Kalt ist es, bitter kalt. Frierend und einsam irrt der Sänger kurz vor Weihnachten durch die Dörfer, verlassen und verloren. Selten hört man den Sänger der Schubertschen “Winterreise” so weltverloren wie Daniel Kirch im Staatstheater. Das ist aber kein Wunder. Denn im Großen Haus erklingt ja gar nicht Schuberts Winterreise: Auf dem Programm steht eine “komponierte Interpretation” dieser Winterreise. So hat Hans Zender seine Bearbeitung genannt: Das Klavier wird durch ein genial instrumentiertes kleines Orchester ersetzt, von Streichern über die Gitarre und das Akkordeon bis zum großen Schlagwerk ist es so reich besetzt, dass es Farben ohne Ende bietet. Dabei bleibt die Musik doch trübe: Denn Zender macht in seiner interpretierenden Instrumentation des Schubertschen Originals die Aussichtslosigkeit, die Verlassenheit des Liedsängers noch viel deutlicher. Der Tenor Daniel Kirch, am Anfang noch etwas unausgeglichen, aber zunehmend überzeugender, navigierte sehr sicher durch das winterliche Terrain. Selbst in den zerrissenen Partien des “stürmischen Morgens” oder den verschobenen Tempi der drei “Nebensonnen” blieb er besonnen – fast zu behutsam und souverän angesichts der existenziellen Not.
Auch das Philharmonische Orchester kam mit der ungewohnten Besetzung und dem seltenen Instrumentarium von Melodica bis Windmaschine gut zurecht, wanderte dabei in Teilen auch noch vor und hinter die Bühne. Doch Generalmusikdirektor Herrmann Bäumer hatte das alles fest im Griff. Der Schauer kehrte damit in die Schubertsche Musik zurück — der Schauer, den schon Schubert und seine Zeitgenossen bei diesen Liedern überlief. Hier wurde er noch einmal lebendig, indem Zender die Lieder aus ihrer erstarrten Künstlichkeit löst und die Strukturen ganz behutsam aufbricht. Ganz stark wurde das am Ende des Zyklus, der in einer Auflösung der Welt mündet — aber nicht in Wohlklang, sondern ins Ungewisse.
Eine ähnliche Öffnung hatte Bäumer zuvor schon mit Schuberts siebter Sinfonie, der Unvollendeten, unternommen. Die beiden Sätze reichten, um das Haus des Wohlklangs zu verlassen — das ist hier allerdings auch eher ein Gefängnis. Dessen Stäbe zerbrachen schon ganz früh, bereits die ersten Takte der in den tiefen Streichern ansetzenden Melodie drängten ins Freie, aus dem Gefängnis der Form und der Tradition weit hinaus ins unbekannte Gebiet. Bäumer machte diese Bewegung wunderbar deutlich und entwickelte daraus eine bestechende Schönheit der Freiheit und der Offenheit. Das Philharmonische Orchester spielte das nicht nur hochkonzentriert, sondern geradezu leichtfüßig, fast tanzend. In schwebender Unentschiedenheit balanciert Bäumer zum herrlichen Klang. Eine Idylle, möchte man meinen — wären da nicht die Einbrüche, die harten Schläge der Wirklichkeit, die immer wieder die himmlischen Längen der Unvollendeten heimsuchen und deren ätherische Schönheit zerstören. Aber selbst die erklangen hier mit einem Fragezeichen: Trocken und hart fuhren sie hinein — und zogen sich geschwind wieder zurück. Antworten bietet diese Musik nicht mehr, da sind nur noch Fragen. Aber was für Fragen! — Und doch: Selbst diese Offenheit verblasste dann etwas angesichts der schaurig-erschütternden Kälte, mit der Bäumer und Kirch die Zender-Version der Winterreise zu ihrem unbarmherzigen und ganz unweihnachtlichen Ende brachten.
(etwas kürzer für die Mainzer Rhein-Zeitung geschrieben.)
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