Karge Klarheit bestimmt die “Winterreise”, die Christine Schäfer und Eric Schneider im Mozart-Saal der Frankfurter Alten Oper aufführen. Diese Interpretation des Schubertschen Liedzyklus, das wird eigentlich schon mit dem ersten Lied, ja, fast schon mit den ersten Tönen, deutlich, diese Interpretation wird ganz stark vom Intellekt bestimmt. Christine Schäfer singt das ganz stark vom Kopf aus — und immer schon mit der Katastrophe im Blick: Schärfe in der Gestaltung — nicht im Ton! — bestimmt diese meisterhafte Aufführung.
Diese Interpretation gewinnt aber auch durch einen fantastischen Pianisten, der wunderbar ins Konzept passt: Eric Schneider spielt präzise wie kaum ein anderer Liedbegleiter in der “Winterreise”: Selten hört man so genau jeden Ton des Klaviersatzes genau so, wie er in den Noten steht, mit jedem Akkzent und jedem fortepiano. Ganz selten nur spürt man einen Hauch Pedal, dafür sind die Klänge trocken und abgesetzt, dabei nicht lieblos, sondern absolut detailverliebt. Mit “Romantik” hat das auf den ersten Ton gar nicht mehr viel zu tun, das ist eigentlich existentalistische Musik (auch wenn sie in der Alten Oper im Rahmen von “Impuls Romantik” erklingt). Christine Schäfer macht das grunsätzlich ähnlich wie ihr Pianist (auch wenn die beiden manchmal minimalste Differenzen zeigten), zum Beispiel in “Gute Nacht”: Da sind es oft nebeneinanderstehende Einzeltöne, keine durchgesungene Linie. Grandios die lebhafteren, etwas dramatischeren Lieder: Mit welche klaren Schwung sie die “Wetterfahne” singt und wie wunderbar schwankend “Die Post” oder wie konturiert bei ihr “Die Krähe” aufscheint — das ist wirklich große Kunst. Was mir nicht so gut gefallen hat bei ihr: Die Phrasen klingen oft sehr früh und sehr stark aus, so dass die Enden fast verschwinden. Das kann ein sehr interessanter Effekt sein, auf Dauer fand ich das aber etwas übertrieben. Auch ihre Tedenz, gleiche Vokale unterschiedlich zu tönen, hat einen leichten Hang zum Manierismus. Dabei ist das aber, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, von ihr in jedem Einzelfall ungeheuer konsequent umgesetzt und auch hörbar durchgedacht und durchgeführt.
Gegenüber der Aufnahme — die ist ja auch schon 2006 erschienen — scheint mir das noch einmal etwas gereifter: Die Stimme klingt etwas kräftiger, nicht ganz so leicht und schwebend, alles hört sich etwas schwerer und bedachter/bedächtiger an, nicht mehr ganz so cool, dafür abgeklärter und erfahrener. Vielleicht ist das auch der Live-Situation geschuldet, zumal wir im Mozart-Saal fast ganz hinten saßen und so schon in merkbarer Entfernung …
Die durchweg ausgesprochen hohen Grundtempi, mit sehr starken, fast übertriebenenen (aber nur fast!) Verzögerungen, die manchmal sogar fast Lücken in dem Liedtext aufreißen: Effektvoll ist das, ganz ohne Frage. Und sehr konzentriert und gefasst, in einer spannenden Mischung von Intellektualität und Emotionalität, einem sehr genau ausbalancierten Verhältnis von Distanz und Aneignung, von Identifikation und außenstehender Beobachtung (der eigenen Seele, des emotionalen Weltleides der Sängerfigur …). Es gab und gibt Sänger (meistens sind es eben doch Männer), die das rührender und berührender, also überwältigender, singen. Aber kaum
welche, die den eigentlichen Kern jedes Liedes so klar und deutlich, so unverstellt und unüberhörbar herauspräparieren. Ja, das Wort passt hier, denn mancher Ansatz erscheint wie im Laboratorium entwickelt — oder das Ergebnis aus der Pathologie, wo der Notentext zunächst einmal seziert wurde, bevor er zum Klang werden durfte und konnte. Im Zusammenhang, im Laufe des kurzen Abends, zeigt sich aber, dass das keine analytische Kälte ist, sondern das Schauern und Schaudern der emotionalen Winterlandschaft, durch die der Sänger/die Sängerin irrt. Dadurch entsteht eine ganz esondere Situation: Im Saal merkte man schon vor dem Beginn, ja schon im Foyer, eine erhöhte Spannung. Alle erwarteten etwas Besonderes. Und werden anders befriedigt, als sie erwarteten. Denn — so war zumindest mein Eindruck — nicht allen wurde klar, wie besonders das, was dann zu hören war, wirklich war. Weil es anders war, weil es nicht so recht der traditionellen Gestaltung der “Winterreise” entsprach. Und weil es nicht so sehr auf affektuös-emotionaler Ebene begeistern konnte, sondern stärker auf einer intellektuellen, fast rationalen Ebene. Das ist eigentlich ein sehr kluger Ansatz, die “Winterreise” so zu singen — kaum ein Liedwerk ist schließlich so bekannt, kaum ein Zyklus so ausgeschöpft und erschöpft durch unzählige, sich oft genug nur noch in Details und Stimmfärbung unterscheidenden Interpretation im Konzertsaal und auf der Konserve.
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