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Durch die transparente Fassade sah sie den Journalisten auf sich zukommen, durch eine Art sekundärer Absperrung oder Klappglasschranke, wie bei einem Saloon in einem futuristischen Western. So also sah das hier aus: Die Öffentlichkeit, dachte Anna, veränderte sich zwar schneller als die Tatsachen, für die sich diese Öffentlichkeit interessierte. Das geschah aber nicht einfach in der Art, erkannte sie jetzt, dass die alten Mächte sofort nachgaben und sich von den neuen stürmen ließen. Solange der traditionelle Journalismus noch in Bauten wie diesem veranstaltet wurde, während die Blogs in schäbigen Wohnungen wie ihrer entstanden, wo zwei Frauen zusammen nicht mal ein komplettes Bett besaßen, war die ganze scheißdigitale Scheißrevolution jedenfalls noch nicht vollendet. Dietmar Dath, Leider bin ich tot, 349
Irène Schweizer & Pierre Favre, Flying over the Limmat:
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(ich höre mich gerade durch einige der älteren Schweizer-Aufnahmen – da sind wirklich tolle Sachen dabei …)
Ins Netz gegangen am 20.7.:
- Terrorismus: „Unsere Welt gerät aus den Fugen“ | Zeit → harald welzer hat im interview mit der „zeit“ wenig genaues oder originelles zu sagen, aber das sagt er sehr gut
Aber man muss im Auge haben, dass Ängste politisch mobilisierbar sind. Das ist die eigentliche Katastrophe. Eine Politik der Angst führt immer zur Polarisierung der Gesellschaft und damit zu dem, was die Terroristen beabsichtigen.
- Lann Hornscheidt: „Es ist eine Frage der Zeit, bis wir bei der Geburt kein Geschlecht mehr zugewiesen bekommen“ | zeit → lann hornscheidt im langen interview mit zeit-wissen, natürlich über sex, gender, geschlecht, sprache, identität und gesellschaft. und hass.(kanada ist übrigens gerade dabei, sich um die im titel angesprochene veränderung zu kümmern …)
(und wie immer: die kommentare sind trotz nicht gerade wenigen löschungen nicht so wirklich erfreulich) - Countertenor über Geschlechterrollen: „Es ist so ein Erfülltsein“ | taz → ein wunderbares interview mit dem großen andreas scholl, der ganz viel richtiges und wichtiges sagt …
Das Konzert, und da kommen wir wieder zurück auf die Religiosität, auf die Spiritualität, hat die Aufgabe, transformierend zu wirken. Das heißt: Das Publikum betritt den Saal. Und wenn das Publikum den Saal verlässt, ist es verändert.
- Das Postpost oder Wege aus dem Ich | Perlentaucher → charlotte kraft beim „perlentaucher“ über die gegenwärtige junge literatur und ihre inhalte
Was prägt also diese Zeit und ihre Literatur: Die Angst vor Epigonalität, die Angst vor Meinungen, die Angst vor Entscheidungen, die Angst vor dem unergründbaren Fremden, vor Träumen, Leidenschaft und Naivität, denn all dies bedeutet Ausschluss, gefährliche Eindimensionalität. Leidenschaft für das eine schlösse Leidenschaft für all das andere aus, das Fremde ist nie in seiner Gänze zu begreifen, die ganze Wahrheit bleibt immer unausgesprochen und das Bewusstsein darüber ist unser Drama. Am Ende kann ich mich nie für eines entscheiden. Am Ende bleibt nur die Resignation und das Verlangen, über meine Not zu schreiben, zu reflektieren und diese Reflexion wiederum zu reflektieren und immer so weiter. Die Konzentration auf ein anderes Thema als das Ich, das Zentrum unendlicher Möglichkeiten, scheint unmöglich. Egozentrismus ist keine Entscheidung.
- Der Fall Rockel-Loenhoff: Eine Hebamme und die tödliche Brauchtumspflege (Teil 2: Täterin und Tat) | Psiram → Psiram legt die geschehnisse anhand der urteilsschrift dar – wesentlich nüchterner als etwa die „süddeutsche“ in ihrem tendenziösen pro-hebamme-artikel vor einiger zeit
- The Open Letter Denouncing Trump You’re Going to Read on Facebook for the Next Four Months | The New Yorker → der new yorker hat den republikanern mal etwas arbeit abgenommen und einen muster-blogpost (schön generisch) zur individuellen distanzierung und verdammung von donald trump verfasst
- François-Xavier Roth: „Rundfunkorchester sind unglaubliche Maschinen für die Musik, für die Zukunft“ | nmz →
Es wäre natürlich besser gewesen, wenn das Orchester erhalten geblieben wäre, aber diese Entscheidung nehme ich nicht persönlich. Es geht nicht um mich. Aber ich habe viel gelernt darüber, in welcher Zeit wir leben. Dass sich die Tendenzen in Deutschland gerade gegen die Kunst richten. Diese Fusion war ein erstes Kapitel – und ich hoffe, es war auch das letzte. Diese Entscheidung hat sehr viel zu tun mit Populismus. Ich bin sehr enttäuscht darüber, dass sich Vertreter der Rundfunkorchester Deutschlands nicht an einem runden Tisch getroffen haben. Nach unserer Geschichte, die wir erleben mussten, wäre dies wirklich absolut notwendig. Rundfunkorchester sind unglaubliche Maschinen für die Musik, für die Zukunft. Aber man muss dies herausstreichen in der öffentlichen Diskussion. Man muss sehr laut und kreativ sein.
Der gestrige Arbeitsplatz schaut etwas anders aus: Aufgrund einer sehr langwierigen Reparatur/Sanierung des Daches der Evangelischen Stadtkirche in Erbach findet der Gottesdienst momentan im dortigen Gemeindehaus statt. Und da steht „nur“ ein chinesischer Stutzflügel. Da der Gottesdienstbesuch im Vergleich zur Gemeindegröße aber auch nicht gerade umwerfend ist, reicht der auch durchaus aus. (Und schön: Beim Gottesdienst bleiben die Fenster offen, da können die Vögel auch mithören und mitsingen …)
Hans Jürgen von der Wense: Die Schaukel. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Reiner Niehoff. Mit einer Lektüre von Valeska Bertoncini. Berlin: blauwerke 2016 (splitter 08). 52 Seiten. ISBN 9783945002087.
Das sind zwei (sehr) kleine Texte – Essays wohl am besten zu nennen – die sich auf den ersten Blick ganz unterschiedlichen Themen widmen: Über das Stehen widmet sich der Statik (des Menschen), Die Schaukel dagegen einem Ding, das wie kaum ein anderes Bewegung vergegenständlicht.
Natürlich stimmt der Gegensatz bei Hans Jürgen von der Wense so eigentlich gar nicht. Das merkt man schon, wenn man den ersten Satz in Über das Stehen liest:
Stehen ist eine bewegung; es ist schwanken und wanken, um sich im gleichgewichte zu halten, aufrecht.. Stehen ist eine lage. (13)
Dem folgt ein manchmal meines Erachtens etwas ausfasernder Essay über das Stehen, der mich vor allem in seinen weltetymologischen Abschnitten nicht immer gleichermaßen faszinieren konnte. Trotzdem ein schönes „Groschenheft des Weltgeistes“ – so nennt der kleine, rührige blauwerke-Verlag seine splitter-Reihe, die im kleinen Notizheftformat kleine Texte mit viel zusätzlichem (Archiv-)Material vorbildlich ediert und zu wohlfeilen Preisen (nämlich jeweils 1 Euro) zugänglich macht. Auch diese beiden Wense-Essays haben jeweils ein einführendes Vorwort von Reiner Niehoff, das unter anderem über Entstehungszusammenhänge und Publikations- bzw. Überlieferungsgeschichte berichtet, und ein einordnendes, erklärendes „Nachwort“ von Valeska Bertoncini, das als „Lektüre“ fungiert.
Das gerade erst erschienen Heft Die Schaukel bietet einen recht kurzen Wense-Text von wenigen Seiten, der sich – quasi kulturgeschichtlich avant la lettre – mit dem Gegenstand, dem Ding „Schaukel“ und vor allem seinen Bedeutungen und Implikationen für den Menschen (ob er nun schaukelt, anstößt oder zuschaut …) befasst. Auch eine sehr vergnügliche, kluge und bereichernde Lektüre. Denn an der Schaukel fasziniert Wense offenbar die Gleichzeitigkeit bzw. dingliche Identität von Bewegung und Ruhe, von der Möglichkeit, bei sich selbst zu sein und zugleich über sich hinaus zu gelangen:
Schaukeln ist Mut-Wille. Es ist Entfernen, Abweichen von der Mitte, dem Ruhe-Punkte, Ab-Fall. (23)
Das Meer ist ein alter Bekannter, der warten kann ist ein interessanter Gedichtband. Nicht nur des schönen Titels wegen. Und auch nicht nur der graphischen Ausstattung wegen. Sondern vor allem wegen der schöpferischen Kraft, die Starcke aus letztlich einem Theman, einem Gegenstand entwickelt: Dem Meer. Denn darum geht es in fast allen Gedichten. Und trotz der monothematischen Anlage des Bandes – neben dem Meer spielen Sand, Wolken und der hohe Baum vor dem Haus noch eine gewisse Rolle –, der erstaunlich engen Fixierung auf einen Ort und eine Position des Betrachters und Schreibenden ist das alles andere als langweilig. Eine Rolle spielt dabei sicherlich die vergehende Zeit, deren Lauf man beim Lesen des Bandes gewissermaßen nachvollziehend miterleben kann.
Man ist dabei, sozusagen, alleine mit dem Meer. Menschen kommen nämlich recht selten (wenn überhaupt vor). Das Meer selbst ist in diesen Gedichten vor allem als instabile Stabilität, als dauerhafter Wandel, als vergehende/bewegte/bewegende/fortschreitende Zeit präsent. Auch wenn oft ein recht prosaischer Duktus vorherrscht, kaum Sprachspiele oder ausgefallene, gesuchte Bilder zu entdecken und entschlüsseln sind, ist das dennoch gerade in den Details oft sehr spannend, in den kleinen Abweichungen, den minimalen Störungen und poetischen Signalen (etwa bei der Wortstellung, der Kommasetzung, der (unterbrochenen) Reihung). Fast jedes Gedicht hat einen Moment, einen (Teil-)Satz, der besonders berührt, der besonders die Intensität (des Erlebens vor allem) ausstrahlt. Als „wegzehrung der erinnerung“ (56) sind die Gedichte aber immer auch ein Versuch, die Vergänglichkeit festzuhalten.
Viele dieser Meer-Gedichte funktionieren dabei wie ein „inneres fernglas“ (56): der Blick auf die Landschaft der Küste (ich glaube, das Wort „Küste“ kommt dabei gar nicht vor, nur Meer, Sand, Wolken und Himmel als Elemente des Übergangsraums) ermöglicht und fördert den Blick nach innen, mit dem gleichen Instrumentarium, das zugleich das große, weite Panorama erfasst und das kleine, maßgebliche Detail. Und obwohl es oft um Vergänglichkeit und Abschied geht, um Ort- und Heimatlosigkeit, bleibt den Gedichten eine auffällige Leichtigkeit eigen: Die Sprache bleibt locker, die Bilder beweglich, das Syntaxgefüge flexibel, die Begriffe immer konkret: „sie [d.i. die geschichten vom meer] lieben das offene /im verborgenen.“ (47) heißt es einmal – und damit ist Methode Starckes in Das Meer ist ein alter Bekannter, der warten kann als Motto ziemlich genau beschrieben.
vielleicht, dass sich
unterm meer ein
weiteres meer versteckt
wie erinnerungen im
sand der gedanken, die,
für geheimnisse offen,
momente von stille verkörpern.
an seinen geräuschen, schlussverse (72)
Juli Zehs Unterleuten hält sich zwar hartnächkig auf der Bestseller-Liste, ist aber eigentlich ein eher langweiliges, unbemerkenswertes Buch. Das ist routiniert erzählt und kann entsprechend mit unbeteiligter Neugier ohne nachhaltigen Eindrcuk gelesen werden. Vieles in dem Plot – den ich jetzt nicht nacherzähle – ist einfach zu absehbar. Dazu kommt noch ein erzählerisches Problem: Der Text wird mir permanent erhobenem Zeigefinger erzählt, bei jeder Figur ist immer (und meist sofort) klar, was von ihr zu denken ist – das wird erzählerich überdeutlich gemacht. Dazu eignet sich der wechselnde erzählerischere Fokus der auktorialen Erzählerin natürlich besonders gut. Das Schlusskapitel, in dem sie (bzw. eine ihrer Instanzen) als Journalistin, die Unterleuten recherchiert hat, auftritt und die Fäden sehr unelegant zum Ende führt, zeigt sehr schön die fehlende künstlerische/poetische Imagination der Autorin: Das ist so ziemlich die billigste Lösung, einen Schluss zu finden – und zugleich auch so überaus unnötig … Andererseits hat mich die erzählerische Anlage schnell genervt, weil das so deutlich als die einfachste Möglichkeit erkennbar wir, alle Seiten, Positionen und Beteiligten des Konflikts in der Pseudo-Tiefe darzustellen.
„[E]ine weitreichende Weltbetrachtung, einen Gesellschaftsroman mit einer bestechenden Vielfalt literarischer Tonlagen, voller Esprit und Tragik, Ironie und Drastik“, die Klaus Zeyringer im „Standard“ beobachtet hat, kann ich da beim besten Willen nicht erkennen. (Jörg Magenau hat die „Qualitäten“ des Romans in der „Süddeutschen Zeitung“ besser und deutlicher gesehen.) Letztlich bleibt Unterleuten ein eher unspannender Dorfkrimi, der sich flott wegliest, (mich) aber weder inhaltlich noch künstlerisch besonders bereichern konnte. Schade eigentlich.
Auch :nachkommen nacktkommen ist wieder so ein Zufallsfund, bei dem ich dem Verlag – hochroth – vertraut habe … Sophie Reyers Gedichte sind knapp konzentrierte Kurzzeiler, die oft abgründig leicht sind, aber immer sehr auf den Punkt gedacht und formuliert sind – beziehungsweise auf den Doppelpunkt als Grenze und Übergang, der den Beginn aller Gedichte zeichenhaft markiert. Immer wieder fallen mir die kühnen, wilden, ja geradezu überbordenden und überschießenden Bilder auf, die jeglicher sprachlicher Ökonomie Hohne sprechen und die, so scheint es mir, manchmal auch einfach nur um ihrer selbst willen da sind. Außerdem scheint Reyer eine große Freude am Spiel mit Assonanzen und Alliterationen zu haben. Überhaupt ist vielleicht das Spiel, der spielerische Umgang mit Sprache und Einfällen trotz der Themen, die einen gewissen Hang zum Dunkeln aufweisen, besonders bezeichnend für ihre Lyrik.
Manches wirkt in :nachkommen nacktkommen auch eher wie das spontane Notat einer Idee, wie eine Einfallsskizze im Notizbuch der Autorin und noch nicht wie ein fertiges Gedicht. Zweizeiler wie der auf S. 27 zum Beispiel:
die kursivschrift des kornfelds
sonnen strahlen stenographie
Interessant fand ich bei der Lektüre auch, dass Takt und Rhythmus der Lyrik wiederholt (im Text selbst) anzitiert werden, durch die Texte aber nur sehr bedingt (wenn überhaupt) umgesetzt werden. Vielleicht kommt daher auch der Eindruck der Spontanität, des augenblicklichen Einfalls …
:nachkommen nacktkommen ist dabei ein typisches kleines hochroth-Bändchen – ich mag das ja, ich brauche nicht immer gleich 80–100 Seiten Lyrik von einer Autorin, es reichen oft auch 20, 30 (kleinere) Texte. Und die Kaufhürde ist auch nicht so hoch, wenn das nur 8 Euro statt 25 sind … Zudem sind die hochroth-Publikationen eigentlich immer schön gemacht, liebevoll und umsichtig gestaltet. Die hier ist die erste, bei der mir typographische Fehler aufgefallen sind – ein nach unten „fallendes“ l, das ich auf sechs Seiten ziemlich wahllos verstreut gefunden habe (aber wer weiß, vielleicht ist das ja auch ein geheimes feature der Texte, das sie auch ganz geschickt mit dem Paratext verbindet?).
Wolf Graf von Kalckreuth: Gedichte und Übertragungen. Herausgegeben von Hellmut Kruse. Heidelberg: Lambert Schneider 1962. 190 Seiten.
Über die schmale Auswahl beim feinen hochroth-Verlag bin ich eher zufällig auf die Lyrik Wolf von Kalckreuths gestoßen. Kalckreuth ist gewissermaßen eine tragische Figur: 1887 in eine Militär- und Künstlerfamilie geboren, setzt er seinem Leben bereits 1906 ein Ende. Bis dahin war er in der Schule, hat sein Abitur gemacht, ist etwas gereist und dann – trotz eigentlicher Nicht-Eignung – im Oktober 1906 auf eigenen Wunsch ins Militär eingetreten, wo er es keine zehn Tage bis zu seinem Freitod aushielt. In dieser kurzen Lebenszeit entstanden aber nicht nur eigene Gedichte, sondern auch diverse (wichtige) Übersetzungen der Lyrik Verlaines und Baudelaires.
Erstaunlich ist in seinen Gedichten immer wieder die ausgesprochen sichere (handwerkliche) Sprach- und Formbeherrschung trotz des jungen Alters. Nicht immer und nicht alles ist wahnsinnig originell, vieles ist sehr deutlich einer späten Spätromantik verhaftet, die aber durch die mal mehr, mal weniger zaghaften Einflüsse des Expressionismus interessant wird. Viele seiner Gedichte pendeln sich gewissermaßen in der Dialektik von Verfall und Sehnsucht ein. Und aus ihnen spricht auch immer wieder das Bewusstsein um die eigene (Ver-)Spätung, um Endzeit, Untergang, vor allem aber Sterbenswunsch und Todessehnsucht etc. – nicht ohne Grund spielen die Dämmerung (und natürlich die Nacht), der Abend und der Herbst eine große Rolle in diesen Gedichten.
Aber was mich wirklich am meisten fasziniert hat, war doch die sorgsame Fügung der Gedichte, gerade der Sonette, die nahe an perfekte Gedichte heranreichen. Die hochroth-typisch sehr kleine Auswahl – 26 Seiten inkl. Nachwort! – hat mich dann immerhin neugierig gemacht und mich zu der deutlich umfangreicheren Auswahl von 1962 greifen lassen. Da finden sich natürlich auch wieder viele faszinierende Sonette, aber auch interessante und anregende Gedichte, eigentlich ja Elogen, auf Napoleon, den Kalckreuth wohl sehr bewunderte. Und schließlich enthält der Band auch noch eine umfangreiche Abteilung mit Übersetzungen der Lyrik Verlaines und Baudelaires, beide auch wesentliche Vorbilder und Einflüsse Kalckreuths.
Das Leben eilt zum Ziele wie eines Weltstroms Flut
Die uns ins Meer entführt mit dunklen Wogenmassen,
In schwindelhafter Hast, die nie entschlummernd ruht,
Bis wir das eigne Herz erkennen und erfassen. (72)
Eine nette kleine Satire – das heißt, ein scharfer und bissiger Text, der das deutsche Universitätssystem und ‑leben, insbesondere aber die zeitgenössische Studierendengeneration gekonnt aufspießt. Nur notdürftig fiktionalisiert, bekommen so ziemlich alle ihr Fett weg: Die Studierenden, die Lehrenden vom akademischen „Unterbau“ über den Mittelbau bis zu den vertrottelten Emeriti, von der Verwaltung bis zur Presse und Politik. Selbst die Hauptfigur, Michelle, ist so überhaupt nicht liebenswert, sondern – natürlich als Zerrbild – eher ein abschreckendes Beispiel der Ziel- und Vernunftlosigkeit als ein Identifikationsangebot für den Lesen. Sehr schön fand ich den erzählerischen Kunstgriff, dass sich die Erzählerin selbst mit ihrer eigenen Stimme wiederholt einmischt und sich und ihren (?) Text im Text selbst gleich mitkommentiert (auf die eher unwitzige Herausgeberfiktion hätte ich dafür gerne verzichten können).
Hier ist die Erzählerin. Sie reibt sich die Hände, weil sie dieses harmlose Mädchen mit groben Strichen entworfen hat und sich jetzt schon, wo die Erfindung doch gerade erst zu leben begonnen hat, darauf freut, ihr Knüppel zwischen die Beine zu werfen. (13)
Trotz einiger handwerklicher Mängel wie etwa einem schlecht gearbeiteten Zeitsprung oder einer etwas ungefügen Makrostruktur ist Hier kommt Michelle einfach nett zu lesen, aber halt auch – der Umfang verrät es ja schon – recht dünn. Der Witz ist eben schnell verbraucht, die Unterhaltung trägt auch nicht viel länger. Zum Glück hat Annette Pehnt das nicht übermäßig ausgewalzt, denn viel mehr als diesen kleinen Text gibt die Grundidee alleine wohl nicht her.
Das war auch eine wichtige Lektion: Nicht alles geht sie etwas an, es ist gut, allzu fremden oder schwierigen Zusammenhängen nicht auf den Grund zu gehen, man muss sich zurückhalten und sich auf das beschränken, was man kennt und kann, und das gilt auf jeden Fall auch für das Studium in Sommerstadt, das Michelle nun mit neuem Élan, aber auch einer Reife angeht, die sie schon am zweiten Tag befähigt, zum Junganglisten zu gehen und zu fragen, ob er sie brauchen kann. (120)
außerdem gelesen:
- Philipp Tingler: Juwelen des Schicksals. Kurze Prosa. Zürich: Kein und Aber 2005.
- Georges Bataille: Der große Zeh. Hrsg. & übers. von Valeska Bertoncini. Berlin: blauwerke 2015 (splitter 01). 80 Seiten.
- Rainer Hoffmann: Abduktionen, Aberrationen I. Bern: edition taberna kritika 2011. 57 Seiten.
Ins Netz gegangen am 14.7.:
- Wissenschaftliche Analyse: Mindestens zehn Prozent der Fußballprofis gedopt | FAZ → eine – erste – untersuchung zum doping im profifußball geht von 9,8 bis 35,1 prozent gedopter sportler in deutschland aus. kontrolliert werden fast die hälfte höchstens ein mal im jahr. sehr bezeichnend auch:
Er selbst musste seine Befragung in Deutschland quasi heimlich, über seine privaten Kontakte durchführen, weil die Bundesliga-Vereine mit dem Thema nichts zu tun haben wollten.
- Nach dem Brexit: Bringt die EU tatsächlich weniger Demokratie? | NZZ →
Bei einer nüchternen Analyse der demokratischen Vor- und Nachteile kommt die EU damit viel besser weg, als im öffentlichen Diskurs meist angenommen wird. Anders die nationalen Demokratien – auch in Bezug auf die direkte Demokratie der Schweiz: Wir erleben in allen nationalen Demokratien eine zunehmende «Tyrannei der Alteingesessenen».
- Fintech: Das nächste kleine Ding | brand eins → langer (und etwas ausgewalzter) text über die (v.a. die deutschen) fintech-startups, ihr verhältnis zu bestehenden banken und den kunden sowie ihren momentanen zukunftschancen (eher übersichtlich, offenbar)
- Hugo Ball im Zunfthaus zur Waag: Wie die Nachwelt Dada erfand | NZZ → magnus wieland über das (ex post) so genannte „eröffnungs-manifest“ des dada von hugo ball und seine editionsgeschichte
Der Erstdruck erschien 1961 in Paul Pörtners verdienstvoller Anthologie «Literatur-Revolution», diesem war es von Emmy Hennings‘ Tochter Annemarie Schütt-Hennings zur Verfügung gestellt worden. Sie betreute den Nachlass von Ball und bemühte sich beim Benziger-Verlag um die Herausgabe seiner Briefe und Schriften. Breitere Aufmerksamkeit dürfte das Manifest aber erst erhalten haben, als es fünf Jahre später zum 50-Jahre-Jubiläum der Dada-Bewegung in der Kulturzeitschrift «Du» erneut abgedruckt wurde, wiederum von Schütt-Hennings zur Verfügung gestellt, die sehr wahrscheinlich auch die maschinelle Abschrift für die Druckvorlage besorgt hatte.
Dort taucht nun zum ersten Mal die heute geläufige Bezeichnung «Eröffnungs-Manifest» auf. Ohne historische Grundlage wird dem Text eine Funktion zugeschrieben, die ihm seine herausragende Stellung als Gründungsdokument sichern soll. Und mehr noch: Neben dem neuen Titel weist die Abschrift streckenweise auch erhebliche Veränderungen und sinnentstellende Fehler auf, was umso gravierender ist, als sie bisher mit wenigen Ausnahmen als Referenz für zahlreiche Anthologien und Forschungsarbeiten diente.
- Wie ich Keith Jarretts Feind wurde | Freitext → ein wunderbarer text (der titel sagt ja schon fast alles …) von clemens setz über die hybris und arroganz von keith jarrett, anlässlich eines konzertes in wien
Wohl glänzt das Wort der Dichtkunst magisch,
Doch spiegelt es das Leben nie,
Das weder freudig ist, noch tragisch
Wie das Gebild der Poesie.In Qual und bittres Lachen treibt uns
Ein schrecklich-kleinliches Gebot.
Und still und ohne Glanz zerreibt uns
Die Last des Niedern bis zum Tod.
Wolf Graf von Kalckreuth
Für eine der größten Verwirbelungen der Sphären [öffentlich und privat] aber sorgt das Auto: Jede Fahrt mit dieser rollenden Privatkapsel wird zur temporären Enteignung, zur Kurzzeitverwandlung einer öffentlichen Fläche in eine semiprivate. Hanno Rauterberg, Wir sind die Stadt!, 48