Was lesen Buchblogger: Eine neue Analyse mit Visualisierungen und Statistiken | lesestunden.de → tobi hat versucht zu analysieren (und visualisieren), was buchbloggerinnen (er hat ein fast ausschließlich weibliches sample) eigentlich lesen. die datengrundlage ist aber zumindest in teilen schwierig, die genre-einteilung zum beispiel nahe an der grenze zum absurden (wie er selbst auch anmerkt)
Unsere Ziele sind einfach und klar. Zuerst werden wir messen, dann analysieren, dann optimieren. Und man wird uns dankbar sein.
Aber die reale Welt ist eigensinnig. Sie ist so komplex, dass sie Abstraktion und Modellierung widersteht. Sie erkennt unsere Versuche sie zu beeinflussen und reagiert darauf. Genauso wenig, wie wir aus unserer eigenen Haut können, können wir hoffen, die Welt von außen objektiv zu erfassen.
Die vernetzte Welt, die wir erschaffen, mag Computersystemen ähneln, aber es bleibt dennoch die gleiche alte Welt wie vorher, nur mit ein paar Mikrofonen und Tastaturen und Flatscreens, die hier und dort herausragen. Und sie hat immer noch die gleichen alten Probleme.
Einfach nur „ich“ sagen, einfach nur privatistisch Intimitäten ausplaudern, kann nicht zielführend sein. Die subjektive Form, das Reflektieren auf eigene Erfahrungen oder Wahrnehmungen braucht, meiner Ansicht nach, immer einen Grund, warum sie in einem bestimmten argumentativen, diskursiven Kontext eingesetzt wird.
Als Publizistin fühle ich mich verpflichtet, mit sprachlichen Mitteln jene ideologisch aufgeladenen Bilder und Begriffe, jene Assoziationsketten und Vorstellungen aufzubrechen, die Ressentiments gegenüber Frauen oder Homosexuellen, Gehörlosen oder Jüdinnen, Linkshändern oder Schalke-Fans transportieren. Und dazu gehört dann, dass wir normative Begriffe in Erfahrungen übersetzen, dass wir das, was uns wütend oder verzweifelt zurück lässt, verstehbar machen für diejenigen, die diese Erfahrungen nicht teilen.
Fetisch Effizienz | Marcel Hänggi → markus hänggi hat für „zeit wissen“ die geschichte und theorie der energieeffizienz schön aufgeschrieben.
Die unter dem Gesichtspunkt der Energieeffizienz bemerkenswerteste Erfindung der Moderne war das Fahrrad
Es gibt keinen Grund, Energieträger, deren Nutzung die menschliche Zivilisation bedrohen, überhaupt auf den Markt zu lassen.
Interview: „Ich bin kein Fotoroboter“ | der Freitag → interessantes interview mit dem fotografen christoph bangert (der mit „war porn“ ein hervorragendes fotobuch über den krieg veröffentlichte) über krieg, gewalt, absurdität, verstehen und verarbeiten
Bei „bereiften Mördern“ – so werden hier in der Region scherzhaft Autofahrer mit einem BM-Kennzeichen aus Bergheim genannt – packt die Politik die Samthandschuhe aus. Autofahrer sind halt Wähler und nicht mal wenige. Da werden selbst die in der sonst für ihre Politik so heiß geliebten Schweiz geltenden Regeln nicht eingeführt.
Leben = Schreiben: Mir fiele niemand ein, für den diese Gleichung so wenig antastbar, so produktiv, schlicht unumstößlich wahr wäre wie für Friederike Mayröcker. Eine Gleichung von mathematischer Eleganz.
Mit der sogenannten PC kam der Ärger auf einer ungewohnten Ebene zurück, als Debatte um Sprache. Letztlich war der dann folgende Aufschrei in der konservativen bis reaktionären Mitte vor allem ein Symptom der Enttäuschung. Man hatte gehofft, ganz demarkiert Politik und Geschäfte machen zu können, und wollte mit inhaltlichen Auseinandersetzungen, die dann auch noch auf politischen oder ethischen Grundüberzeugungen – Bezeichnungen wie Rassismus waren ja wichtig, wir wollten Rassismus Rassismus nennen, die anderen Fremdenfeindlichkeit – nichts mehr zu tun haben.
Das ist eine schlimme Entwicklung, die die strategisch berechtigte Idee, Orte zu schaffen, in denen man zum Beispiel vor trans- und homophober Verfolgung sicher ist, in eine völlig bescheuerte Richtung verschoben haben. Safe Spaces sind jetzt Seminare, die als so eine Art erweitertes Kinderzimmer mit Kuschelkultur nur über Dinge sprechen, die die behüteten Mittelschichtskinder nicht erschrecken. »Trigger Warnings« sollen helfen, dass man das Böse gar nicht erst zur Kenntnis nimmt. Von Vergewaltigung und Rassismus darf man dann gar nicht mehr sprechen.
Sonne, Mond und Sterne funkeln um die Wette und auf der Erde schwappen leichte Wellen des Meeres an den feinen Sandstrand – so muss man sich wohl eine ideale Situation für diese CD vorstellen. Das titelgebende „Sun, Moon, Sea and Stars“ ist nicht nur eine der wenigen Originalkompositionen von Bob Chilcott, sondern vor allem eine Ballade, die sich in die Ohrgänge schmiegt. Wie der dichte Satz in Close Harmony beim Tenebrae Consort hier ganz ruhig und weich daliegt und der einschmeichelnden Melodie des sanften Liebesliedes viel Raum lässt, das ist ziemlich perfekt und romantisch.
Den Löwenanteil der meist kurzen Stücke, die nur selten die Drei-Minuten-Grenze überschreiten („I’ll sing you a song and it’s not very long“ heißt es einmal), haben aber die im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte arrangierten Traditionals aus verschiedenen Ecken der Welt – unter anderem sind Kanada, die USA, Frankreich und Japan vertreten –, die die bekannten und bewährten Fähigkeiten des gewieften Arrangeurs Bob Chilcott hörbar werden lassen. Das Tenebrae Consort, das hier als Quintett unter der Leitung von Nigel Short auftritt, nimmt sich der Kleinodien mit vernehmbar viel Liebe und höchster Sorgfalt an. Das hört man jedem Motiv, jedem Akkord an: Sauber, ja perfekt in großartiger Klarheit intoniert (man kann die Partitur hörend fast mitschreiben), aber nie kalt, sondern immer empathisch singen sie. Herrlich zu hören etwa, wie berührend „Shenandoah“ hier flehend lieben darf.
Professionell ist auch die Aufnahmetechnik, die den Ensembleklang sehr genau und wohltuend repräsentiert. Harmonie waltet rundum in diesen 65 Minuten, das ist alles überaus nett und auch ein kleines bisschen harmlos. Denn auf große Gesten, auf riskante Deutungen verzichten Ensemble und Dirigent durchweg. Das ist aber völlig okay, auch Chilcott geht es in den hier eingesungenen Arrangements in der Regel nicht so sehr um das Unerhörte, sondern darum, das Charakteristische der überlieferten Lieder herauszukitzeln. Und ihre eigene Schönheit.
Ganz ausgezeichnet gelingt das etwa bei dem sehr gewitzten und lebendigen Arrangement des kanadischen Refrainlieds „Feller from Fortune“, das auch allen Stimmen viel Raum zum Brillieren gibt – und das zum Schluss ganz unverhofft in ein wunderbar anheimelndes Wiegenlied hinüber gleitet. Die wohltönende, lebendig austarierte Klangschönheit zeichnet Tenebrae Consort nicht nur hier, sondern auf der gesamten CD aus und macht die pathosreiche Musik auch für nüchterne Zeitgenossen zu einem Genuss. Denn auf Sun, Moon, Sea and Stars verführt alles zum Träumen – sowohl die Musik Chilcotts als auch ihre hingebungsvolle Wiedergabe durch das Tenebrae Consort sind in dieser Hinsicht einfach ansteckend.
Sun, Moon, Sea and Stars. Songs and Arrangements by Bob Chilcott. Tenebrae Consort, Nigel Short. Bene Arte SIGCD903, 2016. 64 Minuten.
Warum sollte den Erzähler, der getreu den kleinsten Einzelheiten der ihm überlieferten Geschichte folgt, irgendeine Schuld treffen? Ist es sein Fehler, wenn die Figuren, von Leidenschaften verführt, die er zu seinem Unglück nicht teilt, zutiefst unmoralische Handlungen begehen? Freilich geschehen Dinge dieser Art nicht mehr in einem Land, in dem die einzige Leidenschaft, die alle anderen überlebt hat, das Geld ist, ein Werkzeug der Eitelkeit. Stendhal, Die Kartause von Parma, 147f.
Manchmal wird das auschweifend-fabulierende Erzählen offenbar selbst den Autoren des 19. Jahrhunderts – die ja meistens nicht für ihre prägnante Knappheit bekannt sind – zu viel. Und dann wird auch mal abgekürzt. Bei Stendhal, in der „Kartause von Parma“ sieht das etwas so aus:
Erstes Buch, 4. Kapitel (S. 88 in der Taschenbuchausgabe der Übersetzung von Elisabeth Edl)
– nicht nur ein ganz unpoetisches „usw.“ also, sondern auch noch: „Die gute Marketenderin redete noch lange; […]“ (und das hat sie vorher auch schon ausgiebig getan). Solcher Faulheit des Autors begegnet man heute eher selten …
Obersalzberg: Gratwanderung auf Hitlers Hausberg | derStandard → der „standard“ war auf dem obersalzberg und berichtet sehr anschaulich, wie schwierig es (immer noch) ist, dort zu einem angemessenen umgang mit der vergangenheit des ortes, seiner gestaltung und den überresten aus der zeit des nationalsozialismus umzugehen
Der Kalte Krieg verhinderte eine wirkliche Beschäftigung mit diesem kriminellen Feldzug. Wir Deutschen wissen sehr genau, was in Oradour in Frankreich passierte, wo ein Dorf samt Einwohnern ausgelöscht wurde. Wir wissen aber nicht, dass es allein in Weißrussland mehr als 200 solcher Oradours gab.
Im Kalten Krieg war es eben nicht opportun, darüber zu forschen. Deshalb hat noch in den neunziger Jahren die Wehrmachtsausstellung von Reemtsma einen solchen Aufruhr erzeugt.
sind viele Flüchtlingen gewidmeten Projekte in ähnlicher Weise grob und blind. So sehr der Kunst traditionell zugetraut – und von ihr auch erwartet – wird, durch eine Stimulierung der Einbildungskraft Empathie für Menschen in ganz anderen Lebensverhältnissen zu stiften, so wenig ist davon inmitten eines oft schrillen Aktionismus zu bemerken.
Japan: Die Geisterschiffe | ZEIT ONLINE → sehr schöne, berührende reportage über japan, nordkorea und das meer. und die fischer von korea, die seit einiger zeit immer wieder als leichen an den japanischen küsten angespült werden
Spielplätze sind Nebenprodukte der industrialisierten Stadt des 20. Jahrhunderts, auf dem Dorf brauchte man sie nicht. Erst die Enge der Wohnverhältnisse und die Tatsache, dass viele Arbeiterkinder tagsüber unbeaufsichtigt waren, machte Rückzugsräume notwendig. Dass man sie braucht, zeigt, dass den Kindern ihre eigentlichen Spielräume verloren gehen, denn Kinder besitzen die Fähigkeit, sich jede Umgebung für das Spiel anzueignen.
In einer idealen Gesellschaft bräuchten wir vielleicht gar keine Spielplätze mehr, aber im neoliberalen Kapitalismus mit dem Dogma der maximalen Selbstausbeutung bis in die Freizeit, bekommt das Spiel einen geradezu utopischen Gehalt. Der Spielplatz soll die Wunden der Erwachsenenwelt heilen.
Keine Revolution, kein qualitativer Sprung, nur Evolution und Optimierung. Vielleicht hätte man sich noch einbilden können, im alten Entwurf einen realistischen Blick auf den allumfassenden tiefgreifenden Wandel nicht nur des „Alltagslebens“, sondern der gesamten Gesellschaft und also auch des Bildungssystems zumindest als Möglichkeit enthalten zu sehen, wenn er als Zielbestimmung formuliert „Lehrende und Lernende auf das Leben in einer digitalisierten Welt vorzubereiten“. Aber auch das ist bei genauerem Hinsehen schon nicht der Fall gewesen. Diese Rede vom „Vorbereiten auf“ macht mich ja immer stutzig, denn die Menschen leben doch schon in der digitalisierten Welt, und das schon seit Jahren. Da kommt jede Vorbereitung schon rein zeitlich zu spät und kann doch nur als Begleitung gedacht werden. Es ist tatsächlich ein Hinweis darauf, dass noch gar nicht verstanden wurde, dass die digitalisierte Welt nicht erst nach der Vorbereitung betreten wird, sondern dass wir in ihr leben, ob wir es wollen oder nicht.
Reinhard Jirgl: Oben das Feuer, unten der Berg. München: Hanser 2016. 288 Seiten.
–Sie wurden geboren, arbeiteten, und sie starben. Wäre Leben so=einfach so=kurz wie dieser Satz, Leben, wäre gewiß glückvoller. Leben aber dauert länger als 1 Satz. (31)
Oben das Feuer, unten der Berg – an dem Buch ist nicht nur der Titel seltsam und rätselhaft. Ich bin ja eigentlich ein großer Bewunderer der Werke Reinhard Jirgls, aber mit diesem Roman kann ich wenig bis gar nichts anfangen. Das, was von einer Geschichte übrig ist, ist rätselhaft, schwankt zwischen Krimi und Verschwörungstheorie, Vergangenheitsbewältigung und Verbitterung. Die auftauchenden Figuren sind eigentlich lauter kaputte Menschen. Oder: Sie werden kaputt gemacht, durch das „System“, die Macht oder ähnliche Instanzen. Die grausame Brutalität der Welt, der Macht und der Mächtigen, die die Moral nur als Deckmantel und Beruhigung fürs Volk (wenn überhaupt) haben, benutzen – den ganzen Text durchdringt eine sehr schwarze, pessimistische Weltsicht. So weit, so gut (oder auch nicht, aber das ist ja erst mal egal). Fragwürdig bleibt mir aber doch einfach vieles. Auf dem Schutzumschlag steht etwa: „Titel, Textvolumen und Reihenfolge der Kapitel im Roman sind von dem altchinesischen Orakel I‑Ging bestimmt.“ – Zum einen: was soll das? Ich habe keine Ahnung … Zum anderen: Ich bezweifle fast, dass das überhaupt stimmt …
In den faszinierenden, genauen, poetischen (d.i. lyrischen) Beschreibungen, ja, der geradezu überbordenden Beschreibungsgenauigkeit liegt vielleicht die größte Stärke des Romans, auch durch die Spezialorthografie, die nämlich Möglichkeiten und Deutungen der Sprache verdeutlichen, vereindeutigen oder überhaupt erst eröffnen kann. Auf der anderen Seite hatte ich oft den Eindruck eines „verwilderten“ Text, der sich von sich selbst treiben lässt und der im Zickzack-Kreis des Erzählens „der“ Geschichte keine wie auch immer geartete Ordnung gelten lässt (zumindest keine, die ich erkennen könnte). Seltsam finde ich auch: Eigentlich passiert das meiste des Romans auf privater, ja intimer Ebene. Aber dann will der Roman doch die ganz großen Themen behandeln (z.B. die Macht und die Moral) – das passiert dann (damit es jeder merkt) v.a./nur durch das neunmalkluge Dozieren der Figuren, in deren Erkenntnissen, in deren Durchschauen der Welt und der Verschwörungen) sich der Erzähler (und vielleicht auch der Autor) zu allem und jedem äußern kann, seine Position als wahre absichern und mitteilen kann.
?Wo in alldieser unermeßlichen=Unendlichkeit blieb eigentlich ?mein Webfaden, ?meine=!ureigene Spur, die mich etwas Unverwechselbares in dieses unerschöpfliche Lebenswischhadergefilz hätte hin1prägen lassen. (230)
Wilhelm Lehmann: Ein Lesebuch. Ausgewählte Lyrik und Prosa. Herausgegeben von Uwe Pörksen, Jutta Johannsen und Heinrich Detering. Göttingen: Wallstein 2011. 160 Seiten.
Auf Wilhelm Lehmann bin ich erst durch die zweite Ausgabe des Gelben Akrobaten von Michael Braun und Michael Buselmeier aufmerksam geworden. Lehmann, der von bis vor allem an der Küste lebte, war als Lehrer sowohl ein ausgezeichneter Naturbeobachter als auch ein starker Dichter, wie ich anhand des Lesebuchs leicht feststellen konnte. Dort bieten die drei Herausgeber eine Auswahl aus der mehrbändigen Werkausgabe: (viel) Lyrik, etwas aus den Tagebüchern, einige Auszüge aus theoretischen/poetologischen Essays und ein wenig Prosa. Inwieweit das ein repräsentatives Bild abgibt, kann ich nicht beurteilen. Sagen kann ich nur, dass das, was ich hier gelesen habe, faszinierende Momente hat. Die mich am meisten berührenden Texte und Passagen waren wohl die, wo sich der penible und wissende Naturbeobachter mit dem bildkräftigen Lyriker verbindet.
Aus vielen der Naturbeschreibungen der Gedichte spricht eine leise Wehmut: Die Natur ist für Lehmann ganz offenbar ein Ort, an dem die göttliche/geschöpfte/schöpferische Ordnung noch gilt und dann auch zu beobachten ist; sie bleibt vom Chaos, der Gewalt und dem Schmerz der Menschen (den sich die Menschen gegenseitig (und ihr) zufügen) unberührt. Solche Lyrik ist, wie er es in einem Aufsatz einmal auf den Punkt bringt: „Poesie als Einwilligung in das Sein“.
Gerade in der Zeit des Zweiten Weltkrieges scheint sich das aber zu ändern: Zunehmend werden Natur und Menschenwelt/Zeitgeschichte im Gedicht konfrontiert, meist nebeneinander gestellt (sozusagen ohne tertium comparationis): Hier die gleichförmige (im Sinne von in einem festen Rhythmus sich wiederholende), vertraute (d.h. auch: lesbare, entschlüsselbare, verstehbare) Natur, dort der unerhörte Schrecken, das ungesehene und ungeahnte Grauen des Weltkriegs. Das bleibt aber immer sehr subtil und – gerade in den Beschreibungen und Schilderungen – sehr kunstvoll, in fein austarierten Rhythmen und mit oft sehr harmonisch, fast selbstverständlich wirkenden Reimen ausgearbeitet. Am besten verdeutlicht das vielleicht ein Gedicht wie „Fallende Welt“:
Das Schweigen wurde Sich selbst zu schwer: Als Kuckuck fliegt seine Stimme umher.
Mit bronzenen Füßen Landet er an, Geflecktes Kleid Hat er angetan.
Die lose Welt, Wird sie bald fallen? Da hört sie den Kuckuck Im Grunde schallen.
Mit schnellen Rufen Ruft er sie fest. Nun dauert sie Den Zeitenrest.
Der Verlag nennt die auf der Opernbühne spielende Novelle von Sabine Bergk „Übertreibungsliteratur”. Das stimmt natürlich, trifft den Kern des vor allem phantastischen und absurden Textes aber nur halb. Gilsbrod ist eine Ein-Satz-Novelle mit 130 Seiten ungebrochenem stream of consciousness. Das ist natürlich nicht völlig neu, spontan fällt mir aus letzter Zeit etwa Xaver BayersWenn die Kinder Steine ins Wasser werfen (2011) ein, das ähnlich funktioniert. Hier, also in Gilsbrod, lesen wir das Bewusstsein einer Opernsouffleuse, die im entscheidenden Moment der Theaterdiva nicht aushilft und sie deshalb in eine improvisierte Kadenz auf dem falschen Text treibt. Ein Ende hat der Text nicht, er bricht einfach ab. Bis dahin ist er aber dicht und unterhaltsam, phantastisch und absurd, traurig und komisch zugleich. Oder zumindest abwechselnd. Den natürlich lässt sich so ein Bewusstsein hin und her treiben, das ist eine heftige Mischung von Vergangenheiten und Gegenwarten, Realitäten und Träumen, Wünschen und Ängsten, geschichtet und überlagert, auch mit Versionen der (pseudo-)Erinnerung versehen, der seine Ebenen im kreisenden Wiederholen herauskristallisiert.
Das funktioniert recht gut, weil die Sprecherin aus der Position des unsichtbaren/unscheinbaren Beobachters, der Souffleuse, agiert. In der Privatmythologie wird der dienend-unterstützende Hilfsdienst dieser Funktion für das Theater, genauer: die Oper, zur mystischen Erfahrung hochstilisiert, zum erfüllenden Lebenstraum. Es wird aber durchaus auf geschickte und untergründige, aber erkennbare Weise auch die eigene Position reflektiert, zum Beispiel im Verlust der Rest-Sichtbarkeit durch den mittigen Souffleurkasten und die Verbannung auf die Seitenbühne, die nicht gleichermaßen Teil der Aufführung ist: dort unterhalten sich Techniker und wartende Sänger während der Oper … Zugleich zu dieser wahrgenommenen Marginalisierung – im Kontrast dazu und zu den Erinnerungen der präfigurierenden Demütigungen der Schulzeit (die sehr seltsam als eine Art Kreuzigung am Rutschengerüst erinnert werden, mit Lanze und Essig und allem drumherum …) ist der Bewussstseinsstrom aber auch die Konstruktion einer totalen Machtposition: von ihr ist alles, insbesondere eben die Diva Gilsbrod abhängig – und damit das ganze Theater, die Stadt, das Publikum: „mir gehört der Text“ (39).
Der Text ist aber nicht ohne Dramaturgie gebaut, zum Beispiel verschränken und vermischen sich die diversen Zeiten und Ebenen immer mehr. Auch das „Vordringen“ in die Figur „Gilsbrod“ wird geschickt zeichenhaft genutzt: Es beginnt an der Grenze zwischen außen und innen des Körpers, den Zähnen der Sängerin, und dringt über den Mundraum immer weiter vor/hinein …
Im Grunde ist Gilsbrod eine große Rachephantasie, die ja auch zu keinem Ende kommt: der Bewusstseinsstrom bricht in der großen (falschen!) Kadenz der Gilsbrod ab, das „non so d’amarti“ verdichtet sich, bis zu einer Art Mantra – wenn man das hinzuzieht, könnte es natürlich auch eine (unbewusste) Liebesphantasie sein: „Ich weiß nicht, dass ich dich liebe“ …
[…] und deshalb gehen die Leute ja ins Theater, weil sie nicht alleine lachen wollen und sonst die anderen denken, sie wären verrückt, wie sollen sie auch lachen, wenn sie niemanden zum Lachen haben, und so bleiben sie lieber allein in ihrem Kummer, dabei ist es viel besser, gemeinsam zu weinen und die Leute gehen ja ins Theater, damit sie gemeinsam lachen und auch weinen können, wie auf der Beerdigung, sie beerdigen ihren Kummer im Theater und beerdigen sich selbst, vorzeitig, sie beerdigen sich gegenseitig und beerdigen alles, was ist, sie beerdigen die Langeweile, das Leben und die Hoffnung der Figuren, die Flugversuche und die Wetterwechsel, sie beerdigen das Licht hinter den Vorhangdecken wie zum Schlaf und zum Abschluss gibt es rauschenden Applaus und niemand denkt, dass sie verrückt sind, auch wenn alle nach vorne starren […] (69)
Titus Meyer: Andere DNA. Leipzig: Reinecke & Voß 2016. 56 Seiten. ISBN 978−3−942901−20−8.
Ein ganzer Roman als Palindrom, ein Palindrom als Roman – geht das? Ein paar meiner Lektürebeobachtungen zu dieser Frage und anderen, die mich beim Lesen von Meyers Husarenstück bewegten, habe ich schon vor einigen Tagen hier notiert.
Christian Broecking: Dieses unbändige Gefühl der Freiheit. Irène Schweizer – Jazz, Avantgarde, Politik. Die autorisierte Biografie. Berlin: Broecking Verlag 2016. 479 Seiten. ISBN 9783938763438.
Eine große – und außerdem auch noch autorisierte – Biografie der großen Jazzpianistin Irène Schweizer wollte Christian Broecking (den ich vor allem als Autor/Interviewpartner seiner beiden Respect-Bände kenne) hier wohl vorlegen. Rausgekommen ist ein mühsamer Brocken. Den Broecking schreibt auf den immerhin fast 500 Seiten vielleicht (gefühlt zumindest) ein Dutzend Sätze selbst. Diese Biografie ist nämlich gar keine, es gibt keinen Erzähler und eigentlich auch keinen Autor. An deren Stellen treten (fast) nur Quellen, das heißt Zeitzeugen, deren Aussagen zu und über Irène Schweizer aus Interviews hier grob sortiert wurden und höchstens mit einzelnen Sätzen notdürftig zusammengeflickt werden. Der dokumentarische Anspruch – die anderen also einfach erzählen zu lassen (aber auch die Fragen streichen, was manchmal seltsame „Texte“ ergibt) – geht dann auch so weit, dass englischsprachige Antworten nicht übersetzt werden. Viel Material wird also mehr oder weniger sinnvoll gereiht. Nach herkömmlichen Maßstäben ist das eher die Sammlung, die Vorarbeit zu einer eigentlichen Biografie, die das (ein-)ordnend und deutend erzählen würde.
Dadurch ist das vor allem eine Arbeitsbiographie und/oder ein Musiktagebuch: Wer wann mit wem wo gespielt hat, das gibt den Rahmen für die Lebensbeschreibung ab. Aber selbst das geht mit der Zeit und den Seiten der unendlichen Reihen von Konstellationen und Orten zunehmend unter, weil es einfach zu viel ist. Menschen kommen kaum/nicht vor, nur Funktionen: Musiker, Künstler, Organisatoren, Labelchefs und (wenige) Journaliste) – deshalb bietet das Buch auch nur Innensichten aus dem Umfeld Schweizers. Und Broecking hilft durch seine Abwesenheit als Autor eben auch nicht: Einen außenstehenden/neutralen (oder wenigstens pseudo-objektiven) Beobachter kann der Text nicht aufweisen. Ich denke, daraus rühren dann auch andere Schwächen. Vieles bleibt einfach ohne Erklärung. Und wenn ich keine Erklärung bekomme, brauche ich auch keine Biografie …
Zum Beispiel wird die Größe Schweizers zwar immer wieder beschworen, sie bleibt dabei aber ausgesprochen unklar, ohne Konturen und ohne Grund. Das liegt vielleicht auch daran, dass die Musik in den (sowieso äußerst knappen) Beschreibungen (Analysen kommen mit Ausnahme des zehnseitigen Anhangs „Jungle Beats“ von Oliver Senn & Toni Bechtold, der anhand exemplarisch ausgewählter Aufnahmen Schweizers Musik, ihren Personalstil beschreibt, fast überhaupt nicht vor) selbst so generisch bleibt: frei improvisiert, dann wird mal dieser Einfluss (Cecil Taylor etwa) hervorgehoben, dann mal der jener betont (Monk etwa). Und immer wieder wird von den Interviewten darauf hingewiesen, dass sie keine Noten mag. Aber was sie wie spielt, kann man halt nicht so recht lesen, nur in verstreuten Hinweisen und Andeutungen (die auch eher ihre Präsenz und Energie auf der Bühne betreffen). Auch die ausgewählten Zitate aus Kritiken und Presseberichten bleiben erschreckend generisch. Ähnlich ist es um die politische Dimension des Lebens von Irène Schweizer und ihrer Musik bestellt: Beides wird vor allem behauptet („diese Musik ist politisch“), aber wie und warum, das steht nirgends, das wird nicht erklärt (und gerade da würde es (für mich) spannend werden …). Das alles führt dazu, dass mich die Lektüre etwas unbefriedigt zurückgelassen hat: Sicher kommt man um diesen Band kaum herum, wenn man sich mit Schweizer und/oder ihrer Musik befasst. Aber Antworten kann er kaum geben.
Ian Bostridge: Schuberts Winterreise. Lieder von Liebe und Schmerz. München: Beck 2015. 405 Seiten. ISBN 978−3−406−68248−3.
Meine Eindrücke von Ian Bostridges großem, umfassenden Buch über die Schubertsche Winterreise haben einen eigenen Eintrag bekommen, und zwar hier: klick.
außerdem gelesen:
Katharina Röggla: Critical Whiteness Studies und ihre politischen Handlungsmölichkeiten für Weiße AntirassistInnen. Wien: mandelbaum kritik & utopie 2012 (Intro. Eine Einführung). 131 Seiten.
Der Fehlerteufel arbeitet jetzt als Faktenchecker | Übermedien → wenn die überprüfung der wahrheitsgehalte von politikeraussagen der überprüfung auf die wahrheitsgehalte nicht standhält – und die medien die überprüfung der überprüfung unterlassen – dann ist stefan niggemeier etwas genervt …:
Ach, es ist ein Kreuz. Und was für eine Ironie, dass mehrere Medien einen Faktencheck feiern, ohne grob die Fakten zu checken.
Da Neudeck keine Erfahrungen in diesem Feld hatte, trat er zunächst mit relativ unbedarften Konzepten für die Rettung und Überführung der Boat People ein. Doch gerade diese anfängliche Blauäugigkeit machte vieles möglich.
Neudecks Hilfsaktionen standen für einen Wandel des politischen Engagements in Deutschland. Im Unterschied zu den Solidaritäts- und „Dritte Welt“-Gruppen der 1970er Jahre waren sie nicht weltanschaulich konnotiert, sondern setzten überparteilich auf konkrete Hilfe. Nicht Theorien und Worte, sondern Taten ohne ideologischen Überbau zählten für ihn. </blockquote
Vergangene Woche reichten die Journalisten Klage vor dem Verwaltungsgericht Weimar ein. Die Polizei habe sich von den Neonazis instrumentalisieren lassen, kritisieren sie. „Die Platzverweise entbehren jeder Grundlage“, kritisiert Röpkes Anwalt Sven Adam. „Statt die Forderungen von Neonazis umzusetzen, muss die Polizei die Pressefreiheit durchsetzen.“
Gedichte sind nichts, was man mal eben hübsch nebenher liest, um sich an einem kleinen ästhetischen Kitzel zu erfreuen und dann alles wieder zu vergessen. Vielmehr können sie wie keine andere Art von Literatur Gesellschaft, ihre Sprache und ihre Struktur reflektieren, nach Übersetzbarkeit fragen, Normierungen unterlaufen – und damit Erkenntnis bieten. Nicht durch das, was sie sagen, sondern dadurch, wie Gedichte es sagen, wie sie mit sprachlichen Strukturen umgehen, sie wenden, ein Netz von Motiven auswerfen, Bedeutungen, Muster und Klänge aufgreifen und verschieben. Und so für Offenheit sorgen, Denkmöglichkeiten freilegen.
Kann man einen Roman als Palindrom schreiben? Oder ein Palindrom als Roman schreiben und lesen? Titus Meyer versucht es zumindest. Andere DNA heißt das Ergebnis (natürlich selbst eines der vielen Palindrome in diesem Palindrom), das – wie schon sein Band mit Palindrom-Gedichten – bei Reinecke & Voß erschienen ist. Ich habe jetzt nicht kontrolliert, ob das wirklich ein Palindrom ist. 56 Seiten sind zwar für einen Roman erst einmal nicht viel Text, aber sehr, sehr, sehr viel, um ein Palindrom zu überblicken. Ich vertraue da also mal Autor und Verlag …
Gegliedert ist Andere DNA als lose Folge von kurzen Abschnitten (meist 1–2 Seiten, manchmal auch mehr) mit so schönen Titeln wie „Sinnetennis“, „Banale Magd“ oder „Einsiedelei“, aber auch eher generisch („Tod“, „Zeit“, „Moral“ zum Beispiel). Hier gibt es tatsächlich so etwas wie thematische Zusammenhänge der wilden syntaktischen Konstruktionen Meyers. Als ganzes konnte ich dem Buch aber weder einen kohärenten Inhalt noch ein wirkliches Thema entnehmen. Darum geht es wohl auch gar nicht. Denn mit Erzählen hat das hier natürlich nichts zu tun. Es ist ja schon die Frage, ob man so etwas überhaupt Schreiben nennen kann. Und wer schreibt dann hier? Der Autor oder die Regel?
Aber wahrnehmen lässt sich trotzdem etwas. Die Sprache selbst, aber auch die bereits erwähnten Sinnzusammenhänge oder Sinnkonstrukte, die lassen sich also beobachten. Aber meist nur granular: Ein paar Sätze, viel mehr sind das selten („Einsiedelei“ ist so ein Fall, wo das auch mal über längere Strecke gelingt) – dann stolpert der Text wieder, der Sinn löst sich in alle Richtungen auf. Ich konnte das nur in kleineren Dosen lesen, nach ein paar wenigen Sätzen schon fängt der Kopf an zu schwirren.
Es gibt dabei durchaus schöne Stellen, wo auf einmal neue, gewagte, schöne Formulierungen aufblitzen. Auf irgendwelche Zusammenhänge darf man aber wirklich nicht zu sehr hoffen. Vor allem aber stellte sich mir immer wieder die Frage: Kann man das lesen? Und: Wie liest man so etwas eigentlich? Klassisches hermeneutisches Lesen funktioniert jedenfalls überhaupt nicht, das wird ganz schnell klar. Ich habe mich dann oft beim Lesen quasi selbst beobachtet und gemerkt, wie man aus kleinsten Hinweisen Zusammenhänge, ja sogar „Geschichten“ konstruieren will. Bis man – oder eben der Text – sich wieder bremst und sich irgendwann einfach der Sprache ausliefert, auch wenn das trocken und wüst scheint.
Und natürlich hat Andere DNA auch Momente einer Leistungsschau nach dem Motto: Seht her, auch das kann „Sprache“, das kann Literatur (und so etwas vertracktes bekomme ich als Autor hin …): Die Technologizität der Sprache pur sozusagen als literarischen Text verkörpern und aufzeigen. Ob das aber mehr ist? Ich bin mir nicht so sicher. Etwas anderes ist es auf jeden Fall. Und dann schwingt natürlich auch noch ein gewisses kompetitives Moment – ein so langes Palindrom gab es noch nie! – immer etwas mit. Insgesamt aber habe ich das dann doch eher als proof of concept denn als mögliche (Weiter)Entwicklung einer zeitgemäßen, zeitgenössischen Literatur gelesen. Aber vielleicht habe ich dabei auch zu sehr von der Oberfläche ablenken lassen, wer weiß …
Titus Meyer: Andere DNA. Leipzig: Reinecke & Voß 2016. 56 Seiten. ISBN 9783942901208.