Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: cd

Verspäteter Glückwunsch: Johann Christian Heinrich Rinck zum 250. Geburtstag

2020 war ein großes Beethoven-Jahr, zumin­d­est irgend­wie — so richtig hat der 250. Geburt­stag nicht gezün­det, scheint mir. Und das lag ver­mut­lich nicht nur an den Ein­schränkun­gen der Konz­ert­tätigkeit­en durch Coro­na, son­dern meines Eracht­ens auch daran, dass Beethoven sowieso immer mehr als genug da und präsent ist.

Rinck, Orgelwerke (Cover)

Das ist ist bei Johann Chris­t­ian Hein­rich Rinck ganz anders. Der ist aus dem öffentlichen (Musik)Leben weit­ge­hend kom­plett ver­schwun­den. Organist*innen soll­ten ihn allerd­ings noch ken­nen. Ich zumin­d­est spiele sog­ar ab und an kleinere Sachen von ihm. Den 250. Geburt­stag des Darm­städter Kom­pon­is­ten und Kirchen­musik­ers habe ich im let­zten Jahr aber auch über­haupt nicht reg­istiert. Mit etwas Ver­spä­tung kon­nte die Hochschule für Musik der Johannes-Guten­berg-Uni­ver­sität Mainz mir da jet­zt auf die Sprünge helfen. Deren Orgelk­lasse von Ger­hard Gnann hat näm­lich im Jubiläum­s­jahr eine sehr gelun­gene Dop­pel-CD als eine Art Hom­mage an Rinck pro­duziert. Zusam­men mit der Rinck-Gesellschaft haben die jun­gen Organist*innen und ihr Lehrer eine wirk­lich schöne Zusam­men­stel­lung aufgenom­men, die einen guten Ein­blick in das kom­pos­i­torische Schaf­fen Rincks bietet: Von den dur­chaus zeit­genös­sisch beliebten Orgelkonz­erten über größere Vari­a­tion­szyklen zu kleinen, eher gebrauchsmusikalisch isnpiri­erten Ton­stück­en bildet die Pro­duk­tion eine große Band­bre­ite ab.

Ein wesentlich­es Ele­ment des Gelin­gens ist die genutzte Orgel: Die Drey­mann-Orgel von 1837 in St. Ignaz in der Mainz­er Alt­stadt. In mein­er Mainz­er Zeit habe ich die nicht ken­nen­gel­ernt oder zumin­d­est nicht bewusst wahrgenom­men — wenn ich mich richtig erin­nere, war das größeren Arbeit­en an und in der Kirche geschuldet. Inzwis­chen wurde die Orgel auch umfassend restau­ri­ert. Und für mich zufäl­liger­weise zeitlich genau passend auch in der aktuellen Aus­gabe der Ars Organi (Jg. 69, Heft 1, S. 46–50) beschrieben. Das Instru­ment, das von Rinck selb­st als Neubau abgenom­men und sehr geschätzt wurde, kommt auf der Auf­nahme gut zur Gel­tung: Die klaren, präg­nan­ten Bässe vor allem des Posaunen­bass­es sind wun­der­bar präg­nant und sauber, aber auch die war­men — und teil­weise sehr leise und san­ften Grund­stim­men klin­gen auf der Auf­nahme sehr authen­tisch. Und die fienen Ober­stim­men und glänzen­den Mix­turen krö­nen das sehr schön, ohne zu dominieren.

Die einge­spiel­ten Werke — teil­weise aus Auto­graphen bzw. eigens ange­fer­tigten Abschriften — bieten, wie gesagt, eine schöne Gele­gen­heit, Rincks Kom­po­si­tion­sstil genau­so ken­nen­zuler­nen wie diese faszinierende Orgel. Rinck hat ja eine ganz eigene Verbindung von (spät-)barocken Tech­niken, die ger­ade auf den Orgeln ja dur­chaus noch lange fortleben, mit eigentlich eher klas­sis­chen Ele­menten (und zeitweise frühro­man­tis­chen Anklän­gen) geschaf­fen. Das erre­icht sich­er nicht immer Beethovens Tiefe (aber das machen Beethovens Werke ja auch nicht immer), ist aber mehr als nur gefäl­lige Gele­gen­heitsmusik: Dem genaueren Hören eröff­nen sich da dur­chaus immer wieder span­nende Ideen, neue Kom­bi­na­tio­nen und vor allem gelun­gene Ein­fälle. Und das alles zuam­men macht ein­fach Freude!

Johann Chris­t­ian Hein­rich Rinck: Orgel­w­erke. Studierende der Abteilung Kirchenmusik/Orgel der Hochschule für Musik an der Johannes Guten­berg-Uni­ver­sität Mainz spie­len an der Drey­mann-Orgel (1837) in St. Ignaz, Mainz. Coviel­lo Clas­sics COV 92101, 2020. 114:02 Minuten.
vorderseite der verpackten cd

Verpackte Musik

So gestal­tet man heute eine CD-Ver­pack­ung (ja, die gibt es noch …). Zumin­d­est kann man es tun, wenn man die richti­gen Leute zur Hand hat:


Es han­delt sich übri­gens um das vorzügliche, inten­sive und span­nende Album “Lover” des Carate Urio Orches­tra.

Ins Netz gegangen (21.7.)

Ins Netz gegan­gen am 21.7.:

  • Zeit­genös­sis­che Oper: “Aua, aua – Schme-e-erzen!” | ZEIT ONLINE — christi­nen lemke-matwey reka­pit­uliert die opern-urauf­führun­gen der let­zten monate — und die sit­u­a­tion des zeit­genös­sis­chen musik­the­aters über­haupt:

    Die Oper bleibt, was sie immer war, träge, kuli­nar­isch, teuer, selb­stver­liebt – und die Kom­pon­is­ten, auch die, die ihr abgeschworen haben, ver­sam­meln sich halb reumütig, halb blauäugig in ihrem war­men Schoß.

    nicht ohne hoff­nung, aber so richtig begeis­tert scheint sie auch nicht zu sein — und auch keine idee zu haben, was eine (neue) begeis­terung aus­lösen kön­nte:

    Man mag es schlimm find­en oder nicht, wenn die Men­schen nicht mehr in Mozarts Zauber­flöte oder Bizets Car­men gin­gen; richtig schlimm, ja ver­heerend wäre es, wenn es keine rit­uellen Orte mehr gäbe, an denen sich eine Gemein­schaft über ihre Emo­tio­nen und Affek­te ver­ständigte, ohne immer gle­ich darüber reden zu müssen, ein­er Sek­te beizutreten oder ins näch­ste Fußball­sta­dion zu ren­nen. Orte für Musik, Orte für Augen, Ohren und Sinne, Opern­häuser eben.

    (ich wüsste ja nur gern ein­mal, ob das wirk­lich stimmt, dass “derzeit so viele [neue Stücke] wie noch nie” entste­hen — zahlen und ver­gle­iche nen­nt sie lei­der keine …)

  • Uwe John­son: Daheim in der Par­al­lel­welt | ZEIT ONLINE — jan brandt schießt in sein­er begeis­terung für uwe john­son, der gestern 80 jahre alt gewor­den wäre, ein wenig übers ziel hin­aus:

    Dabei war John­son der inno­v­a­tivste, radikalste, man­is­chste deutsche Nachkriegsautor.

    trotz­dem aber eine gelun­gene und richtige und notwendi­ge hom­mage an einen großen autor

  • Klas­sen­ge­sellschaft: Standes­gemäß | Kar­riere | ZEIT ONLINE — die “Zeit” zeigt schöne und inter­es­sante (porträt-)fotos aus der weimar­er repub­lik:

    Der Fotograf August Sander hat die Stän­dege­sellschaft der Weimar­er Repub­lik porträtiert. Er fotografierte die Men­schen in ihrer typ­is­chen Umge­bung, mit charak­ter­is­tis­ch­er Klei­dung oder in typ­is­ch­er Hal­tung.

    (von “Stän­dege­sellschaft” würde ich zwar nicht sprechen, aber seis drum …)

  • IASLon­line NetArt: Geschichte der Com­put­erkun­st Inhaltsverze­ich­nis — thomas dreher hat eine “Geschichte der Com­put­erkun­st” geschrieben und passend im netz veröf­fentlicht:

    Nach fünf Jahrzehn­ten Com­put­erkun­st sind aus­führlichere Rekon­struk­tio­nen der his­torischen Entwick­lungslin­ien des Ein­satzes von Rech­n­ern und Rechen­prozessen in kün­st­lerischen Pro­jek­ten fäl­lig, um Com­put­erkun­st als eigen­ständi­gen Bere­ich der Medi­enkun­st erken­nen zu kön­nen.

  • Kolumne Luft und Liebe: So crazy wie gold­ene Leg­gins — taz.de -

    Nein, ver­mut­lich hil­ft die „x“-Endung nicht im Nahostkon­flikt. Vielle­icht löst sie über­haupt ganz wenig und wird schon bald durch irgend­was mit „y“ abgelöst. Men­schen, die sich an Babyspinat-Man­gold-Smooth­ies gewöh­nen, wer­den sich mit der Zeit auch an neue Sprach­for­men gewöh­nen. Men­schen, die ver­suchen, ein­er Wis­senschaft­lerin zu erk­lären, was sie vor geschätzten 37 Jahren in der Schule gel­ernt haben, von jeman­dem, der 20 Jahre vorher Biolo­gie auf Lehramt studiert hat: schwierig.

  • Sym­bol­ge­halt ǀ Wir sind wieder wer anders — der Fre­itag — georg seeßlen über fußball, poli­tik, nation, sym­bol und ver­w­er­tungszusam­men­hänge:

    Ein Fußball­spiel hat keine poli­tis­che Botschaft, so wenig wie die Frisur eines Bun­de­strain­ers einen kul­turgeschichtlichen Wen­depunkt markiert. Die poli­tis­che Metaphorik wird erst danach pro­duziert. Je nach Bedarf. Je nach Inter­esse. Je nach Ein­fluss. Wie schön wäre es, wieder ein­mal sagen zu kön­nen, gewon­nen hät­ten ein­fach diejeni­gen, die an dem ein oder anderen Tag am besten Fußball gespielt haben. Ein schönes Spiel sei ein schönes Spiel. Und son­st nichts. Aber das ist eben das Kreuz mit den Real­itätsmod­ellen. Sie ver­lieren ihre eigene Real­ität. Wie viel Wahrheit ist noch auf dem Platz, wenn die Macht der Inszena­toren und Prof­i­teure ins Uner­messliche geht?

  • Berlin­er Phil­har­moniker Record­ings: Im Leinen-Schmuck­pack samt Blu-ray | Musik — Berlin­er Zeitung — Inter­es­sant, wie tiefge­hend man Klas­sikkri­tik­er mit ein­er außergewöhn­lichen CD-Ver­pack­ung irri­tieren & ver­stören kann

Franz Liszt lebt

Jubiläen sind wohl nir­gends so wichtig wie in der Musik­branche. Zu jedem halb­wegs run­den Todes- und Geburt­stag wer­den die Pro­gramme geän­dert, jed­er meint, unbe­d­ingt etwas passendes aufzuführen (natür­lich aber nur, wenn es um “große” Kom­pon­is­ten geht). In die Kat­e­gorie “Jubiläumshype” passt auf den ersten Blick auch “The Liszt Project”, wie die Dop­pel-CD, die Pierre-Lau­rent Aimard — immer­hin ein­er mein­er allzeit-Lieblingspi­anis­ten — im Früh­jahr für die Deutsche Gram­mophon aufgenom­men hat.1 Aber diese zwei CDs erheben sich aus der Masse der Pflicht-Erin­nun­gen. Aus einem Grund: Pierre-Lau­rent Aimard. Der hat näm­lich (natür­lich) nicht ein­fach ein paar bekan­nte Liszt-Werke zusam­menge­sucht und aufgenom­men. Nein, er macht etwas anderes — etwas besseres: Er kon­fron­tiert einige, wenige aus­gewählte Liszt-Kom­po­si­tio­nen mit ganz viel ander­er Musik: Mit Wag­n­er (Klavier­son­ate As-Dur), mit Scri­abin und Rav­el, aber auch mit Bartók, Berg, Mes­si­aen und dem 1959 gebore­nen Mar­co Strop­pa. Und das hat ganz viel Sinn und Bedeu­tung — son­st würde er es ja nicht machen. Vor allem aber: Diese Kon­fronta­tion stellt Liszt in ganz ver­schiedene Tra­di­tion­szusam­men­hänge, zeigt — auch uner­wartete — Beziehun­gen. Und ergibt ein wun­der­bares Ganzes. Das Pro­gramm ist also — schon auf dem Papi­er — überzeu­gend. Aber das ist nicht alles.

Ich bin jeden­falls ger­ade total begeis­tert und fasziniert von dieser CD: Wahrschein­lich ist das in der Summe und im Detail eine der besten Klavier-CDs, die ich kenne (und besitze). Allein schon wegen der grandiosen Auf­nah­me­tech­nik, die dem Flügel eine unver­gle­ich­liche Präsenz ver­schafft,2 eine grandiose Detailau­flö­sung (auch im räum­lichen — jed­er Ton hat seinen eige­nen Platz!) hören lässt und ein­fach verblüf­fend real­is­tisch klingt.

Vor allem ist die CD aber großar­tig, weil sie musikalisch begeis­tert. Und das liegt, wenn man es auf den Punkt brin­gen will, an der lebendi­gen Genauigkeit, mit der Pierre-Lau­rent Aimard arbeit­et (spie­len mag das kaum nen­nen). Ger­ade die Vernüp­fung von unge­heuer detail­ver­liebter Genauigkeit, die wirk­lich an jedem Ton bis zur Ver­vol­lkomm­nung arbeit­et, mit der agogis­chen und phrasieren­den Lebendigkeit ist Aimards Marken­ze­ichen.3

Immer wieder fasziniert mich ja seine Fähigkeit, nicht nur die for­male Gestal­tung sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene vol­lkomen im Blick zu haben, son­dern vor allem seine unmen­schlich genaue klan­gliche Dif­feren­zierung (und ihre Diszi­plin­ierung), mit der er das Ton wer­den lässt.

Ein paar High­lights bish­er: Unbe­d­ingt die vitale, fast strahlende Sonate op. 1 von Alban Berg, die trotz ihrer Konzen­tra­tion ganz ungezwun­gen und natür­lich wirkt.

Dann selb­stver­ständlich die h‑moll-Sonate von Liszt selb­st:4 Kein pianis­tis­ches Bravourstück, keine trock­ene For­mübung und auch kein Kampf musikalis­ch­er Charak­tere: Das ist aus­geglichen, aber nie blass; ver­mit­tel­nd, aber alle Seit­en und Aspek­te genau vol­lziehen. Wahrschein­lich ist es ger­ade dieser Aspekt, möglichst viel­seit­ig zu spie­len, möglichst viele Facetten eines Werkes lebendig wer­den zu lassen, ohne einige oder wenige davon zu abso­lu­tieren, der mich hier und bei dem Rest der Auf­nahme so anzieht. Das ist in der Prax­is natür­lich nie ein­fach, weil so eine umfassender Inter­pre­ta­tionsver­such oft reich­lich blass und lang­weilig wirkt und nur den Ein­druck erweckt, der Inter­pre­ta­tion wolle es um jeden Preis ver­mei­den, einen Stand­punkt zu beziehen. Davon kann hier aber keine Rede sein.

Auch die/das (?) “Tan­ga­ta manu” von Mar­co Strop­pa ist beein­druck­end: Diese Musik passt fast naht­los zwis­chen Liszts Vogel­predikt des Franz von Assisi aus den “Année de Pélèri­nage, Band II und den Wasser­spie­len der Vil­la Este (aus Band III). Das ist auch eine Form, mod­erne und zeit­genös­sis­che Musik dem Hör­er nahezubrin­gen — ganz ohne großes didak­tis­ches Klim­bim, son­dern eben ein­fach als Musik, die man als Weit­er­en­twick­lung klassischer/romantischer Mod­elle hören kann.5 Über­haupt ist der zweite Teil/die zweite CD fast ein einziger Klan­grausch, durch­weg auf höch­stem Niveau. Auch Rav­els “Jeux d’eau” sind schlicht grandios.

Was mich (wieder ein­mal) aber ziem­lich abschreckt, ist die Gstal­tung der CD. Abge­se­hen davon, dass sie über­säht ist mit Aufmerk­samkeit­shasch­ern, mit mehrern Aufk­le­bern bek­lebt, ver­steckt sie ger­ade die wichti­gen Infor­ma­tio­nen — näm­lich die Spielfolge — ziem­lich gut. Dafür sind noch ein paar nichtssagende Sätze und über­schwänglich­es Lob draufge­druckt wor­den … Immer­hin, der Kom­pon­is­ten­name ist ein biss­chen größer als der Aimards — auch keine Selb­stver­ständlichkeit, bei vie­len CDs scheint der Inter­pret heute (zumin­d­est typografisch) wichtiger zu sein als der Kom­pon­ist. Dafür aber in ein­er reich­lich selt­samen, eigentlich unapssenden Schrift …

Schade auch, dass die Deutsche Gram­mophon, die doch so stolz auf ihre Tra­di­tion ist, dem kein vernün­ftiges Bei­heft mehr spendiert: Ein klitzek­leines Inter­view mit dem Pianis­ten ist da drin — son­st nichts. Kein­er­lei mehr oder weniger ana­lytis­chen Anmerkun­gen, keine (musik-)historischen Einord­nun­gen, nichts. So kann man das Niveau auch immer wieder unter­bi­eten …

Davon mal abge­se­hen (und das merkt man beim Hören ja glück­licher­weise nicht): Eine CD zum glück­lich Wer­den. Ein­deutig.

The Liszt Project. Pierre-Lau­rent Aimard spielt Bartók, Berg, Mes­si­aen, Rav­el, Scri­abin, Strop­pa, Wag­n­er und Liszt. Deutsche Gram­mophon 2011.

Show 5 foot­notes

  1. Warum das als “Pro­jekt” verkauft wird, ist mir vol­lkom­men unklar — abge­se­hen davon, dass “Pro­jekt” irgend­wie mod­ern und hip klingt (klin­gen soll). Schließlich ist das nichts anderes als die Stu­diover­sion eines erprobten Konz­ert­pro­gramms.
  2. Das ist — obwohl das Klavier ja sozusagen ein Stan­dard­instru­ment ist — alles andere als die Regel!
  3. Seine Auf­nahme der Bach­schen “Kun­st der Fuge” weist — in ganz anderem Zusam­men­hang — eben­falls genau diese Qualität(en) auf.
  4. Sehr sin­nvoll übri­gens auch, die h‑moll-Sonate an den Schluss des ersten Teils zu stellen — das Ende, die let­zten Töne, mit denen auch die erste CD auskling, wirken so ein­fach grandios …
  5. Wobei der Umstand, dass Liszt (nicht nur) hier als fast pro­to-mod­ern­er Kom­pon­ist gezeigt wird, sozusagen die andere Seite dieser Medaille ist.

passionsmusik aus siebenbürgen

Sieben­bür­gen ist nicht ger­ade ein Zen­trum deutsch­er Kirchen­musik. Genauer gesagt, ist es eher ein Zen­trum von gar nichts. Manch­mal sind aber die Rän­der dur­chaus inter­es­san­ter als die Mitte. Etwa, wenn dort bes­timmte Tra­di­tio­nen über­leben, wie zum Beispiel die über lange Zeit weit­ergegebe­nen lokalen Pas­sion­s­musiken. Das sollte man wis­sen, wenn man sich die „Sieben­bür­gis­che Pas­sion­s­musik“ für Chor, Solis­ten und Orgel von Hans Peter Türk anhört. Denn Türk ist ein sieben­bür­gis­ch­er Kom­pon­ist.

Eine neue Matthäus-Pas­sion also, als Fort­führung noch erhal­tener Bräuche – aber den­noch über­haupt nicht bloß bewahrend, son­dern eben weit­er­führend. Denn Türk ist zwar kein Avant­gardist, aber doch – trotz sein­er geo­graphis­chen Rand­lage – als Kom­po­si­tion­spro­fes­sor ein Ken­ner der Entwick­lun­gen und Tech­niken in der Musik. Und zwar nicht nur der Musik der let­zten Jahre. Denn seine „Sieben­bür­gis­che Pas­sion­s­musik“ bedi­ent sich bei For­men und Tech­niken aus eigentlich der ganzen abendländis­chen Musikgeschichte. Das führt zu eini­gen eige­nar­ti­gen und bemerkenswerten Ergeb­nis­sen, die die Ein­spielung mit der Meißn­er Kan­tor­ei 1961 unter Christ­fried Brödel und mit Ursu­la Philip­pi an der Orgel ein­drück­lich vor­führt.
Denn wie immer, wenn sich Bekan­ntes mit Frem­dem, Ver­trautes mit Exo­tis­chem mis­cht, ent­deckt man reilich Neues und Inter­es­santes – in Bei­dem. Der Text bleibt ganz auf ver­trautem Boden, in der Musik entwick­elt der 1940 geborene Sieben­bürge aber einen eige­nen Ton. Dabei ver­traut Türk auf die Worte – und zwar sehr stark. Daraus und damit entwick­elt er eine Musik, die sich dem Hör­er unmit­tel­bar unmit­teilt. Und sie zeigt deut­lich: Hier geht es nicht darum, um jeden Preis außergewöhn­liche Musik zu find­en. Türk strebt offen­bar viel mehr danach, der Pas­sion­serzäh­lung ein zeit­gemäßes musikalis­ches Gewand zu geben, sie aber zuallererst als Erzäh­lung zu ver­ste­hen. Und das kann dann eben auch heißen, sich als Kom­pon­ist extrem zurück­zunehmen. Auch in dieser konzen­tri­erten Form, mit weni­gen Ein­wür­fen, behut­sam unter­mal­en­den Tönen der Orgel etwa gelingt es ihm ohne Weit­eres, starke Kon­traste und nahege­hende Stim­mungen zu ver­mit­teln, span­nende Rez­i­ta­tive zu schreiben, die natür­lich und kun­stvoll zugle­ich wirken. Und vor allem hochgr­a­dig ein­fühlsame, inten­siv vib­ri­erende Choräle, die den wahren Kern dieser Pas­sion­s­musik bilden.

Das ist dann in der Summe eine dur­chaus mod­erne Musik, die ver­ständlich und unbe­d­ingt zugänglich auch für Nicht-Ken­ner der zeit­genös­sis­chen Musik ist. Und eigentlich sog­ar für deren Verächter zu ertra­gen. Gut funk­tion­ierende Kirchen­musik also.

Hans Peter Türk: Sieben­bür­gis­che Pas­sion­s­musik für den Kar­fre­itag nach dem Evan­ge­lis­ten Matthäus für Chor, Solis­ten und Orgel. Ursu­la Philip­pi, Orgel. Meißn­er Kan­tor­ei 1961, Christ­fried Brödel. Musikpro­duk­tion Dabring­haus und Grimm 2009. MDG 902 1554–6.

(geschrieben für die neue chorzeit)

power und einfühlungsvermögen: händels oratorien im querschnitt

Nicht alle Hän­del-Ein­spielun­gen, die jet­zt erscheinen, ver­danken ihre Entste­hung dem Jubiläum des Kom­pon­is­ten. Der Maulbron­ner Kam­mer­chor und sein Leit­er Jür­gen Bud­day etwa beschäfti­gen sich schon länger und sehr erfol­gre­ich mit den großen Ora­to­rien des Meis­ters. Und seit zehn Jahren wer­den ihre Auf­führun­gen von K&K mit­geschnit­ten. Aus diesem reich­halti­gen Mate­r­i­al hat das Label nun, zur Feier des dop­pel­ten Jubiläums sozusagen, eine Auswahl unter dem Titel „The Pow­er of Hän­del“ zusam­mengestellt. Die etwas reißerische Ver­mark­tung verzei­ht man gerne – denn „out­stand­ing“ sind sie wirk­lich, diese aus­gewählten Soli und Chöre. Und „Pow­er of Hän­del“ heißt das ganze Unternehmen zu recht. Denn was immer wieder sofort auf­fällt, ist die immense Kraft, die Bud­day und seine Mit­stre­it­er in der Musik zum Leben erweck­en. Das liegt beileibe nicht nur an den fast durch­weg zügig bis ras­an­ten Tem­pi. Eine Freude ist es aber schon, zu hören, wie präzise der Maulbron­ner Kam­mer­chor auch bei hohem Tem­po bleibt, wie rasch die Sänger – immer­hin keine Profis! — reagieren und wie wendig sie in Klang und Aus­druck bleiben.

Klarheit, Präg­nanz und pointierte Aus­drucksstärke gehen eine aus­ge­sprochen frucht­bare Allianz ein. Und dass hier fed­ernd und spritzig gesun­gen wird – mit Freude und Esprit aller Beteiligten – das hört man eben in fast jedem Moment. Und man hört es gerne, zumal auch die Auf­nahme atmo­sphärisch gelun­gen ist.

The Pow­er of Hän­del. Best of his glo­ri­ous Ora­to­rios. Solis­ten, Maulbron­ner Kam­mer­chor, Jür­gen Bud­day. KuK 44, 2008.

(geschrieben für die neue chorzeit)

an die sterne. schumanns weltliche chormusik

An die Sterne“ ist die erste CD mit Robert Schu­manns weltlich­er Chor­musik betitelt, die das Orpheus Vokalensem­ble unter Cary Graden bei Carus vorgelegt hat. Ganz reichen die Sänger aber nicht ans Fir­ma­ment. Das 2005 gegrün­dete Orpheus-Vokalensem­ble, dessen erste Auf­nahme diese CD ist, überzeugt näm­lich nur bed­ingt. Störend wirken sich nicht nur das fast per­ma­nentes Übergewicht der Frauen­stim­men und die teil­weise auf­fal­l­end mit­telmäßige tech­nis­che Präzi­sion aus, irri­tieren­der sind vor allem an der Man­gel an Klangdif­feren­zierung und Charis­ma. Dabei ist es ja wirk­lich nicht so, dass Schu­manns Chöre fade Kost sind. Die „Fünf Lieder“ op. 55 (auf Gedichte von Robert Burns) sind zum Beispiel ganz aus­geze­ich­nete kleine Kost­barkeit­en. Und hier zeigt dass Orpheus-Vokalensem­ble auch, dass es dur­chaus fähig ist: Diese fünf Lieder sind wirk­liche kleine glitzernde Sterne.

Und musikalis­ches Ein­füh­lungsver­mö­gen beweist der Chor unter Gary Graden (und auch der beglei­t­ende Pianist, Kon­rad Elser) immer wieder in über­raschen­dem Maße – das macht vieles wett. Es ist aber schon auf­fal­l­end, dass ger­ade die getra­ge­nen, langsamen Lieder (fast) immer bess­er sind als die bewegten, mehr Gespür für Atmo­sphäre und Klangsinn ver­rrat­en. Und je kom­plex­er die Kom­po­si­tio­nen wer­den, desto bess­er wird auch der Chor — wie die beson­ders plas­tis­che Inter­pre­ta­tion der „Vier dop­pelchöri­gen Gesänge“ op. 141 sehr deut­lich zeigt. Ger­ade der Wech­sel zwis­chen aus­ge­sprochen kun­stvollen Chorsätzen und volk­slied­haft ein­fachen Chor­liedern, der die ganze Band­bre­ite des cho­rischen Werkes Schu­manns aufzeigt, macht aber den beson­deren Reiz dieser Samm­lung aus.

Robert Schu­mann: An die Sterne. Weltliche Chor­musik I. Orpheus-Vokalensem­ble. Kon­rad Elser, Klavier. Leitung. Gary Graden. Carus 83.173.

(geschrieben für die Neue Chorzeit, jan­u­ar 2008)

franz lachner: requiem f‑moll op. 146

Fast das ganze 19. Jahrhun­dert hat er durch­lebt, von der Beethoven- und Schu­bert-Zeit bis zum Wag­n­er-Wahn. Aber nicht nur biographisch ist Franz Lach­n­er fest in diesem Zen­te­nar­i­um ver­ankert. Auch seine Musik ist unbe­d­ingt, mit jed­er Fas­er ihres Wesens, ihm ver­bun­den. Dazu gehört auch die Verpflanzung der Kirchen­musik in den Konz­ert­saals: Sein Requiem f‑Moll op. 146 hat er auss­chließlich außer­halb des Gotte­shaus­es aufge­führt. Es ist auch unbe­d­ingt ein sin­fonis­che gedacht­es und grundiertes Werk – zugle­ich aber auch (noch) eine nach­den­kliche, leise Toten­feier. Ger­ade diese Verbindung macht den Reiz des Requiems aus, das jet­zt in ein­er Wel­ter­stein­spielung mit Chor und Orch­ester der Kam­mer­solis­ten Augs­burg unter Her­mann Mey­er vor­liegt.

Die Musik­er kehren allerd­ings die sach­lichen, nüchter­nen Aspek­te vielle­icht etwas zu sehr her­vor: Ger­ade Abschnit­ten wie dem grandios-mitreißen­den „Dies irae“ fehlt es doch an Pathos und großer Geste. Dafür gibt es aber reich­lich Entschädi­gung: Die Toten­messe hat in dieser Auf­nahme viel Dri­ve und schwungvolle Frische – jedes biss­chen Schwulst wird mit dem Pathos eben auch radikal aus­ge­merzt. Chor und Solis­ten sind alle­samt aus­ge­sprochen solide Musik­er. Nur scheint die Angst, sich dem Gefühl hinzugeben, eben manch­mal über­hand zu nehmen. Denn Lach­n­ers Requiem hat unendlich viele wun­der­schöne Stellen, die genau das erfordern: Viel Gefühl. Trotz­dem hat auch diese Auf­nahme wun­der­bare Seit­en. Etwa das her­rliche Lac­rimosa mit den Fig­u­ra­tio­nen der Solo-Vio­la: ein echt­es Schmuck­stück, ein reines Vergnü­gen. Oder das weit aus­holende, himm­lis­che ruhe ver­strö­mende Sanc­tus. Auch das ist hier, auf dieser CD, ein­fach her­rlich anzuhören.

Franz Lach­n­er: Requiem in f‑Moll op. 146. Kam­mer­solis­ten Augs­burg, Her­mann Mey­er. Carus 83.178 (CD/SACD)

(geschrieben für die Neue Chorzeit, Jan­u­ar 2008)

“musica sacra” von johann caspar ferdinand fischer

Johann Cas­par Fer­di­nand Fis­ch­er ist heute wohl – wenn über­haupt – vor allem mit sein­er „Ari­adne musi­ca“, ein­er Samm­lung von Orgel­stück­en durch alle Tonarten, bekan­nt. Auch wenn seine Biogra­phie (noch) weit­ge­hend im Dunkeln liegt, eines ist doch sich­er: Er war ein weitaus umfassender­er und kom­plet­ter­er Kom­pon­ist mit einem umfan­gre­ichen Oeu­vre quer durch alle Sparten und Gat­tun­gen als die verkürzende Rezep­tion ver­muten lässt. Als Hofkapellmeis­ter der Ras­tat­ter Hofkapelle über lange Jahre zu Anfang des 18. Jahrhun­derts musste er das auch sein. Aber vor allem seine geistliche Musik ließ er auch schon zu Lebzeit­en immer wieder gedruckt veröf­fentlichen. Eine ganz kleine Auswahl, soviel wie eben auf eine CD passt, aus ver­schiede­nen Quellen und Anlässen hat die heutige Ras­tat­ter Hofkapelle (die natür­lich nichts mehr mit dem ehe­ma­li­gen Fürstenorch­ester zu tun hat) unter Jür­gen Ochs gemein­sam mit dem SWR und dem Carus-Ver­lag, der sich ger­ade um Fis­ch­ers Werke in eini­gen Neuaus­gaben küm­mert, pro­duziert. Durch­weg sehr geschmack­voll ist das gewor­den, unprä­ten­tiös gesun­gen und musiziert – nur so kann sich der schlichte Reiz von Fis­ch­ers Kom­po­si­tio­nen auch wirk­lich ent­fal­ten. Die kleine (aber feine) Beset­zung – der vokale Part wird von einem Dop­pelquar­tett über­nom­men, die Instru­mente sind durch­weg nur solis­tisch beset­zt – trägt wesentlich zur Klarheit dieser Auf­nah­men bei. Nur die Instru­mente erhiel­ten von der Auf­nah­me­tech­nik lei­der nicht die nötige Aufmerk­samkeit.

Die „Mis­sa Sanc­ti Domini­ci“ beweist beson­dere Güte mit ihren knap­pen, aber sehr charak­ter­is­tis­chen Einzel­sätzen, die die Musik­er um Jür­gen Ochs mit hör­barem Vergnü­gen und Engage­ment lebendig wer­den lassen.

Johann Cas­par Fer­di­nand Fis­ch­er: Musi­ca sacra. Ras­tat­ter Hofkapelle. Leitung: Jür­gen Ochs. Carus 2007. 83.172.

(geschrieben für die Neue Chorzeit, März 2008)

györgy kurtágs chorwerke

Das hört sich gewaltig an: Die kom­plet­ten Chor­w­erke von Györ­gy Kurtág hat das SWR Vokalensem­ble Stuttgart unter der Leitung von Mar­cus Creed aufgenom­men. Aber es ist kaum mehr als halbe CD dafür nötig. Denn es sind „nur“ drei Zyklen, die Kurtág fast alle schon Anfang der Achtziger kom­ponierte. Gewaltig ist diese CD aber den­noch – in mehrfach­er Hin­sicht. Denn Kurtágs Chor­w­erke sind fast nie zu hören: Im Konz­ert trauen sich nur wenige Ensem­bles das zu und Auf­nah­men gab es bish­er über­haupt nicht. Und außer­dem ist diese Musik, das lässt sich nicht anders sagen, unbe­d­ingt übe­wälti­gend.
Kurtág, seit jeher bekan­nt für seine hochverdichteten Minia­turen, betreibt mit der Chor­musik eine Forschung im Inneren der Töne. Mit herkömm­lichen Vorstel­lun­gen von Chork­lang hat das wenig zu tun – wie Hans-Peter Jahn im Book­let schreibt, sind diese Zyklen „vokale Kam­mer­musiken, Instru­men­tal­musik für Sänger“. Und ihre Geheimnisse wahren diese Ver­to­nun­gen lange. Dabei verza­ubern sie schon beim ersten Anhören, lassen aber in ihrer extremen Vielschichtigkeit, ihrer extremen Zusam­men­bal­lung und Konzen­tra­tion doch bei jedem wieder­holten Hören immer neue Ent­deck­un­gen und Erken­nt­nisse zu. Das SWR Vokalensem­ble singt das trotz der immensen Anforderun­gen mit höch­ster Präz­sion: sowohl vokaltech­nisch als auch emo­tion­al lässt diese CD keinen Wun­sch unbe­friedigt. Die unheim­liche Ruhe der aufge­fächerten Klänge und genau­so der sel­tene Über­schwung der deshalb nur um so heftigeren drama­tis­chen Aus­brüche – vor allem in den „Liedern der Schw­er­mut und Trauer“ op. 18, mit sorgfältiger, zurück­hal­tender Unter­stützung der Instru­men­tal­is­ten des Ensem­ble Mod­ern – ist hier ein­fach unge­heuer bewe­gende Musik, die direkt unter die Haut geht.

Györ­gy Kurtág: Com­plete Choral Works (Omma­gio a Lui­gi Nono, Eight Cho­rus­es to Poems by Dezsö Tan­dori, Songs of Despair and Sor­row). SWR Vokalensem­ble Stuttgart, Ensem­ble Mod­ern, Leitung: Mar­cus Creed. Hänssler Clas­sic 93.174.

erschienen in der zeitschrift des deutschen chorver­ban­des, der „neuen chorzeit”, aus­gabe juli/august 2007.

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