»Nächstens mehr.«

Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

so, die ers­te woche des win­ter­se­mes­ters ist geschafft ;-). mir ist etwas inter­es­san­tes auf­ge­fal­len, weil ich vie­le vor­le­sun­gen des his­to­ri­schen semi­nars besu­che und die dozen­ten in den vor­le­sun­gen ja ger­ne in der ers­ten sit­zung so eini­ge grund­sätz­li­che aus­füh­run­gen machen, zu metho­de und inhalt, ent­ste­hung und ver­lauf ihrer ver­an­stal­tung. und auf­fäl­lig vie­le, näm­lich gefühl­te 90 % der dozen­ten (die nicht alle pro­fes­so­ren sind, aber zumin­dest habi­li­tiert) mach­ten mehr oder weni­ger aus­führ­li­che bemer­kun­gen zur umstel­lung der stu­di­en­gän­ge auf bache­lor & mas­ter. die main­zer uni­ver­si­tät will das ja bereits im nächs­ten win­ter­se­mes­ter kom­plett geschafft haben (wor­auf ich schon sehr gespannt bin, bis jetzt ist davon noch nicht all­zu viel zu mer­ken). und so lang­sam scheint bei den pro­fes­so­ren anzu­kom­men, dass die uni­ver­si­tät, wir wir sie momen­tan ken­nen, damit der ver­gan­gen­heit ange­hö­ren wird. sie mer­ken so lang­sam und all­mäh­lich, dass sie sich mit der radi­ka­len umstel­lung auf die­se pseu­do-stu­di­en­ab­schlüs­se die größ­te reform der uni­ver­si­tät ein­ge­han­delt haben, die seit 1900 pas­siert ist – dage­gen waren die vond en 68ern ange­sto­ße­nen umbau­ten ein klacks. denn inzwi­schen rea­li­sie­ren sie, dass es mit der frei­heit der leh­re dann nicht mehr weit her ist – wenn alles schön im stun­den­plan vor­ge­schrie­ben ist, muss das ja auch erle­digt wer­den. und dann ist – davon kann man getrost aus­ge­hen – für vor­le­sun­gen wie „Von der Bil­dungs­re­form Karls des Gro­ßen zur Uni­ver­si­tät. Schrift­lich­keit, Wis­sen und Bil­dung im latei­ni­schen Mit­tel­al­ter (8.–13. Jahr­hun­dert)” sicher­lich kein platz mehr. aber jetzt ist das kind halt in den brun­nen gefal­len …

das knarzt und knurpselt und fiepst, dass es eine rei­ne freu­de ist (wenn man so etwas aus den rand­be­rei­chen der impro­vi­sier­ten musik mag, natür­lich). eigent­lich sind es – zumin­dest über ganz lan­ge stre­cken die­ser wun­der­ba­ren cd – nur geräuschr, nur fet­zen, bruck­stü­cke einer musik. die lau­fen aber doch zusam­men und mit­ein­an­der ab – dafür sorgt vor allem tho­mas lehn mit sei­nen ana­lo­gen syn­the­si­zern. qua­si mikro­sko­pisch ist der blick – die makro­ebe­ne wird ein­fach mal als gege­ben (und vertaut) vor­aus­ge­setzt. oder bes­ser gesagt: ihre men­ta­le kon­struk­ti­on wird ein­fach dem (geneig­ten) hörer über­las­sen.

die gren­zen des hör­be­reichs aus­zu­lo­ten, nicht nur phy­sio­lo­gisch, son­dern – und vor allem – auch phsy­sich – das ist grat­kow­skis spe­zia­li­tät. die sub­ti­li­tät, mit der er dabei vor­geht, ist kaum anders als geni­al zu bezeich­nen. und wirk­lich unüber­trof­fen ist er dar­in, auch das ergeb­nis die­ser for­schun­gen, also das auf die­sen sil­ber­ling gebann­te klang­ge­sche­hen, ganz sub­til und fein­sin­nig zu erschei­nen las­sen.

ganz sach­te for­men, oft nur sche­men­haf­te umris­se in bis kurz vorm plat­zen gedehn­ter zeit, aus dem ab und ganz und gar ver­hal­te­nes, ver­steck­tes, ver­schäm­tes pul­sie­ren her­vor­lugt, prä­gen die vier titel von tris­kai­de­kap­ho­nia. klap­pen­ge­klap­per, blas­ge­räu­sche, gemischt mit dem ana­lo­gen syn­the­si­zer, erge­ben eine fast unmerk­li­che ein­heit: alle drei las­se sich unheim­lich weit auf das wag­nis des frei­en impro­vi­sie­rens ein – wei­ter als die meis­ten ihrer kol­le­gen. und so weit, dass auch mal eine wei­le fast nichts zu pas­sie­ren scheint … das „kaputt­spie­len” (peter kowald) haben sie ihren vor­gän­gern über­las­sen – sie machen sich jetzt an einen neu­en auf­bau, offen­bar wirk­lich frei, näm­lich zumin­dest schein­bar los­ge­löst aus allen kon­ven­tio­nen und musi­ka­li­schen tra­di­ti­ons­for­men.

das ergeb­nis ist dann auch eher eine „klang­kunst” als her­kömm­li­cher jazz: klang­bil­der, oft gan­ze pan­ora­men, die die gro­ße wei­te lee­rer land­schaf­ten abbil­den, aus denen nur ganz wenig her­aus­ragt, die auf­merk­sam­keit auf sich zu zie­hen – das aber dafür umso deut­li­cher. aber das heißt nicht, dass es hier einen durch­ge­hen­den klang­tep­pich gebe – fast alles, wirk­lich rest­los, ist vor­der­grund, ist momen­tan geschöpft, voll­kom­men neu. und trotz­dem ergibt sich dar­aus eine drei­di­men­sio­na­le land­schaft – das ist das tol­le, begeis­tern­de, groß­ar­ti­ge die­ses tri­os!

vier lan­ge „stü­cke” sind auf der cd ver­sam­melt, alles mehr oder weni­ger will­kür­lich benannt – denn herr­kömm­li­che stü­cke sind das natür­lich nicht, son­dern eben eher abfol­gen, aus­schnit­te, epi­sche ver­su­che, aber bestimmt kei­ne lie­der. die titel sind ganz offen­sicht­lich blo­ße asso­zia­tio­nen – und auch gar nicht wich­tig, könn­ten genau­so gut titel­los blei­ben. denn sie haben als kom­po­si­ti­on, als werk gar kei­ne iden­ti­tät, sie sind nur das (momen­ta­ne) ergeb­nis einer situa­ti­on, die die drei musi­ker zusam­men­führ­te (näm­lich im köl­ner „loft”, aus dem so viel inter­es­san­te musik kommt.

irgend wann, kurz vor schluss des ers­ten teils, „lad­ders and stairs” benannt , kippt es plötz­lich – ohne ersicht­li­chen grund: genau das macht die­se art der impro­vi­sier­ten musik so span­nend: nie vor­her­se­hen zu kön­nen, nie zu wis­sen, was in der nächs­ten sekun­de pas­sie­ren wird – und nimmt fahrt auf, wird wie­der etwas ruhier, bleibt aber jetzt, wo der damm durch­bro­chen ist, zeris­sen und reiz­bar.

der zwei­te titel gibt sich ins­ge­samt etwas rau­er und kan­ti­ger, auch erup­ti­ver und bro­deln­der, trotz des eher gemüt­lich klin­gen­den und schutz und gebor­gen­heit ver­hei­ßen­den titels „umbrel­las”.

in „ren­aming a boat” klingt das gan­ze noch frei­er, unbe­küm­mer­ter und spon­ta­ner, erfährt eine zuneh­men­de ver­dich­tung und erneu­te öff­nung. zum ende der cd (vor allem in „hot cross buns”) hin steigt die action – d.h., die epi­so­den erhöh­ter akti­vi­tät häu­fen sich und ihre abstän­de wer­den immer kür­zer.

ein­fach geni­al groß­ar­tig.

frank grat­kow­ski /​tho­mas lehn /​mel­vyn poo­re: tris­kai­de­kap­ho­nia. leo records 2006.

keith jarrett – ein auslaufmodell

wun­der­bar, wie hans-jür­gen lin­ke in der frank­fur­ter rund­schau über das kon­zert keith jar­retts in der frank­fur­ter alten oper schreibt:

Keith Jar­rett bleibt im ers­ten Teil des Kon­zerts sei­nem Publi­kum fast alles schul­dig und im zwei­ten immer­hin den Beweis, dass er ein Musi­ker des 21. Jahr­hun­derts ist. […] Er klingt in sei­nen schlech­te­ren Pha­sen wie ein mäßig inspi­rier­ter, tech­nisch recht guter, tief sen­ti­men­ta­ler ame­ri­ka­ni­scher Pia­nist und in sei­nen bes­ten Momen­ten wie ein hand­ge­brems­ter, mit Puder­zu­cker bestreu­ter Brahms, der Jazz gehört hat.

chris­ti­an broe­cking schreibt in der taz sogar:

Ein Desas­ter aus Grö­ßen­wahn, Eitel­keit und Vir­tuo­si­tät. […] Dass das Publi­kum nach 40 Minu­ten Kon­zert vor der Pau­se und 30 Minu­ten danach stür­misch vier kur­ze Zuga­ben her­bei­klatsch­te, kann den Ein­druck nicht schmä­lern, dass das intel­lek­tu­el­le Niveau auf der Büh­ne kaum ein­mal unte­res Mit­tel­maß erreich­te. Schlim­mer noch wirkt, dass es ein­fach nicht gut klingt, wenn ein sich maß­los selbst über­schät­zen­der Künst­ler kaum mehr den Weg zurück­zu­fin­den scheint. Das mage­re künst­le­ri­sche Ergeb­nis über­ragt Jar­retts ener­vie­ren­de Selbst­herr­lich­keit mit gro­ßer Not.

ich habe das kon­zert zwar nicht gehört, aber das bringt mei­ne gedan­ken beim hören (auch der älte­ren) von jar­retts improvsia­tio­nen ziem­lich gut auf den punkt.

in der tat, da pas­siert so eini­ges. das span­nen­de bei pro­duk­tio­nen, die den namen simon naba­tov im titel tra­gen, ist ja der umstand, dass man nie so genau weiß, was einen da erwar­tet – der mann ist ein cha­mä­le­on des jazz (und das unglaub­li­che, das mich bis­her wirk­lich jedes mal fas­zi­nier­te: er klingt immer, egal was er treibt, abso­lut glaub­wür­dig – das kön­nen nicht vie­le). auf a few inci­den­ces wan­delt er mit sei­nem oktett auf den spu­ren des dich­ters daniil kharms. das gan­ze ist in sich selbst aber schon wie­der so viel­fäl­tig, dass es schwer zu beschrei­ben ist. da gibt es eher klas­sisch anmu­ten­de free-jazz-num­mern wie die ers­ten bei­den titel, dann aber auch offen­bar weit­ge­hend aus­kom­po­nier­te stü­cke wie on equi­li­bri­um, mit der ten­denz zur klang­for­schung …

der haupt­grund für die hohe qua­li­tät in allen berei­chen die­ser auf­nah­me ist aber sicher­lich die aus­wahl der betei­lig­ten. das sind näm­lich alles musi­ker, die ich auch aus ande­ren kon­tex­ten ken­ne und bewun­de­re: sprach­akro­bat phil min­ton etwa. der gran­di­os holz­blä­ser frank grat­kow­ski, posau­nist nils wogram, der cel­list ernst reij­se­ger, cor fuh­ler mit live elek­tro­nik, matt pen­man am bass und micha­el sarin am schlag­werk. und natür­lich das unver­gleich vir­tuo­se (auf allen ebe­nen, auch der struk­tu­rel­len und ideel­len) kla­vier­spiel von simon naba­tov. ein­fach herr­lich, wie die­se hero­en der impro­vi­sier­ten musik zusam­men har­mo­nie­ren …

simon naba­tov octet: a few inci­den­ces in memo­ri­am niko­lai dmit­riev, based on texts of daniil kharms. leo records 2005.

mal sehen was passiert: thomas quasthoff singt jazz

und es klingt genau so, wie man sich es vor­stellt, wenn ein klas­sisch aus­ge­bil­de­ter (und guter!) sän­ger jazz singt. nicht schlecht, nur – für mich – aus­ge­spro­chen lang­wei­lig, weil eigent­lich voll­kom­men vor­her­seh­bar und erwart­bar. ab und an gibt’s immer­hin ver­su­che der frei­heit, des befrei­ten klangs – aber das ist unge­fähr so authen­tisch wie der soul von mariah carey (ok, das war jetzt gemein …).

auch die auf dem cover (dazu spä­ter mehr) so hoch geprie­se­nen arran­ge­ments sind mei­nes erach­tens eher belang­los. im kern ist es eine soli­de jazz­band ver­sier­ter stu­dio­mu­si­ker, ab und an zur big­band erwei­tert, eini­ge mal auch durch das deut­sche sym­pho­nie-orches­ter abge­löst. aber da gab es schon vor 50 jah­ren span­nen­de­re sachen – wenn ich etwas an neil hef­tis arbei­ten für count basie den­ke. oder an so man­che auf­nah­me von stan ken­ton.

das ist aber über­haupt das pro­blem für mich mit die­ser cd: das ist letzt­lich halt ein­fach alles furcht­bar alt­mo­disch, tra­di­tio­nell, ja fast stau­big. ist es, so fra­ge ich mich bei so etwas immer wie­der, immer noch jazz, wenn man über jahr­zehn­te stets das­sel­be spielt? jaz­zi­ge musik ist es, klar. aber für ech­ten jazz braucht es in mei­nen augen (und ich mag da etwas radi­kal sein) mehr, näm­lich unbe­dingt einen kon­takt zur jetzt­zeit, eine kom­mu­ni­ka­ti­on mit der gegen­wart, die sich akus­ti­sche nie­der­schlägt – hät­te jazz das nicht geleis­tet, wäre er nie so wich­tig und inter­es­sant gewe­sen.

wolf kamp­mann wirft die­se fra­ge im book­let auch auf, ohne sie aber zu beant­wor­ten. über­haupt, das book­let – kamp­mann schät­ze ich ja eigent­lich sehr. aber so eine schlei­me­rei wie das hier … und nur, weil das alles für die vita von tho­mas quast­hoff und pro­du­zent (und gast­so­list) till brön­ner rele­van­te musik sein soll, muss ich mir das ja nicht unbe­dingt anhö­ren – das ist doch ein abso­lut pein­li­cher fehl­schluss. und genau so geht mir halt das gan­ze ver­mark­tungs­ge­seie­re gehö­rig auf den wecker. natür­lich muss hier alles wie­der schön in der aus­ge­lutsch­ten song-form, schön brav im radio-kom­pa­ti­blen drei-minu­ten-for­mat sein – das haben ech­te jaz­zer auch schon vor fünf­zig jah­ren hin­ter sich gelas­sen. und natür­lich muss der name von tho­mas quast­hoff – der hier nur singt, nichts arran­giert, diri­giert, kom­po­niert, impro­vi­siert – pro­mi­nen­ter als alles ande­re sein. und die krö­nung ist natür­lich die bei­lie­gen­de wer­bung für klin­gel­tö­ne mit musik aus die­sen auf­nah­men – deut­li­cher kann man doch die angeb­lich so heh­ren bemü­hun­gen der künst­ler gar nicht ad absur­dum füh­ren …

nach­dem das drum­her­um (ach ja: der sound ist übri­gens aus­ge­spro­chen mit­tel­mä­ßig, sehr unecht, total auf die stim­me kon­zen­triert, klignt sehr zusam­men­ge­setzt) jetzt aber auch noch ein paar wor­te zur musik: zu hören sind songs von gershwin und kon­sor­ten wie fre­de­rich loe­we und rod­ger & hart (also eher musi­cal-/broad­way- als jazz-kom­po­nis­ten …). aber lei­der zu hören ohne impro­vi­sa­ti­on, ohne sinn. und dann kommt aus­ge­rech­net dazu noch die anma­ßung, das gan­ze the jazz album zu nen­nen. immer­hind wird dann im book­let auch noch jeder kopist (natür­lich hat jeder arran­geur sei­nen eige­nen – wozu eigent­lich im zeit­al­ter des com­pu­ters?) nament­lich erwähnt – nur das raum­pfle­ger-team der stu­di­os haben sie ver­ges­sen …

alles in allem ist es für mei­nen geschmack auch noch viel zu nahe am kitsch gebaut (aller­dings alle­mal bes­ser, als wenn pop­sän­ger klas­sik zu sin­gen ver­su­chen). ohne fra­ge ist es immer­hin – was ande­res wäre aber auch sehr ver­wun­der­lich – gesangs­tech­nisch eine wun­der­schö­ne sache. etwa smi­le oder in my soli­tu­de – in die­sen schmon­zet­ten kann quast­hoff schon eini­ges bie­ten. aber jazz? mit vie­len fra­gen­zei­chen und klam­mern höchs­tens, eigent­lich ist nur die reka­pi­tu­la­ti­on einer frü­her mal aktu­el­len musik, die schon damals kaum noch jazz war, heu­te aber eben in mei­nen augen das recht auf die­sen ehren­ti­tel ver­lo­ren hat.

tho­mas quast­hoff: the jazz album. watch what hap­pens. deut­sche gram­mo­phon 2007.

erste lesedrücke von den bieresch

soviel gleich vor­weg: das (näm­lich klaus hof­fers bei den bie­resch) ist ein selt­sa­mes, befremd­li­ches buch.

es ent­fal­tet eine völ­lig ande­re welt – und doch auch wie­der nicht. bie­resch ist selt­sa­mes völk­chen – schon die namen! alle sind sie mehr­fach benannt, alle extrem mit bedeu­tung auf­ge­la­den (aber auch wie­der nicht, sie kön­nen sie ver­lie­ren, ändern, neue bekom­men …), je nach situa­ti­on und hier­ar­chie und stel­lung von adres­sat und adres­sie­rer wech­seln sie immer wie­der … die bräu­che sind auch selt­sam, irgend­wie unge­nau, unscharf, nicht zu begrei­fen – aber: besu­cher ist nicht zum ers­ten mal dort, er war als kind durch­aus in die­ser gegend, unter die­sen leu­ten – scheint aber kaum/​keine erin­ne­run­gen (mehr) dar­an zu haben

die­se völ­li­ge fremd­ar­tig­keit, die­se ganz eige­ne welt (die aller­dings durch­aus – ncith nur auf meta­pho­ri­scher ebe­ne! – berüh­rungs­punk­te mit dem, was wir „wirk­lich­keit” zu nen­nen gewohnt sind, hat) ist zwar ein umstand, der die lek­tü­re sehr schwer macht. aber auch fas­zi­nie­rend. und der die­ses buch so wohl­tu­end unter­schei­det von dem aller­meis­ten, was heut­zu­ta­ge als lite­ra­tur pro­du­ziert wird – die sich in viel zu vie­len fäl­len dar­auf beschränkt, die ober­flä­che der rea­li­tät zu erzäh­len, also bloß wie­der­zu­ge­ben. von daher – dies so ganz neben­bei – sehe ich das esra-urteil des bun­des­ver­fas­sungs­ge­rich­tes auch nicht als so gro­ße gefahr für die kunst an: sicher bin ich für eine größt­mög­li­che frei­heit der kunst, über­haupt kei­ne fra­ge. aber ich wun­de­re und fra­ge mich dann doch oft, war­um es vie­len autoren so schwer fällt, sich von den tasäch­li­chen bege­ben­hei­ten ihres lebens zu lösen (inwie­weit das alles auf max bilers esra zutrifft oder nicht, kann ich natür­lich gar nicht beur­tei­len, weil ich weder das buch noch die wirk­lich­keit ken­ne). was ich damit aber eigent­lich sagen will: der kunst soll­te es – auch wenn sie die nähe zur wirk­lich­keit sucht – mög­lich sein, dies so zu tun, dass per­sön­lich­keits­rech­te nicht ver­letzt wer­den. auch im medi­um der spra­che, dass für sol­che grenz­über­schrei­tun­gen natür­lich wie­der­um das prä­de­sti­nier­tes­te über­haupt ist. aber das ist schon wie­der ein ande­res pro­blem, das gro­ße tei­le der heu­te pro­du­zier­ten tex­te betrifft: dass sie kei­ne eige­ne (kunst-)sprache haben (auch gar nicht erstre­ben), kei­nen stil, son­dern sich mit dem all­tags­werk­zeug der kom­mu­ni­ka­ti­on schon zufrie­den geben. das tut klaus hof­fer hier sicher­lich nicht.

Hängt nicht an Hund‘ und Kat­zen eure Her­zen,
An Blu­men, Pferd‘ und Pagagei’n -
O lernt doch erst der Mensch­heit Freud‘ und Schmer­zen
Und unter Men­schen Mensch zu sein!

(August Hein­rich Hoff­mann von Fal­lers­le­ben, Unmensch­li­che Lieb­ha­be­rei)

wenn es regnet, dann immer gleich auf den kopf

- halt, nein, so heißt es ja gera­de nicht bei chris­ti­na grie­bel: wenn es reg­net, dann reg­net es immer gleich auf den kopf heißt ihr erzäh­lungs-band. und das ist ein gro­ßer unter­schied. denn er gibt der – genau bese­hen ja reich­lich bana­len – aus­sa­ge eine völ­lig neue wen­dung, macht sie – ja, poe­tisch eben: zu einer sprach­wirk­lich­keit. und dar­in ist grie­bel aus­ge­spro­chen gut. das war’s dann aber auch schon fast. denn so rich­tig konn­te ich mich für das büch­lein nicht erwär­men. sicher, schö­ne stel­len, tol­le beschrei­bung, super-genaue beob­ach­tun­gen ind prä­zi­ser, chir­ur­gi­scher sprach­schär­fe nie­der­ge­schrie­ben (erzählt übri­gens wird eigent­lich nicht, nur beschrie­ben – bli­cke, beob­ach­tun­gen, bege­ben­hei­ten …). so ganz kann ich des­halb auch die begeis­te­rung der rezen­sen­ten (die mich zum kauf und zur lek­tü­re ver­führt haben) auch nicht ver­ste­hen.

hans-peter kunisch schrieb in der süd­deut­schen zei­tung: „ Doch vor allem ist der ers­te Ein­druck von die­sem Erzäh­len einer der prä­zi­sen, sinn­li­chen Wahr­neh­mung.” d’ac­cord. aber wie­so er behaup­tet, „dra­ma­tur­gisch über­zeu­gen die meis­ten Tex­te”, ist mir schon nicht mehr so ganz klar. und sei­ne fest­stel­lung: „Sel­ten glaubt man von einer Erzähl-Debü­tan­tin so deut­lich, ihr kön­ne ein guter Roman gelin­gen.” kann ich gar nicht tei­len. im gegen­satz – ich befürch­te eher, dass ihr dies gera­de nicht gelin­gen wür­de, weil ihre tech­nik dafür, für die lan­ge stre­cke näm­lich, mir nicht trag­fä­hig genug erscheint.

gisa funck war in der faz auch eher hin- und her­ge­ris­sen – in ihrer rezen­si­on erken­ne ich vie­le mei­ner eige­nen lek­tü­re­er­leb­nis­se: näm­lich fas­zi­nie­ren­de spra­che, geschick­te beschrei­bun­gen etc., ande­rer­seits aber oft über­trie­be­ne geheim­nis­tue­rei, ziel­lo­sig­keit und so fort …

chris­ti­na grie­bel: wenn es reg­net, dann reg­net es immer gleich auf den kopf. frank­furt am main: fischer 2003 (coll­ec­tion fischer).

Eine alte Geschich­te ist es, die auf der Büh­ne des Klei­nen Hau­ses ver­han­delt wird: Judith, die zur Ret­tung ihres Vol­kes aus den Kral­len des Besatzers Holo­fer­nes die­sen bezirzt, um ihn im Schlaf zu ermor­den. Und doch ist es auch eine Aus­gra­bung. Denn Ales­san­dro Scar­lat­ti hat sein Ora­to­ri­um „La Giudit­ta“ schon am Ende des 17. Jahr­hun­derts kom­po­niert. Und wahr­schein­lich wur­de es seit der Urauf­füh­rung im römi­schen Palast des Kar­di­nals Pie­tor Otto­bo­ni, der auch den Text schrieb, nicht mehr sze­nisch auf­ge­führt. Dabei gehört das unbe­dingt dazu, da ist sich Cle­mens Heil, der musi­ka­li­sche Lei­ter die­ser Kopro­duk­ti­on von Staats­thea­ter und Musik­hoch­schu­le, ganz sicher: „Scar­lat­tis dra­ma­ti­sche Musik ist ohne sze­ni­sche Ele­men­te kaum zu den­ken, das ist alles immer für die Sze­ne kom­po­niert.“

Die sze­ni­sche Umset­zung mit den Sän­gern aus Thea­ter-Ensem­ble, Jun­gem Ensem­ble und Hoch­schul­stu­den­ten diri­giert in Mainz Ari­la Sie­gert. Für sie ist die zen­tra­le Fra­ge die­ses Stü­ckes nicht so sehr, wie es zu dem Mord kam, son­dern wie es danach wei­ter­geht: „Wie kann Judith mit die­ser Tat leben?“ Denn Judith bleibt ein­sam und inner­lich ver­brannt. Des­halb hat sie sich gemein­sam mit Cle­mens Heil auch dafür ent­schie­den, dem Schluss eine Arie aus der zwei­ten Fas­sung des Ora­to­ri­ums hin­zu­zu­fü­gen: ein Schlaf­lied, dass Judith mit dem Kopf des Holo­fer­nes in der Hand singt.

Über­haupt bemüht sie sich um einen star­ken Bezug der Insze­nie­rung auf die musi­ka­li­sche Struk­tur. Denn „das ist kein Stan­dard-Ora­to­ri­um der erbau­en­den gleich­nis­haf­ten Erzäh­lung“, erläu­tert Heil. „So fängt es zwar an und endet es auch. Aber dazu kommt noch die gan­ze Palet­te mensch­li­cher Lei­den­schaf­ten in opern­haf­ten Ari­en, Kriegs­mu­sik und vor allem der Psy­cho­thril­ler der gro­ßen Mord­sze­ne.“

Außer­dem ist „La Giudit­ta“ natür­lich auch ein poli­ti­sches Stück – aber für Sie­gert nicht in der Form plum­per tages­po­li­ti­scher Aktua­li­sie­run­gen, son­dern durch das Auf­grei­fen der The­men Ver­trei­bung und Hei­mat­lo­sig­keit, durch die Kon­sti­tu­ti­on der zwei Lager des Krie­ges und den Ein­bruch der Gewalt in die häus­li­che Ord­nung. Im abs­trakt-moder­nen Raum von Hans Die­ter Schaal ver­sucht sie die Ver­knüp­fung zeit­lo­ser The­men und direk­ter Anklän­ge des zugleich moder­nen und arche­ty­pi­schen Kam­pes um Macht, dem stän­di­gen Eska­lie­ren. Denn auch Judith wird hier zunächst als Krie­ge­rin ein­ge­führt, sie ist kei­nes­wegs eine schwa­che Frau. „Demo­kra­tie ist genau die­ses Aus­pen­deln um die Füh­rung“, erläu­ter sie. Und des­halbt hat sie ihr Ensem­ble auch demo­kra­tisch geführt: Kein Star­we­sen, son­dern per­ma­nen­ter Wech­sel zwi­schen Solis­ten und Sta­tis­ten fin­det hier statt. Und es gibt zwei sehr eben­bür­ti­ge Beset­zun­gen, so dass eigent­lich zwei voll­gül­ti­ge Pre­mie­ren über die Büh­ne gehen. Die ers­te davon am Sams­tag ist auch schon aus­ver­kauft.

Pre­miè­re: 13. Okto­ber, 19.30 Uhr, Klei­nes Haus.

gera­de höre ich oto­mo yoshi­hi­des new jazz ensem­ble mit dreams. und das ist ganz anders als alles, was ich bis­her von yoshi­hi­de ken­ne. gut, es ist auch älter – näm­lich schon 2001 auf­ge­nom­men. schlecht ist es des­halb nicht. nur von den ver­rück­ten und span­nen­den sound-expe­ri­men­ten, mit denen sich yoshi­hi­de in letz­ter zeit einen fes­ten platz auf mei­ner lieb­lings­lis­te erobert hat, ist hier nur ganz wenig zu spü­ren. dafür ganz viel von john zorns radi­cal new jewish cul­tu­re – in der japa­ni­schen vari­an­te. denn was ich damit mei­ne, ist weni­ger, dass yoshi­hi­de hier auf jüdi­sche tra­di­tio­nen zurück­greift, son­dern dass er über­haupt auf (volks­tüm­lich) tra­di­ti­on zu rekur­rie­ren scheint (ob er es wirk­lich tut, ent­zieht sich schlicht und ein­fach mei­ner kennt­nis). gewiss, ab und an lugt auch schon der expe­ri­men­tel­le yoshi­hi­de um die ecke. aber heu­te wür­de er wohl nicht mehr so straight die tex­te ver­to­nen, sie nicht mehr so unge­bro­chen, fast roman­tisch, sin­gen las­sen, die arran­ge­ments nicht mehr so glatt und har­mo­nisch über die büh­ne lau­fen las­sen – kurz, die song-struk­tu­ren (ja, so etwas gibt es auch bei yoshi­hi­de!) sind hier noch weit­ge­hend tra­di­tio­nell, noch nicht durch die dekon­struk­ti­ons-müh­le gewan­dert. gera­de des­halb bleibt das gan­ze auch ziem­lich harm­los – träu­me­risch eben. oder schlaf­wan­delnd, wie man will. ach je, jetzt sehe ich gera­de, dass mei­ne ver­mu­te­te chro­no­lo­gie gar nicht stimmt – catho­de und anode sind sogar schon vor dreams ent­stan­den. also, jetzt weiß ich halt noch weni­ger, war­um das hier so klingt wie es klingt …

ok, da war ich wohl etwas vor­schnell… den der letz­te track, hahen fukei, bringt eine wah­re explo­si­on zum vor­schein: ein wil­des gemet­zel, in klas­si­scher free-jazz-manier, mit elek­tro­ni­schem gezwit­scher und hand­ge­mach­ten aggres­si­ven blä­sern – jetzt passt es für mich gar nicht mehr zusam­men. aber irgend­wie wird’s halt immer bes­ser …

oto­mo yoshi­hi­des new jazz ensem­ble: dreams. tzadik #7051, 2002.

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