immer stärkere lesergehirne bedrohen die wirkkraft der dichtung.—Ulf Stolterfoht, fachsprachen XXIV, dogma für dichtung, 2005
Denn einen Schlusspunkt für ein Konzert setzen sie alle auf ganz verschiedene Weise: „Auf uns“ als groovig-poppige Soulballade, die Gerlitz‘ Fähigkeit als Arrangeur effektvoller Chormusik besonders deutlich zeigt, „Das Publikum war heute wieder wundervoll“ als schnell einstudierte und schnell gesungene, unkomplizierte Miniatur, die schon als Abspannmusik bei Bugs Bunny gut funktioniert hat. Es geht aber auch romantischer, mit dem von Brahms entlehnten „Guten Abend, gute Nacht“, dem sanft und sehr fein ausgearbeiteten „Der Mond ist aufgegangen“ oder auch mit dem Abschiedslied der Comedian Harmonists, „Auf Wiedersehn, my Dear“, das Gerlitz sehr nah an deren Klang und Arrangement setzt. Und damit auch wirklich jeder gemischter Chor hier etwas findet, gibt es noch eine unkompliziert swingende, ja, fast harmlose „Sentimental Journey“ dazu. Und wenn man den schmalen Band so durchblättert, trifft die Warnung des Vorworts vielleicht doch zu: Zu viel Feuerwerk ermüdet. Dafür reichen diese sechs Sätze aber nicht aus – schon allein deshalb nicht, weil sie so ganz und gar unterschiedlich sind.
Und wer noch nicht weiß, wie er sein Publikum dazu bringt, Zugaben zu fordern, kann sich zweier anderer kürzlich erschiener Arrangements von Carsten Gerlitz bedienen – die sind jetzt aber nicht mehr für jeden Chor und jeden Geschmack geeignet. Denn mit ABBAs „Dancing Queen“ und „In My Life“ von den Beatles legt der versierte Arrangeur zwei Sätze vor, die sehr genau und gut in die neue Reihe Pop-Choir-Classics passen.Nah am Original empfehlen sie sich vor allem für im Pop schon vertraute und geübte Chöre – beide setzen auch ein fünfstimmiges, rhythmisch sicheres Ensemble voraus. Mit wenigen, oft nur punktuellen Änderungen, geschickter Stimmverteilung und dramaturgischem Gespür wird aus bloßen a-cappella-Coverversionen bei Gerlitz ein Hit fürs nächste Konzert. Dabei arbeitet er sehr ökonomisch mit Einfällen: Seine Arrangements sprühen nicht vor Ideen, sind aber stets wirkungsvoll gearbeitet. Nicht zuletzt liegt das auch an den Originalen: Das sind eben echte Klassiker, die Kraft und Inspiration genug haben – die Reihe trägt den Titel „Pop-Choir-Classics“ schließlich nicht umsonst.Carsten Gerlitz: Da Capo! Zugabestücke in peppigen Arrangements für gemischten Chor. Mainz: Schott 2015 (ED 20577).
Carsten Gerlitz: Beatles, In My Life. (Pop-Choir-Classics) Berlin: Bosworth 2015 (BOE7741).
Carsten Gerlitz: ABBA, Dancing Queen. (Pop-Choir-Classics) Berlin: Bosworth 2015 (BOE7742).
(Zuerst erschienen in „Chorzeit – Das Vokalmagazin“)
Ins Netz gegangen am 6.4.:
- Do We Write Differently on a Screen? | The New Yorker → tim parks eher pessimistische sicht auf die gewandelte art und weise des schreibens und seiner begleitumstände durch die technologische entwicklung der letzten jahrzehnte
Just as you once learned not to drink everything in the hotel minibar, not to eat too much at free buffets, now you have to cut down on communication. You have learned how compulsive you are, how fragile your identity, how important it is to cultivate a little distance. And your only hope is that others have learned the same lesson. Otherwise, your profession, as least as you thought of it, is finished.
- Das Spiel mit der Exzellenz | Forschung & Lehre → michael hartmann mit einer zurückhaltenden, aber nicht überschwänglich positiven einschätzung der exzellenzstrategie für die deutschen universitäten
Die Élite hat gewonnen, die Masse verloren.
- Peter Brötzmann interview | It’s psychedelic Baby Magazine → sehr schönes, offenes und ehrliches interview mit peter brötzmann, in dem er vor allem über seine frühen jahre – also die 1960er – spricht
- Provozieren und Warten | Van → sehr schönes, angenehm freundliches interview mit dem großen frederic rzewski:
Ich habe nichts Originelles komponiert. Alles, was ich gemacht habe, ist von anderen zu klauen. Aber auch Mozart hat links und rechts geklaut und Bach natürlich genauso. Du nimmst etwas, machst es auf deine Art.
- Ganzjährige Sommerzeit wäre der „Cloxit“ | Riffreporter → trotz der grenzwertig blöden Überschrift ein interessanter text über die auswirkungen einer möglichen ganzjährigen sommerzeit in deutschland
Ins Netz gegangen am 7.3.:
- „Solidarität gegen Amazon ist eine große Schimäre“ | Welt → zwar in der „welt“, aber trotzdem ein sehr treffendes interview mit klaus schöffling – das liegt aber vor allem eben an schöffling ;-). anlass war die insolvenz von KNV, aber es geht auch/eher um grundlegende fragen des buchmarkts
Ich weiß nicht, ob man jetzt nach dem Staat rufen muss. Richtig beklagen kann sich die Buchbranche, die ja auch mit der Buchpreisbindung vom Staat geschützt wird, eigentlich nicht.
- Desire paths: the illicit trails that defy the urban planners | Guardian → ein schöner beitrag über trampelpfade im urbanden raum und die möglichkeit, sie zur planung von wegverbindungen zu nutzen
- Die Handschrift stirbt aus | Due Oresse → ein kurzer überblick, wie es (österreichische) komponisten mit dem schreiben ihrer partituren halten
- Was hält Demokratien zusammen? | NZZ → aus anlass des todes von böckenförde wieder hervorgeholt: die sehr schöne, klare und deutliche einordnung des böckenförde-theorems in die deutsche geshcichte des 20. jahrhunderts
- Diese Abende sind eine Qual | Zeit → florian zinnecker hat für die „zeit“ ein nettes interview mit igor levit über die elbphilharmonie und ihre akustik geführt – und levit bleibt wieder einmal cool und überlegen
- Wadada Leo Smith Pays Tribute to Rosa Parks in New Album | Qwest → interview mit dem großen Wadada Leo Smith, in dem er unter anderem darüber spricht, warum er den begriff „improvisation“ nicht mag:
Improvisation was strong in the late ‘60s and early ‘70s. But then it got very polluted, like you can put everything into performing that you want to. There’s no leadership, no guidance. It’s nowhere near the way of Louis Armstrong, Duke Ellington, Miles Davis, Bessie Smith or Abbey Lincoln who were all right in terms of creating opportunities in their music. The people calling themselves improvisers today are like a soup. You can add everything in at once and cook it. But that’s a bad soup. You need to cook various portions and add in different things like spices which is what making music in the present is meant to be. It’s like what the Creator created in the beginning. It’s authenticity. You’re bringing something into being.
So ist das Leben, und so muss man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd—trotz alledem.
Rosa Luxemburg, Brief aus dem Gefängnis (1917)
Ins Netz gegangen am 17.1.:
- Herrscher der Bagatellen | SZ → Ein schönes feuilleton (eine „liebeserklärung“ von reinhard brembeck über die kraft der klassischen musik, zufallsbegegnungen, bagatellen und aktives hören (und über widor auf der orgel)
Ein ähnlicher Fall ist die „Pause“, das vorletzte Stück aus dem „Carnaval“ von Robert Schumann. […] Nur wer den Titel „Pause“ kennt, vermag seine Ironie im Verein mit dieser atemlosen Musik zu empfinden, die das Pausen-Verständnis des heutigen durchdigitalisierten Globalmenschen besser beschreibt als jeder Leitartikel.
- Heartfield Online | AdK → sehr schön: die akademie der künste hat dne grafischen nachlass von john heartfield online gestellt (und ganz nett aufbereitet) – eine wahre fundgrube
- Warum sie aus den Lehrplänen fast verschwunden sind | FAZ → durchaus interessantes interview mit lars deile über germanen im aktuellen geschichtsunterricht, aber auch geschichte und ihren unterricht allgemein
- Juli Zeh | jungle world → magnus klaue hält wenig von juli zeh:
Ästhetische Banausie und politische Demagogie verschmelzen in ihr zur harmonischen Einheit
- Restlos bedient | Ohne Text singt kein Mensch mit → peter breuer über service und dankbarkeit
DXB > MUC, 2018-12-10:
Ins Netz gegangen am 21.12.:
- Die Hände Johann Sebastian Bachs | Forschung & Lehre → bach war nicht genial, er hatte einfach große hände – nunja, das wurde nicht behauptet. aber zumindest letzteres ist nun gesichert
- Dubiose Quellen | Süddeutsche → willi winkler hat schon einmal die januar-ausgabe der vierteljahrshefte für zeitgeschichte gelesen und fasst einen beitrag von mikael nilsson zusammen, der offenbar nachweist, dass die als „hitlers tischgespräche“ veröffentlichten texte als (primär)quelle eigentlich nichts taugen, weil ihre authentizität (und ihre editierung) fragwürdig ist
- Das große Beichten | Süddeutsche → ein gastbeitrag von nathalie weidenfeld, der zur diskussion stellt, ob die öffentliche kundmachung persönlicher und intimer gedanken, erlebnisse, stimmungen in den sozialen medien nicht ein reflex, eine moderne variante des öffentlichen beichtens der puritaner ist (ich bin nicht ganz überzeugt, ob das stimmt – aber bedenkenswert scheint es mir schon).
- Many Shades of Gender | LMU → paula-irene villa hat – zusammen mit Kolleg*innen und mitarbeiter*innen – eine schöne FAQ zu typischen, wiederkehrenden fragen und vorwürfen an die gender studies geschrieben
Die Gender Studies wollen insgesamt weder Geschlecht abschaffen noch, wie manchmal auch vermutet wird, es allen aufzwingen. Vielmehr wollen die Gender Studies forschend herausfinden, wo wie für wen warum in welcher Weise und mit welchen Folgen Geschlecht überhaupt eine Rolle spielt (oder auch nicht).
- Records Revisited | hhvmag → kristoffer cornils‘ schöne und ehrliche würdigung des großartigen „spirit of eden“ von talk talk
- Der alte Hass auf die Aufklärung | Geschichte der Gegenwart → philipp sarasin ordnet die „neue rechte“ in die tradition der anti-aufklärung und der gegnerschaft des libreralismus ein:
Zu behaupten, die Unterscheidung zwischen links und rechts habe seine Bedeutung verloren, ist angesichts solcher Aussagen wenig überzeugend. Dringlich ist aber auch, dass die Linke aufhört, die Liberalen und auch die „Liberal-Konservativen“ in die rechte Ecke zu stellen und die falschen Schlachten zu schlagen. „Rechts“ ist nur dort, wo der alte Hass auf die Aufklärung dräut. Alles andere sind Zänkereien unter den Kindern der Moderne.
Obwohl es eine überaus gängige Lebensweisheit ist, dass Fallschirme beim Sprung aus einem Flugzeug Leben retten (können), gibt es dafür keine wissenschaftlichen Belege – zumindest nicht in Form randomisierten, kontrollierten Studie. Das wurde nun – mit einigen Schwierigkeiten, insbesondere bei der Probandenrekrutierung – endlich nachgeholt. Und mit einem ausgesprochen überraschenden Ergebnis: Fallschirme sind gar nicht hilfreich. Zumindest in dieser Studie gab es keinen signifikanten Unterschied in Todesfällen oder schweren Verletzungen zwischen Probanden, die beim Sprung aus dem Flugzeug eine Fallschirm trugen und solchen, die einen gewöhnlichen (leeren) Rucksack bekamen. Sie kommen deshalb (unter anderem) zu dem Schluss:
We have performed the first randomized clinical trial evaluating the efficacy of parachutes for preventing death or major traumatic injury among individuals jumping from aircraft. Our groundbreaking study found no statistically significant difference in the primary outcome between the treatment and control arms. Our findings should give momentary pause to experts who advocate for routine use of parachutes for jumps from aircraft in recreational or military settings.
https://www.bmj.com/content/363/bmj.k5094
Freilich, darauf weisen die Autoren auch hin, bleiben Fragen, ob sich das Setting der Untersuche hinreichend verallgemeinern lässt.
Yeh, Robert W., Valsdottir, Linda R., Yeh, Michael W,. Shen, Changyu, Kramer, Daniel B, Strom, Jordan B et al. (2018). Parachute use to prevent death and major trauma when jumping from aircraft: randomized controlled trial. BMJ 363 :k5094. doi: https://doi.org/10.1136/bmj.k5094