Jubiläen sind wohl nir­gends so wichtig wie in der Musik­branche. Zu jedem halb­wegs run­den Todes- und Geburt­stag wer­den die Pro­gramme geän­dert, jed­er meint, unbe­d­ingt etwas passendes aufzuführen (natür­lich aber nur, wenn es um “große” Kom­pon­is­ten geht). In die Kat­e­gorie “Jubiläumshype” passt auf den ersten Blick auch “The Liszt Project”, wie die Dop­pel-CD, die Pierre-Lau­rent Aimard — immer­hin ein­er mein­er allzeit-Lieblingspi­anis­ten — im Früh­jahr für die Deutsche Gram­mophon aufgenom­men hat.1 Aber diese zwei CDs erheben sich aus der Masse der Pflicht-Erin­nun­gen. Aus einem Grund: Pierre-Lau­rent Aimard. Der hat näm­lich (natür­lich) nicht ein­fach ein paar bekan­nte Liszt-Werke zusam­menge­sucht und aufgenom­men. Nein, er macht etwas anderes — etwas besseres: Er kon­fron­tiert einige, wenige aus­gewählte Liszt-Kom­po­si­tio­nen mit ganz viel ander­er Musik: Mit Wag­n­er (Klavier­son­ate As-Dur), mit Scri­abin und Rav­el, aber auch mit Bartók, Berg, Mes­si­aen und dem 1959 gebore­nen Mar­co Strop­pa. Und das hat ganz viel Sinn und Bedeu­tung — son­st würde er es ja nicht machen. Vor allem aber: Diese Kon­fronta­tion stellt Liszt in ganz ver­schiedene Tra­di­tion­szusam­men­hänge, zeigt — auch uner­wartete — Beziehun­gen. Und ergibt ein wun­der­bares Ganzes. Das Pro­gramm ist also — schon auf dem Papi­er — überzeu­gend. Aber das ist nicht alles.

Ich bin jeden­falls ger­ade total begeis­tert und fasziniert von dieser CD: Wahrschein­lich ist das in der Summe und im Detail eine der besten Klavier-CDs, die ich kenne (und besitze). Allein schon wegen der grandiosen Auf­nah­me­tech­nik, die dem Flügel eine unver­gle­ich­liche Präsenz ver­schafft,2 eine grandiose Detailau­flö­sung (auch im räum­lichen — jed­er Ton hat seinen eige­nen Platz!) hören lässt und ein­fach verblüf­fend real­is­tisch klingt.

Vor allem ist die CD aber großar­tig, weil sie musikalisch begeis­tert. Und das liegt, wenn man es auf den Punkt brin­gen will, an der lebendi­gen Genauigkeit, mit der Pierre-Lau­rent Aimard arbeit­et (spie­len mag das kaum nen­nen). Ger­ade die Vernüp­fung von unge­heuer detail­ver­liebter Genauigkeit, die wirk­lich an jedem Ton bis zur Ver­vol­lkomm­nung arbeit­et, mit der agogis­chen und phrasieren­den Lebendigkeit ist Aimards Marken­ze­ichen.3

Immer wieder fasziniert mich ja seine Fähigkeit, nicht nur die for­male Gestal­tung sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene vol­lkomen im Blick zu haben, son­dern vor allem seine unmen­schlich genaue klan­gliche Dif­feren­zierung (und ihre Diszi­plin­ierung), mit der er das Ton wer­den lässt.

Ein paar High­lights bish­er: Unbe­d­ingt die vitale, fast strahlende Sonate op. 1 von Alban Berg, die trotz ihrer Konzen­tra­tion ganz ungezwun­gen und natür­lich wirkt.

Dann selb­stver­ständlich die h‑moll-Sonate von Liszt selb­st:4 Kein pianis­tis­ches Bravourstück, keine trock­ene For­mübung und auch kein Kampf musikalis­ch­er Charak­tere: Das ist aus­geglichen, aber nie blass; ver­mit­tel­nd, aber alle Seit­en und Aspek­te genau vol­lziehen. Wahrschein­lich ist es ger­ade dieser Aspekt, möglichst viel­seit­ig zu spie­len, möglichst viele Facetten eines Werkes lebendig wer­den zu lassen, ohne einige oder wenige davon zu abso­lu­tieren, der mich hier und bei dem Rest der Auf­nahme so anzieht. Das ist in der Prax­is natür­lich nie ein­fach, weil so eine umfassender Inter­pre­ta­tionsver­such oft reich­lich blass und lang­weilig wirkt und nur den Ein­druck erweckt, der Inter­pre­ta­tion wolle es um jeden Preis ver­mei­den, einen Stand­punkt zu beziehen. Davon kann hier aber keine Rede sein.

Auch die/das (?) “Tan­ga­ta manu” von Mar­co Strop­pa ist beein­druck­end: Diese Musik passt fast naht­los zwis­chen Liszts Vogel­predikt des Franz von Assisi aus den “Année de Pélèri­nage, Band II und den Wasser­spie­len der Vil­la Este (aus Band III). Das ist auch eine Form, mod­erne und zeit­genös­sis­che Musik dem Hör­er nahezubrin­gen — ganz ohne großes didak­tis­ches Klim­bim, son­dern eben ein­fach als Musik, die man als Weit­er­en­twick­lung klassischer/romantischer Mod­elle hören kann.5 Über­haupt ist der zweite Teil/die zweite CD fast ein einziger Klan­grausch, durch­weg auf höch­stem Niveau. Auch Rav­els “Jeux d’eau” sind schlicht grandios.

Was mich (wieder ein­mal) aber ziem­lich abschreckt, ist die Gstal­tung der CD. Abge­se­hen davon, dass sie über­säht ist mit Aufmerk­samkeit­shasch­ern, mit mehrern Aufk­le­bern bek­lebt, ver­steckt sie ger­ade die wichti­gen Infor­ma­tio­nen — näm­lich die Spielfolge — ziem­lich gut. Dafür sind noch ein paar nichtssagende Sätze und über­schwänglich­es Lob draufge­druckt wor­den … Immer­hin, der Kom­pon­is­ten­name ist ein biss­chen größer als der Aimards — auch keine Selb­stver­ständlichkeit, bei vie­len CDs scheint der Inter­pret heute (zumin­d­est typografisch) wichtiger zu sein als der Kom­pon­ist. Dafür aber in ein­er reich­lich selt­samen, eigentlich unapssenden Schrift …

Schade auch, dass die Deutsche Gram­mophon, die doch so stolz auf ihre Tra­di­tion ist, dem kein vernün­ftiges Bei­heft mehr spendiert: Ein klitzek­leines Inter­view mit dem Pianis­ten ist da drin — son­st nichts. Kein­er­lei mehr oder weniger ana­lytis­chen Anmerkun­gen, keine (musik-)historischen Einord­nun­gen, nichts. So kann man das Niveau auch immer wieder unter­bi­eten …

Davon mal abge­se­hen (und das merkt man beim Hören ja glück­licher­weise nicht): Eine CD zum glück­lich Wer­den. Ein­deutig.

The Liszt Project. Pierre-Lau­rent Aimard spielt Bartók, Berg, Mes­si­aen, Rav­el, Scri­abin, Strop­pa, Wag­n­er und Liszt. Deutsche Gram­mophon 2011.

Show 5 foot­notes

  1. Warum das als “Pro­jekt” verkauft wird, ist mir vol­lkom­men unklar — abge­se­hen davon, dass “Pro­jekt” irgend­wie mod­ern und hip klingt (klin­gen soll). Schließlich ist das nichts anderes als die Stu­diover­sion eines erprobten Konz­ert­pro­gramms.
  2. Das ist — obwohl das Klavier ja sozusagen ein Stan­dard­instru­ment ist — alles andere als die Regel!
  3. Seine Auf­nahme der Bach­schen “Kun­st der Fuge” weist — in ganz anderem Zusam­men­hang — eben­falls genau diese Qualität(en) auf.
  4. Sehr sin­nvoll übri­gens auch, die h‑moll-Sonate an den Schluss des ersten Teils zu stellen — das Ende, die let­zten Töne, mit denen auch die erste CD auskling, wirken so ein­fach grandios …
  5. Wobei der Umstand, dass Liszt (nicht nur) hier als fast pro­to-mod­ern­er Kom­pon­ist gezeigt wird, sozusagen die andere Seite dieser Medaille ist.