Doris Knecht: Wald. Berlin: Rowohlt Berlin 2015. 270 Seit­en.

knecht, waldMan kön­nte Doris Knechts Wald als „Streeruwitz für Anfänger“ beze­ich­nen: Ein dezi­diert fem­i­nis­tis­ch­er Roman, der auf aktuelle Gegeben­heit­en reagiert. Für „Anfänger“ deshalb — das ist nicht abw­er­tend gemeint -, weil Knecht die Radikalität und Härte, auch im stilis­tis­chen, von Streeruwitz fehlt. Das macht Wald zunächst mal ein­fach­er les­bar. Die naht­los wech­sel­nden, fast ineinan­der glei­t­en­den ver­schiede­nen Stil­la­gen und das beschwörende, fern an Thomas Bern­hard erin­nernde (oder sind das nur die Aus­tri­azis­men?) insistierende Wieder­holen bes­timmter (Schlüssel-)Begriffe ver­lei­hen dem Text einen ganz eige­nen, inter­es­san­ten und oft fes­sel­nden Klang.

Es geht hier um ein Reak­tion auf die let­zte Weltwirtschaft­skrise — die ganz spezielle der Luxus-Mode-Designer­in Mar­i­an, die sich mit der Erweiterung ihres exk­lu­siv­en Geschäftes ver­spekuliert hat und, um der dro­hen­den Pri­vatin­sol­venz zu ent­ge­hen, aus ihrem Leben, der Stadt und der Gesellschaft flieht in ein dör­flich­es Haus im Fam­i­lienbe­sitz, wo sie nun ver­sucht, ohne Geld in ein­er Art Sub­sis­ten­zwirtschaft zu über­leben. Das klappt natür­lich nicht so ganz, da sind ein paar Hüh­n­erdieb­stäh­le eben­so notwendig wie eine Art Pros­ti­tu­tion mit dem im Dorf resi­dieren­den Großbauern/Gutsbesitzer.

In der radikal weib­lichen Per­spek­tive kristallisiert sich das und die Hin­ter­grundgeschichte Mar­i­an in der von Knecht sehr klug und har­monisch gestal­teten Infor­ma­tionsver­gabe erst sehr allmäh­lich und Stück für Stück her­aus. Gut gefall­en hat mir, wie Knecht hier auf die Labil­ität des morder­nen Wohl­stan­dlebens hin­weist und die neue Archaik unter den Bedin­gun­gen der absoluten Exis­ten­zsicherung auf ein­mal jede Roman­tik ver­liert. Wenn man Mar­i­an dann als Exem­pel liest, entwick­elt Wald also eine all­ge­meine Dystopie: Die mod­erne kap­i­tal­is­tis­che Gesellschaft ist nur eine sehr dünne Hülle. Und es gibt wenig Möglichkeit­en, sich dem zu entziehen — auch im Wald bleibt Mar­i­an ja im Sys­tem gefan­gen, die Beziehung zu Franz, ihrem „Gön­ner“ unter­schei­det sich eigentlich nur in einem Punkt zu ihrem bish­eri­gen Leben im Mark­tkap­i­tal­is­mus: Die Abhängigkeit, das Aus­geliefert Sein ist nun direkt, liegt für alle Beteiligten (und die Zuschauen­den der Dor­fge­mein­schaft) offen, im Gegen­satz zu der verdeckt-indi­rek­ten Abhängigkeit von weni­gen wohlhaben­den Käuferin­nen zuvor. Einen Ausweg gibt es also nicht — auch das etwas lieto-fine-mäßige Hap­py-End führt aus dem Sys­tem nicht her­aus, son­dern sta­bil­isiert nur die Abhängigkeit­en.

Sie hat­te nicht im Auge gehabt, dass die Weltwirtschaft­skrise die Zeit­en und Gegeben­heit­en viel radikaler verän­derte, als es auf den ersten Blick, ihren Blick, schien: dass die Zeit­en näm­lich für alle unüber­sichtlich gewor­den waren, auch für die ganz Smarten. (59)

Mara Gen­schel: Ref­eren­zfläche #5. 2016

Zu den Ref­eren­zflächen von Mara Gen­schel etwas kluges oder auch nur halb­wegs vernün­ftiges zu schreiben fällt mir sehr schw­er. Deswe­gen hier nur so viel: Auch die fün­fte Aus­gabe hat mich (wieder) fasziniert. Sie begin­nt — etwas über­raschend — zunächst fast mir ein­er richti­gen Sto­ry: Der Zer­störung (die an Pierre Boulez’ Auf­forderung, die Opern­häuser in die Luft zu spren­gen, erin­nert) des Wies­baden­er Lit­er­aturhaus­es Vil­la Clemen­tine. Aber das, was zer­stört wird, ist natür­lich wieder nur der Text der Vil­la Clemen­tine. Bilder wer­den zu Tex­ten: ein mit Tesafilm eingek­lebter Zettel „Türk­nauf“ repräsen­tiert im Bil­drah­men die Repräsen­ta­tion des repräsen­ta­tiv­en Bauw­erks der repräsen­ta­tiv­en Kun­st (oder so ähn­lich). Dieses Spiel mit den Eben von Text und außer­textlich­er Welt, die Aufhe­bung der tra­di­tionellen strik­ten Unter­schei­dung dieser Sig­nifika­tions­bere­iche ist ja das, was mir an Gen­schels Ref­eren­zflächen so viel Freude bere­it­et. Und das funk­tion­iert auch hier wieder: Der Text ist Text ist Wirk­lichkeit, ist aber schon als Text nicht mehr nur Text, son­dern auch Bild und Mon­tage (eingek­lebte und eingeschriebene Texte), ist aber auch als Text schon zer­stört durch Über­schrei­bun­gen, ver­rutschte Zeilen und Durch­stre­ichun­gen etc. Und er wird in sein­er Mate­ri­al­ität ad absur­dum geführt (?), wenn leere Seit­en einen Rah­men erhal­ten, auf dem ein eingek­lebtes „Blatt 3“ die Leere repräsen­tiert und natür­lich zugle­ich wieder zer­stört. In diesem ewigen sic-et-non, diesem ver­spiel­ten hier-und-da muss man wohl den Raum der Ref­eren­zfläche sehen und schätzen.

Daniela Danz: V. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014. 80 Seit­en.

Und wo das Vater­land anfängt
ist ein dun­kler Ort
wie Schnee
der die Umrisse zeigt
wie alles was aufhört (49)

danz, v„Gedichte“ ver­heißt V im Unter­ti­tel. Und doch begin­nt es nach dem Auf­takt im prinicip­i­um nach dem weit zurück­greifend­en Zitat aus Zedlers Uni­ver­sallexikon zum Begriff “Vater­land” erst ein­mal mit Prosa (mit dunkel funkel­nder, die mich etwas an Klaus Hof­fers Bieresch-Romane erin­nert), die neue Mythen erzählt. Oder: Kurze Prosa, die Beobach­tun­gen als mythis­che erzählt, leicht melan­cholisch ange­haucht. Immer schwingt da auch ein biss­chen Ver­fall und Nieder­gang mit.

Schon hier, noch viel stärk­er dann aber in den fol­gen­den Gedicht­en, ist Heimat bei Danz immer ein prob­lema­tis­ch­er Begriff: Ger­ade wie selb­stver­ständlich ist er immer gefährdet und immer im Wan­del — einem Wan­del, der nicht Verbesserung, son­dern in der Regel eher Ver­schlechterung und Ver­fall bringt und Prob­leme offen­legt, Prob­leme auch im Ver­hält­nis des lyrischen Ichs zu Heimat und Vater­land. Schon der Anfang zeigt das schwierige/problematische Ver­hält­nis der Autorin/Erzählerin zur “Heimat” sehr deut­lich auf. Der Band set­zt mit den Zeilen ein: “Das ist das Land von dem man sagt / das alles hier aufhört und alles anfängt”. Das erste Gedicht endet dann am Ende der ersten Seite mit dem Vers: “aber du woll­test umkehren” — also die Rück­kehr (?) in die Heimat wird prob­lema­tisiert, sie geschieht nicht (ganz) frei­willig, sie bleibt mit Wider­stän­den ver­bun­den.

V lebt immer schon im dis­tanzierten, kri­tis­chen Ver­hält­nis zum Vater­land und zur Heimat: aus der (auch emo­tionalen) Span­nung zwis­chen diesen bei­den Begrif­f­en, auch zwis­chen Natur/Landschaft und Menschen/Politik (der Nation­al­staat­en) ziehen die meis­ten Texte ihre Poten­tial. Die sind oft lakonisch, immer genau und manch­mal schmerzhaft. Vor allem im “Exemplum”-Teil wird dann die poli­tis­che Kom­po­nente von Heimat (auch von Land­schaft!) beson­ders deut­lich, aber auch die “echte” Poli­tik — und der Mythos (auch der neu erfun­dene, selb­st gemachte — vgl. die Prosastücke des Beginns) — spie­len hier eine große Rolle. Im Ganzen ist Veine manch­mal selt­same Mis­chung aus roman­tisch (?) verträumter Empfind­ungs- und Gefühlslyrik und har­ter Real­ität­sauf­nahme der Gegen­wart der Post­mod­erne (und der nation­al­staatlichen Poli­tik), zusät­zlich gekop­pelt und aufge­laden mit mythol­o­gis­chen Aspek­ten — der Clash dieser bei­den Blicke wird im let­zten Gedicht sehr deut­lich vorge­führt.

Ein Band mit anre­gen­der, oft fes­sel­nder Kurzprosa und Lyrik (aber diese teilende Unter­schei­dung wird ja ger­ade sowieso zunehmend brüchig, von bei­den Seit­en gibt es Auflö­sungser­schei­n­un­gen) also, der for­mal zwar keine Gren­zen austestet, es mir aber durch seine Vielfalt in Form und Inhalt (und der mein­er sehr nah­este­hen­den Posi­tion zu „Heimat“) sehr ange­tan hat.

Die schnellen Zügen hal­ten kaum in unser­er Gegend
wer sieht den Weg schon hier das Feld umfassen
seitlich so als hielte er allein es davon ab
das Korn mit ein­er Husche in die Furchen zu ver­streuen
so wie die Män­ner hier auf Rädern sich begrüßen
es nichts bedarf als eines Nick­ens anerken­nend
um zu sagen: ich seh du leb­st
vom Zug aus ist das alles immer schon in rechts
und links geschieden bleibt die Land­schaft nur ein Anblick
[…] (23, Hier)

Leon­hard Frank: Der Men­sch ist gut. Zürich, Leipzig: Max Rasch­er 1918. 209 Seit­en. (Europäis­che Büch­er)

Eigentlich unvorstell­bar, dass so etwas heute geschrieben wer­den kön­nte: Nicht nur wegen des Paz­i­fis­mus (der ja aus dem gesellschaftlichen Diskurs ziem­lich radikal ver­drängt wurde von den „Realpoli­tik­ern“ …), son­dern ger­ade auch wegen des unge­heuren Opti­mis­mus, der aus allen Zeilen dieser mit­ten im größten Schlacht­en aller Zeit­en ver­fassten Erzäh­lun­gen spricht, ja eigentlich sog­ar schre­it, wirkt Der Men­sch ist gut von Leon­hard Frank total unzeit­gemäß. Dabei ste­ht dieses mal als das „lei­den­schaftlich­ste Buch gegen den Krieg […], das die Weltlit­er­atur“ aufweise beze­ich­nete Werk in sein­er Zeit — es erschien erst­mals 1918, als der Erste Weltkrieg noch tobte — gar nicht mal allein. Heute mag vieles naiv anmu­tend: Der Glaube an eine kom­mende Rev­o­lu­tion, die Fähigkeit der (Nächsten-)Liebe, alles Böse (und den Krieg) zu über­winden — das ist heute etwas fremd. Aber so radikal Franks „Lösung“ — er spricht sog­ar von einem „Rev­o­lu­tion­szug der Liebe“ (111) — ist, so radikal und erschüt­ternd ist auch seine Schilderung der blutig­sten Grausamkeit­en des „Großen Krieges“, des sinnlosen Stel­lungskrieges und des Unsinns des Fal­l­ens auf dem soge­nan­nten „Feld der Ehre“ — die Leere dieses Topos the­ma­tisieren die Nov­ellen von Frank immer wieder.

So hehr Überzeu­gung und Ziel Franks sind — sein hier uner­schüt­tlich­er Glaube an das Gute in den Men­schen, das alles Böse über­winden und ver­drän­gen wird — ästhetisch ist das mit hun­dert Jahren Abstand doch etwas dünn. Nicht nur die vie­len Wieder­hol­un­gen, die fehlende Var­i­anz, son­dern ger­ade die Formel­haftigkeit des Textes und seines Inhaltes schwächen Der Men­sch ist gut deut­lich. Ich kann das nur noch als eine Art Zeitzeug­nis lesen: Das war ja keineswegs eine total abseit­ige Posi­tion, die Frank hier ein­nimmt — Der Men­sch ist gut war ein unge­heuer erfol­gre­ich­es Buch. (Und doch blieb er, schaut man auf den weit­eren Ver­lauf der Geschichte, im großen und ganzen wirkungs­los …)

»Wir wollen nicht das Unmögliche ver­suchen: die Gewalt mit Gewalt auszurot­ten. Wir wollen nicht töten. Aber von dieser Sekunde an soll alle Arbeit ruhen. Denn alle Arbeit würde noch im Dien­ste dieses Zeital­ters des organ­isierten Mordes ste­hen. Das Zeital­ter des Ego­is­mus und des Geldes, der organ­isierten Gewalt und der Lüge hat in dieser weißen Sekunde, hat in uns eben sein Ende erre­icht. Zwis­chen zwei Zeital­ter schiebt sich eine Pause ein. Alles ruht. Die Zeit ste­ht. Und wir wollen über die Erde, durch die Städte, durch die Straßen gehen und im Geiste des kom­menden neuen Zeital­ters, des Zeital­ters der Liebe, das eben begonnen hat, jedem sagen: ‚Wir sind Brüder. Der Men­sch ist gut.‘ Das sei unser einziges Han­deln in der Pause zwis­chen den Zeital­tern. Wir wollen mit solch überzeu­gen­der Kraft des Glaubens sagen: ‚Der Men­sch ist gut‘, daß auch der von uns Ange­sproch­ene das tief in ihm ver­schüt­tete Gefühl ‚der Men­sch ist gut‘, unter hellen Schauern empfind­et und uns bit­tet: ‚Mein Haus ist dein Haus, mein Brot ist dein Brot.‘ Eine Welle der Liebe wird die Herzen der Men­schen öff­nen im Angesichte der unge­heuer­lich­sten Men­schheitss­chän­dung.« (64)

Hans Thill: in riso / der dürre Vogel Bin / käl­ter als / Dun­lop. Berlin, Hei­del­berg, Edenkoben, San­ti­a­go de Chile, Schup­fart: rough­books 2016 (rough­book 035). 102 Seit­en.

thill, dunlopDas ist ein rough­book, mit dem ich gar nichts anfan­gen kon­nte. Thill nutzt hier Gedichte von Petrar­ca, John Donne, Robert Her­rick, Paul Flem­ing, Hölder­lin, Trakl, Daniel Hein­sius, Gün­ter Plessow, Pablo Neru­da und anderen — also quer durch die Zeit­en und Sprachen — als eine Art Vor­lage oder erweit­erte Inspi­ra­tion für seine eige­nen Verse. Die ste­hen dann in kleinen Grup­pen — meist um die zehn Verse — direkt unter einem im Orig­i­nal zitierten Vers der Vor­lage. Mal lassen sie sich sprach­lich direkt darauf beziehen, wenn Thill etwa ein einzelnes Wort, eine Wort­gruppe nutzt, um es zu vari­ieren, der Bedeu­tung assozi­ierend nachzu­forschen. Mal ist der Bezug auch eher inhaltlich. Und mal — sog­ar gar nicht so sel­ten — ist der Bezug auch sehr opak, nur irgend­wie (?) assozierend, inspiri­erend. Mir ist dabei eigentlich immer unklar geblieben, was die Meth­ode will und/oder was Thills eigene Texte dann wollen. Vielle­icht war ich auch ein­fach nicht in der Stim­mung — aber bei mehreren Ver­suchen hat mich da, von eini­gen kleinen feinen Ideen, nichts fasziniert oder irgend­wie gepackt. Und, wie gesagt, ich kapiere den Zusam­men­hang zwis­chen Vor­lage und Neuschöp­fung ein­fach nicht.

Die Stand stand auf Krück­en (Fach­w­erk)
als sie sich zeigte
mit dem Gang ein­er Erwach­se­nen, der auf den
Steinen keine Spur hin­ter­läßt (4)

Trau­gott Xaverius Unruh: Von der Sor­ber­wen­den Wesen­heit und Herkom­men. Her­aus­gegeben von Eduard Wern­er. Leipzig: Rei­necke & Voß 2015. 60 Seit­en.

Zu der sehr amüsan­ten und geschickt ange­fer­tigten neuen Edi­tion ein­er aufk­lärerischen sprach‑, kul­tur- und brauch­tums­geschichtlicht­en Unter­suchung der Sor­ber­wen­den habe ich in einem sep­a­rat­en Beitrag schon genü­gend geschrieben

Michael W. Austin, Peter Reichen­bach (Hrsg.): Die Philoso­phie des Laufens. Ham­burg: mairisch 2015. 197 Seit­en.

Auch zu diesem trotz des ver­heißungsvollen Titels eher ent­täuschen­den Buch gibt es nebe­nan im Bewe­gungs­blog schon aus­re­ichende Aus­führun­gen, die ich hier nicht noch ein­mal wieder­holen muss.

außer­dem gele­sen:

  • Katha­ri­na Schul­tens: Geld. Eine Abrech­nung mit pri­vat­en Ressourcen. Berlin: Ver­lagshaus Berlin 2015 (Edi­tion Poet­i­con 11). 48 Seit­en.
  • Poet #20
  • Edit #68
  • SpritZ #217
  • Schreib­heft #68
  • Mütze #11