Han­no Rauter­berg: Wir sind die Stadt! Urbanes Leben in der Dig­i­talmod­erne. 3. Auflage. Berlin: Suhrkamp 2014. 157 Seit­en. ISBN 9783518126745.

rauterberg, stadt (cover)Beobach­t­end und erk­lärend geht es in Wir sind die Stadt! um den neuen Umgang mit der Stadt und ihren Räu­men, um eine Art Re-Urban­isierung in der dig­i­tal­en Mod­erne. Das ist ein bewusstes Lob der Stadt der Vielfalt, der vielfälti­gen (wech­sel­nden, spon­ta­nen, insta­bilen) Koali­tio­nen, die aber auch über sich selb­st, über die Stadt hin­aus reichen, denn: “In der Stadt gedei­ht, wenn es gut geht, der Sinn für Staatlichkeit.” (149). Rauter­berg hat, das gibt er auch zu, vor allem die neuen pos­i­tiv­en Seit­en der Stadt im Blick — die Möglichkeit­en, die die dig­i­tale Mod­erne (also vor allem die Ver­net­zung im Netz und die Kom­mu­nika­tion mit Smart­phones etc.) für eine Art Wieder­bele­bung städtis­ch­er Räume eröffnet. Er sieht und beschreibt eher die pos­i­tiv­en Seit­en der Verän­derung der Stadt und des Lebens in der Stadt durch die dig­i­tale Mod­erne, ohne den Schat­ten aber ganz auszublenden. Sein Begriff der “Stadterquick­er” (56) bringt es vielle­icht am besten auf den Punkt: Er beobachtet eine neue Aneig­nung der Stadt, der urba­nen Räume indi­vidu­ell im Kollek­tiv: “Die Stadt wird zum Raum für ein Ich, das sich ohne Wir nicht denken möchte.” (75) Und genau das geschieht nicht (mehr) vor­wiegend planer­isch ges­teuert und auch nicht in erster Lin­ie (wenn über­haupt) in insti­tu­tion­al­isierten For­men (wie etwa Vere­inen), son­dern wesentlich flu­ider, schneller, spon­tan­er, aber auch kur­zlebiger. Die Offen­heit des Raumes der Stadt und der Stadt ist dafür Voraus­set­zung und wird durch diese per­ma­nente Umwid­mung, Aneig­nung, Inanspruch- und Inbe­sitz­nahme aber auch über­haupt erst kon­sti­tu­iert. Deshalb sieht Rauter­berg in den aktuellen Ten­den­zen und Möglichkeit­en eine neue, aktive und pos­i­tive Chance für Urban­ität: “Eine Stadt ist Stadt, wenn sie mit sich sel­ber uneins bleibt.” (129)

Bei dieser Art der Raumer­grei­fung han­delt es sich um weit mehr als eine Mod­eer­schei­n­ung oder das Freizeitvergnü­gen einiger Jungerwach­sen­er der Mit­telschicht. Es gäbe keine Wieder­bele­bung des öffentlichen Raums, würde sie nicht von einem bre­it­en gesellschaftlichen Wan­del der Ide­al­bilder und Leitvorstel­lun­gen getra­gen. Wie weit dieser Wan­del reicht, zeigt sich nicht zulet­zt daran, dass auch viele Stadt­plan­er ihr Ver­hält­nis zum Raum neu bes­tim­men, auf eine Weise, die aber­mals an manche der Kün­stler und Architek­ten denken lässt. Das Prinzip der Offen­heit und freien Aneig­nung, unvorherse­hbar und unge­hin­dert von äußeren Zwän­gen, ist mancherorts sog­ar zum neuen Leit­bild der Pla­nung avanciert. (37)
Die Stadt ist nicht länger Zone, sie darf wieder Raum sein, undefiniert. (39)

Saša Stanišić: Vor dem Fest. RM Buch und Medi­en 2014. 316 Seit­en.

stanisic, vor dem fest (cover)Jet­zt habe ich endlich auch mal ein Buch von Saša Stanišić. Vor dem Fest ist ein ganz inter­es­san­ter und schön­er Roman über Fürsten­felde, die Uck­er­mar­ck, Deutsch­land und auch ein biss­chen über die Welt. In kleinen, leicht auch zwis­chen­durch und mit jed­erzeit­i­gen Unter­brechun­gen kon­sum­ier­baren Häp­pchen-Kapiteln erzählt Stanišić ein Dorf und seine Bewohn­er in der ost­deutschen Prov­inz. Äußer­er Anlass ist die Nacht vor dem großen Anna-Fest, in der die meis­ten noch eine oder andere Vor­bere­itun­gen für den näch­sten Tag tre­f­fen. Zugle­ich weist der Text mit Quel­len­ab­schnit­ten weit in die Dor­fgeschichte bis zum 16. Jahrhun­dert zurück — wobei ich mir nicht sich­er bin, ob das ernst gemeint ist: Die Sprache dieser (Pseudo-)Quellen scheint mir zu oft nicht ganz zeit­gemäß, immer ein biss­chen daneben, so dass ich das eigentlich als Fälschun­gen aus der Hand der “Archivarin” lese — dazu passt ja auch das große geheimnisvolle Getue, das um die Dor­fchronik gemacht wird. Und dass es sie nicht geben kann, weil sie eigentlich dem Dorf­brand von 1742 zum Opfer gefall­en ist. Egal: Das ist alles recht unter­halt­sam und dur­chaus erhel­lend in seinen vie­len Per­spek­tiv­en, Stilen und Zeit­ebe­nen. Auch wenn ich manch­mal den Ein­druck hat­te, die Idee — mit der Nacht vor dem “Fest” das Dorf, seine Gemein­schaft, seine Geschichte und auch noch die Weltzusam­men­hänge darzustellen — wird etwas über­reizt. Unklar blieb mir zum Beispiel die Notwendigkeit, das auch noch auf die Tier­welt auszudehnen …

Sehr gut gefall­en hat mir aber der spielerische Umgang des Erzäh­lers mit seinem Text: Zum einen pro­duziert das Fab­u­lieren hier selb­st Fra­gen an den eige­nen Text, die auch Teil des Textes wer­den und bleiben. Zum anderen ist da dieses inklu­sives “Wir” des Erzäh­lers als dem Vertreter der Dorf­bevölkerung, das also den Erzäh­ler zu einem Teil sein­er Geschichte macht und zumin­d­est behauptet, dass hier nicht von ein­er Außen­po­si­tion erzählt wird (auch wenn es einige wenige Hin­weise auf eine Dif­ferenz gibt …). Aber, das ist inter­es­sant, dieses “wir” gilt nicht nur der derzeit­i­gen Dor­fge­mein­schaft, son­dern der aller Zeit­en. Über­haupt ist Vor dem Fest mit sein­er erzäh­lerischen Lust und Begeis­terung ein etwas kapriz­iös­er Text, der sich selb­st nicht über­mäßig ernst nimmt, son­dern Spaß am eige­nen Erzählen und Erfind­en hat und auch gerne das eigene Erzählen ein­fach miterzählt.

Der Fährmann hat ein­mal erzählt, es gebe im Dorf jeman­den, der mehr Erin­nerun­gen von anderen Leuten besitze als Erin­nerun­gen, die seine eige­nen sind. Das Dorf hat sofort geglaubt, er meint Ditzsche. Kön­nten aber andere gemeint gewe­sen sein, meinen wir. (233)

Olga Mar­tyno­va: Mörikes Schlüs­sel­bein. Graz, Wien: Droschl 2013. 320 Seit­en. ISBN 9783854208419.

martynova, mörikes schluesselbein (cover)Mörikes Schlüs­sel­bein ist so etwas sieein Wun­dertüten-Text: Der ganze Roman quillt über. Das fängt schon “vor” dem Roman an, mit der Über­fülle an Para­tex­ten, vor allem den extrem vie­len Mot­ti auf ver­schiede­nen Ebe­nen des Textes, die oft auch noch nicht allein, son­dern gle­ich zu mehreren auftreten. Und es geht im Text weit­er, mit sein­er etwas hyper­tro­phen Fülle an Stilmit­teln und auch an The­men. Ins­ge­samt präsen­tierte Mörikes Schlüs­sel­bein sich mir als ein ziem­lich umher irren­der Roman. Ich hat­te immer wieder den Ein­druck, der Text sucht seine/eine Stimme, da wird aus­pro­biert und ver­wor­fen, dass es eine Freude ist. Vielle­icht liegt es auch daran, dass sich Mar­tyno­vas Erzäh­lerin sehr von ihren Fig­uren (und davon gibt es eine ganze Menge) und ihrem Eigen­leben treiben lässt — so war zumin­d­est mein Ein­druck.

Auf jeden Fall ist das vir­tu­os erzählt — aber was wird eigentlich erzählt und warum? Die Frage stellt sich schon früh beim Lesen, bis zum Ende habe ich keine richtige Antwort gefun­den (auch in den Rezen­sio­nen übri­gens nicht …). Das hängt natür­lich damit zusam­men, das Mörikes Schlüs­sel­bein ein Episo­den­netz ohne Zen­trum und ohne Rand ist, dessen Zusam­men­hänge teil­weise bewusst unklar bleiben. Da fühlt man sich manch­mal etwas ver­loren im Text — was, um es noch ein­mal zu sagen, nicht heißt, es wäre ein schlechter Text: vieles gefällt (mir), vieles ist gut, geschickt und sehr über­legt gemacht. Nur sehe ich kein Ziel außer dem Zeigen der Ziel­losigkeit, dem Vor­führen des Fehlens von (verbindlichen) Zie­len und Zusam­men­hän­gen. Vielle­icht habe ich auch schlecht gele­sen, näm­lich mit mehreren (unge­planten) Unter­brechun­gen, die mich zu viel ver­lieren ließen?

So lese ich Mörikes Schlüs­sel­bein als ein Spiel mit den Gren­zen von Real­itäten und Wahrschein­lichkeit­en (die selt­samen Zeitreisen- bzw. Zeitvek­toren-Episo­den, die so irrlichternd in den Text hineingeschichtet sind, verdeut­lichen das vielle­icht am besten). Über­haupt spielt der Roman auf allen Ebe­nen, vom Zeichen (bzw. sein­er typographis­chen Repräsen­ta­tion, etwa mit unter­schiedlichen Schwarzsät­ti­gun­gen …) bis zur Makro­form (deren Struk­tur ich über­haupt nicht ver­standen habe …). Und die Mot­ti nicht zu vergessen, die auf ver­schiede­nen Ebe­nen den Text sehr reich­haltig zieren. Und irgend­wie, das macht Mörikes Schlüs­sel­bein doch immer wieder inter­es­sant, gelingt es Mar­tyno­va, damit (fast) das ganze 20. Jahrhun­dert zu erzählen, mit der Geschichte Deutsch­lands, dem Zweit­em Weltkrieg, USA, UdSSR bzw. Rus­s­land und dem Kalten Krieg etc. pp. Und noch die aben­teuer­lich­sten Kuriositäten wer­den von Mar­tyno­va erzählt, als seien sie das nor­mal­ste auf der Welt: Klar, das zeigt (wieder mal) den Ver­lust (all­ge­me­ingültiger) Maßstäbe: alles gilt (gle­ich viel) — aber war es das schon? Oder will der Text noch mehr? — Da bin ich rat­los. Rat­los übri­gens auch beim Klap­pen­text — ob der absichtlich so blödsin­nig-nichtssagend ist? Eigentlich habe ich vom Droschl-Ver­lag eine bessere Mei­n­ung. Aber diesen Text als einen „Roman über Fam­i­lie und Fre­und­schaft: liebevoll, weib­lich, scharf­sichtig und humor­voll“ zu charak­ter­isieren kann ja nicht wirk­lich ernst gemeint sein. Sich­er, humor­voll ist der Text, das Lesen macht immer wieder große Freude. Aber was ist daran bitteschön weib­lich?

Wenn man Wolkenkratzer mit Kathe­dralen ver­gle­icht, meint man irrtüm­licher­weise in erster Lin­ie ihre gesellschaftliche Bedeu­tung: Macht und Reich­tum, die über das Leben der gemeinen Men­schen empor­ra­gen. Aber sie haben eine architek­tonis­che Funk­tion: die Men­schen dazu zu brin­gen, den Blick zum Him­mel zu erheben. Dazu nützt irgen­deine schöpferische Kraft die Macht, den Reich­tum und die wan­dern­den Bauleute, dachte Mari­na und hörte die Fet­zen ein­er (oder mehrerer) osteu­ropäis­ch­er Sprache(n), bedrohliche Zartheit in den gedehn­ten Laut­en. (165)

Diet­mar Dath: Lei­der bin ich tot. Berlin: Suhrkamp 2016. 463 Seit­en. ISBN 9783518466544.

dietmar dath, leider bin ich tot (cover)Diet­mar Daths Schaf­fen kann ich in seinen Verästelun­gen – ich kenne wed­er einen anderen Autor, der so vielfältige The­men­felder beack­ert noch bei so vie­len unter­schiedlichen Ver­la­gen veröf­fentlicht – kaum noch nachvol­lziehen. Aber wenn ich dann ab und an wieder etwas aus sein­er schw­er beschäftigten Fed­er lese, ist es immer wieder über­raschend und erquick­end. Das gilt auch für Lei­der bin ich tot. Der Text hängt irgend­wo zwis­chen Sci­ence-Fic­tion, Wis­senschaft­sthriller, poli­tis­chem Roman, Kri­mi und was weiß ich noch alles. Genau­so “wild” ist auch die erzählte Geschichte, die sich kaum vernün­ftig zusam­men­fassen lässt (und ohne wesentliche Plot­twists zu ver­rat­en schon gar nicht …, ziem­lich gut macht das Son­ja Grebe auf satt.org). Es geht um höhere Intel­li­gen­zen, um Reli­gio­nen und Göt­ter, auch um Ter­ror und Gewalt in allen möglichen For­men. Und ganz wesentlich auch um Zeit, um die Zeit — es zeigt sich näm­lich, dass manche Fig­uren in Lei­der bin tot die Zeit aus ihrem Strahlen­da­sein befreien kön­nen und eine Zeitschleife in Form eines Möbius­ban­des schaf­fen. Das bringt nicht nur so einige neue Möglichkeit­en, auch der Manip­u­la­tion, ins Spiel, son­dern sorgt auch für reich­haltige Ver­wirrun­gen und Irrlichtereien.

Außer­dem steckt in Lei­der bin ich tot – und darin ist es ein typ­is­ch­er Dath-Roman – ganz viel Gegen­warts­beschrei­bung und ‑diag­nose. Der Autor hat einen schar­fen Blick, er sieht und erken­nt unheim­lich viel und kann es in seinen Roman – mal ele­gan­ter, mal etwas plumper – alles hinein­pack­en. Der Ver­lag behauptet im Klap­pen­text zwar, das sei eine “Med­i­ta­tion”, aber das halte ich für Unsinn. Dafür ist das Buch schon viel zu action­ge­laden. Sich­er, es wird viel gedacht und viel über philosophis­che, the­ol­o­gis­che, erken­nt­nis­the­o­retis­che Prob­leme gere­det. Aber das ist nur eine Ebene des vielfälti­gen Textes. Die Vielfalt ist eh Dath-typ­isch. Genau wie das zunächst ganz real­is­tisch erscheinende Erzählen, das sich dann nach und nach leicht ver­schiebt, immer ver­schroben­er wird und immer etwas ver­rück­ter, grausamer und berech­nen­der (im tech­nis­chen Sinn). Und Büch­er, die ihren Autor selb­st so wun­der­bar unernst-selb­stiro­nisch auftreten lassen, sind sowieso meis­tens ein großes Vergnü­gen. Und das gilt für Lei­der bin ich tot auf jeden Fall.

»Krieger. Leute im Krieg. Die nur verklei­det sind als Kün­stler oder Intellek­tuelle. Nicht? Wir sind … wir müssen immer die Besten sein. Die Schön­sten, die Unwider­stehlich­sten. Wir sind Klugscheißer und Zauber­er und Träumer. Wir sind Rechthaber, weil wir …«
»Ver­let­zte sind.« (63)

Urs Jaeg­gi: Bran­deis. Darm­stadt, Neuwied: Luchter­hand 1978. 269 Seit­en. ISBN 347296463X.

Noch ein erstaunlich span­nen­der und inter­es­san­ter Zufalls­fund. Ich muss geste­hen, dass mir Urs Jaeg­gi, der als Sozi­ologe auch immer wieder bel­letris­tisch tätig war, bis dato unbekan­nt war. Das ist schade, denn Bran­deis ist nicht nur ein faszinieren­der Zeitro­man, son­dern auch ein aus­ge­sprochen guter Roman. Bran­deis, die Haupt­fig­ur und Erzäh­ler­stimme, aus deren per­son­aler Per­spek­tive alle drei Teile erzählt wer­den, ist sozusagen das alter ego des Autors: Sozi­olo­gie, der zu Beginn noch in der Schweiz (in Bern) lehrt, dann an die neuge­grün­dete, noch zu bauende bzw. im Auf­bau begrif­f­ene Uni­ver­sität in Bochum berufen wird, einige Zeit als Gast­dozent in New York weilt und zum Schluss (“Berlin 1977”) in Berlin einen Sozi­olo­gie-Lehrstuhl innehat — die äußeren Sta­tio­nen entsprechen Jaeg­gis Kar­riere genau. Das aber nur neben­bei.

Inter­es­sant ist anderes. Bran­deis ist ein poli­tisch aktiv­er, empirisch arbei­t­en­der Sozi­ologe, der sich aus ein­er dezi­diert linken (marx­is­tis­chen) Posi­tion auch und vor allem sehr inten­siv mit seinen Studieren­den und ihrem Blick auf die Welt und Gesellschaft auseinan­der­set­zt. Das ermöglicht zum einen eine span­nende Darstel­lung der Kon­flik­te am Ende der 1960er Jahre an den Hochschulen (aber auch einen Blick auf die Dif­ferenz der dor­ti­gen Diskus­sio­nen und Sit­u­a­tio­nen zu den Gegeben­heit­en der Arbeit­er­schaft, etwa bei den Bochumer Opel-Werken) über die Entwick­lung zum linksradikalen Ter­ror­is­mus und den Viet­namkrieg bzw. dem Kampf gegen den Krieb bis zu den amerikanis­chen Bewe­gun­gen Anfang der 1970er Jahre wie Black pow­er und Fem­i­nis­mus. Und es gibt dem Autor einen sehr klu­gen, ana­lytis­chen Erzäh­ler, der bei seinem Blick auf die Welt auch die eige­nen Posi­tion und deren the­o­retis­che Voraus­set­zun­gen immer wieder mitbe- und über­denkt. Äußer­lich passiert dann gar nicht so sehr viel, es wird vor allem gere­det und disku­tiert, gestrit­ten und demon­stri­ert, analysiert und erk­lärt.

Der zweite, sehr inter­es­sante Punkt ist die Form von Bran­deis. Die ist näm­lich für die Entste­hungszeit — der Roman ist immer­hin schon 1978 erschienen — erstaunlich avanciert und auf der Höhe der Zeit. Und es zeigt sich auch, dass sich in den Jahrzehn­ten sei­ther bei den zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­teln für Prosa­texte erstaunlich wenig getan hat. Bran­deis ist genau­so frag­men­tiert wie ein ordentlich­er post­mod­erne Roman der Gegen­wart, er nutzt viele Errun­gen­schaften des mod­er­nen Romans, auch sein Erzäh­ler spricht in zwei Per­spek­tiv­en und reflek­tiert das auch gerne selb­st:

Oh, ja. Ich weiß, Fre­und, hier geht es kreuz und quer: ich und er. Er Bran­deis und ich Bran­deis. Ich habe es sowieso pro­biert: »Ich« in die Gegen­wart zu set­zen, »Er« in die Ver­gan­gen­heit. Ganz logisch. Logisch: und doch ging es dann gle­ich wieder durcheinan­der, obwohl ich weiß: Ord­nung muß sein, wie bei den Fußnoten, was die Deutschen so gut kön­nen und die Fran­zosen nie ler­nen, nicht ler­nen wollen. Also gut. (97)

Über­haupt ist der ganze Roman erstaunlich selb­st­be­wusst und reflek­tierend. Und Jaeg­gi gelingt es aus­ge­sprochen gut, die Vielfalt der for­malen Gestal­tungse­le­mente zu nutzen und recht har­monisch miteinan­der zu verbinden (auch wenn sich an eini­gen Stellen vielle­icht manche Länge eingeschlicht­en hat).

Das so ein großar­tiger Text nicht zum Kanon deutschsprachiger Lit­er­atur gehört (selb­st der Luchter­hand-Ver­lag, bei dem seine Romane erschienen, ken­nt ihn nicht mehr …), ist eigentlich erstaunlich. Aber ander­er­seits vielle­icht auch symp­to­ma­tisch: Längst näm­lich scheint mir die Lit­er­atur zunehmend ihre eigene Geschichte (und damit auch ihre eige­nen Voraus­set­zun­gen und (schon ganz banal handw­erk­lichen) Errun­gen­schaften) zu vergessen – es bleiben let­ztlich ein­fach nur ein paar wenige Texte und Autoren dauer­haft im kollek­tiv­en Gedächt­nis. Stattdessen tut man – und das schließt sowohl die Pro­duzentin­nen als auch die Rezip­i­en­ten (wie etwa die Lit­er­aturkri­tik) ein – gerne so, als würde jede Sai­son, spätestens aber jede Gen­er­a­tion die Lit­er­atur neu erfun­den. Die Lek­türe von Tex­ten wie dem Bran­deis würde da mehr helfen als die “Wieder­ent­deck­ung” einst pop­ulär­er Romane von von Fal­la­da, Keun etc.

Die Geschichte tut nichts, sagt Bran­deis, sie kämpft keine Kämpfe. Es ist der Men­sch, der wirk­liche, lebendi­ge, Men­sch, der alles tut, besitzt oder erkämpft. Es ist nicht die Geschichte, die den Men­schen zum Mit­tel braucht, um ihre Zwecke durchzuar­beit­en, als ob sie eine aparte Per­son wäre; die Geschichte ist nichts als die Tätigkeit der ihre Zwecke ver­fol­gen­den Men­schen. (21)

außer­dem gele­sen: