Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Aus-Lese #32

Jan Keupp, Jörg Schwarz: Kon­stanz 1414–1418. Eine Stadt und ihr Konzil. Darm­stadt: Wis­senschaftliche Buchge­sellschaft 2013. 213 Seit­en.

keupp-schwarz_konstanzEine — vor allem im ersten Teil von Jörg Schwarz — sehr gut zu lesende Darstel­lung für Nicht-Experten des späten Mit­te­lal­ters. Die erste Hälfte befasst sich mit dem eigentlichen Konzil, der Auflö­sung des großen abendländis­chen Schis­mas, bei dem aus drei Päp­sten wieder ein­er wurde und neben­bei unter anderem noch Jan Hus ver­bran­nt wurde. Das ist solide gemacht, geht aber naturgemäß nicht allzu sehr in die Tiefe. Im zweit­en Teil geht es dann in der Darstel­lung von Jan Keupp um Kon­stanz selb­st: Die Stadt, ihre Bürg­er, ihre Poli­tik, ihre Wirtschaft. Das franst dann ein biss­chen aus, der The­men­strauß wird arg bunt und es wirkt etwas ober­fläch­lich und zufäl­lig, die stärkere Kohärenz des ersten Teils wird nicht mehr erre­icht. Das ist weniger ein Prob­lem von Keupp, auch wenn er nicht ganz so ein guter Erzäh­ler ist wie Schwarz (der manch­mal freilich arg sug­ges­tiv schreibt), son­dern eines der Sache — die ist ein­fach so vielfältig, dass sie nur durch den Ort der Über­liefer­ung — Kon­stanz eben — zusam­menge­hal­ten wird. Durch reich­haltige Quel­len­z­i­tate (meist über­set­zt), vor allem aus den Rats- und Gericht­sak­ten, wird das recht lebendig. Lei­der ist aber über­haupt kein Zitat nachgewiesen — das finde ich dann doch immer schade, weil es die Benutzbarkeit natür­lich enorm ein­schränkt.

Pierre Bertaux: Hölder­lin und die Franzö­sis­che Rev­o­lu­tion. Frank­furt am Main: Suhrkamp 1969. 188 Seit­en.

bertaux, hölderlinEin Klas­sik­er der Hölder­lin-Forschung, der zu sein­er Zeit, bei seinem ersten Erscheinen, ziem­lich für Aufruhr sorgte. Denn Bertaux geht es darum, zu zeigen, dass Hölder­lin Jakobin­er — also Anhänger der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion war — und, das ist das wichtige an seinem Buch, dass sich das auch in der Dich­tung Hölder­lins nieder­schlägt. Den ersten Punkt kann ich gut nachvol­lziehen, beim zweit­en wird es schwierig, da scheint mir Bertaux’ Lek­türe von Hölder­lins Lyrik als ver­schlüs­sel­ter Code, der seine poli­tis­che Botschaft ver­steckt, zu ein­seit­ig und etwas übers Ziel hin­aus zu schießen. Let­ztlich ste­ht aber auch recht wenig zu konkreten Werken Hölder­lins drin — dafür entwick­elt Bertaux mit viel Mühe ein bre­ites Panora­ma der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion und vor allem ihrer Rezep­tion in Deutsch­land und beson­ders in Tübin­gen und Schwaben, das weit, sehr, sehr weit über Hölder­lin hin­aus geht, aber ander­er­seits zum konkreten Gegen­stand der Unter­suchung eben auch nur bed­ingt etwas beiträgt.

Worauf es ankam, war, an einem Beispiel zu zeigen, daß die »poli­tis­che« Inter­pre­ta­tion der Dich­tung Hölder­lins auch — und nicht zulet­zt — einen gülti­gen Beitrag zu einem besseren Ver­ständ­nis leis­ten kann und diese Dich­tung wieder aufleben läßt in ihrer Aktu­al­ität, als laufend­en Kom­men­tar zum Prob­lem der Rev­o­lu­tion und des Mannes im Zeital­ter der Rev­o­lu­tio­nen. (138)/

Oswald Egger: Tag und Nacht sind zwei Jahre. Kalen­dergedichte. Warm­bronn: Ulrich Keich­er 2006. 31 Seit­en.

Egger, Tag und NachtKalen­dergedichte? Wirk­lich? Das würde mich bei einem Autor wie Oswald Egger allerd­ings über­raschen. Und natür­lich ist das wed­er Kalen­der noch Gedicht — zumin­d­est nach herkömm­lichem Ver­ständ­nis. Aber das zählte für Egger ja (noch) nie. Ein ander­er, ein neuer Gang durch’s (Natur-)Jahr hat er hier aufgeschrieben — Men­schen kom­men nicht vor (nur das „ich“, das aber dur­chaus häu­fig), höch­stens ihre Arte­fak­te wie die „Fahrstraße“ (14), die Wege etc, die in der Natur liegen – ein Jahres­reigen, wirk­lich ein Reigen. Hier kann man sehen, was passiert, wenn sich ein Sprach­meis­ter und ‑magi­er wie Egger der Natur annimmt: Ihren Erschei­n­un­gen und ihrem Erklin­gen. Das ist — wie immer — phan­tastisch: Kaum jemand kann Sprache so magisch und kraftvoll ver­for­men wie Egger — und damit Bilder und Töne evozieren, die nor­male Sätze oder Wörter nicht aufrufen kön­nen: Die sind zu schwach, zu aus­ge­laugt, zu abgenutzt, sie tre­f­fen das einzi­gar­tige, beson­dere des jew­eili­gen Moments nicht — und deshalb gibt’s halt Neues. Das hat immer etwas von einem Aben­teuer: Man weiß wed­er, wo der Satz einen hin­führt, noch, was der näch­ste Satz, die näch­ste Seite/Doppelseite (ein „Gedicht“) bringt.

[…] wie far­big flam­mendere Träume / schreck­ten diese hier, kalbend­sten sel­ban­der, als Vögel / im Fieber­schlaf erstar­rt, und floureszieren etwas (wie nichts) /| auf Gran­it, die wie Por­phyrpflaster­plat­ten der Zufluß-Gneise / schiefer­n­der Wege, alles Fir­ma­ment verbleite licht­grau und / betrübt sich richtig — (richtig)? (2f.)
Moni­ka Rinck: Helle Ver­wirrung. Gedichte — Rincks Ding- und Tier­leben. Texte & Zeich­nun­gen. Idstein: kook­books 2009. 139 Seit­en.

rinck, helle verwirrungGle­ich zwei Büch­er auf ein­mal hier. Aber zwei ganz ver­schiedene Seit­en von Moni­ka Rinck. In Helle Ver­wirrung die “nor­male” Lyrik­erin, in Rincks Ding- und Tier­leben die Zeich­ner­in von kuriosen Din­gen. Aber Rinck hat ja sowieso Auge und Ohr für das Ungewöhn­liche, das Kuriose — etwas im “Begriff­sstu­dio”. Das schlägt sich vor allem in den küh­nen Bildern der Hellen Ver­wirrung nieder — und in den starken Titel der Gedichte, die — sel­ten genug — wirk­liche Titel sind: „erschöpfte konzepte: die liebe“, „immer nie“ …
Und allein der Quit­ten-Zyk­lus ist mit seinen phan­tastis­chen, vielfälti­gen und vol­lkom­men über­raschen­den Bildern den Band schon wert.

Weniger kon­nte ich dage­gen mit dem Ding- und Tier­leben anfan­gen: Das ist sehr spielerisch und humoris­tisch, mit Lust an Kon­tradik­tio­nen und Null-Sinn und dem sprach­lichen extem­po­ri­eren. Aber einen recht­en Zugang habe ich dazu nicht gefun­den.

Mein Lieblingsz­i­tat:

in jedem buch gibt es zeilen, die man gar nicht lesen darf. (14)

Schöne Stellen gibt es aber unendlich viele. Zitierenswert erschien mir auch noch das hier — vielle­icht gibt das ja einen Ein­druck, warum ich das so gern gele­sen habe:

das fand für dich auf der gren­ze statt, die meis­ten dein­er gäste / haben sich entsch­ieden für: nor­mal­ität. ein­sam waren sie trotz­dem. (16)/

Oswald Egger: Deutsch­er sein. Warm­bronn: Ulrich Keich­er 2013 (Rei­he Lit­er­aturhaus Stuttgart 4). 28 Seit­en.

Egger, Deutscher-seinEin klein­er, bei Keich­er sorgsam gedruck­ter Essay über die deutsche Sprache, ihre Struk­tur und ihren Laut, ihre Möglichkeit­en und Schwierigkeit­en. Zugle­ich geht es, der Titel ver­rät es ja, auch um die Möglichkeit­en und Beschw­ernisse, Deutsch­er zu sein. Dieses Sein scheint sich aber — für Egger ja nicht beson­ders ver­wun­der­lich — vor allem oder haupt­säch­lich in der Sprache abzus­pie­len und zu entwick­eln. Deswe­gen geht es also auch um solche Erleb­nisse wie den “Schmuggel” von Sinn und Bedeu­tung in Wörter, Sätze und Texte. Oder um Klang und Musik, Lieder und Melos des Deutschen — vor allem natür­lich des “Deutsch­land­sliedes”, der Nation­al­hymne. The­men sind außer­dem: Der Umgang “der Deutschen” — und ihrer Dichter — mit ihrer Sprache und den ihr innewohnen­den Möglichkeit­en. In An- und Halb­sätzen zeigen sich dabei auch einige Bausteine der Poet­ik Eggers — näm­lich eben in seinem Ver­ständ­nis der Sprache, die wohl etwas sehr offenes und flu­ides ist.

da gabelt sich die Gabe der Sprache in irrwis­che Wün­schel, durch und durch die Gegend ohne Gegen­stand als ein eingepeitschter Schlingerkreisel im ergat­terten Mis­chmasch (5)

Oswald Egger: Nichts, das ist. Frank­furt am Main: Suhrkamp 2001. 160 Seit­en.

egger, nichts das istAußer­dem noch diesen drit­ten Egger gele­sen. Aber da sehe ich mich außer­stande, etwas halb­wegs kluges dazu zu sagen …

In den Gedicht­en oder 200 Strophen/4‑Zeiler mit angehängter/überlagerter Poet­ik & Sprachkri­tik & Sprach­suche im poet­is­chen Modus steckt — so viel merke ich schon beim ersten Lesen — unheim­lich viel drin. Hyper­kom­plex gibt sich das, vielle­icht ist das aber auch nur gefakt? Beim (ersten) Lesen bleiben eigentlich nur Sin­n­fet­zen, Assozi­a­tio­nen, Klänge, Klang­wortrei­hen und ‑entwick­lun­gen — aber davon so viel, dass es die Lek­türe lohnt. Die 3–5fache Par­al­lelität des Textes (der Texte? — was ist hier über­haupt “der” Text? und was machen die Zeichnungen/Grafiken da drin?), hor­i­zon­tal und ver­tikal auf den Seit­en, vom Kolum­nen­ti­tel oben bis zum unteren Rand, über­haupt das per­ma­nente Überkreuzen und Queren — von Sinn, von Einheit(en), von Text und Sprache machen schon eine “nor­male” Lek­türe unmöglich — ein “Ver­ste­hen” erst recht. Immer neue Ansätze scheinen sich hier aufzu­tun, Iter­a­tio­nen vielle­icht auch, oder Bohrun­gen in der Art von Ver­suchen mit offen­em Aus­gang: kein fes­ter BOden, kein festes/dauerndes Ergeb­nis ist das einzig Ergeb­nishafte, was die Lek­türe ergibt.

Zwei Beispiel­seit­en — beina­he zufäl­lig aus­gewählt ;-) — mögen das illus­tri­eren:
egger, nichts das ist, 18

egger, nichts das ist, 48

Scott Jurek with Steve Fried­man: Eat & Run. My unlike­ly Jour­ney to Ultra­ma­rathon Great­ness. Lon­don u.a.: Blooms­bury 2012. 260 Seit­en.

Ist das ein Lauf­buch? Der Autor­name lässt es ver­muten: Scott Jurek ist ein­er der großen Ultra­läufer. Aber Eat & Run — der Titel ver­rät es ja schon — dreht sich nicht nur ums Laufen. Im Gegen­teil: Über weite Streck­en geht es vor allem ums Essen. Nicht ohne Grund ste­ht das im Titel vorne. Und zwar um das richtige Essen — näm­lich die veg­ane Ernährung. Jurek schildert aus­führlich seinen Weg von der “nor­malen” amerikanis­chen Kost des mit­tleren West­ens zur veg­an­is­chen Ernährung. Das geschieht bei ihm vor allem aus (schein­bar) gesund­heitlichen Grün­den und weil er meint zu beobacht­en, dass er sich damit bess­er fühlt. Zugle­ich pla­gen ihn aber auch lange und immer wieder die Zweifel, ob er mit veg­a­nen Lebens­mit­teln aus­ge­wogen, gesund und in allen Bere­ichen aus­re­ichend genährt ist, um Ultras zu laufen.

So recht warm gewor­den bin ich mit Eat & Run aber nicht. Obwohl ich die Leis­tun­gen Jureks sehr schätze, blieb mir seine Hal­tung zum Laufen, wie sie sich hier zeigt, ein­fach fremd. Mehr dazu ste­ht in meinem Lauf­blog: klick.

span style=“font-variant: small-caps”>Werner Laub­sch­er: Win­ter­reise. Win­ter­sprache. Annweil­er: Thomas Plöger 1989. 58 Seit­en.

laubscher, winterreiseDarauf bin ich nur zufäl­lig durch einen Beitrag in der Poet #15 gekom­men. Zunächst mal ist das ein schönes Buch, auch die Her­stel­lung ist ein Teil des Kunst­werks: Tra­di­tioneller Bleisatz, feines Papi­er (unaufgeschnit­ten und deswe­gen dop­pelt — so wird aus 58 Seit­en ein Buch), lebendi­ger Druck, schön­er Ein­band, dazu die far­bigen Bilder Laub­sch­ers — so macht man Büch­er.

Wil­helm Müllers Win­ter­reise — oder wohl doch eher Schu­berts Liedzyk­lus — dient Laub­sch­er als Anre­gung und Aus­gangspunkt für seine kleinen Gedichte. Die haben etwas von Preziosen: Fein und feinsin­nig beobachtet, sehr klug und sehr sprachge­wandt, auch sehr geschlif­f­en und fest, über­haupt nicht spielerisch. Teil­weise funk­tion­ieren sie als Über­schrei­bung: Einzelne Worte und Sätze aus dem “Orig­i­nal” sind als Zitate und Ankläge eingear­beit­et — sehr dicht, fast naht­los fügen sie sich in Laub­sch­ers wesentlich mod­erneren (wenn auch nicht avant­gardis­tis­chen) Ton ein, der es trotz sein­er Moder­nität schafft, ver­gle­ich­sweise zeit­los zu bleiben. Ziem­lich düster, grau und trau­rig ist diese Win­ter­welt hier. Aber, und das macht es lesenswert, es sind ganz viele Graus. Vielle­icht kön­nte man sagen, dass Laub­sch­er hier die Müller­sche Win­ter­reise über­bi­etet: Mit mehr Real­is­mus und zugle­ich mehr poet­is­ch­er Entrück­ung geht das weit­er als die roman­tis­chen Urgedichte. Und bleibt dabei ander­er­seits auch doch sehr zurück­hal­tend — arg bre­it ist das the­ma­tis­che Feld nicht. Das macht aber nicht, weil es handw­erk­lich sehr geschickt — etwa in der Ver­ket­tung der einzel­nen Gedichte — und dur­chaus fein gemacht ist: (Be)rührend sind hier viele der Gedichte, emo­tion­al durch oder in ihrer Kun­st­fer­tigkeit.

Eines mein­er Lieblings­gedichte aus dem titel­geben­den Zyk­lus ist das auf Seite 19:
laubscher_19

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  1. matthias mader (@matthias_mader)

    Frisch geblog­gt: Aus-Lese #32 > http://t.co/vfo4V61Ljo

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