Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

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Aus-Lese #45

Rein­hard Jir­gl: Oben das Feuer, unten der Berg. München: Hanser 2016. 288 Seit­en.

–Sie wur­den geboren, arbeit­eten, und sie star­ben. Wäre Leben so=einfach so=kurz wie dieser Satz, Leben, wäre gewiß glück­voller. Leben aber dauert länger als 1 Satz. (31)

jirgl, oben das feuerOben das Feuer, unten der Berg — an dem Buch ist nicht nur der Titel selt­sam und rät­sel­haft. Ich bin ja eigentlich ein großer Bewun­der­er der Werke Rein­hard Jir­gls, aber mit diesem Roman kann ich wenig bis gar nichts anfan­gen. Das, was von ein­er Geschichte übrig ist, ist rät­sel­haft, schwankt zwis­chen Kri­mi und Ver­schwörungs­the­o­rie, Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung und Ver­bit­terung. Die auf­tauchen­den Fig­uren sind eigentlich lauter kaputte Men­schen. Oder: Sie wer­den kaputt gemacht, durch das „Sys­tem“, die Macht oder ähn­liche Instanzen. Die grausame Bru­tal­ität der Welt, der Macht und der Mächti­gen, die die Moral nur als Deck­man­tel und Beruhi­gung fürs Volk (wenn über­haupt) haben, benutzen — den ganzen Text durch­dringt eine sehr schwarze, pes­simistis­che Welt­sicht. So weit, so gut (oder auch nicht, aber das ist ja erst mal egal). Frag­würdig bleibt mir aber doch ein­fach vieles. Auf dem Schutzum­schlag ste­ht etwa: „Titel, Textvol­u­men und Rei­hen­folge der Kapi­tel im Roman sind von dem altchi­ne­sis­chen Orakel I‑Ging bes­timmt.“ — Zum einen: was soll das? Ich habe keine Ahnung … Zum anderen: Ich bezwei­fle fast, dass das über­haupt stimmt …

In den faszinieren­den, genauen, poet­is­chen (d.i. lyrischen) Beschrei­bun­gen, ja, der ger­adezu über­bor­den­den Beschrei­bungs­ge­nauigkeit liegt vielle­icht die größte Stärke des Romans, auch durch die Spezialorthografie, die näm­lich Möglichkeit­en und Deu­tun­gen der Sprache verdeut­lichen, verein­deuti­gen oder über­haupt erst eröff­nen kann. Auf der anderen Seite hat­te ich oft den Ein­druck eines „ver­wilderten“ Text, der sich von sich selb­st treiben lässt und der im Zick­za­ck-Kreis des Erzäh­lens „der“ Geschichte keine wie auch immer geart­ete Ord­nung gel­ten lässt (zumin­d­est keine, die ich erken­nen kön­nte). Selt­sam finde ich auch: Eigentlich passiert das meiste des Romans auf pri­vater, ja intimer Ebene. Aber dann will der Roman doch die ganz großen The­men behan­deln (z.B. die Macht und die Moral) — das passiert dann (damit es jed­er merkt) v.a./nur durch das neun­malk­luge Dozieren der Fig­uren, in deren Erken­nt­nis­sen, in deren Durch­schauen der Welt und der Ver­schwörun­gen) sich der Erzäh­ler (und vielle­icht auch der Autor) zu allem und jedem äußern kann, seine Posi­tion als wahre absich­ern und mit­teilen kann.

?Wo in alldieser unermeßlichen=Unendlichkeit blieb eigentlich ?mein Web­faden, ?meine=!ureigene Spur, die mich etwas Unver­wech­sel­bares in dieses uner­schöpfliche Lebenswis­chhaderge­filz hätte hin1prägen lassen. (230)

Daniela Danz: Lange Flucht­en. Göt­tin­gen: Wall­stein 2016. 146 Seit­en.
Zu dem sehr gelun­gen kleinen Roman von Daniela Danz — die übri­gens auch vortr­e­f­fliche Lyrik schreibt — habe ich vor eini­gen Tagen schon etwas geschrieben: Lange Flucht­en, gebroch­ene Men­schen.
Wil­helm Lehmann: Ein Lese­buch. Aus­gewählte Lyrik und Prosa. Her­aus­gegeben von Uwe Pörk­sen, Jut­ta Johannsen und Hein­rich Deter­ing. Göt­tin­gen: Wall­stein 2011. 160 Seit­en.

lehmann, lesebuchAuf Wil­helm Lehmann bin ich erst durch die zweite Aus­gabe des Gel­ben Akro­bat­en von Michael Braun und Michael Buselmeier aufmerk­sam gewor­den. Lehmann, der von bis vor allem an der Küste lebte, war als Lehrer sowohl ein aus­geze­ich­neter Naturbeobachter als auch ein stark­er Dichter, wie ich anhand des Lese­buchs leicht fest­stellen kon­nte. Dort bieten die drei Her­aus­ge­ber eine Auswahl aus der mehrbändi­gen Werkaus­gabe: (viel) Lyrik, etwas aus den Tage­büch­ern, einige Auszüge aus theoretischen/poetologischen Essays und ein wenig Prosa. Inwieweit das ein repräsen­ta­tives Bild abgibt, kann ich nicht beurteilen. Sagen kann ich nur, dass das, was ich hier gele­sen habe, faszinierende Momente hat. Die mich am meis­ten berühren­den Texte und Pas­sagen waren wohl die, wo sich der penible und wis­sende Naturbeobachter mit dem bild­kräfti­gen Lyrik­er verbindet.

Aus vie­len der Naturbeschrei­bun­gen der Gedichte spricht eine leise Wehmut: Die Natur ist für Lehmann ganz offen­bar ein Ort, an dem die göttliche/geschöpfte/schöpferische Ord­nung noch gilt und dann auch zu beobacht­en ist; sie bleibt vom Chaos, der Gewalt und dem Schmerz der Men­schen (den sich die Men­schen gegen­seit­ig (und ihr) zufü­gen) unberührt. Solche Lyrik ist, wie er es in einem Auf­satz ein­mal auf den Punkt bringt: „Poe­sie als Ein­willi­gung in das Sein“.

Ger­ade in der Zeit des Zweit­en Weltkrieges scheint sich das aber zu ändern: Zunehmend wer­den Natur und Menschenwelt/Zeitgeschichte im Gedicht kon­fron­tiert, meist nebeneinan­der gestellt (sozusagen ohne ter­tium com­pa­ra­tio­nis): Hier die gle­ich­för­mige (im Sinne von in einem fes­ten Rhyth­mus sich wieder­holende), ver­traute (d.h. auch: les­bare, entschlüs­sel­bare, ver­ste­hbare) Natur, dort der uner­hörte Schreck­en, das unge­se­hene und ungeah­nte Grauen des Weltkriegs. Das bleibt aber immer sehr sub­til und — ger­ade in den Beschrei­bun­gen und Schilderun­gen — sehr kun­stvoll, in fein aus­tari­erten Rhyth­men und mit oft sehr har­monisch, fast selb­stver­ständlich wirk­enden Reimen aus­gear­beit­et. Am besten verdeut­licht das vielle­icht ein Gedicht wie “Fal­l­ende Welt”:

Das Schweigen wurde
Sich selb­st zu schw­er:
Als Kuck­uck fliegt seine Stimme umher.

Mit bronzenen Füßen
Lan­det er an,
Gefleck­tes Kleid
Hat er ange­tan.

Die lose Welt,
Wird sie bald fall­en?
Da hört sie den Kuck­uck
Im Grunde schallen.

Mit schnellen Rufen
Ruft er sie fest.
Nun dauert sie
Den Zeit­en­rest.

Sabine Bergk: Gils­brod. Nov­el­le. Berlin: Dit­trich 2012. 132 Seit­en.

bergk, gilsbrod (cover)Der Ver­lag nen­nt die auf der Opern­bühne spie­lende Nov­el­le von Sabine Bergk „Übertrei­bungslit­er­atur”. Das stimmt natür­lich, trifft den Kern des vor allem phan­tastis­chen und absur­den Textes aber nur halb. Gils­brod ist eine Ein-Satz-Nov­el­le mit 130 Seit­en unge­broch­en­em stream of con­scious­ness. Das ist natür­lich nicht völ­lig neu, spon­tan fällt mir aus let­zter Zeit etwa Xaver Bay­ers Wenn die Kinder Steine ins Wass­er wer­fen (2011) ein, das ähn­lich funk­tion­iert. Hier, also in Gils­brod, lesen wir das Bewusst­sein ein­er Opern­souf­fleuse, die im entschei­den­den Moment der The­a­ter­di­va nicht aushil­ft und sie deshalb in eine impro­visierte Kadenz auf dem falschen Text treibt. Ein Ende hat der Text nicht, er bricht ein­fach ab. Bis dahin ist er aber dicht und unter­halt­sam, phan­tastisch und absurd, trau­rig und komisch zugle­ich. Oder zumin­d­est abwech­sel­nd. Den natür­lich lässt sich so ein Bewusst­sein hin und her treiben, das ist eine heftige Mis­chung von Ver­gan­gen­heit­en und Gegen­warten, Real­itäten und Träu­men, Wün­schen und Äng­sten, geschichtet und über­lagert, auch mit Ver­sio­nen der (pseudo-)Erinnerung verse­hen, der seine Ebe­nen im kreisenden Wieder­holen her­auskristallisiert.

Das funk­tion­iert recht gut, weil die Sprecherin aus der Posi­tion des unsichtbaren/unscheinbaren Beobachters, der Souf­fleuse, agiert. In der Pri­vat­mytholo­gie wird der dienend-unter­stützende Hil­fs­di­enst dieser Funk­tion für das The­ater, genauer: die Oper, zur mys­tis­chen Erfahrung hochstil­isiert, zum erfül­len­den Leben­straum. Es wird aber dur­chaus auf geschick­te und unter­gründi­ge, aber erkennbare Weise auch die eigene Posi­tion reflek­tiert, zum Beispiel im Ver­lust der Rest-Sicht­barkeit durch den mit­ti­gen Souf­fleurkas­ten und die Ver­ban­nung auf die Seit­en­bühne, die nicht gle­icher­maßen Teil der Auf­führung ist: dort unter­hal­ten sich Tech­niker und wartende Sänger während der Oper … Zugle­ich zu dieser wahrgenomme­nen Mar­gin­al­isierung — im Kon­trast dazu und zu den Erin­nerun­gen der prä­fig­uri­eren­den Demü­ti­gun­gen der Schulzeit (die sehr selt­sam als eine Art Kreuzi­gung am Rutschengerüst erin­nert wer­den, mit Lanze und Essig und allem drumherum …) ist der Bewussst­seinsstrom aber auch die Kon­struk­tion ein­er total­en Macht­po­si­tion: von ihr ist alles, ins­beson­dere eben die Diva Gils­brod abhängig — und damit das ganze The­ater, die Stadt, das Pub­likum: „mir gehört der Text“ (39).

Der Text ist aber nicht ohne Dra­maturgie gebaut, zum Beispiel ver­schränken und ver­mis­chen sich die diversen Zeit­en und Ebe­nen immer mehr. Auch das „Vor­drin­gen“ in die Fig­ur „Gils­brod“ wird geschickt zeichen­haft genutzt: Es begin­nt an der Gren­ze zwis­chen außen und innen des Kör­pers, den Zäh­nen der Sän­gerin, und dringt über den Mundraum immer weit­er vor/hinein …

Im Grunde ist Gils­brod eine große Rachep­han­tasie, die ja auch zu keinem Ende kommt: der Bewusst­seinsstrom bricht in der großen (falschen!) Kadenz der Gils­brod ab, das „non so d’amarti“ verdichtet sich, bis zu ein­er Art Mantra — wenn man das hinzuzieht, kön­nte es natür­lich auch eine (unbe­wusste) Liebe­sphan­tasie sein: „Ich weiß nicht, dass ich dich liebe“ …

[…] und deshalb gehen die Leute ja ins The­ater, weil sie nicht alleine lachen wollen und son­st die anderen denken, sie wären ver­rückt, wie sollen sie auch lachen, wenn sie nie­man­den zum Lachen haben, und so bleiben sie lieber allein in ihrem Kum­mer, dabei ist es viel bess­er, gemein­sam zu weinen und die Leute gehen ja ins The­ater, damit sie gemein­sam lachen und auch weinen kön­nen, wie auf der Beerdi­gung, sie beerdi­gen ihren Kum­mer im The­ater und beerdi­gen sich selb­st, vorzeit­ig, sie beerdi­gen sich gegen­seit­ig und beerdi­gen alles, was ist, sie beerdi­gen die Langeweile, das Leben und die Hoff­nung der Fig­uren, die Flugver­suche und die Wet­ter­wech­sel, sie beerdi­gen das Licht hin­ter den Vorhangdeck­en wie zum Schlaf und zum Abschluss gibt es rauschen­den Applaus und nie­mand denkt, dass sie ver­rückt sind, auch wenn alle nach vorne star­ren […] (69)
Titus Mey­er: Andere DNA. Leipzig: Rei­necke & Voß 2016. 56 Seit­en. ISBN 978–3‑942901–20‑8.

Ein ganz­er Roman als Palin­drom, ein Palin­drom als Roman – geht das? Ein paar mein­er Lek­türe­beobach­tun­gen zu dieser Frage und anderen, die mich beim Lesen von Mey­ers Husaren­stück bewegten, habe ich schon vor eini­gen Tagen hier notiert.

Chris­t­ian Broeck­ing: Dieses unbändi­ge Gefühl der Frei­heit. Irène Schweiz­er — Jazz, Avant­garde, Poli­tik. Die autorisierte Biografie. Berlin: Broeck­ing Ver­lag 2016. 479 Seit­en. ISBN 9783938763438.

broecking, schweizer-biografie (cover)Eine große – und außer­dem auch noch autorisierte – Biografie der großen Jaz­zpi­anistin Irène Schweiz­er wollte Chris­t­ian Broeck­ing (den ich vor allem als Autor/Interviewpartner sein­er bei­den Respect-Bände kenne) hier wohl vor­legen. Raus­gekom­men ist ein müh­samer Brock­en. Den Broeck­ing schreibt auf den immer­hin fast 500 Seit­en vielle­icht (gefühlt zumin­d­est) ein Dutzend Sätze selb­st. Diese Biografie ist näm­lich gar keine, es gibt keinen Erzäh­ler und eigentlich auch keinen Autor. An deren Stellen treten (fast) nur Quellen, das heißt Zeitzeu­gen, deren Aus­sagen zu und über Irène Schweiz­er aus Inter­views hier grob sortiert wur­den und höch­stens mit einzel­nen Sätzen not­dürftig zusam­menge­flickt wer­den. Der doku­men­tarische Anspruch – die anderen also ein­fach erzählen zu lassen (aber auch die Fra­gen stre­ichen, was manch­mal selt­same „Texte“ ergibt) – geht dann auch so weit, dass englis­chsprachige Antworten nicht über­set­zt wer­den. Viel Mate­r­i­al wird also mehr oder weniger sin­nvoll gerei­ht. Nach herkömm­lichen Maßstäben ist das eher die Samm­lung, die Vorar­beit zu ein­er eigentlichen Biografie, die das (ein-)ordnend und deu­tend erzählen würde.

Dadurch ist das vor allem eine Arbeits­bi­ogra­phie und/oder ein Musik­tage­buch: Wer wann mit wem wo gespielt hat, das gibt den Rah­men für die Lebens­beschrei­bung ab. Aber selb­st das geht mit der Zeit und den Seit­en der unendlichen Rei­hen von Kon­stel­la­tio­nen und Orten zunehmend unter, weil es ein­fach zu viel ist. Men­schen kom­men kaum/nicht vor, nur Funk­tio­nen: Musik­er, Kün­stler, Organ­isatoren, Labelchefs und (wenige) Jour­nal­iste) – deshalb bietet das Buch auch nur Innen­sicht­en aus dem Umfeld Schweiz­ers. Und Broeck­ing hil­ft durch seine Abwe­sen­heit als Autor eben auch nicht: Einen außenstehenden/neutralen (oder wenig­stens pseu­do-objek­tiv­en) Beobachter kann der Text nicht aufweisen. Ich denke, daraus rühren dann auch andere Schwächen. Vieles bleibt ein­fach ohne Erk­lärung. Und wenn ich keine Erk­lärung bekomme, brauche ich auch keine Biografie …

Zum Beispiel wird die Größe Schweiz­ers zwar immer wieder beschworen, sie bleibt dabei aber aus­ge­sprochen unklar, ohne Kon­turen und ohne Grund. Das liegt vielle­icht auch daran, dass die Musik in den (sowieso äußerst knap­pen) Beschrei­bun­gen (Analy­sen kom­men mit Aus­nahme des zehn­seit­i­gen Anhangs „Jun­gle Beats“ von Oliv­er Senn & Toni Bech­told, der anhand exem­plar­isch aus­gewählter Auf­nah­men Schweiz­ers Musik, ihren Per­son­al­stil beschreibt, fast über­haupt nicht vor) selb­st so gener­isch bleibt: frei impro­visiert, dann wird mal dieser Ein­fluss (Cecil Tay­lor etwa) her­vorge­hoben, dann mal der jen­er betont (Monk etwa). Und immer wieder wird von den Inter­viewten darauf hingewiesen, dass sie keine Noten mag. Aber was sie wie spielt, kann man halt nicht so recht lesen, nur in ver­streuten Hin­weisen und Andeu­tun­gen (die auch eher ihre Präsenz und Energie auf der Bühne betr­e­f­fen). Auch die aus­gewählten Zitate aus Kri­tiken und Presse­bericht­en bleiben erschreck­end gener­isch. Ähn­lich ist es um die poli­tis­che Dimen­sion des Lebens von Irène Schweiz­er und ihrer Musik bestellt: Bei­des wird vor allem behauptet („diese Musik ist poli­tisch“), aber wie und warum, das ste­ht nir­gends, das wird nicht erk­lärt (und ger­ade da würde es (für mich) span­nend wer­den …). Das alles führt dazu, dass mich die Lek­türe etwas unbe­friedigt zurück­ge­lassen hat: Sich­er kommt man um diesen Band kaum herum, wenn man sich mit Schweiz­er und/oder ihrer Musik befasst. Aber Antworten kann er kaum geben.

Ian Bostridge: Schu­berts Win­ter­reise. Lieder von Liebe und Schmerz. München: Beck 2015. 405 Seit­en. ISBN 978–3‑406–68248‑3.
Meine Ein­drücke von Ian Bostridges großem, umfassenden Buch über die Schu­bertsche Win­ter­reise haben einen eige­nen Ein­trag bekom­men, und zwar hier: klick.

außer­dem gele­sen:

  • Katha­ri­na Rög­gla: Crit­i­cal White­ness Stud­ies und ihre poli­tis­chen Hand­lungsmölichkeit­en für Weiße Anti­ras­sistIn­nen. Wien: man­del­baum kri­tik & utopie 2012 (Intro. Eine Ein­führung). 131 Seit­en.
  • Sel­ma Meer­baum-Eisinger: Blüten­lese. Gedichte. Stuttgart: Reclam 2013. 136 Seit­en.
  • Moni­ka Rinck: Wir. Phänomene im Plur­al. Berlin: Ver­lagshaus Berlin 2015 (Edi­tion Poet­i­con 10).

Lange Fluchten, gebrochene Menschen

danz, lange fluchtenEin unfer­tiger Rohbau irgend­wo in der deutschen Prov­inz, die Muster­fam­i­lie — Vater, Mut­ter, zwei Kinder — wohnt pro­vi­sorisch in Con­tain­ern auf dem Grund­stück. Das Set­ting von Daniela Danz Roman Lange Flucht­en klingt ziem­lich ein­fach und banal. Und doch ist an dem kurzen Text — ger­ade ein­mal 146 Seit­en, das ist heute nicht viel für einen Roman — nichts banal. Und nichts ist ein­fach, wed­er für den Leser noch für die Fig­uren des Textes.

Gut, das ist kein über­mäßig schwieriger Text, so scheint es zunächst. Aber entwick­elt doch seine Wider­ständigkeit­en. Denn worum geht es eigentlich? Cons (eine etwas selt­same Kurz­form für Con­stan­tin, in der das „Dage­gen“ offen­bar wird) ist ein ehe­ma­liger Beruf­s­sol­dat mit Frau und Kindern und Geliebter und einem tod­kranken Fre­und. Er lebt nach einem „Vor­fall“ in sein­er Zeit als Zeit­sol­dat in diesem pro­vi­sorisch ein­gerichteten Leben, das seines nicht so ganz zu sein scheint. Er lebt in merk­würdi­ger Nähe und Tren­nung von Frau und Fam­i­lie, er ver­schwindet für Tage, geht auf die Jagd, fährt ziel­los herum, bringt nach zwei Tagen die ver­sproch­ene Milch nach Hause — und scheint generell recht wenig auf die Rei­he zu bekom­men. Irgend­wie hängt das mit dem nicht näher erläuterten, nur nach und nach in Schemen erkennbaren Vor­fall bei einem Gefechts­man­över zusam­men, dass Con­stan­tin offen­bar psy­chisch geschädigt hat — die Frage ein­er Entschädi­gung ste­ht im Raum, ver­langt aber mehr Aktiv­ität, als er auf­brin­gen kann — und ihn in diesem persep­k­tiv- und ziel­losen Leben zurück­lässt.

Die Jagd bleibt da als einziger Rest von Aktiv­ität — nicht zufäl­lig ist das ein dem Mil­itär ähn­liche Zeitvertreib (und nicht zufäl­lig sind die betr­e­f­fend­en Pas­sagen dann auch vor­sichtig fach­sprach­lich getönt). Aber für Con­stan­tin geht es dabei wohl auch um den Moment der total­en Kon­trolle, des (mehr oder weniger willkür­lichen) Entschei­dens über Leben und Tod ein­er anderen Krea­tur — woran er selb­st tragis­cher­weise wiederum scheit­ert. Eine gewis­ser­maßen ähn­liche Ebene bringt der Selb­st­mord seines einzi­gen Fre­un­des, Hen­ning, in die Hand­lung. Der kann nur gelin­gen, weil Cons mit ein­er Bohrmas­chine (um das Seil zum Erhän­gen zu befes­ti­gen) aushil­ft — wie unbe­wusst und ungewusst das wirk­lich war, ist nicht so ganz deut­lich.

Lange Flucht­en ist bei all dem immer fast quälend nahe an der Haupt­fig­ur. Der Text im per­ma­nen­ten Präsens ist ein sehr gelun­ge­nes Abbild der Leere, der Ziel­losigkeit von Cons: Alles bleibt ohne Antrieb, aber irgend­wie auch ohne Grund:

Was soll man auch auf­schreiben, was ist für einen anderen am eige­nen Leben inter­es­sant? Was geht es irgend­je­man­den an? (81)

Dabei hat der Roman eine qua­si-natür­liche, har­monis­che Form, zum Beispiel qua­si sich selb­st ergebende Kapitelzusam­men­hänge. Über­haupt ist der ganze Text ein sehr behut­samer Text: nie ver­rä­ter­isch, aber auch nie „ver­ständ­nisvoll“, ein vorgegebenes Ver­ste­hen erheis­chend. Daniela Danz gelingt näm­lich eine ein­drück­liche Mis­chung aus zwin­gen­den Schilderun­gen und geheimnisvoller Kom­po­si­tion: Vieles bleibt — ganz natür­lich in der Erzäh­lung — ohne Grund, ohne Erk­lärung oder Demon­stra­tion von Kausal­itäten.

Erst kurz vor dem Ende geschieht etwas im und vor allem mit dem Text. Auf der inhaltlichen Ebene wird das dop­pelt vor­bere­it­et: Cons kommt über Zufälle zu einem Art Mil­i­taris­ten­tr­e­f­fen und hat dort, im Waldge­wit­ter und der Kon­fronta­tion mit einem Hirsch, eine Art Epiphanie. Dem schließt sich dann ein spon­tan­er Fam­i­lienurlaub am Meer an. Und nach der Rück­kehr von ein­er Schiff­s­rund­fahrt auf der „Alten Liebe“ bricht der Text dann, zunächst mit dem Ver­schwinden der Ehe­frau Anna (später fol­gen die bei­den Kinder ins Nichts): Das Erzähltem­pus wech­selt ins Imper­fekt, die Ober­fläche wird eben­falls als dif­fer­ent markiert durch die kur­sive Type — bei­des bis zum bald fol­gen­den Schluss durchge­hal­ten.

Und das macht aus Lange Flucht­en eigentlich noch ein­mal einen neuen, einen anderen Text. Der Wirk­lichkeitssta­tus von Text und berichtetem Geschehen wird nun endgültig fraglich und unsich­er. Unklar wird auch die Gat­tungszuord­nung: Ist das jet­zt ein Roman? Oder — darauf weist der Schlussteil hin — eine Leg­ende? Auch das bleibt am Ende dunkel, eine Auflö­sung bietet der Text selb­st nicht mehr. Die Ver­such­sanord­nung wird der Leserin ein­fach präsen­tiert, ohne Erk­lärung.

Es bleibt ein­fach ein ziem­lich radikaler Bruch ins Mythis­che, Irreale — aber was bedeutet das? Man kann dann den Text als Leg­ende lesen, d.h. als exem­plar­ischen Text. Dann wäre der Schlussteil sozusagen eine Art Kom­men­tar zum Text im Text selb­st, eine Rezep­tion­ss­teuerung — damit der „Haupt­text“ nicht (bloß) als Schildeurng eines indi­vidu­ellen Schick­sals gele­sen wer­den kann, wird das und sein Text am Schluss trans­formiert (im Sinne von „aufge­hoben“). Immer­hin begin­nt das im Kapi­tel XXVI mit dem beze­ich­nen­den Satz:

Lass mich noch ein­mal erzählen. Jet­zt ist alles ganz klar und voller Zusammenhänge.(137)

Was dann fol­gt, ist zwar über­haupt nicht klar, aber: Erst jet­zt, mit diesem Satz, begin­nt das Erzählen … (und ist damit aber auch schon wieder am Ende ange­langt).

Diese Rät­sel­haftigkeit — ohne Auflö­sung — ist die große Stärke des Textes. Auch die Deu­tung als Leg­ende hil­ft ja nur wenig — denn was heißt das denn nun für den Text und seine Fig­uren, wenn er kein Roman, son­dern eine Leg­ende ist? Dass Con­stan­tin ein Heiliger ist? Aber warum und wofür? Fra­gen bleiben nach dem Lesen, aber auch die offene Fasz­i­na­tion des Buch­es, das man zwar bei­seite leg­en kann, aber nicht so ein­fach beendi­gen. Je länger ich drüber nach­denke, desto faszinieren­der wer­den die Lan­gen Flucht­en

Er geht auf das Haus zu, ein Ver­wal­tungsmon­ster aus Back­stein und Glas. Män­ner in Anzü­gen, Leis­tungsträger, gehen schnell an ihm vor­bei, begeg­nen anderen Män­nern, Frauen, man grüßt. Mahlzeit ist das Pass­wort, mit dem man dazuge­hört. Er merkt, wie sein Gang sich von dem der anderen unter­schei­det. Er ver­sucht, ihrem Gehen, so nen­nt er es abschätzig, seinen Gang ent­ge­gen­zuset­zen, seinen stolzen Gang, aber es gelingt ihm nicht. Die gläserne Ein­gangstür öffnet sich, nir­gends ein Wider­stand. Nein, er fragt nicht den Pfört­ner, er sucht den Raum mit der Num­mer 423 selb­st. ‚Alexan­der Ste­ger‘ ste­ht auf dem Schild neben der Tür. drei leere Stüh­le davor. Er set­zt sich. Er hat ein­mal gel­ernt, eine Strate­gie zu entwick­eln, ‚Führen mit Auf­trag‘, er muss das Heft in die Hand kriegen jet­zt. Er sitzt hier, weil Anne gesagt hat, er solle hinge­hen zu dem Ter­min. (37)

Daniela Danz: Lange Flucht­en. Göt­tin­gen: Wall­stein 2016. 146 Seit­en. ISBN 9783835318410.

Aus-Lese #43

Doris Knecht: Wald. Berlin: Rowohlt Berlin 2015. 270 Seit­en.

knecht, waldMan kön­nte Doris Knechts Wald als „Streeruwitz für Anfänger“ beze­ich­nen: Ein dezi­diert fem­i­nis­tis­ch­er Roman, der auf aktuelle Gegeben­heit­en reagiert. Für „Anfänger“ deshalb — das ist nicht abw­er­tend gemeint -, weil Knecht die Radikalität und Härte, auch im stilis­tis­chen, von Streeruwitz fehlt. Das macht Wald zunächst mal ein­fach­er les­bar. Die naht­los wech­sel­nden, fast ineinan­der glei­t­en­den ver­schiede­nen Stil­la­gen und das beschwörende, fern an Thomas Bern­hard erin­nernde (oder sind das nur die Aus­tri­azis­men?) insistierende Wieder­holen bes­timmter (Schlüssel-)Begriffe ver­lei­hen dem Text einen ganz eige­nen, inter­es­san­ten und oft fes­sel­nden Klang.

Es geht hier um ein Reak­tion auf die let­zte Weltwirtschaft­skrise — die ganz spezielle der Luxus-Mode-Designer­in Mar­i­an, die sich mit der Erweiterung ihres exk­lu­siv­en Geschäftes ver­spekuliert hat und, um der dro­hen­den Pri­vatin­sol­venz zu ent­ge­hen, aus ihrem Leben, der Stadt und der Gesellschaft flieht in ein dör­flich­es Haus im Fam­i­lienbe­sitz, wo sie nun ver­sucht, ohne Geld in ein­er Art Sub­sis­ten­zwirtschaft zu über­leben. Das klappt natür­lich nicht so ganz, da sind ein paar Hüh­n­erdieb­stäh­le eben­so notwendig wie eine Art Pros­ti­tu­tion mit dem im Dorf resi­dieren­den Großbauern/Gutsbesitzer.

In der radikal weib­lichen Per­spek­tive kristallisiert sich das und die Hin­ter­grundgeschichte Mar­i­an in der von Knecht sehr klug und har­monisch gestal­teten Infor­ma­tionsver­gabe erst sehr allmäh­lich und Stück für Stück her­aus. Gut gefall­en hat mir, wie Knecht hier auf die Labil­ität des morder­nen Wohl­stan­dlebens hin­weist und die neue Archaik unter den Bedin­gun­gen der absoluten Exis­ten­zsicherung auf ein­mal jede Roman­tik ver­liert. Wenn man Mar­i­an dann als Exem­pel liest, entwick­elt Wald also eine all­ge­meine Dystopie: Die mod­erne kap­i­tal­is­tis­che Gesellschaft ist nur eine sehr dünne Hülle. Und es gibt wenig Möglichkeit­en, sich dem zu entziehen — auch im Wald bleibt Mar­i­an ja im Sys­tem gefan­gen, die Beziehung zu Franz, ihrem „Gön­ner“ unter­schei­det sich eigentlich nur in einem Punkt zu ihrem bish­eri­gen Leben im Mark­tkap­i­tal­is­mus: Die Abhängigkeit, das Aus­geliefert Sein ist nun direkt, liegt für alle Beteiligten (und die Zuschauen­den der Dor­fge­mein­schaft) offen, im Gegen­satz zu der verdeckt-indi­rek­ten Abhängigkeit von weni­gen wohlhaben­den Käuferin­nen zuvor. Einen Ausweg gibt es also nicht — auch das etwas lieto-fine-mäßige Hap­py-End führt aus dem Sys­tem nicht her­aus, son­dern sta­bil­isiert nur die Abhängigkeit­en.

Sie hat­te nicht im Auge gehabt, dass die Weltwirtschaft­skrise die Zeit­en und Gegeben­heit­en viel radikaler verän­derte, als es auf den ersten Blick, ihren Blick, schien: dass die Zeit­en näm­lich für alle unüber­sichtlich gewor­den waren, auch für die ganz Smarten. (59)

Mara Gen­schel: Ref­eren­zfläche #5. 2016

Zu den Ref­eren­zflächen von Mara Gen­schel etwas kluges oder auch nur halb­wegs vernün­ftiges zu schreiben fällt mir sehr schw­er. Deswe­gen hier nur so viel: Auch die fün­fte Aus­gabe hat mich (wieder) fasziniert. Sie begin­nt — etwas über­raschend — zunächst fast mir ein­er richti­gen Sto­ry: Der Zer­störung (die an Pierre Boulez’ Auf­forderung, die Opern­häuser in die Luft zu spren­gen, erin­nert) des Wies­baden­er Lit­er­aturhaus­es Vil­la Clemen­tine. Aber das, was zer­stört wird, ist natür­lich wieder nur der Text der Vil­la Clemen­tine. Bilder wer­den zu Tex­ten: ein mit Tesafilm eingek­lebter Zettel „Türk­nauf“ repräsen­tiert im Bil­drah­men die Repräsen­ta­tion des repräsen­ta­tiv­en Bauw­erks der repräsen­ta­tiv­en Kun­st (oder so ähn­lich). Dieses Spiel mit den Eben von Text und außer­textlich­er Welt, die Aufhe­bung der tra­di­tionellen strik­ten Unter­schei­dung dieser Sig­nifika­tions­bere­iche ist ja das, was mir an Gen­schels Ref­eren­zflächen so viel Freude bere­it­et. Und das funk­tion­iert auch hier wieder: Der Text ist Text ist Wirk­lichkeit, ist aber schon als Text nicht mehr nur Text, son­dern auch Bild und Mon­tage (eingek­lebte und eingeschriebene Texte), ist aber auch als Text schon zer­stört durch Über­schrei­bun­gen, ver­rutschte Zeilen und Durch­stre­ichun­gen etc. Und er wird in sein­er Mate­ri­al­ität ad absur­dum geführt (?), wenn leere Seit­en einen Rah­men erhal­ten, auf dem ein eingek­lebtes „Blatt 3“ die Leere repräsen­tiert und natür­lich zugle­ich wieder zer­stört. In diesem ewigen sic-et-non, diesem ver­spiel­ten hier-und-da muss man wohl den Raum der Ref­eren­zfläche sehen und schätzen.

Daniela Danz: V. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014. 80 Seit­en.

Und wo das Vater­land anfängt
ist ein dun­kler Ort
wie Schnee
der die Umrisse zeigt
wie alles was aufhört (49)

danz, v„Gedichte“ ver­heißt V im Unter­ti­tel. Und doch begin­nt es nach dem Auf­takt im prinicip­i­um nach dem weit zurück­greifend­en Zitat aus Zedlers Uni­ver­sallexikon zum Begriff “Vater­land” erst ein­mal mit Prosa (mit dunkel funkel­nder, die mich etwas an Klaus Hof­fers Bieresch-Romane erin­nert), die neue Mythen erzählt. Oder: Kurze Prosa, die Beobach­tun­gen als mythis­che erzählt, leicht melan­cholisch ange­haucht. Immer schwingt da auch ein biss­chen Ver­fall und Nieder­gang mit.

Schon hier, noch viel stärk­er dann aber in den fol­gen­den Gedicht­en, ist Heimat bei Danz immer ein prob­lema­tis­ch­er Begriff: Ger­ade wie selb­stver­ständlich ist er immer gefährdet und immer im Wan­del — einem Wan­del, der nicht Verbesserung, son­dern in der Regel eher Ver­schlechterung und Ver­fall bringt und Prob­leme offen­legt, Prob­leme auch im Ver­hält­nis des lyrischen Ichs zu Heimat und Vater­land. Schon der Anfang zeigt das schwierige/problematische Ver­hält­nis der Autorin/Erzählerin zur “Heimat” sehr deut­lich auf. Der Band set­zt mit den Zeilen ein: “Das ist das Land von dem man sagt / das alles hier aufhört und alles anfängt”. Das erste Gedicht endet dann am Ende der ersten Seite mit dem Vers: “aber du woll­test umkehren” — also die Rück­kehr (?) in die Heimat wird prob­lema­tisiert, sie geschieht nicht (ganz) frei­willig, sie bleibt mit Wider­stän­den ver­bun­den.

V lebt immer schon im dis­tanzierten, kri­tis­chen Ver­hält­nis zum Vater­land und zur Heimat: aus der (auch emo­tionalen) Span­nung zwis­chen diesen bei­den Begrif­f­en, auch zwis­chen Natur/Landschaft und Menschen/Politik (der Nation­al­staat­en) ziehen die meis­ten Texte ihre Poten­tial. Die sind oft lakonisch, immer genau und manch­mal schmerzhaft. Vor allem im “Exemplum”-Teil wird dann die poli­tis­che Kom­po­nente von Heimat (auch von Land­schaft!) beson­ders deut­lich, aber auch die “echte” Poli­tik — und der Mythos (auch der neu erfun­dene, selb­st gemachte — vgl. die Prosastücke des Beginns) — spie­len hier eine große Rolle. Im Ganzen ist Veine manch­mal selt­same Mis­chung aus roman­tisch (?) verträumter Empfind­ungs- und Gefühlslyrik und har­ter Real­ität­sauf­nahme der Gegen­wart der Post­mod­erne (und der nation­al­staatlichen Poli­tik), zusät­zlich gekop­pelt und aufge­laden mit mythol­o­gis­chen Aspek­ten — der Clash dieser bei­den Blicke wird im let­zten Gedicht sehr deut­lich vorge­führt.

Ein Band mit anre­gen­der, oft fes­sel­nder Kurzprosa und Lyrik (aber diese teilende Unter­schei­dung wird ja ger­ade sowieso zunehmend brüchig, von bei­den Seit­en gibt es Auflö­sungser­schei­n­un­gen) also, der for­mal zwar keine Gren­zen austestet, es mir aber durch seine Vielfalt in Form und Inhalt (und der mein­er sehr nah­este­hen­den Posi­tion zu „Heimat“) sehr ange­tan hat.

Die schnellen Zügen hal­ten kaum in unser­er Gegend
wer sieht den Weg schon hier das Feld umfassen
seitlich so als hielte er allein es davon ab
das Korn mit ein­er Husche in die Furchen zu ver­streuen
so wie die Män­ner hier auf Rädern sich begrüßen
es nichts bedarf als eines Nick­ens anerken­nend
um zu sagen: ich seh du leb­st
vom Zug aus ist das alles immer schon in rechts
und links geschieden bleibt die Land­schaft nur ein Anblick
[…] (23, Hier)

Leon­hard Frank: Der Men­sch ist gut. Zürich, Leipzig: Max Rasch­er 1918. 209 Seit­en. (Europäis­che Büch­er)

Eigentlich unvorstell­bar, dass so etwas heute geschrieben wer­den kön­nte: Nicht nur wegen des Paz­i­fis­mus (der ja aus dem gesellschaftlichen Diskurs ziem­lich radikal ver­drängt wurde von den „Realpoli­tik­ern“ …), son­dern ger­ade auch wegen des unge­heuren Opti­mis­mus, der aus allen Zeilen dieser mit­ten im größten Schlacht­en aller Zeit­en ver­fassten Erzäh­lun­gen spricht, ja eigentlich sog­ar schre­it, wirkt Der Men­sch ist gut von Leon­hard Frank total unzeit­gemäß. Dabei ste­ht dieses mal als das „lei­den­schaftlich­ste Buch gegen den Krieg […], das die Weltlit­er­atur“ aufweise beze­ich­nete Werk in sein­er Zeit — es erschien erst­mals 1918, als der Erste Weltkrieg noch tobte — gar nicht mal allein. Heute mag vieles naiv anmu­tend: Der Glaube an eine kom­mende Rev­o­lu­tion, die Fähigkeit der (Nächsten-)Liebe, alles Böse (und den Krieg) zu über­winden — das ist heute etwas fremd. Aber so radikal Franks „Lösung“ — er spricht sog­ar von einem „Rev­o­lu­tion­szug der Liebe“ (111) — ist, so radikal und erschüt­ternd ist auch seine Schilderung der blutig­sten Grausamkeit­en des „Großen Krieges“, des sinnlosen Stel­lungskrieges und des Unsinns des Fal­l­ens auf dem soge­nan­nten „Feld der Ehre“ — die Leere dieses Topos the­ma­tisieren die Nov­ellen von Frank immer wieder.

So hehr Überzeu­gung und Ziel Franks sind — sein hier uner­schüt­tlich­er Glaube an das Gute in den Men­schen, das alles Böse über­winden und ver­drän­gen wird — ästhetisch ist das mit hun­dert Jahren Abstand doch etwas dünn. Nicht nur die vie­len Wieder­hol­un­gen, die fehlende Var­i­anz, son­dern ger­ade die Formel­haftigkeit des Textes und seines Inhaltes schwächen Der Men­sch ist gut deut­lich. Ich kann das nur noch als eine Art Zeitzeug­nis lesen: Das war ja keineswegs eine total abseit­ige Posi­tion, die Frank hier ein­nimmt — Der Men­sch ist gut war ein unge­heuer erfol­gre­ich­es Buch. (Und doch blieb er, schaut man auf den weit­eren Ver­lauf der Geschichte, im großen und ganzen wirkungs­los …)

»Wir wollen nicht das Unmögliche ver­suchen: die Gewalt mit Gewalt auszurot­ten. Wir wollen nicht töten. Aber von dieser Sekunde an soll alle Arbeit ruhen. Denn alle Arbeit würde noch im Dien­ste dieses Zeital­ters des organ­isierten Mordes ste­hen. Das Zeital­ter des Ego­is­mus und des Geldes, der organ­isierten Gewalt und der Lüge hat in dieser weißen Sekunde, hat in uns eben sein Ende erre­icht. Zwis­chen zwei Zeital­ter schiebt sich eine Pause ein. Alles ruht. Die Zeit ste­ht. Und wir wollen über die Erde, durch die Städte, durch die Straßen gehen und im Geiste des kom­menden neuen Zeital­ters, des Zeital­ters der Liebe, das eben begonnen hat, jedem sagen: ‚Wir sind Brüder. Der Men­sch ist gut.‘ Das sei unser einziges Han­deln in der Pause zwis­chen den Zeital­tern. Wir wollen mit solch überzeu­gen­der Kraft des Glaubens sagen: ‚Der Men­sch ist gut‘, daß auch der von uns Ange­sproch­ene das tief in ihm ver­schüt­tete Gefühl ‚der Men­sch ist gut‘, unter hellen Schauern empfind­et und uns bit­tet: ‚Mein Haus ist dein Haus, mein Brot ist dein Brot.‘ Eine Welle der Liebe wird die Herzen der Men­schen öff­nen im Angesichte der unge­heuer­lich­sten Men­schheitss­chän­dung.« (64)

Hans Thill: in riso / der dürre Vogel Bin / käl­ter als / Dun­lop. Berlin, Hei­del­berg, Edenkoben, San­ti­a­go de Chile, Schup­fart: rough­books 2016 (rough­book 035). 102 Seit­en.

thill, dunlopDas ist ein rough­book, mit dem ich gar nichts anfan­gen kon­nte. Thill nutzt hier Gedichte von Petrar­ca, John Donne, Robert Her­rick, Paul Flem­ing, Hölder­lin, Trakl, Daniel Hein­sius, Gün­ter Plessow, Pablo Neru­da und anderen — also quer durch die Zeit­en und Sprachen — als eine Art Vor­lage oder erweit­erte Inspi­ra­tion für seine eige­nen Verse. Die ste­hen dann in kleinen Grup­pen — meist um die zehn Verse — direkt unter einem im Orig­i­nal zitierten Vers der Vor­lage. Mal lassen sie sich sprach­lich direkt darauf beziehen, wenn Thill etwa ein einzelnes Wort, eine Wort­gruppe nutzt, um es zu vari­ieren, der Bedeu­tung assozi­ierend nachzu­forschen. Mal ist der Bezug auch eher inhaltlich. Und mal — sog­ar gar nicht so sel­ten — ist der Bezug auch sehr opak, nur irgend­wie (?) assozierend, inspiri­erend. Mir ist dabei eigentlich immer unklar geblieben, was die Meth­ode will und/oder was Thills eigene Texte dann wollen. Vielle­icht war ich auch ein­fach nicht in der Stim­mung — aber bei mehreren Ver­suchen hat mich da, von eini­gen kleinen feinen Ideen, nichts fasziniert oder irgend­wie gepackt. Und, wie gesagt, ich kapiere den Zusam­men­hang zwis­chen Vor­lage und Neuschöp­fung ein­fach nicht.

Die Stand stand auf Krück­en (Fach­w­erk)
als sie sich zeigte
mit dem Gang ein­er Erwach­se­nen, der auf den
Steinen keine Spur hin­ter­läßt (4)

Trau­gott Xaverius Unruh: Von der Sor­ber­wen­den Wesen­heit und Herkom­men. Her­aus­gegeben von Eduard Wern­er. Leipzig: Rei­necke & Voß 2015. 60 Seit­en.

Zu der sehr amüsan­ten und geschickt ange­fer­tigten neuen Edi­tion ein­er aufk­lärerischen sprach‑, kul­tur- und brauch­tums­geschichtlicht­en Unter­suchung der Sor­ber­wen­den habe ich in einem sep­a­rat­en Beitrag schon genü­gend geschrieben

Michael W. Austin, Peter Reichen­bach (Hrsg.): Die Philoso­phie des Laufens. Ham­burg: mairisch 2015. 197 Seit­en.

Auch zu diesem trotz des ver­heißungsvollen Titels eher ent­täuschen­den Buch gibt es nebe­nan im Bewe­gungs­blog schon aus­re­ichende Aus­führun­gen, die ich hier nicht noch ein­mal wieder­holen muss.

außer­dem gele­sen:

  • Katha­ri­na Schul­tens: Geld. Eine Abrech­nung mit pri­vat­en Ressourcen. Berlin: Ver­lagshaus Berlin 2015 (Edi­tion Poet­i­con 11). 48 Seit­en.
  • Poet #20
  • Edit #68
  • SpritZ #217
  • Schreib­heft #68
  • Mütze #11

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