Man könnte Doris Knechts Wald als „Streeruwitz für Anfänger“ bezeichnen: Ein dezidiert feministischer Roman, der auf aktuelle Gegebenheiten reagiert. Für „Anfänger“ deshalb — das ist nicht abwertend gemeint -, weil Knecht die Radikalität und Härte, auch im stilistischen, von Streeruwitz fehlt. Das macht Wald zunächst mal einfacher lesbar. Die nahtlos wechselnden, fast ineinander gleitenden verschiedenen Stillagen und das beschwörende, fern an Thomas Bernhard erinnernde (oder sind das nur die Austriazismen?) insistierende Wiederholen bestimmter (Schlüssel-)Begriffe verleihen dem Text einen ganz eigenen, interessanten und oft fesselnden Klang.
Es geht hier um ein Reaktion auf die letzte Weltwirtschaftskrise — die ganz spezielle der Luxus-Mode-Designerin Marian, die sich mit der Erweiterung ihres exklusiven Geschäftes verspekuliert hat und, um der drohenden Privatinsolvenz zu entgehen, aus ihrem Leben, der Stadt und der Gesellschaft flieht in ein dörfliches Haus im Familienbesitz, wo sie nun versucht, ohne Geld in einer Art Subsistenzwirtschaft zu überleben. Das klappt natürlich nicht so ganz, da sind ein paar Hühnerdiebstähle ebenso notwendig wie eine Art Prostitution mit dem im Dorf residierenden Großbauern/Gutsbesitzer.
In der radikal weiblichen Perspektive kristallisiert sich das und die Hintergrundgeschichte Marian in der von Knecht sehr klug und harmonisch gestalteten Informationsvergabe erst sehr allmählich und Stück für Stück heraus. Gut gefallen hat mir, wie Knecht hier auf die Labilität des mordernen Wohlstandlebens hinweist und die neue Archaik unter den Bedingungen der absoluten Existenzsicherung auf einmal jede Romantik verliert. Wenn man Marian dann als Exempel liest, entwickelt Wald also eine allgemeine Dystopie: Die moderne kapitalistische Gesellschaft ist nur eine sehr dünne Hülle. Und es gibt wenig Möglichkeiten, sich dem zu entziehen — auch im Wald bleibt Marian ja im System gefangen, die Beziehung zu Franz, ihrem „Gönner“ unterscheidet sich eigentlich nur in einem Punkt zu ihrem bisherigen Leben im Marktkapitalismus: Die Abhängigkeit, das Ausgeliefert Sein ist nun direkt, liegt für alle Beteiligten (und die Zuschauenden der Dorfgemeinschaft) offen, im Gegensatz zu der verdeckt-indirekten Abhängigkeit von wenigen wohlhabenden Käuferinnen zuvor. Einen Ausweg gibt es also nicht — auch das etwas lieto-fine-mäßige Happy-End führt aus dem System nicht heraus, sondern stabilisiert nur die Abhängigkeiten.
Sie hatte nicht im Auge gehabt, dass die Weltwirtschaftskrise die Zeiten und Gegebenheiten viel radikaler veränderte, als es auf den ersten Blick, ihren Blick, schien: dass die Zeiten nämlich für alle unübersichtlich geworden waren, auch für die ganz Smarten. (59)
Zu den Referenzflächen von Mara Genschel etwas kluges oder auch nur halbwegs vernünftiges zu schreiben fällt mir sehr schwer. Deswegen hier nur so viel: Auch die fünfte Ausgabe hat mich (wieder) fasziniert. Sie beginnt — etwas überraschend — zunächst fast mir einer richtigen Story: Der Zerstörung (die an Pierre Boulez’ Aufforderung, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen, erinnert) des Wiesbadener Literaturhauses Villa Clementine. Aber das, was zerstört wird, ist natürlich wieder nur der Text der Villa Clementine. Bilder werden zu Texten: ein mit Tesafilm eingeklebter Zettel „Türknauf“ repräsentiert im Bildrahmen die Repräsentation des repräsentativen Bauwerks der repräsentativen Kunst (oder so ähnlich). Dieses Spiel mit den Eben von Text und außertextlicher Welt, die Aufhebung der traditionellen strikten Unterscheidung dieser Signifikationsbereiche ist ja das, was mir an Genschels Referenzflächen so viel Freude bereitet. Und das funktioniert auch hier wieder: Der Text ist Text ist Wirklichkeit, ist aber schon als Text nicht mehr nur Text, sondern auch Bild und Montage (eingeklebte und eingeschriebene Texte), ist aber auch als Text schon zerstört durch Überschreibungen, verrutschte Zeilen und Durchstreichungen etc. Und er wird in seiner Materialität ad absurdum geführt (?), wenn leere Seiten einen Rahmen erhalten, auf dem ein eingeklebtes „Blatt 3“ die Leere repräsentiert und natürlich zugleich wieder zerstört. In diesem ewigen sic-et-non, diesem verspielten hier-und-da muss man wohl den Raum der Referenzfläche sehen und schätzen.
Und wo das Vaterland anfängt
ist ein dunkler Ort
wie Schnee
der die Umrisse zeigt
wie alles was aufhört (49)
„Gedichte“ verheißt V im Untertitel. Und doch beginnt es nach dem Auftakt im prinicipium nach dem weit zurückgreifenden Zitat aus Zedlers Universallexikon zum Begriff “Vaterland” erst einmal mit Prosa (mit dunkel funkelnder, die mich etwas an Klaus Hoffers Bieresch-Romane erinnert), die neue Mythen erzählt. Oder: Kurze Prosa, die Beobachtungen als mythische erzählt, leicht melancholisch angehaucht. Immer schwingt da auch ein bisschen Verfall und Niedergang mit.
Schon hier, noch viel stärker dann aber in den folgenden Gedichten, ist Heimat bei Danz immer ein problematischer Begriff: Gerade wie selbstverständlich ist er immer gefährdet und immer im Wandel — einem Wandel, der nicht Verbesserung, sondern in der Regel eher Verschlechterung und Verfall bringt und Probleme offenlegt, Probleme auch im Verhältnis des lyrischen Ichs zu Heimat und Vaterland. Schon der Anfang zeigt das schwierige/problematische Verhältnis der Autorin/Erzählerin zur “Heimat” sehr deutlich auf. Der Band setzt mit den Zeilen ein: “Das ist das Land von dem man sagt / das alles hier aufhört und alles anfängt”. Das erste Gedicht endet dann am Ende der ersten Seite mit dem Vers: “aber du wolltest umkehren” — also die Rückkehr (?) in die Heimat wird problematisiert, sie geschieht nicht (ganz) freiwillig, sie bleibt mit Widerständen verbunden.
V lebt immer schon im distanzierten, kritischen Verhältnis zum Vaterland und zur Heimat: aus der (auch emotionalen) Spannung zwischen diesen beiden Begriffen, auch zwischen Natur/Landschaft und Menschen/Politik (der Nationalstaaten) ziehen die meisten Texte ihre Potential. Die sind oft lakonisch, immer genau und manchmal schmerzhaft. Vor allem im “Exemplum”-Teil wird dann die politische Komponente von Heimat (auch von Landschaft!) besonders deutlich, aber auch die “echte” Politik — und der Mythos (auch der neu erfundene, selbst gemachte — vgl. die Prosastücke des Beginns) — spielen hier eine große Rolle. Im Ganzen ist Veine manchmal seltsame Mischung aus romantisch (?) verträumter Empfindungs- und Gefühlslyrik und harter Realitätsaufnahme der Gegenwart der Postmoderne (und der nationalstaatlichen Politik), zusätzlich gekoppelt und aufgeladen mit mythologischen Aspekten — der Clash dieser beiden Blicke wird im letzten Gedicht sehr deutlich vorgeführt.
Ein Band mit anregender, oft fesselnder Kurzprosa und Lyrik (aber diese teilende Unterscheidung wird ja gerade sowieso zunehmend brüchig, von beiden Seiten gibt es Auflösungserscheinungen) also, der formal zwar keine Grenzen austestet, es mir aber durch seine Vielfalt in Form und Inhalt (und der meiner sehr nahestehenden Position zu „Heimat“) sehr angetan hat.
Die schnellen Zügen halten kaum in unserer Gegend
wer sieht den Weg schon hier das Feld umfassen
seitlich so als hielte er allein es davon ab
das Korn mit einer Husche in die Furchen zu verstreuen
so wie die Männer hier auf Rädern sich begrüßen
es nichts bedarf als eines Nickens anerkennend
um zu sagen: ich seh du lebst
vom Zug aus ist das alles immer schon in rechts
und links geschieden bleibt die Landschaft nur ein Anblick
[…] (23, Hier)
Eigentlich unvorstellbar, dass so etwas heute geschrieben werden könnte: Nicht nur wegen des Pazifismus (der ja aus dem gesellschaftlichen Diskurs ziemlich radikal verdrängt wurde von den „Realpolitikern“ …), sondern gerade auch wegen des ungeheuren Optimismus, der aus allen Zeilen dieser mitten im größten Schlachten aller Zeiten verfassten Erzählungen spricht, ja eigentlich sogar schreit, wirkt Der Mensch ist gut von Leonhard Frank total unzeitgemäß. Dabei steht dieses mal als das „leidenschaftlichste Buch gegen den Krieg […], das die Weltliteratur“ aufweise bezeichnete Werk in seiner Zeit — es erschien erstmals 1918, als der Erste Weltkrieg noch tobte — gar nicht mal allein. Heute mag vieles naiv anmutend: Der Glaube an eine kommende Revolution, die Fähigkeit der (Nächsten-)Liebe, alles Böse (und den Krieg) zu überwinden — das ist heute etwas fremd. Aber so radikal Franks „Lösung“ — er spricht sogar von einem „Revolutionszug der Liebe“ (111) — ist, so radikal und erschütternd ist auch seine Schilderung der blutigsten Grausamkeiten des „Großen Krieges“, des sinnlosen Stellungskrieges und des Unsinns des Fallens auf dem sogenannten „Feld der Ehre“ — die Leere dieses Topos thematisieren die Novellen von Frank immer wieder.
So hehr Überzeugung und Ziel Franks sind — sein hier unerschüttlicher Glaube an das Gute in den Menschen, das alles Böse überwinden und verdrängen wird — ästhetisch ist das mit hundert Jahren Abstand doch etwas dünn. Nicht nur die vielen Wiederholungen, die fehlende Varianz, sondern gerade die Formelhaftigkeit des Textes und seines Inhaltes schwächen Der Mensch ist gut deutlich. Ich kann das nur noch als eine Art Zeitzeugnis lesen: Das war ja keineswegs eine total abseitige Position, die Frank hier einnimmt — Der Mensch ist gut war ein ungeheuer erfolgreiches Buch. (Und doch blieb er, schaut man auf den weiteren Verlauf der Geschichte, im großen und ganzen wirkungslos …)
»Wir wollen nicht das Unmögliche versuchen: die Gewalt mit Gewalt auszurotten. Wir wollen nicht töten. Aber von dieser Sekunde an soll alle Arbeit ruhen. Denn alle Arbeit würde noch im Dienste dieses Zeitalters des organisierten Mordes stehen. Das Zeitalter des Egoismus und des Geldes, der organisierten Gewalt und der Lüge hat in dieser weißen Sekunde, hat in uns eben sein Ende erreicht. Zwischen zwei Zeitalter schiebt sich eine Pause ein. Alles ruht. Die Zeit steht. Und wir wollen über die Erde, durch die Städte, durch die Straßen gehen und im Geiste des kommenden neuen Zeitalters, des Zeitalters der Liebe, das eben begonnen hat, jedem sagen: ‚Wir sind Brüder. Der Mensch ist gut.‘ Das sei unser einziges Handeln in der Pause zwischen den Zeitaltern. Wir wollen mit solch überzeugender Kraft des Glaubens sagen: ‚Der Mensch ist gut‘, daß auch der von uns Angesprochene das tief in ihm verschüttete Gefühl ‚der Mensch ist gut‘, unter hellen Schauern empfindet und uns bittet: ‚Mein Haus ist dein Haus, mein Brot ist dein Brot.‘ Eine Welle der Liebe wird die Herzen der Menschen öffnen im Angesichte der ungeheuerlichsten Menschheitsschändung.« (64)
Das ist ein roughbook, mit dem ich gar nichts anfangen konnte. Thill nutzt hier Gedichte von Petrarca, John Donne, Robert Herrick, Paul Fleming, Hölderlin, Trakl, Daniel Heinsius, Günter Plessow, Pablo Neruda und anderen — also quer durch die Zeiten und Sprachen — als eine Art Vorlage oder erweiterte Inspiration für seine eigenen Verse. Die stehen dann in kleinen Gruppen — meist um die zehn Verse — direkt unter einem im Original zitierten Vers der Vorlage. Mal lassen sie sich sprachlich direkt darauf beziehen, wenn Thill etwa ein einzelnes Wort, eine Wortgruppe nutzt, um es zu variieren, der Bedeutung assoziierend nachzuforschen. Mal ist der Bezug auch eher inhaltlich. Und mal — sogar gar nicht so selten — ist der Bezug auch sehr opak, nur irgendwie (?) assozierend, inspirierend. Mir ist dabei eigentlich immer unklar geblieben, was die Methode will und/oder was Thills eigene Texte dann wollen. Vielleicht war ich auch einfach nicht in der Stimmung — aber bei mehreren Versuchen hat mich da, von einigen kleinen feinen Ideen, nichts fasziniert oder irgendwie gepackt. Und, wie gesagt, ich kapiere den Zusammenhang zwischen Vorlage und Neuschöpfung einfach nicht.
Die Stand stand auf Krücken (Fachwerk)
als sie sich zeigte
mit dem Gang einer Erwachsenen, der auf den
Steinen keine Spur hinterläßt (4)
Zu der sehr amüsanten und geschickt angefertigten neuen Edition einer aufklärerischen sprach‑, kultur- und brauchtumsgeschichtlichten Untersuchung der Sorberwenden habe ich in einem separaten Beitrag schon genügend geschrieben …
Auch zu diesem trotz des verheißungsvollen Titels eher enttäuschenden Buch gibt es nebenan im Bewegungsblog schon ausreichende Ausführungen, die ich hier nicht noch einmal wiederholen muss.
außerdem gelesen:
- Katharina Schultens: Geld. Eine Abrechnung mit privaten Ressourcen. Berlin: Verlagshaus Berlin 2015 (Edition Poeticon 11). 48 Seiten.
- Poet #20
- Edit #68
- SpritZ #217
- Schreibheft #68
- Mütze #11