Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: novelle

Aus-Lese #43

Doris Knecht: Wald. Berlin: Rowohlt Berlin 2015. 270 Seit­en.

knecht, waldMan kön­nte Doris Knechts Wald als „Streeruwitz für Anfänger“ beze­ich­nen: Ein dezi­diert fem­i­nis­tis­ch­er Roman, der auf aktuelle Gegeben­heit­en reagiert. Für „Anfänger“ deshalb — das ist nicht abw­er­tend gemeint -, weil Knecht die Radikalität und Härte, auch im stilis­tis­chen, von Streeruwitz fehlt. Das macht Wald zunächst mal ein­fach­er les­bar. Die naht­los wech­sel­nden, fast ineinan­der glei­t­en­den ver­schiede­nen Stil­la­gen und das beschwörende, fern an Thomas Bern­hard erin­nernde (oder sind das nur die Aus­tri­azis­men?) insistierende Wieder­holen bes­timmter (Schlüssel-)Begriffe ver­lei­hen dem Text einen ganz eige­nen, inter­es­san­ten und oft fes­sel­nden Klang.

Es geht hier um ein Reak­tion auf die let­zte Weltwirtschaft­skrise — die ganz spezielle der Luxus-Mode-Designer­in Mar­i­an, die sich mit der Erweiterung ihres exk­lu­siv­en Geschäftes ver­spekuliert hat und, um der dro­hen­den Pri­vatin­sol­venz zu ent­ge­hen, aus ihrem Leben, der Stadt und der Gesellschaft flieht in ein dör­flich­es Haus im Fam­i­lienbe­sitz, wo sie nun ver­sucht, ohne Geld in ein­er Art Sub­sis­ten­zwirtschaft zu über­leben. Das klappt natür­lich nicht so ganz, da sind ein paar Hüh­n­erdieb­stäh­le eben­so notwendig wie eine Art Pros­ti­tu­tion mit dem im Dorf resi­dieren­den Großbauern/Gutsbesitzer.

In der radikal weib­lichen Per­spek­tive kristallisiert sich das und die Hin­ter­grundgeschichte Mar­i­an in der von Knecht sehr klug und har­monisch gestal­teten Infor­ma­tionsver­gabe erst sehr allmäh­lich und Stück für Stück her­aus. Gut gefall­en hat mir, wie Knecht hier auf die Labil­ität des morder­nen Wohl­stan­dlebens hin­weist und die neue Archaik unter den Bedin­gun­gen der absoluten Exis­ten­zsicherung auf ein­mal jede Roman­tik ver­liert. Wenn man Mar­i­an dann als Exem­pel liest, entwick­elt Wald also eine all­ge­meine Dystopie: Die mod­erne kap­i­tal­is­tis­che Gesellschaft ist nur eine sehr dünne Hülle. Und es gibt wenig Möglichkeit­en, sich dem zu entziehen — auch im Wald bleibt Mar­i­an ja im Sys­tem gefan­gen, die Beziehung zu Franz, ihrem „Gön­ner“ unter­schei­det sich eigentlich nur in einem Punkt zu ihrem bish­eri­gen Leben im Mark­tkap­i­tal­is­mus: Die Abhängigkeit, das Aus­geliefert Sein ist nun direkt, liegt für alle Beteiligten (und die Zuschauen­den der Dor­fge­mein­schaft) offen, im Gegen­satz zu der verdeckt-indi­rek­ten Abhängigkeit von weni­gen wohlhaben­den Käuferin­nen zuvor. Einen Ausweg gibt es also nicht — auch das etwas lieto-fine-mäßige Hap­py-End führt aus dem Sys­tem nicht her­aus, son­dern sta­bil­isiert nur die Abhängigkeit­en.

Sie hat­te nicht im Auge gehabt, dass die Weltwirtschaft­skrise die Zeit­en und Gegeben­heit­en viel radikaler verän­derte, als es auf den ersten Blick, ihren Blick, schien: dass die Zeit­en näm­lich für alle unüber­sichtlich gewor­den waren, auch für die ganz Smarten. (59)

Mara Gen­schel: Ref­eren­zfläche #5. 2016

Zu den Ref­eren­zflächen von Mara Gen­schel etwas kluges oder auch nur halb­wegs vernün­ftiges zu schreiben fällt mir sehr schw­er. Deswe­gen hier nur so viel: Auch die fün­fte Aus­gabe hat mich (wieder) fasziniert. Sie begin­nt — etwas über­raschend — zunächst fast mir ein­er richti­gen Sto­ry: Der Zer­störung (die an Pierre Boulez’ Auf­forderung, die Opern­häuser in die Luft zu spren­gen, erin­nert) des Wies­baden­er Lit­er­aturhaus­es Vil­la Clemen­tine. Aber das, was zer­stört wird, ist natür­lich wieder nur der Text der Vil­la Clemen­tine. Bilder wer­den zu Tex­ten: ein mit Tesafilm eingek­lebter Zettel „Türk­nauf“ repräsen­tiert im Bil­drah­men die Repräsen­ta­tion des repräsen­ta­tiv­en Bauw­erks der repräsen­ta­tiv­en Kun­st (oder so ähn­lich). Dieses Spiel mit den Eben von Text und außer­textlich­er Welt, die Aufhe­bung der tra­di­tionellen strik­ten Unter­schei­dung dieser Sig­nifika­tions­bere­iche ist ja das, was mir an Gen­schels Ref­eren­zflächen so viel Freude bere­it­et. Und das funk­tion­iert auch hier wieder: Der Text ist Text ist Wirk­lichkeit, ist aber schon als Text nicht mehr nur Text, son­dern auch Bild und Mon­tage (eingek­lebte und eingeschriebene Texte), ist aber auch als Text schon zer­stört durch Über­schrei­bun­gen, ver­rutschte Zeilen und Durch­stre­ichun­gen etc. Und er wird in sein­er Mate­ri­al­ität ad absur­dum geführt (?), wenn leere Seit­en einen Rah­men erhal­ten, auf dem ein eingek­lebtes „Blatt 3“ die Leere repräsen­tiert und natür­lich zugle­ich wieder zer­stört. In diesem ewigen sic-et-non, diesem ver­spiel­ten hier-und-da muss man wohl den Raum der Ref­eren­zfläche sehen und schätzen.

Daniela Danz: V. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014. 80 Seit­en.

Und wo das Vater­land anfängt
ist ein dun­kler Ort
wie Schnee
der die Umrisse zeigt
wie alles was aufhört (49)

danz, v„Gedichte“ ver­heißt V im Unter­ti­tel. Und doch begin­nt es nach dem Auf­takt im prinicip­i­um nach dem weit zurück­greifend­en Zitat aus Zedlers Uni­ver­sallexikon zum Begriff “Vater­land” erst ein­mal mit Prosa (mit dunkel funkel­nder, die mich etwas an Klaus Hof­fers Bieresch-Romane erin­nert), die neue Mythen erzählt. Oder: Kurze Prosa, die Beobach­tun­gen als mythis­che erzählt, leicht melan­cholisch ange­haucht. Immer schwingt da auch ein biss­chen Ver­fall und Nieder­gang mit.

Schon hier, noch viel stärk­er dann aber in den fol­gen­den Gedicht­en, ist Heimat bei Danz immer ein prob­lema­tis­ch­er Begriff: Ger­ade wie selb­stver­ständlich ist er immer gefährdet und immer im Wan­del — einem Wan­del, der nicht Verbesserung, son­dern in der Regel eher Ver­schlechterung und Ver­fall bringt und Prob­leme offen­legt, Prob­leme auch im Ver­hält­nis des lyrischen Ichs zu Heimat und Vater­land. Schon der Anfang zeigt das schwierige/problematische Ver­hält­nis der Autorin/Erzählerin zur “Heimat” sehr deut­lich auf. Der Band set­zt mit den Zeilen ein: “Das ist das Land von dem man sagt / das alles hier aufhört und alles anfängt”. Das erste Gedicht endet dann am Ende der ersten Seite mit dem Vers: “aber du woll­test umkehren” — also die Rück­kehr (?) in die Heimat wird prob­lema­tisiert, sie geschieht nicht (ganz) frei­willig, sie bleibt mit Wider­stän­den ver­bun­den.

V lebt immer schon im dis­tanzierten, kri­tis­chen Ver­hält­nis zum Vater­land und zur Heimat: aus der (auch emo­tionalen) Span­nung zwis­chen diesen bei­den Begrif­f­en, auch zwis­chen Natur/Landschaft und Menschen/Politik (der Nation­al­staat­en) ziehen die meis­ten Texte ihre Poten­tial. Die sind oft lakonisch, immer genau und manch­mal schmerzhaft. Vor allem im “Exemplum”-Teil wird dann die poli­tis­che Kom­po­nente von Heimat (auch von Land­schaft!) beson­ders deut­lich, aber auch die “echte” Poli­tik — und der Mythos (auch der neu erfun­dene, selb­st gemachte — vgl. die Prosastücke des Beginns) — spie­len hier eine große Rolle. Im Ganzen ist Veine manch­mal selt­same Mis­chung aus roman­tisch (?) verträumter Empfind­ungs- und Gefühlslyrik und har­ter Real­ität­sauf­nahme der Gegen­wart der Post­mod­erne (und der nation­al­staatlichen Poli­tik), zusät­zlich gekop­pelt und aufge­laden mit mythol­o­gis­chen Aspek­ten — der Clash dieser bei­den Blicke wird im let­zten Gedicht sehr deut­lich vorge­führt.

Ein Band mit anre­gen­der, oft fes­sel­nder Kurzprosa und Lyrik (aber diese teilende Unter­schei­dung wird ja ger­ade sowieso zunehmend brüchig, von bei­den Seit­en gibt es Auflö­sungser­schei­n­un­gen) also, der for­mal zwar keine Gren­zen austestet, es mir aber durch seine Vielfalt in Form und Inhalt (und der mein­er sehr nah­este­hen­den Posi­tion zu „Heimat“) sehr ange­tan hat.

Die schnellen Zügen hal­ten kaum in unser­er Gegend
wer sieht den Weg schon hier das Feld umfassen
seitlich so als hielte er allein es davon ab
das Korn mit ein­er Husche in die Furchen zu ver­streuen
so wie die Män­ner hier auf Rädern sich begrüßen
es nichts bedarf als eines Nick­ens anerken­nend
um zu sagen: ich seh du leb­st
vom Zug aus ist das alles immer schon in rechts
und links geschieden bleibt die Land­schaft nur ein Anblick
[…] (23, Hier)

Leon­hard Frank: Der Men­sch ist gut. Zürich, Leipzig: Max Rasch­er 1918. 209 Seit­en. (Europäis­che Büch­er)

Eigentlich unvorstell­bar, dass so etwas heute geschrieben wer­den kön­nte: Nicht nur wegen des Paz­i­fis­mus (der ja aus dem gesellschaftlichen Diskurs ziem­lich radikal ver­drängt wurde von den „Realpoli­tik­ern“ …), son­dern ger­ade auch wegen des unge­heuren Opti­mis­mus, der aus allen Zeilen dieser mit­ten im größten Schlacht­en aller Zeit­en ver­fassten Erzäh­lun­gen spricht, ja eigentlich sog­ar schre­it, wirkt Der Men­sch ist gut von Leon­hard Frank total unzeit­gemäß. Dabei ste­ht dieses mal als das „lei­den­schaftlich­ste Buch gegen den Krieg […], das die Weltlit­er­atur“ aufweise beze­ich­nete Werk in sein­er Zeit — es erschien erst­mals 1918, als der Erste Weltkrieg noch tobte — gar nicht mal allein. Heute mag vieles naiv anmu­tend: Der Glaube an eine kom­mende Rev­o­lu­tion, die Fähigkeit der (Nächsten-)Liebe, alles Böse (und den Krieg) zu über­winden — das ist heute etwas fremd. Aber so radikal Franks „Lösung“ — er spricht sog­ar von einem „Rev­o­lu­tion­szug der Liebe“ (111) — ist, so radikal und erschüt­ternd ist auch seine Schilderung der blutig­sten Grausamkeit­en des „Großen Krieges“, des sinnlosen Stel­lungskrieges und des Unsinns des Fal­l­ens auf dem soge­nan­nten „Feld der Ehre“ — die Leere dieses Topos the­ma­tisieren die Nov­ellen von Frank immer wieder.

So hehr Überzeu­gung und Ziel Franks sind — sein hier uner­schüt­tlich­er Glaube an das Gute in den Men­schen, das alles Böse über­winden und ver­drän­gen wird — ästhetisch ist das mit hun­dert Jahren Abstand doch etwas dünn. Nicht nur die vie­len Wieder­hol­un­gen, die fehlende Var­i­anz, son­dern ger­ade die Formel­haftigkeit des Textes und seines Inhaltes schwächen Der Men­sch ist gut deut­lich. Ich kann das nur noch als eine Art Zeitzeug­nis lesen: Das war ja keineswegs eine total abseit­ige Posi­tion, die Frank hier ein­nimmt — Der Men­sch ist gut war ein unge­heuer erfol­gre­ich­es Buch. (Und doch blieb er, schaut man auf den weit­eren Ver­lauf der Geschichte, im großen und ganzen wirkungs­los …)

»Wir wollen nicht das Unmögliche ver­suchen: die Gewalt mit Gewalt auszurot­ten. Wir wollen nicht töten. Aber von dieser Sekunde an soll alle Arbeit ruhen. Denn alle Arbeit würde noch im Dien­ste dieses Zeital­ters des organ­isierten Mordes ste­hen. Das Zeital­ter des Ego­is­mus und des Geldes, der organ­isierten Gewalt und der Lüge hat in dieser weißen Sekunde, hat in uns eben sein Ende erre­icht. Zwis­chen zwei Zeital­ter schiebt sich eine Pause ein. Alles ruht. Die Zeit ste­ht. Und wir wollen über die Erde, durch die Städte, durch die Straßen gehen und im Geiste des kom­menden neuen Zeital­ters, des Zeital­ters der Liebe, das eben begonnen hat, jedem sagen: ‚Wir sind Brüder. Der Men­sch ist gut.‘ Das sei unser einziges Han­deln in der Pause zwis­chen den Zeital­tern. Wir wollen mit solch überzeu­gen­der Kraft des Glaubens sagen: ‚Der Men­sch ist gut‘, daß auch der von uns Ange­sproch­ene das tief in ihm ver­schüt­tete Gefühl ‚der Men­sch ist gut‘, unter hellen Schauern empfind­et und uns bit­tet: ‚Mein Haus ist dein Haus, mein Brot ist dein Brot.‘ Eine Welle der Liebe wird die Herzen der Men­schen öff­nen im Angesichte der unge­heuer­lich­sten Men­schheitss­chän­dung.« (64)

Hans Thill: in riso / der dürre Vogel Bin / käl­ter als / Dun­lop. Berlin, Hei­del­berg, Edenkoben, San­ti­a­go de Chile, Schup­fart: rough­books 2016 (rough­book 035). 102 Seit­en.

thill, dunlopDas ist ein rough­book, mit dem ich gar nichts anfan­gen kon­nte. Thill nutzt hier Gedichte von Petrar­ca, John Donne, Robert Her­rick, Paul Flem­ing, Hölder­lin, Trakl, Daniel Hein­sius, Gün­ter Plessow, Pablo Neru­da und anderen — also quer durch die Zeit­en und Sprachen — als eine Art Vor­lage oder erweit­erte Inspi­ra­tion für seine eige­nen Verse. Die ste­hen dann in kleinen Grup­pen — meist um die zehn Verse — direkt unter einem im Orig­i­nal zitierten Vers der Vor­lage. Mal lassen sie sich sprach­lich direkt darauf beziehen, wenn Thill etwa ein einzelnes Wort, eine Wort­gruppe nutzt, um es zu vari­ieren, der Bedeu­tung assozi­ierend nachzu­forschen. Mal ist der Bezug auch eher inhaltlich. Und mal — sog­ar gar nicht so sel­ten — ist der Bezug auch sehr opak, nur irgend­wie (?) assozierend, inspiri­erend. Mir ist dabei eigentlich immer unklar geblieben, was die Meth­ode will und/oder was Thills eigene Texte dann wollen. Vielle­icht war ich auch ein­fach nicht in der Stim­mung — aber bei mehreren Ver­suchen hat mich da, von eini­gen kleinen feinen Ideen, nichts fasziniert oder irgend­wie gepackt. Und, wie gesagt, ich kapiere den Zusam­men­hang zwis­chen Vor­lage und Neuschöp­fung ein­fach nicht.

Die Stand stand auf Krück­en (Fach­w­erk)
als sie sich zeigte
mit dem Gang ein­er Erwach­se­nen, der auf den
Steinen keine Spur hin­ter­läßt (4)

Trau­gott Xaverius Unruh: Von der Sor­ber­wen­den Wesen­heit und Herkom­men. Her­aus­gegeben von Eduard Wern­er. Leipzig: Rei­necke & Voß 2015. 60 Seit­en.

Zu der sehr amüsan­ten und geschickt ange­fer­tigten neuen Edi­tion ein­er aufk­lärerischen sprach‑, kul­tur- und brauch­tums­geschichtlicht­en Unter­suchung der Sor­ber­wen­den habe ich in einem sep­a­rat­en Beitrag schon genü­gend geschrieben

Michael W. Austin, Peter Reichen­bach (Hrsg.): Die Philoso­phie des Laufens. Ham­burg: mairisch 2015. 197 Seit­en.

Auch zu diesem trotz des ver­heißungsvollen Titels eher ent­täuschen­den Buch gibt es nebe­nan im Bewe­gungs­blog schon aus­re­ichende Aus­führun­gen, die ich hier nicht noch ein­mal wieder­holen muss.

außer­dem gele­sen:

  • Katha­ri­na Schul­tens: Geld. Eine Abrech­nung mit pri­vat­en Ressourcen. Berlin: Ver­lagshaus Berlin 2015 (Edi­tion Poet­i­con 11). 48 Seit­en.
  • Poet #20
  • Edit #68
  • SpritZ #217
  • Schreib­heft #68
  • Mütze #11

Aus-Lese #40

Klaus Wagen­bach (Hrsg.): Störung im Betrieb­sablauf. 77 kurze Geschicht­en für den öffen­lichen Nahverkehr. Berlin: Wagen­bach 2014. 143 Seit­en.

wagenbach, störung im betriebsablaufEine lustige Edi­tion ist das, die mir zufäl­lig im Buch­laden in die Augen und Hände gefall­en ist: Klaus Wagen­bach hat kleine Texte gesam­melt, für die Lek­türe unter­wegs im ÖPNV. Der Zweck bes­timmt auch die Ord­nung der Texte nach Anlass und Länge: Kurzstreck­en, Bahn­hof, Zwei Sta­tio­nen etc. sind die Kapi­tel über­schrieben. Hin­ter der witzi­gen und sym­pa­this­chen Idee steckt aber vor allem eine schöne und vielfältige Samm­lung größ­ten­teils großar­tiger Kurzprosa: Kurzgeschicht­en, Para­beln, Anek­doten, Fabeln und vieles mehr. Wagen­bachs Auswahl beweist ein sehr hohes Qual­ität­sniveau ohne Aus­reißer: Das ist ein­fach gut aus­ge­sucht. Und vieles Bekan­ntes ist dabei, natür­lich — aber auch einiges Über­raschen­des, Uner­wartetes. Und auch beim Wieder­lesen entwick­elt so manch­es in diesem Zusam­men­hang neue Aspek­te. Das kleine Bänd­chen ist wirk­lich eine vortr­e­f­fliche Lek­türe für die Zeit des Bewegt-Wer­dens — da wün­scht man sich manch­mal beina­he eine tat­säch­liche “Störung im Betrieb­sablauf” …

Ulrike Almut Sandig: Buch gegen das Ver­schwinden. Geschicht­en. Frank­furt am Main: Schöf­fling 2015. 207 Seit­en.

sandig, verschwinden “Es ist so leicht zu ver­schwinden.” (35) Das ist das ganze Prob­lem. Denn wir Men­schen sind tat­säch­lich kaum mehr als ein Gras im Wind — ein­mal hier, bald wieder weg. Und darum geht es in diesem Geschicht­en-Band (aus­drück­lich nicht Erzäh­lun­gen!): Um das Ver­schwinden, um das Vergessen. Und darum, wie sich das (vielle­icht) doch ver­hin­dern oder auf­schieben lässt — mit dem Erzählen zum Beispiel. Aber wer sagt dann, dass das Erzählte was mit der vergangenen/verschwundenen Real­ität zu tun hat? Doch: Das ist keine philosophis­che Abhand­lung, kein Essay — und will es auch gar nicht sein. Son­dern eine Feier des Erzäh­lens. Denn Sandig ist eine großar­tige Erzäh­lerin, deren bre­ites stilis­tis­ches Reper­toire und deren Sprache ich sehr mag (das war auch schon bei den Flamin­gos so!). Ich zitiere aus Faul­heit mal die Ver­lagsweb­seite:

Ein junger Jour­nal­ist ver­sucht inmit­ten der Unruhen um den Istan­buler Gezi-Park die Erwartun­gen sein­er Mut­ter abzuschüt­teln, die nach dem Mauer­fall 1989 das Reise­fieber gepackt hat. Ein Wan­der­er geht während eines Schneesturms in den ural­ten ver­wun­sch­enen Wäldern des Engadin ver­loren. Ein kleines Mäd­chen wird zum näch­sten Venus­durch­gang von der Groß­mut­ter ans Ende der Welt geflo­gen. Wohin ihre Spuren führen, ist eines der vie­len Rät­sel dieser Geschicht­en.

Rät­sel weisen Sandigs Geschicht­en immer wieder auf. Aber keine Span­nungs- oder Kri­mi-Rät­sel, son­dern Rät­sel, die auf die Frage nach der Wahrheit, der Wirk­lichkeit der Ver­gan­gen­heit und der Erin­nerung ver­weisen. Mir ist dann die eigentlich Geschichte oft gar nicht so wichtig — ob es nun um einen Witwer geht, der sich und seine Ein­samkeit sowie seine fortschre­i­t­ende Demenz beobachtet, um einen jun­gen Jour­nal­is­ten, die Wan­der­er im Engadin, die den mythisch-verk­lärten Taman­gur-Wald ent­deck­en wollen — die Haupt­sache ist immer wieder das Erzählen selb­st.

Ja, an diesem Tag und in dieser Minute find­et sie plöt­zlich, dass sie sich diese Geschichte immer wieder anhören kön­nte und immer wieder in der jew­eils aktuellen Ver­sion, und jed­er Ver­sion würde sie Glauben schenken, wohl wis­send, dass wir, jede Einzelne von uns, die Erzäh­lerin­nen unser­er eige­nen Geschicht­en sind und dass es nicht darauf ankommt, was in Wirk­lichkeit passiert ist, solange wir eine Ver­sion haben, die uns das Leben und alle, die darin ver­schwinden, erträglich­er macht. (36f.)

Es gibt auch ein nett gemacht­es “Video zum Buch” von Har­ald Opel:

Ulrike Almut Sandig — Buch gegen das Ver­schwinden

Beim Klick­en auf das und beim Abspie­len des von YouTube einge­bet­teten Videos wer­den (u. U. per­so­n­en­be­zo­gene) Dat­en wie die IP-Adresse an YouTube über­tra­gen.
Joachim Zel­ter: Wieder­se­hen. Tübin­gen: Klöpfer und Mey­er 2015. 126 Seit­en.

zelter, wiedersehenOffiziell als “Nov­el­le” betitelt — und das haut auch hin. Ein kurz­er Text für zwis­chen­durch (die 126 Seit­en sind recht großzügig geset­zt), mit hohem Spaß­fak­tor: Der Lieblingss­chüler Arnold Lit­ten trifft nach zwanzig Jahren wieder auf seinen immer schon etwas kauzi­gen Lieblingslehrer Thorsten Korthausen, der ihn, der mit­tler­weile zum Ger­man­is­tik-Pro­fes­sor (ver­mut­lich …) gewor­den ist, damals im Fach Deutsch unter­richtet und für die Lit­er­atur begeis­tert hat. Im Rück­blick tauchen die sehr ungewöhn­lichen Lehrmeth­o­d­en Korthausens noch ein­mal auf (die jed­er Ord­nung, Ver­gle­ich­barkeit oder Plan­mäßigkeit spot­ten, aber natür­lich höchst genial waren und alle Schü­lerin­nen und Schüler enorm begeis­terten …). Jet­zt also das Wieder­se­hen, auf ein­er von Korthausen extra dafür aus­gerichteten Par­ty, bei der Lit­ten auch noch ohne Vor­war­nung einen Vor­trag hal­ten soll. Das alles geht, fast erwartungs­gemäß, fürchter­lich schief und gibt allen, vor allem aber Lit­ten selb­st, gründlich Gele­gen­heit, sich selb­st, ihre Stel­lung und ihrer (Lebens-)Ziele, aber auch die gemein­same Ver­gan­gen­heit, noch ein­mal gründlich zu über­denken. Das ist alles sehr liebevoll geschildert, mit wun­der­baren Typen (ger­ade die Neben­fig­uren sind her­rlich). Die kon­fronta­tive Sit­u­a­tion steigert sich immer mehr, bis das Ganze schließlich in eine ziem­lich wilde Groteske umkippt. Kurz vor dem Schluss (der noch ein­mal eine abso­lut unnötige “über­raschende Wen­dung” bietet) heißt es dann:

Er hätte niemals hier­herkom­men dür­fen. […] Dass es ein Fehler sei, einen Men­schen wie Korthausen nach über zwanzig Jahren ein­fach wiederzuse­hen. Dass man dabei nur ver­lieren kann, zuer­ste einen geliebten Lehrer udn dann sich selb­st. Dass man sich dadurch sein­er grundle­gen­sten Ebe­nen beraubt. Und sein­er schön­sten Bilder. (125)

Paulus Böh­mer: Werich­bin. Gedichte. Frank­furt am Main: Edi­tion Faust 2014. 56 Seit­en.

boehmer, wer ich bin“Gedichte” stimmt hier ger­ade so — es sind näm­lich genau zwei Langgedichte, die in diesem kleinen Bänchen zu find­en sind: “Werich­bin” (das scheint die bevorzugte Schreib­weise des Titels zu sein) und “Über das Zusam­men­fü­gen von Teilen”. Bei­de sind wieder typ­is­che Böh­mer-Schöp­fun­gen: Auf Mit­telachse ste­hen diese Text­türme, ohne Reim oder festes Metrum, sind sie fort­laufende Ket­ten von Ein­fällen und Assozi­a­tio­nen. For­mgebend ist beim Titelgedicht “Wer ich bin” zum Beispiel das “Wie” — “So” und “Daß” am Beginn der einzel­nen Vers­grup­pen in den drei Teilen des Titelgedichts.

Wer diesen (Vor-)Namen trägt, muss vielle­icht so schreiben: voller Bildge­walt, voller Wis­sen, immer alles wol­lend und auch alles sagen wol­lend, Texte voller Welthaltigkeit (oder vielle­icht auch Weltall­haltigkeit?) und Sprach­be­herrschung pro­duzierend. Auch “Werich­bin” über­wältigt mit dieser Vielfalt, wie immer bei Böh­mer ist das alles kaum fass­bar. Seine Gedichte hin­ter­lassen bei mir den Ein­druck von Größe und auch Erhaben­heit (das mag mit dem hym­nis­chen Ton sein­er Lyrik zusam­men­hän­gen), von Sprachge­walt und wis­sender Klugheit, die den Leser emporzuheben scheint (auch wenn ich nicht unbe­d­ingt sagen kön­nte, wohin — oder was ich daraus “gel­ernt” hätte): Man kann — und das behaupte ich ja gerne von guten Kunst­werken — das nicht lesen (bzw. sehen oder hören), ohne danach ein ander­er Men­sch zu sein. Und hat immer etwas von per­ma­nen­ter Über­forderung: Ich habe beim Lesen immer das Gefühl, dass mir viel ent­ge­ht — zugle­ich aber auch den Ein­druck, dass ich ganz viel davon habe, das jet­zt zu lesen. Michael Braun hat in sein­er Rezen­sion wohl nicht ganz zu Unrecht darauf hingewiesen, dass Böh­mers Lyrik als “Über­fluss-Pro­duk­tion” funk­tion­iere. Das macht sie aber eben schwierig und faszinierend zugle­ich …
Das kleine Bänd­chen — sozusagen Böh­mer für Ein­steiger (Kad­dish ist da allein wegen seines Umfangs ja schon abschreck­ender …) — enthält außer den bei­den Gedicht­en noch ein kurzes Nach­wort (das mir wenig brachte) und drei Col­la­gen — eine bunte vom Autor auf dem Umschlag, eine schwarz-weiße von ihm im Vor­satz und eine weit­ere von Lydia Böh­mer zu Beginn von “Über das Zusam­men­fü­gen von Teilen”.

Marc Degens: Fuckin Sushi. Köln: DuMont 2014. 320 Seit­en.

degens, sushiEin tolles Buch übers Erwach­sen­wer­den in Bonn, die Musik (und den Alko­hol), das Leben und den ganzen Rest: intel­li­gent aus­gedacht, schnell und flott geschrieben und auch zügig gele­sen — und zudem gibt es eine reich­haltige cross­me­di­ale Begleitung für die, die so etwas mögen — die fängt übri­gens mit Playlists des Pro­tag­o­nis­ten (u.a. sein erster Ipod mit “langer” Musik) schon im Buch selb­st an. Mehr zu dieser Leseempfehlung gibt es in einem eige­nen Text, näm­lich hier.

Ulrich Lap­penküper & Ulf Mor­gen­stern (Hrsg.): Dem Otto sein Leben von Bis­mar­ck. Die besten Anek­doten über den Eis­er­nen Kan­zler. München: Beck 2015. 128 Seit­en.

lappenküper, bismarckDer Titel ist natür­lich sel­ten däm­lich. Wieso sich der Beck-Ver­lag zu so einem Unsinn hin­reißen lassen hat, ver­ste­he ich nicht. Denn das Büch­lein hat ja dur­chaus einen hohen Anspruch. Sich­er, es geht um Anek­doten. Aber die sollen viel leis­ten, wie die bei­den Her­aus­ge­ber in der Ein­leitung beto­nen:

[…] hegen die Her­aus­ge­ber die Hoff­nung, mitels der hier ver­sam­melten Äußerun­gen von und über Bis­mar­ck sein­er Per­sön­lichkeit näher zu kom­men, als es manch tief­gründi­ge his­torische Darstel­lung ver­mag. (8)

Ich halte das prinzip­iell für gewagt und im Falle dieser kleinen Samm­lung auch für nicht erfüllt. So viel also zum Neg­a­tiv­en. Was bleibt dann? Eine kuriose Samm­lung von mehr oder min­der amüsan­ten Begeg­nun­gen, Begeben­heit­en und Erin­nerun­gen Bis­mar­cks und seines Umfeldes. Die ersten Jahre sind naturgemäß schwach vertreten und ger­ade dort bleibt der Pro­tag­o­nist auch blass, wenn auch seine Genial­ität natür­lich (schließlich wur­den die Anek­doten alle Jahrzehnte später niedergeschrieben) schon allen Ver­ständi­gen sicht­bar war. Über­haupt entste­ht hier das Bild eines Bis­mar­ck, der nicht so sehr “Eis­ern­er Kan­zler” war, son­dern vor allem ein gewitzter Draufgänger. Das liegt natür­lich (auch) in der Natur der hier ver­sam­melten Quellen begrün­det — wie wahr das ist, kann ich nicht wirk­lich beurteilen. Fest­stellen lässt sich aber auch ohne detail­lierte Bis­mar­ck-Ken­nt­nisse die Nei­gung zur frühen und ziem­lich voll­ständi­gen (Selbst-)Stilisierung.

Daneben wer­den aber dur­chaus auch schöne Begeben­heit­en hier berichtet. Zum Beispiel über die Rolle des Rauchens im Frank­futer Bun­destag, das schnell als Rang­merk­mal, als Sta­tussym­bol ent­deckt wird (wer darf in den Sitzun­gen rauchen?) und das fast genau­so schnell seine Untauglichkeit dafür erweist, weil schließlich (nahezu) alle rauchen, selb­st wenn sie, d.h. die Gesandten, es nur unter größtem per­sön­lichem Wider­willen tun. Auch schön: Bis­mar­cks etwas däm­lich­er Feldzug gegen die Anti­qua-Drucke und sein Beste­hen auf Frak­tur-Schriften für den Dien­st­ge­brauch. Und hier darf natür­lich nicht fehlen: Sein Wider­stand gegen die Ein­führung ein­er neuen Rechtschrei­bung (1876). Dazu heißt es in diesem Bänd­chen, das alles in allem doch eine nette Lek­türe für zwis­chen­durch ist:

Er sprach mit wahrem Ingrimm über die Ver­suche, eine neue Orthogra­phie einzuführen. Er werde jeden Diplo­mat­en in eine Ord­nungsstrafe nehmen, welch­er sich der­sel­ben bedi­ene. Man mute dem Men­schen zu, sich an neue Maße, Gewichte, Münzen zu gewöh­nen, ver­wirre alle gewohn­ten Begriffe, und nun wolle man auch noch eine Sprachkon­fu­sion ein­führen. Das sei unerträglich. Beim Lesen auch noch Zeit zu ver­lieren, um sich zu besin­nen, welchen Begriff das Zeichen aus­drücke, sei eine uner­hörte Zumu­tung. Eben­so sei es Unsinn, Deutsch mit lateinis­chen Let­tern zu schreiben und zu druck­en, was er sich in seinen dien­stlichen Beziehun­gen ver­bit­ten werde, solange er noch etwas zu sagen habe. (79)

außer­dem gele­sen:

  • Mar­cel Bey­er: XX. Licht­en­berg-Poet­ikvor­lesun­gen. Göt­tin­gen: Wall­stein 2015 (Göt­tinger Sudel­blät­ter). 80 Seit­en.
  • Bertolt Brecht: Der gute Men­sch von Sezuan. Para­bel­stück. Frank­furt am Main: Suhrkamp 1964. 144. Seit­en.
  • Got­tfried Immanuel Wen­zel: Ver­brechen aus Infamie. Eine the­atralis­che Men­schen­schilderung für Richter und Psi­cholo­gen in drei Akten. Mit einem Nach­wort her­aus­gegeben von Alexan­der Kos­en­i­na. Han­nover: Wehrhahn 2014 [1788] (The­ater­texte, Bd. 43). 64 Seit­en.

die textfabrik von marlene streeruwitz

diese autorin schätze ich eigentlich sehr. ihre romane sind nicht nur sprach­liche her­vor­ra­gend gear­beit­ete kunst­werke, son­dern auch in ihrer for­malen gestal­tung. und nicht zulet­zt auch inhaltlich, in ihren zie­len, nicht bloß hochin­ter­es­sant, son­dern auch gut und richtig, um ein­n­mal diese großen worte zu bemühen. die nov­el­le morire in lev­i­tate (2004) allerd­ings zählt nicht dazu. das ist nichts, was mich irgend­wie beein­druck­en kön­nte. möglicher­weise hat­te ich auch ger­ade nur keine lust, mich mit dem ster­ben über­haupt und im beson­deren zu beschäfti­gen – das müsste eine zweite lek­türe noch ein­mal kon­trol­lieren. jet­zt hat­te ich auf jeden fall den ein­druck, das hier nur, ohne allzu große inspi­ra­tion und vor allem ohne dringlichkeit, ohne den drang, etwas sagen/gestalten/machen zu müssen (der bei streeruwitz son­st dur­chaus solide aus­geprägt ist – ger­ade das schätze ich ja so an ihr) – ok, wo war ich? – ach ja, der ein­druck, das hier ohne innere notwendigkeit die textfab­rik arbeit­en musste, um leer­lauf zu ver­mei­den. vielle­icht war es ja die äußere notwendigkeit, auf dem markt und in der öffentlichkeit präsent zu bleiben, die hin­ter der veröf­fentlichung dieser nov­el­le stand. aber jeden­falls erscheint das alles sehr abgenutzt, die stilis­tis­chen mit­tel ohne kon­se­quenz, ohne notwendi­ge verbindung mit dem text und seinem the­ma, die bilder vage und blass – kurz, mich hat es ziem­lich gelang­weilt. also ab in die wieder­vor­lage in 1,2 jahren.

mar­lene streeruwitz: morire in lev­i­tate. nov­el­le. frankfurt/main: fis­ch­er taschen­buch 2006. (erste aus­gabe im s. fis­ch­er ver­lag 2004)

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