Eggers — näm­lich eben in seinem Ver­ständ­nis der Sprache, die wohl etwas sehr offenes und flu­ides ist.

da gabelt sich die Gabe der Sprache in irrwis­che Wün­schel, durch und durch die Gegend ohne Gegen­stand als ein eingepeitschter Schlingerkreisel im ergat­terten Mis­chmasch (5)

Oswald Egger: Nichts, das ist. Frank­furt am Main: Suhrkamp 2001. 160 Seit­en.

egger, nichts das istAußer­dem noch diesen drit­ten Egger gele­sen. Aber da sehe ich mich außer­stande, etwas halb­wegs kluges dazu zu sagen …

In den Gedicht­en oder 200 Strophen/4‑Zeiler mit angehängter/überlagerter Poet­ik & Sprachkri­tik & Sprach­suche im poet­is­chen Modus steckt — so viel merke ich schon beim ersten Lesen — unheim­lich viel drin. Hyper­kom­plex gibt sich das, vielle­icht ist das aber auch nur gefakt? Beim (ersten) Lesen bleiben eigentlich nur Sin­n­fet­zen, Assozi­a­tio­nen, Klänge, Klang­wortrei­hen und ‑entwick­lun­gen — aber davon so viel, dass es die Lek­türe lohnt. Die 3–5fache Par­al­lelität des Textes (der Texte? — was ist hier über­haupt “der” Text? und was machen die Zeichnungen/Grafiken da drin?), hor­i­zon­tal und ver­tikal auf den Seit­en, vom Kolum­nen­ti­tel oben bis zum unteren Rand, über­haupt das per­ma­nente Überkreuzen und Queren — von Sinn, von Einheit(en), von Text und Sprache machen schon eine “nor­male” Lek­türe unmöglich — ein “Ver­ste­hen” erst recht. Immer neue Ansätze scheinen sich hier aufzu­tun, Iter­a­tio­nen vielle­icht auch, oder Bohrun­gen in der Art von Ver­suchen mit offen­em Aus­gang: kein fes­ter BOden, kein festes/dauerndes Ergeb­nis ist das einzig Ergeb­nishafte, was die Lek­türe ergibt.

Zwei Beispiel­seit­en — beina­he zufäl­lig aus­gewählt ;-) — mögen das illus­tri­eren:
egger, nichts das ist, 18

egger, nichts das ist, 48

Scott Jurek with Steve Fried­man: Eat & Run. My unlike­ly Jour­ney to Ultra­ma­rathon Great­ness. Lon­don u.a.: Blooms­bury 2012. 260 Seit­en.

Ist das ein Lauf­buch? Der Autor­name lässt es ver­muten: Scott Jurek ist ein­er der großen Ultra­läufer. Aber Eat & Run — der Titel ver­rät es ja schon — dreht sich nicht nur ums Laufen. Im Gegen­teil: Über weite Streck­en geht es vor allem ums Essen. Nicht ohne Grund ste­ht das im Titel vorne. Und zwar um das richtige Essen — näm­lich die veg­ane Ernährung. Jurek schildert aus­führlich seinen Weg von der “nor­malen” amerikanis­chen Kost des mit­tleren West­ens zur veg­an­is­chen Ernährung. Das geschieht bei ihm vor allem aus (schein­bar) gesund­heitlichen Grün­den und weil er meint zu beobacht­en, dass er sich damit bess­er fühlt. Zugle­ich pla­gen ihn aber auch lange und immer wieder die Zweifel, ob er mit veg­a­nen Lebens­mit­teln aus­ge­wogen, gesund und in allen Bere­ichen aus­re­ichend genährt ist, um Ultras zu laufen.

So recht warm gewor­den bin ich mit Eat & Run aber nicht. Obwohl ich die Leis­tun­gen Jureks sehr schätze, blieb mir seine Hal­tung zum Laufen, wie sie sich hier zeigt, ein­fach fremd. Mehr dazu ste­ht in meinem Lauf­blog: klick.

span style=“font-variant: small-caps”>Werner Laub­sch­er: Win­ter­reise. Win­ter­sprache. Annweil­er: Thomas Plöger 1989. 58 Seit­en.

laubscher, winterreiseDarauf bin ich nur zufäl­lig durch einen Beitrag in der Poet #15 gekom­men. Zunächst mal ist das ein schönes Buch, auch die Her­stel­lung ist ein Teil des Kunst­werks: Tra­di­tioneller Bleisatz, feines Papi­er (unaufgeschnit­ten und deswe­gen dop­pelt — so wird aus 58 Seit­en ein Buch), lebendi­ger Druck, schön­er Ein­band, dazu die far­bigen Bilder Laub­sch­ers — so macht man Büch­er.

Wil­helm Müllers Win­ter­reise — oder wohl doch eher Schu­berts Liedzyk­lus — dient Laub­sch­er als Anre­gung und Aus­gangspunkt für seine kleinen Gedichte. Die haben etwas von Preziosen: Fein und feinsin­nig beobachtet, sehr klug und sehr sprachge­wandt, auch sehr geschlif­f­en und fest, über­haupt nicht spielerisch. Teil­weise funk­tion­ieren sie als Über­schrei­bung: Einzelne Worte und Sätze aus dem “Orig­i­nal” sind als Zitate und Ankläge eingear­beit­et — sehr dicht, fast naht­los fügen sie sich in Laub­sch­ers wesentlich mod­erneren (wenn auch nicht avant­gardis­tis­chen) Ton ein, der es trotz sein­er Moder­nität schafft, ver­gle­ich­sweise zeit­los zu bleiben. Ziem­lich düster, grau und trau­rig ist diese Win­ter­welt hier. Aber, und das macht es lesenswert, es sind ganz viele Graus. Vielle­icht kön­nte man sagen, dass Laub­sch­er hier die Müller­sche Win­ter­reise über­bi­etet: Mit mehr Real­is­mus und zugle­ich mehr poet­is­ch­er Entrück­ung geht das weit­er als die roman­tis­chen Urgedichte. Und bleibt dabei ander­er­seits auch doch sehr zurück­hal­tend — arg bre­it ist das the­ma­tis­che Feld nicht. Das macht aber nicht, weil es handw­erk­lich sehr geschickt — etwa in der Ver­ket­tung der einzel­nen Gedichte — und dur­chaus fein gemacht ist: (Be)rührend sind hier viele der Gedichte, emo­tion­al durch oder in ihrer Kun­st­fer­tigkeit.

Eines mein­er Lieblings­gedichte aus dem titel­geben­den Zyk­lus ist das auf Seite 19:
laubscher_19

Feine Klangkunst: Yulianna Avdeeva in Mainz

Robert Schu­mann war begeis­tert von ihnen: Fréderich Chopins 24 Préludes op. 28, die er als „Skizzen, Etu­de­nan­fänge, oder will man, Ruinen, einzelne Adler­fit­tige, alles bunt und wild durcheinan­der“ charak­ter­isierte. Vor allem waren sie ihm ein Zeichen der Kün­heit und Genial­ität des Kom­pon­is­tenkol­le­gen. Und wenn man sich anhört, wie Yulian­na Avdee­va den Zyk­lus im Frank­furter Hof spielte, möchte man Schu­mann unbe­d­ingt zus­tim­men.

Das liegt nicht daran, dass Avdee­va bei ihrem Mainz­er Gast­spiel im Rah­men der Rei­he „Inter­na­tionale Pianis­ten“ die Vir­tu­osität der 24 kurzen Stücke beson­ders betonte. Son­dern daran, dass sie den ganzen Zyk­lus beseelte. Und das heißt vor allem, dass sie aus­ge­sprochen vielfältig spielte. Manch­mal ist das pure Ver­führun­gen, dann wieder reine Vir­tu­osität, mal sind es heit­er per­lende schein­bare Leichtigkeit­en, mal düstere Visio­nen. Aber alles lebt, immer atmet der Klavier­ton. Und stets ist die Poe­sie der Préludes zu hören – nicht nur der Noten, son­dern auch des Klangs. Denn vor allem im leis­eren, gedämpften Reg­is­ter kann Avdee­va aus dem Flügel im Frank­furter Hof viel her­aus­holen. Ohne Schwulst spielt sie, aber mit einem feinen Ohr für die Zwis­chen­re­iche der Stim­mungen, die leicht­en Ein­trübun­gen, aber auch die vor­sichti­gen opti­mistis­chen Anwand­lun­gen – und den fähi­gen Fin­gern, das genau umzuset­zen. So zeigen sich die Préludes bei ihr in der Verbindung von Vir­tu­osität und Innigkeit als wirk­lich roman­tis­che Musik.

Das liegt auch daran, dass ihr warmer, san­ft gerun­de­ter Ton mit der nöti­gen Sta­bil­ität für diese Vielfalt nur in sehr geschwinden und laut­en Pas­sagen etwas hart und grell wird. Dafür ist ihre Klangfülle im pianis­si­mo grandios. Aber sowieso ist es gar nicht so sehr das auf­brausende Moment, das in ihrer Inter­pre­ta­tion begeis­tert, son­dern das zurückgenommene, melan­cholis­che: Da sind die Töne ein­fach viel far­biger, selb­st in der Schwarz-Weiß-Welt noch vielfältiger dif­feren­ziert als in den stürmerischen Préludes, die bei Avdee­va oft etwas grell und fast geschwätzig wirken.

Fast magisch klan­gen unter ihren Hän­den auch die eher sel­ten zu hören­den „Drei Klavier­stücke“ von Franz Schu­bert. Späte Werke sind das, geschrieben im Todes­jahr des Kom­pon­is­ten, deren nach­den­klichen Töne man heute fast schon die Ahnung des Todes unter­stellen möchte. Voller Sub­til­ität und mit einem sehr fra­gen­den, immer suchen­den Ton spielt Avdee­va sie als Musik, die nicht alles weiß und ihre Lück­en ken­nt – eine Musik der Vergewis­serung und Suche, die hier in stark­er emo­tionaler Span­nung mit sou­verän­er Zartheit fast die Zeit aufzuheben ver­mag.
Sergej Prokof­jews siebte Klavier­son­ate wirk­te zwis­chen diesen bei­den Roman­tik­ern fast wie ein Fremd­kör­p­er – nicht wegen sein­er Moder­nität, son­dern wegen sein­er lebendi­gen Schroffheit, die bei Avdee­va freilich nur in ein­er etwas glattge­bügel­ten Ver­sio­nen erscheinen: Ger­ade die Ner­vosität der Musik spielt hier keine beson­dere Rolle. Das liegt auch dran, dass große Gesten bei ihr immer bloße Gesten bleiben und nie so zwin­gend sind wie der inten­sive Aus­druck, den sie ger­ade den unschein­baren Momenten der Sonate mit auf den Weg gibt. Die wirk­liche Emo­tion steckt eben immer im Detail – und die Inten­sität eben­so.

(geschrieben für die mainz­er rhein-zeitung.)

Chopins “Ave Maria”

Was passiert, wenn Musik-Unkundi­ge für die Schluss­cred­its eines Filmes ver­ant­wortlich sind und nie­mand das kon­trol­liert:

Scrrenshot Schlusscredits "It's a disaster"

Scr­ren­shot Schluss­cred­its “It’s a dis­as­ter”

— so endet der sehr anschauenswerte Film “It’s a dis­as­ter”. Zu hören war übri­gens die Schubert’sche Ver­to­nung des “Ave Maria” …

Hauptsache Lied

… mögen sich Rain­er Wiec­zorek und/oder seine Lek­torin gedacht haben, als er diesen Absatz (auf Seite 92) in sein­er Tuba-Nov­el­le schrieb, da kommt es auf Schu­bert oder Schu­mann doch nicht so an:

Ich grolle nicht: Er legte das Mund­stück in die Füller-Schale und ver­suchte an Suzanne und Beck­ett zu denken, wie sie ein­trächtig den Schu­bert-Liedern lauschen.

Und ja, aus dem Zusam­men­hang der vorigen Seit­en geht ein­deutig her­vor, dass es sich um die Schu­mann-Lieder han­deln soll — der entsprechende Abschnitt einige Seit­en zuvor heißt auch “Dichter­liebe”. Damit hier aber kein falsch­er Ein­druck entste­ht: Die Tuba-Nov­el­le ist ein dur­chaus ansprechen­des, anre­gen­des und, ja, auch ein­fach schönes Buch.

“Was fragen sie nach meinen Schmerzen?” — Schäfer/Schneider mit der “Winterreise”

Karge Klarheit bes­timmt die “Win­ter­reise”, die Chris­tine Schäfer und Eric Schnei­der im Mozart-Saal der Frank­furter Alten Oper auf­führen. Diese Inter­pre­ta­tion des Schu­bertschen Liedzyk­lus, das wird eigentlich schon mit dem ersten Lied, ja, fast schon mit den ersten Tönen, deut­lich, diese Inter­pre­ta­tion wird ganz stark vom Intellekt bes­timmt. Chris­tine Schäfer singt das ganz stark vom Kopf aus — und immer schon mit der Katas­tro­phe im Blick: Schärfe in der Gestal­tung — nicht im Ton! — bes­timmt diese meis­ter­hafte Auf­führung.

Diese Inter­pre­ta­tion gewin­nt aber auch durch einen fan­tastis­chen Pianis­ten, der wun­der­bar ins Konzept passt: Eric Schnei­der spielt präzise wie kaum ein ander­er Lied­be­gleit­er in der “Win­ter­reise”: Sel­ten hört man so genau jeden Ton des Klavier­satzes genau so, wie er in den Noten ste­ht, mit jedem Akkzent und jedem fortepi­ano. Ganz sel­ten nur spürt man einen Hauch Ped­al, dafür sind die Klänge trock­en und abge­set­zt, dabei nicht lieb­los, son­dern abso­lut detail­ver­liebt. Mit “Roman­tik” hat das auf den ersten Ton gar nicht mehr viel zu tun, das ist eigentlich exis­ten­tal­is­tis­che Musik (auch wenn sie in der Alten Oper im Rah­men von “Impuls Roman­tik” erklingt). Chris­tine Schäfer macht das grun­sät­zlich ähn­lich wie ihr Pianist (auch wenn die bei­den manch­mal min­i­mal­ste Dif­feren­zen zeigten), zum Beispiel in “Gute Nacht”: Da sind es oft nebeneinan­der­ste­hende Einzeltöne, keine durchge­sun­gene Lin­ie. Grandios die leb­hafteren, etwas drama­tis­cheren Lieder: Mit welche klaren Schwung sie die “Wet­ter­fahne” singt und wie wun­der­bar schwank­end “Die Post” oder wie kon­turi­ert bei ihr “Die Krähe” auf­scheint — das ist wirk­lich große Kun­st. Was mir nicht so gut gefall­en hat bei ihr: Die Phrasen klin­gen oft sehr früh und sehr stark aus, so dass die Enden fast ver­schwinden. Das kann ein sehr inter­es­san­ter Effekt sein, auf Dauer fand ich das aber etwas über­trieben. Auch ihre Tedenz, gle­iche Vokale unter­schiedlich zu tönen, hat einen leicht­en Hang zum Manieris­mus. Dabei ist das aber, um kein Missver­ständ­nis aufkom­men zu lassen, von ihr in jedem Einzelfall unge­heuer kon­se­quent umge­set­zt und auch hör­bar durchgedacht und durchge­führt.

Gegenüber der Auf­nahme — die ist ja auch schon 2006 erschienen — scheint mir das noch ein­mal etwas gereifter: Die Stimme klingt etwas kräftiger, nicht ganz so leicht und schwebend, alles hört sich etwas schw­er­er und bedachter/bedächtiger an, nicht mehr ganz so cool, dafür abgek­lärter und erfahren­er. Vielle­icht ist das auch der Live-Sit­u­a­tion geschuldet, zumal wir im Mozart-Saal fast ganz hin­ten saßen und so schon in merk­bar­er Ent­fer­nung …

Die durch­weg aus­ge­sprochen hohen Grundtem­pi, mit sehr starken, fast über­triebene­nen (aber nur fast!) Verzögerun­gen, die manch­mal sog­ar fast Lück­en in dem Lied­text aufreißen: Effek­tvoll ist das, ganz ohne Frage. Und sehr konzen­tri­ert und gefasst, in ein­er span­nen­den Mis­chung von Intellek­tu­al­ität und Emo­tion­al­ität, einem sehr genau aus­bal­ancierten Ver­hält­nis von Dis­tanz und Aneig­nung, von Iden­ti­fika­tion und außen­ste­hen­der Beobach­tung (der eige­nen Seele, des emo­tionalen Weltlei­des der Sänger­fig­ur …). Es gab und gibt Sänger (meis­tens sind es eben doch Män­ner), die das rühren­der und berühren­der, also über­wälti­gen­der, sin­gen. Aber kaum

Winterreise-Eintrittskarte

Ein­trittskarte zu einem beson­deren Erleb­nis

welche, die den eigentlichen Kern jedes Liedes so klar und deut­lich, so unver­stellt und unüber­hör­bar her­aus­prä­pari­eren. Ja, das Wort passt hier, denn manch­er Ansatz erscheint wie im Lab­o­ra­to­ri­um entwick­elt — oder das Ergeb­nis aus der Patholo­gie, wo der Noten­text zunächst ein­mal seziert wurde, bevor er zum Klang wer­den durfte und kon­nte. Im Zusam­men­hang, im Laufe des kurzen Abends, zeigt sich aber, dass das keine ana­lytis­che Kälte ist, son­dern das Schauern und Schaud­ern der emo­tionalen Win­ter­land­schaft, durch die der Sänger/die Sän­gerin irrt. Dadurch entste­ht eine ganz eson­dere Sit­u­a­tion: Im Saal merk­te man schon vor dem Beginn, ja schon im Foy­er, eine erhöhte Span­nung. Alle erwarteten etwas Beson­deres. Und wer­den anders befriedigt, als sie erwarteten. Denn — so war zumin­d­est mein Ein­druck — nicht allen wurde klar, wie beson­ders das, was dann zu hören war, wirk­lich war. Weil es anders war, weil es nicht so recht der tra­di­tionellen Gestal­tung der “Win­ter­reise” entsprach. Und weil es nicht so sehr auf affek­tuös-emo­tionaler Ebene begeis­tern kon­nte, son­dern stärk­er auf ein­er intellek­tuellen, fast ratio­nalen Ebene. Das ist eigentlich ein sehr kluger Ansatz, die “Win­ter­reise” so zu sin­gen — kaum ein Lied­w­erk ist schließlich so bekan­nt, kaum ein Zyk­lus so aus­geschöpft und erschöpft durch unzäh­lige, sich oft genug nur noch in Details und Stimm­fär­bung unter­schei­den­den Inter­pre­ta­tion im Konz­ert­saal und auf der Kon­serve.

Fragend in die kalten Unendlichkeit: Schubert/Zender

Kalt ist es, bit­ter kalt. Frierend und ein­sam irrt der Sänger kurz vor Wei­h­nacht­en durch die Dör­fer, ver­lassen und ver­loren. Sel­ten hört man den Sänger der Schu­bertschen “Win­ter­reise” so weltver­loren wie Daniel Kirch im Staat­sthe­ater. Das ist aber kein Wun­der. Denn im Großen Haus erklingt ja gar nicht Schu­berts Win­ter­reise: Auf dem Pro­gramm ste­ht eine “kom­ponierte Inter­pre­ta­tion” dieser Win­ter­reise. So hat Hans Zen­der seine Bear­beitung genan­nt: Das Klavier wird durch ein genial instru­men­tiertes kleines Orch­ester erset­zt, von Stre­ich­ern über die Gitarre und das Akko­rdeon bis zum großen Schlag­w­erk ist es so reich beset­zt, dass es Far­ben ohne Ende bietet. Dabei bleibt die Musik doch trübe: Denn Zen­der macht in sein­er inter­pretieren­den Instru­men­ta­tion des Schu­bertschen Orig­i­nals die Aus­sicht­slosigkeit, die Ver­lassen­heit des Lied­sängers noch viel deut­lich­er. Der Tenor Daniel Kirch, am Anfang noch etwas unaus­geglichen, aber zunehmend überzeu­gen­der, navigierte sehr sich­er durch das win­ter­liche Ter­rain. Selb­st in den zer­ris­se­nen Par­tien des “stür­mis­chen Mor­gens” oder den ver­schobe­nen Tem­pi der drei “Neben­son­nen” blieb er beson­nen – fast zu behut­sam und sou­verän angesichts der exis­ten­ziellen Not.

Auch das Phil­har­monis­che Orch­ester kam mit der unge­wohn­ten Beset­zung und dem sel­te­nen Instru­men­tar­i­um von Melod­i­ca bis Wind­mas­chine gut zurecht, wan­derte dabei in Teilen auch noch vor und hin­ter die Bühne. Doch Gen­eral­musikdi­rek­tor Her­rmann Bäumer hat­te das alles fest im Griff. Der Schauer kehrte damit in die Schu­bertsche Musik zurück — der Schauer, den schon Schu­bert und seine Zeitgenossen bei diesen Liedern über­lief. Hier wurde er noch ein­mal lebendig, indem Zen­der die Lieder aus ihrer erstar­rten Kün­stlichkeit löst und die Struk­turen ganz behut­sam auf­bricht. Ganz stark wurde das am Ende des Zyk­lus, der in ein­er Auflö­sung der Welt mün­det — aber nicht in Wohlk­lang, son­dern ins Ungewisse.

Eine ähn­liche Öff­nung hat­te Bäumer zuvor schon mit Schu­berts siebter Sin­fonie, der Unvol­len­de­ten, unter­nom­men. Die bei­den Sätze reicht­en, um das Haus des Wohlk­langs zu ver­lassen — das ist hier allerd­ings auch eher ein Gefäng­nis. Dessen Stäbe zer­brachen schon ganz früh, bere­its die ersten Tak­te der in den tiefen Stre­ich­ern anset­zen­den Melodie drängten ins Freie, aus dem Gefäng­nis der Form und der Tra­di­tion weit hin­aus ins unbekan­nte Gebi­et. Bäumer machte diese Bewe­gung wun­der­bar deut­lich und entwick­elte daraus eine bestechende Schön­heit der Frei­heit und der Offen­heit. Das Phil­har­monis­che Orch­ester spielte das nicht nur hochkonzen­tri­ert, son­dern ger­adezu leicht­füßig, fast tanzend. In schweben­der Unentsch­ieden­heit bal­anciert Bäumer zum her­rlichen Klang. Eine Idylle, möchte man meinen — wären da nicht die Ein­brüche, die harten Schläge der Wirk­lichkeit, die immer wieder die himm­lis­chen Län­gen der Unvol­len­de­ten heim­suchen und deren ätherische Schön­heit zer­stören. Aber selb­st die erk­lan­gen hier mit einem Frageze­ichen: Trock­en und hart fuhren sie hinein — und zogen sich geschwind wieder zurück. Antworten bietet diese Musik nicht mehr, da sind nur noch Fra­gen. Aber was für Fra­gen! — Und doch: Selb­st diese Offen­heit verblasste dann etwas angesichts der schau­rig-erschüt­tern­den Kälte, mit der Bäumer und Kirch die Zen­der-Ver­sion der Win­ter­reise zu ihrem unbarmherzi­gen und ganz unwei­h­nachtlichen Ende bracht­en.

(etwas kürz­er für die Mainz­er Rhein-Zeitung geschrieben.)

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