Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: mara genschel

Aus-Lese #43

Doris Knecht: Wald. Ber­lin: Rowohlt Ber­lin 2015. 270 Seiten.

knecht, waldMan könn­te Doris Knechts Wald als „Stre­eru­witz für Anfän­ger“ bezeich­nen: Ein dezi­diert femi­nis­ti­scher Roman, der auf aktu­el­le Gege­ben­hei­ten reagiert. Für „Anfän­ger“ des­halb – das ist nicht abwer­tend gemeint -, weil Knecht die Radi­ka­li­tät und Här­te, auch im sti­lis­ti­schen, von Stre­eru­witz fehlt. Das macht Wald zunächst mal ein­fa­cher les­bar. Die naht­los wech­seln­den, fast inein­an­der glei­ten­den ver­schie­de­nen Stil­la­gen und das beschwö­ren­de, fern an Tho­mas Bern­hard erin­nern­de (oder sind das nur die Aus­tria­zis­men?) insis­tie­ren­de Wie­der­ho­len bestimm­ter (Schlüssel-)Begriffe ver­lei­hen dem Text einen ganz eige­nen, inter­es­san­ten und oft fes­seln­den Klang.

Es geht hier um ein Reak­ti­on auf die letz­te Welt­wirt­schafts­kri­se – die ganz spe­zi­el­le der Luxus-Mode-Desi­gne­rin Mari­an, die sich mit der Erwei­te­rung ihres exklu­si­ven Geschäf­tes ver­spe­ku­liert hat und, um der dro­hen­den Pri­vat­in­sol­venz zu ent­ge­hen, aus ihrem Leben, der Stadt und der Gesell­schaft flieht in ein dörf­li­ches Haus im Fami­li­en­be­sitz, wo sie nun ver­sucht, ohne Geld in einer Art Sub­sis­tenz­wirt­schaft zu über­le­ben. Das klappt natür­lich nicht so ganz, da sind ein paar Hüh­ner­dieb­stäh­le eben­so not­wen­dig wie eine Art Pro­sti­tu­ti­on mit dem im Dorf resi­die­ren­den Großbauern/​Gutsbesitzer.

In der radi­kal weib­li­chen Per­spek­ti­ve kris­tal­li­siert sich das und die Hin­ter­grund­ge­schich­te Mari­an in der von Knecht sehr klug und har­mo­nisch gestal­te­ten Infor­ma­ti­ons­ver­ga­be erst sehr all­mäh­lich und Stück für Stück her­aus. Gut gefal­len hat mir, wie Knecht hier auf die Labi­li­tät des mor­der­nen Wohl­stand­le­bens hin­weist und die neue Archa­ik unter den Bedin­gun­gen der abso­lu­ten Exis­tenz­si­che­rung auf ein­mal jede Roman­tik ver­liert. Wenn man Mari­an dann als Exem­pel liest, ent­wi­ckelt Wald also eine all­ge­mei­ne Dys­to­pie: Die moder­ne kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft ist nur eine sehr dün­ne Hül­le. Und es gibt wenig Mög­lich­kei­ten, sich dem zu ent­zie­hen – auch im Wald bleibt Mari­an ja im Sys­tem gefan­gen, die Bezie­hung zu Franz, ihrem „Gön­ner“ unter­schei­det sich eigent­lich nur in einem Punkt zu ihrem bis­he­ri­gen Leben im Markt­ka­pi­ta­lis­mus: Die Abhän­gig­keit, das Aus­ge­lie­fert Sein ist nun direkt, liegt für alle Betei­lig­ten (und die Zuschau­en­den der Dorf­ge­mein­schaft) offen, im Gegen­satz zu der ver­deckt-indi­rek­ten Abhän­gig­keit von weni­gen wohl­ha­ben­den Käu­fe­rin­nen zuvor. Einen Aus­weg gibt es also nicht – auch das etwas lie­to-fine-mäßi­ge Hap­py-End führt aus dem Sys­tem nicht her­aus, son­dern sta­bi­li­siert nur die Abhängigkeiten.

Sie hat­te nicht im Auge gehabt, dass die Welt­wirt­schafts­kri­se die Zei­ten und Gege­ben­hei­ten viel radi­ka­ler ver­än­der­te, als es auf den ers­ten Blick, ihren Blick, schien: dass die Zei­ten näm­lich für alle unüber­sicht­lich gewor­den waren, auch für die ganz Smar­ten. (59)

Mara Gen­schel: Refe­renz­flä­che #5. 2016

Zu den Refe­renz­flä­chen von Mara Gen­schel etwas klu­ges oder auch nur halb­wegs ver­nünf­ti­ges zu schrei­ben fällt mir sehr schwer. Des­we­gen hier nur so viel: Auch die fünf­te Aus­ga­be hat mich (wie­der) fas­zi­niert. Sie beginnt – etwas über­ra­schend – zunächst fast mir einer rich­ti­gen Sto­ry: Der Zer­stö­rung (die an Pierre Bou­lez’ Auf­for­de­rung, die Opern­häu­ser in die Luft zu spren­gen, erin­nert) des Wies­ba­de­ner Lite­ra­tur­hau­ses Vil­la Cle­men­ti­ne. Aber das, was zer­stört wird, ist natür­lich wie­der nur der Text der Vil­la Cle­men­ti­ne. Bil­der wer­den zu Tex­ten: ein mit Tesa­film ein­ge­kleb­ter Zet­tel „Tür­knauf“ reprä­sen­tiert im Bild­rah­men die Reprä­sen­ta­ti­on des reprä­sen­ta­ti­ven Bau­werks der reprä­sen­ta­ti­ven Kunst (oder so ähn­lich). Die­ses Spiel mit den Eben von Text und außer­text­li­cher Welt, die Auf­he­bung der tra­di­tio­nel­len strik­ten Unter­schei­dung die­ser Signi­fi­ka­ti­ons­be­rei­che ist ja das, was mir an Gen­schels Refe­renz­flä­chen so viel Freu­de berei­tet. Und das funk­tio­niert auch hier wie­der: Der Text ist Text ist Wirk­lich­keit, ist aber schon als Text nicht mehr nur Text, son­dern auch Bild und Mon­ta­ge (ein­ge­kleb­te und ein­ge­schrie­be­ne Tex­te), ist aber auch als Text schon zer­stört durch Über­schrei­bun­gen, ver­rutsch­te Zei­len und Durch­strei­chun­gen etc. Und er wird in sei­ner Mate­ria­li­tät ad absur­dum geführt (?), wenn lee­re Sei­ten einen Rah­men erhal­ten, auf dem ein ein­ge­kleb­tes „Blatt 3“ die Lee­re reprä­sen­tiert und natür­lich zugleich wie­der zer­stört. In die­sem ewi­gen sic-et-non, die­sem ver­spiel­ten hier-und-da muss man wohl den Raum der Refe­renz­flä­che sehen und schätzen.

Danie­la Danz: V. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014. 80 Seiten.

Und wo das Vater­land anfängt
ist ein dunk­ler Ort
wie Schnee
der die Umris­se zeigt
wie alles was auf­hört (49)

danz, v„Gedich­te“ ver­heißt V im Unter­ti­tel. Und doch beginnt es nach dem Auf­takt im pri­ni­ci­pi­um nach dem weit zurück­grei­fen­den Zitat aus Zed­lers Uni­ver­sal­le­xi­kon zum Begriff „Vater­land“ erst ein­mal mit Pro­sa (mit dun­kel fun­keln­der, die mich etwas an Klaus Hof­fers Bie­resch-Roma­ne erin­nert), die neue Mythen erzählt. Oder: Kur­ze Pro­sa, die Beob­ach­tun­gen als mythi­sche erzählt, leicht melan­cho­lisch ange­haucht. Immer schwingt da auch ein biss­chen Ver­fall und Nie­der­gang mit.

Schon hier, noch viel stär­ker dann aber in den fol­gen­den Gedich­ten, ist Hei­mat bei Danz immer ein pro­ble­ma­ti­scher Begriff: Gera­de wie selbst­ver­ständ­lich ist er immer gefähr­det und immer im Wan­del – einem Wan­del, der nicht Ver­bes­se­rung, son­dern in der Regel eher Ver­schlech­te­rung und Ver­fall bringt und Pro­ble­me offen­legt, Pro­ble­me auch im Ver­hält­nis des lyri­schen Ichs zu Hei­mat und Vater­land. Schon der Anfang zeigt das schwierige/​problematische Ver­hält­nis der Autorin/​Erzählerin zur „Hei­mat“ sehr deut­lich auf. Der Band setzt mit den Zei­len ein: „Das ist das Land von dem man sagt /​das alles hier auf­hört und alles anfängt“. Das ers­te Gedicht endet dann am Ende der ers­ten Sei­te mit dem Vers: „aber du woll­test umkeh­ren“ – also die Rück­kehr (?) in die Hei­mat wird pro­ble­ma­ti­siert, sie geschieht nicht (ganz) frei­wil­lig, sie bleibt mit Wider­stän­den verbunden.

V lebt immer schon im distan­zier­ten, kri­ti­schen Ver­hält­nis zum Vater­land und zur Hei­mat: aus der (auch emo­tio­na­len) Span­nung zwi­schen die­sen bei­den Begrif­fen, auch zwi­schen Natur/​Landschaft und Menschen/​Politik (der Natio­nal­staa­ten) zie­hen die meis­ten Tex­te ihre Poten­ti­al. Die sind oft lako­nisch, immer genau und manch­mal schmerz­haft. Vor allem im „Exemplum“-Teil wird dann die poli­ti­sche Kom­po­nen­te von Hei­mat (auch von Land­schaft!) beson­ders deut­lich, aber auch die „ech­te“ Poli­tik – und der Mythos (auch der neu erfun­de­ne, selbst gemach­te – vgl. die Pro­sa­stü­cke des Beginns) – spie­len hier eine gro­ße Rol­le. Im Gan­zen ist Veine manch­mal selt­sa­me Mischung aus roman­tisch (?) ver­träum­ter Emp­fin­dungs- und Gefühls­ly­rik und har­ter Rea­li­täts­auf­nah­me der Gegen­wart der Post­mo­der­ne (und der natio­nal­staat­li­chen Poli­tik), zusätz­lich gekop­pelt und auf­ge­la­den mit mytho­lo­gi­schen Aspek­ten – der Clash die­ser bei­den Bli­cke wird im letz­ten Gedicht sehr deut­lich vorgeführt.

Ein Band mit anre­gen­der, oft fes­seln­der Kurz­pro­sa und Lyrik (aber die­se tei­len­de Unter­schei­dung wird ja gera­de sowie­so zuneh­mend brü­chig, von bei­den Sei­ten gibt es Auf­lö­sungs­er­schei­nun­gen) also, der for­mal zwar kei­ne Gren­zen aus­tes­tet, es mir aber durch sei­ne Viel­falt in Form und Inhalt (und der mei­ner sehr nahe­ste­hen­den Posi­ti­on zu „Hei­mat“) sehr ange­tan hat.

Die schnel­len Zügen hal­ten kaum in unse­rer Gegend
wer sieht den Weg schon hier das Feld umfassen
seit­lich so als hiel­te er allein es davon ab
das Korn mit einer Husche in die Fur­chen zu verstreuen
so wie die Män­ner hier auf Rädern sich begrüßen
es nichts bedarf als eines Nickens anerkennend
um zu sagen: ich seh du lebst
vom Zug aus ist das alles immer schon in rechts
und links geschie­den bleibt die Land­schaft nur ein Anblick
[…] (23, Hier)

Leon­hard Frank: Der Mensch ist gut. Zürich, Leip­zig: Max Rascher 1918. 209 Sei­ten. (Euro­päi­sche Bücher)

Eigent­lich unvor­stell­bar, dass so etwas heu­te geschrie­ben wer­den könn­te: Nicht nur wegen des Pazi­fis­mus (der ja aus dem gesell­schaft­li­chen Dis­kurs ziem­lich radi­kal ver­drängt wur­de von den „Real­po­li­ti­kern“ …), son­dern gera­de auch wegen des unge­heu­ren Opti­mis­mus, der aus allen Zei­len die­ser mit­ten im größ­ten Schlach­ten aller Zei­ten ver­fass­ten Erzäh­lun­gen spricht, ja eigent­lich sogar schreit, wirkt Der Mensch ist gut von Leon­hard Frank total unzeit­ge­mäß. Dabei steht die­ses mal als das „lei­den­schaft­lichs­te Buch gegen den Krieg […], das die Welt­li­te­ra­tur“ auf­wei­se bezeich­ne­te Werk in sei­ner Zeit – es erschien erst­mals 1918, als der Ers­te Welt­krieg noch tob­te – gar nicht mal allein. Heu­te mag vie­les naiv anmu­tend: Der Glau­be an eine kom­men­de Revo­lu­ti­on, die Fähig­keit der (Nächsten-)Liebe, alles Böse (und den Krieg) zu über­win­den – das ist heu­te etwas fremd. Aber so radi­kal Franks „Lösung“ – er spricht sogar von einem „Revo­lu­ti­ons­zug der Lie­be“ (111) – ist, so radi­kal und erschüt­ternd ist auch sei­ne Schil­de­rung der blu­tigs­ten Grau­sam­kei­ten des „Gro­ßen Krie­ges“, des sinn­lo­sen Stel­lungs­krie­ges und des Unsinns des Fal­lens auf dem soge­nann­ten „Feld der Ehre“ – die Lee­re die­ses Topos the­ma­ti­sie­ren die Novel­len von Frank immer wieder. 

So hehr Über­zeu­gung und Ziel Franks sind – sein hier uner­schütt­li­cher Glau­be an das Gute in den Men­schen, das alles Böse über­win­den und ver­drän­gen wird – ästhe­tisch ist das mit hun­dert Jah­ren Abstand doch etwas dünn. Nicht nur die vie­len Wie­der­ho­lun­gen, die feh­len­de Vari­anz, son­dern gera­de die For­mel­haf­tig­keit des Tex­tes und sei­nes Inhal­tes schwä­chen Der Mensch ist gut deut­lich. Ich kann das nur noch als eine Art Zeit­zeug­nis lesen: Das war ja kei­nes­wegs eine total absei­ti­ge Posi­ti­on, die Frank hier ein­nimmt – Der Mensch ist gut war ein unge­heu­er erfolg­rei­ches Buch. (Und doch blieb er, schaut man auf den wei­te­ren Ver­lauf der Geschich­te, im gro­ßen und gan­zen wirkungslos …)

»Wir wol­len nicht das Unmög­li­che ver­su­chen: die Gewalt mit Gewalt aus­zu­rot­ten. Wir wol­len nicht töten. Aber von die­ser Sekun­de an soll alle Arbeit ruhen. Denn alle Arbeit wür­de noch im Diens­te die­ses Zeit­al­ters des orga­ni­sier­ten Mor­des ste­hen. Das Zeit­al­ter des Ego­is­mus und des Gel­des, der orga­ni­sier­ten Gewalt und der Lüge hat in die­ser wei­ßen Sekun­de, hat in uns eben sein Ende erreicht. Zwi­schen zwei Zeit­al­ter schiebt sich eine Pau­se ein. Alles ruht. Die Zeit steht. Und wir wol­len über die Erde, durch die Städ­te, durch die Stra­ßen gehen und im Geis­te des kom­men­den neu­en Zeit­al­ters, des Zeit­al­ters der Lie­be, das eben begon­nen hat, jedem sagen: ‚Wir sind Brü­der. Der Mensch ist gut.‘ Das sei unser ein­zi­ges Han­deln in der Pau­se zwi­schen den Zeit­al­tern. Wir wol­len mit solch über­zeu­gen­der Kraft des Glau­bens sagen: ‚Der Mensch ist gut‘, daß auch der von uns Ange­spro­che­ne das tief in ihm ver­schüt­te­te Gefühl ‚der Mensch ist gut‘, unter hel­len Schau­ern emp­fin­det und uns bit­tet: ‚Mein Haus ist dein Haus, mein Brot ist dein Brot.‘ Eine Wel­le der Lie­be wird die Her­zen der Men­schen öff­nen im Ange­sich­te der unge­heu­er­lichs­ten Mensch­heits­schän­dung.« (64)

Hans Thill: in riso /​der dür­re Vogel Bin /​käl­ter als /​Dun­lop. Ber­lin, Hei­del­berg, Edenk­o­ben, Sant­ia­go de Chi­le, Schupf­art: rough­books 2016 (rough­book 035). 102 Seiten.

thill, dunlopDas ist ein rough­book, mit dem ich gar nichts anfan­gen konn­te. Thill nutzt hier Gedich­te von Petrar­ca, John Don­ne, Robert Her­rick, Paul Fle­ming, Höl­der­lin, Tra­kl, Dani­el Hein­si­us, Gün­ter Ples­sow, Pablo Neru­da und ande­ren – also quer durch die Zei­ten und Spra­chen – als eine Art Vor­la­ge oder erwei­ter­te Inspi­ra­ti­on für sei­ne eige­nen Ver­se. Die ste­hen dann in klei­nen Grup­pen – meist um die zehn Ver­se – direkt unter einem im Ori­gi­nal zitier­ten Vers der Vor­la­ge. Mal las­sen sie sich sprach­lich direkt dar­auf bezie­hen, wenn Thill etwa ein ein­zel­nes Wort, eine Wort­grup­pe nutzt, um es zu vari­ie­ren, der Bedeu­tung asso­zi­ie­rend nach­zu­for­schen. Mal ist der Bezug auch eher inhalt­lich. Und mal – sogar gar nicht so sel­ten – ist der Bezug auch sehr opak, nur irgend­wie (?) asso­zie­rend, inspi­rie­rend. Mir ist dabei eigent­lich immer unklar geblie­ben, was die Metho­de will und/​oder was Thills eige­ne Tex­te dann wol­len. Viel­leicht war ich auch ein­fach nicht in der Stim­mung – aber bei meh­re­ren Ver­su­chen hat mich da, von eini­gen klei­nen fei­nen Ideen, nichts fas­zi­niert oder irgend­wie gepackt. Und, wie gesagt, ich kapie­re den Zusam­men­hang zwi­schen Vor­la­ge und Neu­schöp­fung ein­fach nicht. 

Die Stand stand auf Krü­cken (Fach­werk)
als sie sich zeigte
mit dem Gang einer Erwach­se­nen, der auf den
Stei­nen kei­ne Spur hin­ter­läßt (4)

Trau­gott Xaveri­us Unruh: Von der Sor­ber­wen­den Wesen­heit und Her­kom­men. Her­aus­ge­ge­ben von Edu­ard Wer­ner. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2015. 60 Seiten. 

Zu der sehr amü­san­ten und geschickt ange­fer­tig­ten neu­en Edi­ti­on einer auf­klä­re­ri­schen sprach‑, kul­tur- und brauch­tums­ge­schicht­lich­ten Unter­su­chung der Sor­ber­wen­den habe ich in einem sepa­ra­ten Bei­trag schon genü­gend geschrie­ben

Micha­el W. Aus­tin, Peter Rei­chen­bach (Hrsg.): Die Phi­lo­so­phie des Lau­fens. Ham­burg: mai­risch 2015. 197 Seiten. 

Auch zu die­sem trotz des ver­hei­ßungs­vol­len Titels eher ent­täu­schen­den Buch gibt es neben­an im Bewe­gungs­blog schon aus­rei­chen­de Aus­füh­run­gen, die ich hier nicht noch ein­mal wie­der­ho­len muss.

außer­dem gelesen: 

  • Katha­ri­na Schul­tens: Geld. Eine Abrech­nung mit pri­va­ten Res­sour­cen. Ber­lin: Ver­lags­haus Ber­lin 2015 (Edi­ti­on Poe­ti­con 11). 48 Seiten.
  • Poet #20
  • Edit #68
  • SpritZ #217
  • Schreib­heft #68
  • Müt­ze #11

Aus-Lese #34

Joa­chim Lott­mann: End­lich Koka­in. Köln: Kie­pen­heu­er & Witsch 2014. 195 Sei­ten (ebook)

lottmann, endlich kokainFünf Kapi­tel zwi­schen Wien und Ber­lin, in denen Lott­mann sei­nen Prot­ago­nis­ten die Eupho­rie des Rausch­gifts und (weni­ger stark aus­ge­prägt) den Absturz des Ent­zugs anhand der als über­all ver­füg­ba­re und über­all genut­zen Mode­dro­ge Koka­in (der Titel macht ja kein Geheim­nis dar­aus) erfah­ren lässt. Dabei steht aber nicht der Rausch im Mit­tel­punkt (und am Ziel des Dro­gen­kon­sums), son­dern die „Neben­ef­fek­te“: Das Abneh­men, das geän­der­te Sozi­al­ver­hal­ten, die anders er- und aus­ge­leb­te Sexua­li­tät – und das Geld. Die durch­aus komi­schen und amü­san­ten Schil­de­run­gen der Erleb­nis­se, die dem Hel­den auf die­ser, nun ja, Irr­fahrt begeg­nen, ergänzt Lott­mann etwas moti­va­ti­ons­los (und für den Text auch aus­ge­pro­chen fol­gen­los) sowie nicht sehr geschickt mit dem „Wis­sen­schaft­li­chen Tage­buch“ des Prot­ago­nis­ten, des­sen Ein­tra­gun­gen ganz ste­reo­typ mit „Lie­bes wis­sen­schaft­li­ches Tage­buch,“ begin­nen, die vom Erzäh­ler brav zitiert wer­den und vor allem durch ihre unglaub­wür­di­ge Nai­vi­tät auf­fal­len. Ansons­ten besticht der hete­ro­die­ge­ti­sche Erzäh­ler vor allem durch sein ent­spann­tes, leicht distan­zier­tes Plau­dern, das mit Sym­pa­thie für sei­ne Haupt­fi­gur Ste­phan Brau­mer erzählt, dabei des­sen Neu­gier und auch Befrem­den ange­sichts der „Per­ver­sio­nen“ der ande­ren tei­lend. End­lich Koka­in ist aber nicht nur ein Dro­gen­ro­man – das wäre Lott­mann wohl zu wenig. Zugleich will der Text auch noch eine Kunst­be­triebs­sa­ti­re sein. Das klappt so halb­wegs, ver­san­det aber in der net­ten Harm­lo­sig­keit. Und auch eine Anti-Ent­wick­lungs­ro­man (aller­dings mit ver­söhn­li­chem Hap­py-Ende soll das noch sein. Da aber über­haupt alles nett und flo­ckig bleibt, nir­gends hart (auch sprach­lich nicht), klappt das, was über den unter­halt­sa­men Bericht der täp­pi­schen Unter­neh­mun­gen Braum­ers hin­aus­geht, auch nur sel­ten. Bartels fasst das in sei­ner Rezen­si­on ganz gut zuammen: 

Am bes­ten ist es, „End­lich Koka­in“ wie im Rausch in einem Zug zu lesen, dann ist der Spaß am aller­größ­ten. Sonst könn­te man leicht auf den Gedan­ken kom­men, schon bes­se­re Dro­gen­ro­ma­ne und Kunst­be­triebs­sa­ti­ren gele­sen zu haben.

Jens Ditt­mar: So kalt und schön. Ein Son­der­weg. Aus dem Nach­lass von Hil­de­gard Klein­schmidt (Temuco/​Chile) her­aus­ge­ge­ben, kom­men­tiert und mit Anmer­kun­gen ver­se­hen von Jens Ditt­mar. Hohen­ems: Bucher 2014.

dittmarEinen post­mo­der­nen Schel­men­ro­man ver­heißt der Umschlag­text. Den bekommt man aller­dings nicht. Lesen kann man So kalt und schön am bes­ten als Ver­such, einen sol­chen zu schrei­ben – ein Ver­such, der nicht so rich­tig glückt. Denn auf bei­den Ebe­nen bleibt Ditt­mar vor dem Ziel ste­hen: Weder ist das ein gelun­ge­ner Schel­men­ro­man – die Ele­men­te sind da, der Witz fehlt … -, noch kann der post­mo­der­ne Aspekt über­zeu­gen. Der erschöpft sich näm­lich im Auf- und Vor­füh­ren von mög­lichst vie­len Namen, die im Kul­tur­le­ben (vor allem im lite­ra­ri­schen Teil) der Bun­des­re­pu­blik eine Rol­le spiel­ten. Das geschieht aber regel­mä­ßig ohne beson­de­re Moti­va­ti­on, so dass es lee­re Ges­te bleibt. Typisch für die­se Halb­her­zig­keit, die viel von dem Text durch­zieht, ist die Tat­sa­che, dass die Her­aus­ge­ber­fik­ti­on den Ver­lag über­for­der­te oder der sie nicht mit­ma­chen woll­te und sie des­halb gleich auf dem Titel­blatt „zer­stört“ – dann kann man sich so etwas auch gleich spa­ren. Ähn­li­ches gilt für die „Anmer­kun­gen“, die bloß belang­los sind und will­kür­lich ein paar Fak­ten im Wiki­pe­dia-Stil hinzufügen.

Der Erzäh­ler ist ein pene­trant dozie­ren­der Erzäh­ler, der mehr erklärt (und vor­führt, gera­de an Büchern und Gestal­ten und Autoren) als er erzählt: „Und Andrea ver­such­te, sich das vor­zu­stel­len, aber es ging nicht.“ (67) heißt es ein­mal – so ähn­lich geht es dem Leser (d.h. mir) auch. 

Horst Brun­ner (Hrsg.): Von acht­zehn Wach­teln und dem Fin­ken­rit­ter. Deut­sche Unsinns­dich­tung des Mit­tel­al­ters und der Frü­hen Neu­zeit. Stutt­gart: Reclam 2014. 163 Seiten.

wachtelnDie­ses schma­le Reclam-Bänd­chen ist wun­der­ba­re lus­ti­ge und lust­vol­le Lek­tü­re für zwi­schen­durch: Kurio­sa aus der Lita­tur­ge­schich­te des Mit­tel­hoch­deut­schen und vor allem der Frü­hen Neu­zeit. Brun­ner schreibt im Nachwort: 

Auch im Mit­tel­al­ter und in der Frü­hen Neu­zeit gab es Men­schen, die gern und ent­spannt gelacht haben, weder dach­ten sie unaus­ge­setzt an das Jen­seits, noch an den Sinn ihrer stän­di­schen Exis­tenz, noch an Rebel­li­on und Auf­rü­hertum. Die Tex­te, die ihnen gefal­len haben, kön­nen durch­aus auch uns heu­te noch erfreu­en. (163)

In der Tat, die Dich­tun­gen über Tie­re, Unmög­lich­kei­ten und ver­kehr­te Wel­ten sind erfreu­lich, im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes. „Das Schlau­raf­fen Landt“ von Hans Sachs ist wohl der bekann­tes­te Text die­ser Samm­lung. Sehr schön aber auch der „Fin­ken­rit­ter“ in der Tra­di­ti­on des Rit­ter­ro­mans und mit Ver­wand­schaf­ten zum Schel­men­ro­man (Chris­ti­an Reu­ter könn­te sich hier durch­aus bedient haben, denkt man beim Lesen manch­mal, zum Bei­spiel bei der Schil­de­rung der Geburt, die doch eini­ge Ähn­lich­kei­ten zum Schel­muff­sky auf­weist). Ansons­ten: Viel Umkeh­rung des Sinns, ohne dass immer und unbe­dingt neu­er Sinn dar­aus wird und auch nicht wer­den soll – also Un-Sinn im wahrs­ten Sinn des Wor­tes. Die Mit­tel sind zum Bei­spiel die ver­kehr­te Sprach­welt, in der kon­se­quent Sub­jekt und Objekt der Ver­se ver­tauscht wer­den. Oder ein­fach Unmög­lich­kei­ten der Welt, in denen immer wie­der der Tri­umph der Schwa­chen über Star­ke, der Gejag­ten über Jäger her­vor­blitzt. Sprach­lich spie­len natür­lich auch Mit­tel der Ver­keh­rung wie die con­tra­dic­tio in adiec­to, das Para­do­xon oder der ad absur­dum getrie­be­ne Reim­zwang eine gro­ße Rolle.

Ein Bei­spiel aus dem anony­men „Puch von den Wach­teln“, ca. 1380:

geflo­gen kam ain regenwurm,
der hub den aller grös­ten sturm
mit ainem igel, der waz plos
herr diet­rich von pern schoz
durch ain alten enu­en wagen,
herr hil­de­prant durchn kragen,
herr Ekk durch den schüzzelkreben -
Chriem­hilt ver­loz da ir leben,
da plut gen mainz ran.
herr vasolt kaum entran,
des leibs er sich verwak.
sib­ent­ze­hen waht­eln in den sak!

Mar­le­ne Stre­eru­witz: Nach­kom­men.. Frank­furt: Fischer 2014. 432 Seiten. 

Sie muss­te durch­set­zen, dass das ein Roman war und kein Buch und dass es rich­tig war, dass es Roma­ne gab, und dass es um die Wahr­heit ging. Um die vie­len Mög­lich­kei­ten davon. (313)

streeruwitz, nachkommen.Stre­eru­witz schreibt wei­ter an ihrem Pro­jekt zu Wahr­heit und rich­ti­gen Leben, zum Ver­hält­nis der Geschlech­ter, und, hier sehr deut­lich, zum Pro­blem der Aus­beu­tung. Im Gegen­satz zu so man­chen Rezen­sio­nen geht es in Nach­kom­men. gar nicht so sehr um den Lite­ra­tur­be­trieb – das ist kein Schlüs­sel­ro­man. Der Betrieb um die Ware Buch, gemacht aus Roma­nen und ande­ren Tex­ten (der Unter­schied ist schon ent­schei­dend, für Stre­eru­witz und ihre Prot­ago­nis­tin Nelia Fehn), ist eigent­lich nur das Set­ting, der Rah­men, vor/​in dem sich das Ent­schei­den­de abspielt.

Das Ent­schei­den­de, um dem es in Nach­kom­men. geht, ist in mei­ner Les­art auch nicht das, was der Klap­pen­text ver­heißt, näm­lich „ein Roman über die Ord­nung der Gene­ra­tio­nen“. Eigent­lich – und ich fin­de das so deut­lich, dass es schon fast über­trie­ben ist ist Nach­kom­men. ein Roman über Aus­beu­tung. Es geht dar­um zu zei­gen, wie eine jun­ge Frau (das Geschlecht ist nicht unwich­tig!) das kapi­ta­lis­ti­sche „Funk­tio­nie­ren“ (ein-)übt, erkennt und – an sich, ihren eige­nen Hand­lun­gen und denen ande­rer Men­schen wie dem schmie­ri­gen Ver­le­ger, den Mäze­nen, den Kri­ti­ke­rin­nen etc – reflek­tiert und kri­ti­siert. Wobei „Kri­tik“ viel­leicht schon zu viel ver­spricht, näm­lich die Idee einer Alter­na­ti­ve, einer ver­hei­ßungs­vol­len Idee oder so. Dar­um geht es aber nicht, das weiß Nelia Fehn (die eigent­lich Cor­ne­lia heißt) auch. Es geht aber dar­um, erst ein­mal zu zei­gen, wie die An-/Ein­pas­sung in ein (über­mäch­ti­ges) öko­no­mi­sches Sys­tem funk­tio­niert und was das für Fol­gen für das Indi­vi­du­um hat, wenn die­ses Sys­tem (nur) nach öko­no­mi­schen Kri­te­ri­en funk­tio­niert und nicht ein sinn­haf­tes, men­schen­freund­li­ches ist. Die Hand­lung – die Buch­preis­ze­re­mo­nie, die Frank­fur­ter Buch­mes­se, die Inter­views, die Trau­er um die Mut­ter, die Begeg­nung mit dem absen­ten Vater – zeigt also die Aus­beu­tung auf ver­schie­de­nen Ebe­nen, als Selbst-Aus­beu­tung, als Aus­beu­tung durch den Ver­lag, durch die Medi­en, durch die Fami­lie, aber auch die Aus­beu­tung ande­rer (etwa in Form bil­li­ger Abeits­kräf­te, hier v.a. anhand der Tex­til­pro­duk­ti­on in Fern­ost, der Kri­se in Grie­chen­land etc.): Aus­beu­tung ist sozu­sa­gen ein omni­prä­sen­tes Motiv im Text. Das funk­tio­niert gera­de des­halb so gut, weil der Roman eben kei­nen Aus­weg zei­gen will und kann: Er will das Pro­blem bewusst machen und nicht ein­fa­che Lösun­gen pro­pa­gie­ren. Die Absur­di­tät und Kom­ple­xi­tät und Unent­rinn­bar­keit der Schlech­tig­keit der Welt, die sich auch in der Gene­ra­tio­nen­un­ge­rech­tig­keit spie­gelt (nicht nur als ein Macht­pro­blem im direk­ten Ver­hält­nis, son­dern grund­sätz­lich!) kann der Text auf­zei­gen. Aber ein Schlüs­sel­ro­man des Lite­ra­tur­be­triebs ist das natür­lich nicht – höchest so, wie die Bud­den­brooks ein Schlüs­sel­ro­man des Getrei­de­han­dels sind. Es geht nicht um dem Lite­ra­tur­be­trieb. Lite­ra­tur ist unwich­tig (gewor­den) – gera­de das erfährt und bemerkt und zeigt die Prot­ago­nis­tin ja immer wie­der: die Lee­re, die nur noch Betrieb und nicht mehr Lite­ra­tur ist. Vor allem geht es in Nach­kom­men. aber um ande­res: Frau­en (und Män­ner) und ihre Rol­len, Gene­ra­tio­nen, und, ganz wich­tig, das Funk­tio­nie­ren in der kapi­ta­lis­tisch orga­ni­sier­ten und durch­drun­ge­nen Gesell­schaft als ein Funk­tio­nie­ren (der Men­schen bzw. ihrer jewei­li­gen der­zei­ti­gen Rol­len) im kapi­ta­lis­ti­schen Sin­ne, das trotz Kri­se die Ver-Wer­tung, also: die Aus­nut­zung nicht behin­dert. Oder anders gesagt: es geht dar­um, die tota­le Durch­drin­gung der kapi­ta­lis­ti­schen Nor­men in der Gesell­schaft mit all ihren Berei­chen (wie etwa der Kunst) zu zei­gen. Und das in der von Stre­eru­witz gewohn­ten prä­zi­sen, manch­mal har­ten, immer fas­zi­nie­ren­den Sprache.

Der Roman, so ist mei­ne Erfah­rung, gewinnt unge­heu­er, wenn man dazu sich (noch ein­mal) die Poe­tik-Vor­le­sun­gen der Autorin zu Gemü­te führt, die Fischer gera­de noch ein­mal zusam­men mit­ei­nem her schwa­chen Inter­view her­aus­ge­ge­ben hat – da steht eigent­lich schon alles drin, was man zur Ästhe­tik und den lite­ra­ri­schen Zie­len von Stre­eru­witz wis­sen muss.
Groß­ar­tig. Wie eigent­lich alles von Mar­le­ne Stre­eru­witz.

War­um woll­te sie ein gutes Ergeb­nis sein. Über­haupt. War­um woll­te sie schön aus­schau­en. Es ging doch dar­um, dass es sie gege­ben hat­te. Schon immer. Und lan­ge bevor sie so groß und dünn gewor­den war. Sie war schon immer da gewe­sen, und es hät­te gleich­gül­tig sein sol­len, wie sie aus­sah. Über­haupt. Sie war ja erst groß und dünn gewor­den, nach­dem die Mami. Es wäre schön gewe­sen. Schö­ner. Viel schö­ner. Es wäre über­haupt nicht zu ver­glei­chen gewe­sen. Sie hät­te sich gewünscht, die Mami. Ihre Muter. Sie könn­te sie sehen. Könn­te etwas sagen. Dazu, wie sie aus­sah. Nur sehen. Sie anschau­en. Es wäre schon genug gewe­sen. Es wäre das Schöns­te gewe­sen. Und selbst Mari­os ver­stand das nicht. Dass das so wich­tig gewe­sen wäre. Aber Mari­os woll­te, dass er das Wich­tigs­te für sie war. Und sie woll­te ja auch, dass Mari­os das woll­te, und sie hat­ten bald auf­ge­hört, dar­über zu reden. Das war alles so weit innen. Das behielt sie da. Und war­um fürch­te­te sie sich vor dem Tref­fen. War­um hat­te sie die­ses Cha­os im Bauch. Fürch­te­te sie sich vor die­sem Mann. Die­ser Mann. Er war sinn­los. Er war mehr als sinn­los. Er war nicht ein­mal ein Ersatz. (158)

Birk Mein­hardt: Brü­der und Schwes­tern. Die Jah­re 1973–1989. Mün­chen: Han­ser 2013. 700 Seiten.

meinhardt, brüder und schwestern700 Sei­ten für 16 Jah­re Fami­li­en­ge­schich­te – kurz fas­sen ist offen­bar nicht die Stär­ke von Mein­hardt. Brü­der und Schwes­tern will ein breit erzähl­tes Pan­ora­ma einer „Jahr­hun­dert­fa­mi­lie“ sein (die­sen Anspruch merkt man auf fast jeder Sei­te), die mit Rück­blen­den bis in die Zeit vor dem Zwei­ten Welt­krieg zurück reicht, vor allem aber die „End­pha­se“ der DDR im Blick hat. Dabei, das ist schon ein ers­tes Pro­blem, zer­fällt die Fami­li­en­ge­schich­te aber in seri­ell erzähl­te Ein­zel­ge­schich­ten: von Wil­ly Wer­chow, dem Dru­cker und Betriebs­lei­ter, der sich durch Kom­pro­mis­se immer mehr der Par­tei- und Staats­li­nie annä­hert und kom­pro­mit­tiert, sei­ner Söh­ne Erik und vor allem Mat­ti, der sozu­sa­gen aus­steigt und „bloß“ Bin­nen­schif­fer wird, dafür aber einen Roman schreibt (der hier auch mit­ge­teilt wird), den sei­ne ehe­ma­li­ge Jugend­lie­be, die inzwi­schen als Lek­to­rin in der BRD arbei­tet, im „West­end-Ver­lag“ (soll wohl Suhr­kamp sein?) ver­öf­fent­licht, und Brit­ta, die bei einem pri­va­ten Zir­kus lan­det und dort mit einer neu­ar­ti­gen Akro­ba­tik­num­mer Furo­re macht. Das alles ist umständ­lich und weit aus­ho­lend erzählt, ohne dass mir die Not­wen­dig­keit dafür klar wür­de. Vor allem ist es im Detail manch­mal – trotz der Recher­chen und dem Bemü­hen um his­to­ri­sche Authen­ti­zi­tät – eher schwach und nach­läs­sig, wirkt oft unge­nau (zum Bei­spiel in der zeit­li­chen Fixie­rung). Eine Ten­denz ins All­ge­mei­ne, zum Aus­wei­chen ins irgend­wie gear­te­te „Über-Zeit­li­che“ macht sich öfters unan­gehm bemerk­bar. Dabei kann Mein­hardt durch­aus erzäh­len und beschrei­ben, detail­liert und vol­ler Fas­zi­na­ti­on für den eige­nen Stoff. Genau­ig­keit und Witz ste­cken da durch­aus drin – aber ein­ge­bet­tet in gro­ße Län­gen und dür­re Stre­cken. Denn ande­rer­seits ver­liert er sich immer wie­der zu sehr im Detail. Es gibt ein­fach zu viel davon – und dabei wird nicht klar, war­um (und wofür) das eigent­lich alles not­wen­dig sein soll, wo der Text hin­will (über die blo­ße Beschrei­bung hin­aus). „– wird fort­ge­setzt –“ steht auf der letz­ten Sei­te: soll das alles denn immer noch nicht genug gewe­sen sein?

Hans-Jost Frey & Franz Josef Czern­in: Sät­ze. Zürich, Ret­ten­egg, Solo­thurn: rough­books 2014 (rough­book 030). 132 Seiten.

sätzeDa hat rough­books mir wie­der etwas beschert. Einer­seits ist das fas­zi­nie­rend ohne Ende, kann man sich in die­sen „Sät­zen“ wun­der­bar ver­lie­ren. Ande­rer­seits kann man aber auch aus dem Kopf­schüt­teln kaum noch her­aus kom­men … – ein typi­sches rough­book also, in gewis­ser Hin­sicht. Hans-Jost Frey und Franz Josef Czern­in spie­len sich hier gegen­sei­tig Sät­ze zu – der jeweils ande­re muss dar­auf reagie­ren, mit Sät­zen, die Wör­ter des Aus­gangs­sat­zes ent­hal­ten. Und Sät­ze sind hier ganz buch­stäb­lich zu ver­ste­hen, es geht fast nur um ein­zel­ne Sät­ze. Und es sind „Sät­ze“, also Set­zun­gen. Die sind oft axio­ma­tisch, spie­len immer wie­der mit der Spra­che, mit der Ober­flä­che und ihren Bedeu­tun­gen, häu­fen (schein­ba­re) Para­do­xien, schmei­ßen mit Zita­ten und Allu­sio­nen und Ver­frem­dun­gen berühm­ter Aus­sa­gen berühm­ter Män­ner (Kant, Hegel, Nietz­sche, Lacan, Freud, Kaf­ka und so wei­ter) nur so um sich. Manch­mal ver­selb­stän­digt sich das, dann sind die „Regeln“ auch nicht mehr so wich­tig. Manch­mal läuft sich das auch ein biss­chen tot. Zumin­dest emp­fand ich das beim ers­ten Lesen so. Ver­mut­lich wür­de eine wie­der­hol­te Lek­tü­re ein ganz ande­res Ergeb­nis zei­gen, da wären ver­meint­li­che Dür­restre­cken dann ver­mut­lich reich an wun­der- und wert­vol­len Sät­zen. Davon gibt es aber immer schon genug, auch nach dem ers­ten Lesen fin­den sich unzäh­li­ge Anstrei­chun­gen in mei­nem Exem­plar. Wie­der ein Buch also, das mit ein­ma­li­gem Lesen nicht ansatz­wei­se abge­tan ist …

Voß, Flo­ri­an (Hrsg.): Welt­krieg! Gefal­le­ne Dich­ter 1914–1918. Mün­chen: Alli­te­ra 2014 (Lyrik­edi­ti­on 2000). 70 Seiten.
Anz, Tho­mas & Joseph Vogl (Hrsg.): Die Dich­ter und der Krieg. Deut­sche Lyrik 1914–1918. Stutt­gart: Reclam 2014. 103 Seiten. 

Zu die­sen bei­den Antho­lo­gien mit Lyrik aus den Jah­ren 1914–1918, dem Welt­krieg bezie­hungs­wei­se sei­nem Umfeld in Deutsch­land, habe ich kürz­lich schon ein paar Sät­ze geschrie­ben. Jeden­falls auch loh­nen­de Lek­tü­re – und gar nicht so schwer oder lang …

Sarah Schmidt: Eine Ton­ne für Frau Scholz. Ber­lin: Ver­bre­cher 2014. 217 Seiten. 

schmidt, tonneUnd zum Schluss noch ein fei­nes Buch aus dem vor­züg­li­chen Ver­bre­cher-Ver­lag: Eine Ton­ne für Frau Schulz ist ein aus­ge­zeich­ne­ter, prä­zi­se beob­ach­ten­der und beschrei­ben­der Roman vol­ler Witz und Esprit. Sicher, Gat­tungs- oder gar Lite­ra­tur­ge­schich­te wird der nicht schrei­ben. Aber es ist vor­züg­li­che, niveau­vol­le Unterhaltung.
Neben dem schön tro­cke­nen, prä­zi­sen und unauf­dring­li­chen Humor der Erzäh­le­ring hat mir auch die Gewöhn­lich­keit des Set­tings und der Per­so­nen gut gefal­len. Das sind ganz nor­ma­le Men­schen mit ganz nor­ma­len Pro­ble­men und gan­ze nor­ma­len Gedan­ken. Dabei wird das nicht ankla­gend oder vor­füh­rend erzählt, son­dern sehr sym­pa­thisch. Das Leben an sich reicht schon, ist schön und erfül­lend genug, da braucht es kei­ne Beson­der­hei­ten, viel­leicht auch kei­nen Ehr­geiz nach Indi­vi­dua­li­tät oder Beson­der­heit: Das Sein reicht schon, kann auch schön sein und glück­lich machen (wenn man sich damit beschei­det, wie die Erzäh­le­rin). Die titel­ge­ben­de Frau Scholz, eine alte Dame, mit der sich die Erzäh­le­rin, die mit ihrer Fami­lie (Vater, Mut­ter, Sohn, Toch­ter – ganz nor­mal eben …) im glei­chen her­un­ter­ge­kom­me­nen Ber­li­ner Miets­haus wohnt, anfreun­det, ver­schafft sich dann aber doch noch eine Beson­der­heit, in dem sie sich einen Sohn erfin­det, der Flucht­hel­fer an bzw. unter der Ber­li­ner Mau­er war – offen­sicht­lich eine Lüge, auch wenn das nie ganz ein­deu­tig geklärt wird. Unter ande­rem, weil sie vor dem ent­schei­den­den Inter­view mit der selt­sam (für die Ich-Erzäh­le­rin) ziel­stre­bi­gen Toch­ter ein­fach so stirbt … Den Freun­din­nen und Freun­den guter, niveau­vol­ler Unter­hal­tung jeden­falls wärms­tens empfohlen. 

Mir feh­len zwar oft eige­ne Wor­te, so viel ver­schwin­det, wird absor­biert und zu häu­fig benutzt, und für vie­les in mir drin habe ich über­haupt kei­ne Wör­ter, noch nie gehabt, aber »Lebens­qua­li­tät«, das gehört nicht zu mir. Ich will nur in der Küche sit­zen und rau­chen und wei­ge­re mich, dabei ein Lebens­ge­fühl zu ent­wi­ckeln. Ich will kei­nen Lebens­stan­dard, kei­ne Lebens­lust, kei­nen Lebens­traum, kei­ne Lebens­phi­lo­so­phie. (39)

außer­dem:

  • Tho­mas Meine­cke, Loo­ka­li­kes (Re-Lek­tü­re)
  • Hubert Fich­te, Det­levs Imi­ta­tio­nen »Grün­span« (Re-Lek­tü­re – und immer wie­der begeis­tert von die­sem gro­ßen Text!)
  • Mara Gen­schel, Refe­renz­flä­che #4
  • Spra­che im tech­ni­schen Zeit­al­ter, #210

Aus-Lese #26

Wolf­gang Herrn­dorf: Arbeit und Struk­tur. Ber­lin: Rowohlt 2013. 447 Seiten. 

Das Blog von Wolf­gang Herrn­dorf, eben „Arbeit und Struk­tur“, habe ich erst recht spät wahr­ge­nom­men und dann auch immer etwas gefrem­delt. Hier, in sei­ner Ganz­heit, wirkt das sehr anders. Und jetzt ist Herrn­dorfs Web­log „Arbeit und Struk­tur“ wirk­lich so groß­ar­tig, wie es vie­le Rezen­sen­ten beschrei­ben. Aber nicht, weil es so beson­ders direkt und „authen­tisch“ ist (das ist es nicht, es ist Lite­ra­tur und sorg­fäl­tig bear­bei­tet), son­dern weil es den Ein­druck von Ehr­lich­keit und skru­tin­öser Selbst­be­fra­gung ver­mit­teln kann – gera­de in den schwie­ri­gen Situa­tio­nen, z.B. dem Emp­fang der Dia­gno­se, den Berech­nun­gen der ver­blei­ben­den Lebens­zeit. Und weil es scho­nungs­los die Schwie­rig­kei­ten recht unmit­tel­bar dar­stellt. Etwa auch die Ver­zweif­lung, dass es in Deutsch­land kaum mög­lich ist, als tod­kran­ker Mensch sein Lebens­en­de wirk­lich selbst zu bestim­men. Schon früh tau­chen die Über­le­gun­gen zu einer „Exit­stra­te­gie“ (79) auf. Deut­lich merkt man aber auch einen Wan­del in den drei Jah­ren: vom locke­ren (bei­na­he …) Anfang, als Herrn­dorf sich vor allem in die Arbeit (an Tschick und Sand) flüch­tet, hin zum bit­te­ren, har­ten Ende. Das mani­fes­tiert sich auch in der Spra­che, die dich­ter und här­ter, ja kan­ti­ger wird. Natür­lich geht es hier oft um die Krank­heit, den Hirn­tu­mor (die „Raum­for­de­rung“), aber nicht nur – er beschreibt auch die klei­nen Sie­ge des All­tags und die Seg­nun­gen der Arbeit, die poe­ti­schen Gedan­ken: „Arbeit und Struk­tur“ dient auch als Form der The­ra­pie, die manch­mal selbst etwas manisch wird, manch­mal aber auch nur Pflicht ist; ist aber zugleich auch eine poe­ti­sche Arbeit mit den ent­spre­chen­den Folgen.

Ich erfin­de nichts, ist alles, was ich sagen kann. Ich samm­le, ich ord­ne, ich las­se aus. Im Über­schwang spon­ta­ner Selbst­dra­ma­ti­sie­rung erkenn­bar falsch und unge­nau Beschrie­be­nes wird oft erst im Nach­hin­ein neu beschrie­ben. (292)

Ein gro­ßer Spaß, die­ses Ster­ben. Nur das War­ten nervt. (401)

Michel Fou­cault: Der Wil­le zum Wis­sen. Sexua­li­tät und Wahn­sinn I. Frank­furt am Main: Suhr­kamp 2012 (1983). 153 Seiten. 

Den Klas­si­ker der Dis­kurs­theo­rie habe ich jetzt end­lich auch mal gele­sen – nicht so sehr um des The­mas, also der Unter­su­chung der Erzäh­lung der Befrei­ung der Sexua­li­tät, wil­len, son­dern der Metho­de wil­len. Fou­cault zeigt ja hier, wie Macht­struk­tu­ren in Dis­kur­sen und Dis­po­si­ti­ven sich rea­li­sie­ren, hier am Bei­spiel der Sexua­li­tät und der Ent­wick­lung des Spre­chens über sie, also der Regu­lie­rung von Sexua­li­tät in der Neu­zeit Euro­pas. Ins­be­son­de­re die Ubi­qui­tät von Macht(strukturen) ist ent­schei­de­ne, die auch nicht irgend­wie zen­tral gesteu­ert sind (und gegen­tei­li­ge Ergeb­nis­se haben kön­nen: „Iro­nie die­ses Dis­po­si­tivs: es macht uns glau­ben, daß es dar­in um unse­re ‚Befrei­ung‘ geht.“ (153)).

Ent­schei­dend ist hier ja Fou­caults neu­er Begriff von Macht, der über den Dis­kurs & nicht­dis­kur­si­ve For­ma­tio­nen geprägt ist. Dazu noch die Idee der Dis­po­si­ti­ve als Samm­lung von Umset­zungs­stra­te­gien, die über Dis­kur­se hin­aus gehen und z.B. hier auch päd­ago­gi­sche oder archi­tek­to­ni­sche Pro­gram­me umfasst – das ergibt die Beob­ach­tung der Macht von „unten“, die im Geständ­nis der Sexua­li­tät Ver­hal­tens­wei­sen und Ord­nun­gen der Gesell­schaft aushandelt.

Mara Gen­schel: Refe­renz­flä­che #3.

Die­ses klei­ne, nur bei der Autorin selbst in limi­tier­ter Auf­la­ge zu bekom­men­de Heft ist ein ein­zig­ar­ti­ges, gro­ßes, umfas­sen­des Spiel mit Wor­ten und Tex­ten und Bedeu­tun­gen und Lite­ra­tur oder „Lite­ra­tur“: Zwi­schen Cut-Up, Mon­ta­ge, expe­ri­men­tell-avant­gar­dis­ti­scher Lyrik, Rea­dy-Mades und wahr­schein­lich noch einem Dut­zend ande­rer Küns­te vaga­bun­die­ren die sprach­spie­le­ri­schen Text‑, Sprach‑, und Wort­fet­zen, die sich gegen­sei­tig ergän­zen, per­mu­tie­ren und vari­ie­ren. Eini­ge davon sind wirk­lich im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes Fet­zen: Aus­ris­se aus ande­ren Tex­te, aus jour­na­lis­ti­schen oder hand­schrift­lich-pri­va­ten Erzeug­nis­sen, die hier mon­tiert und geklebt sind. Man­ches hin­ter­lässt ein­fach Rat­lo­sig­keit, man­ches ruft ein amü­san­tes Augen­brau­en­he­ben her­vor – und man­che Sei­te begeis­tert ein­fach. Ob das Schar­la­ta­ne­rie oder Genia­li­tät ist – kei­ne Ahnung, ehr­lich gesagt. Lang­wei­lig ist es aber auf jeden Fall nicht.

Peter Hand­ke: Die schö­nen Tage von Aran­juez. Ein Som­mer­dia­log. Ber­lin: Suhr­kamp 2012. 70 Seiten. 

Ich habe oft solch eine Lust, zu erzäh­len, vor allem die­se Erfah­rung – die­se Geschich­te. Aber sowie ich bedrängt wer­de mit ‚Erzähl!‘: Vor­bei der Schwung. (9)

Ein kar­ges Stück, das allein von sei­ner Spra­che lebt: „Ein Mann“ und „Eine Frau“ sit­zen sich gegen­über und füh­ren einen Dia­log. Nun ja, sie reden bei­de, aber nicht immer mit­ein­an­der. Offen­bar gibt es vor­her ver­ein­bar­te Regeln und Fra­gen, deren Ver­stö­ße manch­mal moniert wer­den. Es geht um viel – um die Geschich­te und Geschich­ten, ums Erzäh­len und die Erin­ne­rung. Aber auch um Licht und Schat­ten, Anzie­hung, Gebor­gen­heit und Ent­frem­dung oder Ernüch­te­rung, um Begeh­ren und Lie­be. Dahin­ter steht ein spie­le­risch-erzäh­le­risch-tas­ten­des Aus­lo­ten der Beziehung(smöglichkeiten) zwi­schen Mann und Frau. Das Gan­ze – es sind ja nur weni­ge Sei­ten – ist poe­ti­siert bis zum geht nicht mehr. Genau dar­in aber ist es schön!

Zum Glück ist das hier zwi­schen uns bei­den kein Dra­ma. Nichts als ein Som­mer­dia­log. (43)

Laß uns hier schwei­gen von Lie­be. Höchs­ten viel­leicht ein biß­chen Melan­cho­lie im November.(49)

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