Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Kategorie: literatur Seite 3 von 38

Epirrhema

Müs­set im Naturbe­tra­cht­en
Immer eins wie alles acht­en;
Nichts ist drin­nen, nichts ist draußen:
Denn was innen ist das ist außen.
So ergreifet ohne Säum­nis
Heilig öffentlich Geheim­nis

Freuet euch des wahren Scheins,
Euch des ern­sten Spieles:
Kein Lebendi­ges ist ein Eins,
Immer ist’s ein Vieles.Johann Wolf­gang von Goethe, Epir­rhe­ma (aus: Samm­lung von 1827, Abschnitt “Gott und Welt”)

Bücherreihe

Aus-Lese #52

Ich pro­biere mal wieder etwas Neues … Da ich meine Mel­dun­gen “Aus-Lese” mit ein­er kurzen sub­jek­tiv­en Skizze der jew­eili­gen Lek­türe und meines Ein­druck­es dazu verse­hen habe, bedeutet das einen (zwar kleinen) gewis­sen Aufwand, der mich in der let­zten Zeit weit­ge­hend davon abge­hal­ten hat, die Serie fortzuführen. Also gibt es jet­zt einen neuen Ver­such im deut­lich reduzierten For­mat …

Heim­i­to von Doder­er: Unter schwarzen Ster­nen. Erzäh­lun­gen. München: Deutsch­er Taschen­buch-Ver­lag 1973. 153 Seit­en. ISBN 978–3‑423–00889‑1.

Der schmale Band mit Erzäh­lun­gen — über­wiegend aus den 1950er und 1960er Jahren — hat es nicht geschafft, meine respek­tvolle Dis­tanz zu Doder­er zu ver­ringern. Ich erkenne (und schätze) die Kun­st­fer­tigkeit und das Stil­be­wusst­sein des Autors, aber davon abge­se­hen bleiben mir die Texte (das ging mir mit seinen Roma­nen ähn­lich) eher fremd.

Wolf­gang Schuller: Cicero. Ditzin­gen: Reclam 2018 (Reclam 100 Seit­en). 101 Seit­en. ISBN 978–3‑15–020435‑1.

Eine nette kurze Feier­abendlek­türe, die den Men­schen Mar­cus Tul­lius Cicero flott, unter­halt­sam, auch pointiert porträtiert. Dabei klingt das große (selb­stver­ständliche) Fach­wis­sen der römis­chen Geschichte immer mit. Mir fehlt allerd­ings etwas die genauere und aus­führlichere Beschäf­ti­gung mit den Inhal­ten von Ciceros Werken. Der Band bleibt (absichtlich) weit­ge­hend (nicht nur, aber doch über­wiegend) am Äußeren von Ciceros Leben. — Natür­lich wäre das auch viel ver­langt, bei­des auf 100 Seit­en zufrieden­stel­lend zu erledi­gen, das ist mir dur­chaus bewusst. Für meinen Geschmack hätte eine zumin­d­est teil­weise Ver­schiebung des Fokus aber den­noch gut getan.

Ger­hard Pop­pen­berg: Herb­st der The­o­rie. Erin­nerun­gen an die alte Gelehrten­re­pub­lik Deutsch­land. Berlin: Matthes & Seitz 2018 (Fröh­liche Wis­senschaft 111). 239 Seit­en. ISBN 978–3‑95757–386‑5.

Ein faszinieren­der Text. Ich kön­nte aber nur schw­er genau sagen, was das eigentlich ist — und worauf der Text hin­aus will. Auf der Suche nach so etwas wie ein­er geisti­gen Sig­natur der BRD liest Pop­pen­berg Autoren und ihre Rück­blicke auf die let­zten Jahrzehnte. So kom­men Philipp Felsch, Frank Witzel, Ulrich Raulff und Friedrich Kit­tler gemein­sam in den Blick, wer­den genau (!) gele­sen und mit dur­chaus sujek­tive gefärbten Darstel­lun­gen und Erin­nerun­gen kom­biniert. Das klingt jet­zt viel selt­samer als es im Text ist. Der ist näm­lich dur­chaus faszinierend und gelehrt — eine über­aus anre­gende Mis­chung und auch eine anre­gende Lek­türe.

Valentin Sen­ger: Kaiser­hof­s­traße 12. 4. Auflage der Neuaus­gabe. Frank­furt am Main: Schöf­fling 2012. 316 Seit­en. ISBN 978–3‑89561–485‑9.

senger, kaiserhofstraße 12 (cover)Roman oder auto­bi­ographis­che Erzäh­lung — eigentlich ist das ja egal. Was es auf jeden Fall ist: Eine — angesichts des Sujets — erstaunlich leichte und leicht­füßige Erzäh­lung der jüdis­chen Fam­i­lie Sen­ger vor und während des Nation­al­sozial­is­mus. Das einzi­gar­tige daran ist, das merkt der Erzäh­ler auch selb­st, wie wun­der­voll das gelingt: Ein Wun­der ist das Über­leben, ein Wun­der ohne Staunen. Natür­lich gibt es, ganz klas­sisch, Schwierigkeit­en zu über­winden. Aber um Ende siegt doch die Leichtigkeit, das Leben, die fast unver­schämte Unver­nun­ft und Unbe­sorgth­eit des Erzäh­lers und sein­er Fam­i­lie. Das ganze ist sehr direkt, unmit­tel­bar erzählt — ein Text, dem man sich kaum entziehen kann (und es ja eigentlich auch nicht möchte). Die meis­ten­teils knap­pen Kapi­tel, fast Erin­nerungs­bruch­stücke (vor allem im ersten Teil, der frühen Kind­heit des Erzäh­lers) machen dne Text auch gut zugänglich und kon­sum­ier­bar — sicher­lich auch ein Fak­tor, der zum Erfolg des Buch­es, das seit 1978 in mehreren Aufla­gen und Aus­gaben (und Ver­la­gen) erschienen ist.

Nor­bert Frei/Christian Morina/Franka Maubach/Maik Tändler: Zur recht­en Zeit. Wider die Rück­kehr des Nation­al­is­mus. Berlin: Ull­stein 2019. 224 Seit­en. ISBN 978–3‑550–20015‑1.

frei et al., zur rechten zeit (cover)Der Titel kündigt eigentlich eher eine Stre­itschrift an: “Wider die Rück­kehr des Nation­al­is­mus”. Das kann der Band aber kaum ein­lösen. Was er aber kann, und das dur­chaus recht gut und überzeu­gend: Hin­ter­gründe für Entwick­lun­gen geben. Die Autor*innen bieten näm­lich eine Rückschau auf die deutsche Geschichte seit 1945, in West und Ost, mit dem Fokus auf die diversen recht­en, nation­al­is­tis­chen Strö­mungen, Diskus­sio­nen und Parteien, von der Ent­naz­i­fizierung bis in die unge­fähre Gegen­wart. Das ist als Einord­nung und Argu­men­ta­tion­shil­fe gut gemacht und gut zu nutzen. Die gesamt­deutsche Per­spek­tive ist dabei dur­chaus hil­fre­ich — unsich­er bin ich allerd­ings, ob Büch­er wie diese ihr Ziel wirk­lich erre­ichen kön­nen …

bücher (von oben & hinten)

Aus-Lese #51

Almut Tina Schmidt: Zeitver­schiebung. Graz, Wien: Droschl 2016. 189 Seit­en. ISBN 978–3‑85420–978‑2.

schmidt, zeitverschiebung (cover)Eigentlich ist Schmidts Zeitver­schiebung eine Geschichte des erweit­erten Erwach­sen­wer­dens: Das Ende des Studi­ums, die ersten Jobs, sich ver­fes­ti­gende Beziehun­gen, die Liebe und dann das Kind, ein neuer Job, Zusam­men­ziehen mit dem Part­ner und ein Hap­py End — das ist das Gerüst des Romans. Aber das ist auch der weniger inter­es­sante Teil des Romans. Schnell wird aber klar — der Titel ist in dieser Hin­sicht ja überdeut­lich … -, dass etwas anderes das eigentliche The­ma ist: Die Zeit, genauer vielle­icht: ihre Wahrnehmung, oder die wahrgenommene Posi­tion­ierung der Ich-Erzäh­lerin in ihrem strö­menden Fließen.

Zeit ist ohne­hin eine Illu­sion. (140)

Das Erleben und vor allem das Erzählen der Zeit verbindet sich mit ähn­lich abstrak­ten Konzepten wie For­tu­na oder Zufall.
Denn die Ver­spä­tung — um die Zeitver­schiebung etwas banaler zu ver­passen — ist das zen­trale Moment des Texte. Die chro­nol­o­gis­che Ver­spä­tung ist das eine, aber Ver­spä­tung ist eben auch ein Lebens­ge­fühl (oder genauer: das Lebens­ge­fühl ein­er Phase des Lebens): Das über­mächtige Gefühl des Ver­passens, des „zwis­chen“, „noch nicht“, und des immer schon zu spät sein, des Ein­drucks, immer schon den Anfang ver­passt zu haben … Aber selb­st das hap­py end schlägt sich doch auch noch auf das Zeit(empfinden) — hier des eige­nen, kleinen Kindes — nieder: „Und nimmt sich alle Zeit der Welt.“ (189) ist der Schlusssatz, der schön zum Anfangssatz passt: „Ich war ohne­hin zu spät, kon­nte mir also Zeit lassen.“ (5)

Das The­ma der Zeitver­schiebung ist damit auf indi­vidu­eller Ebene sozusagen erledigt. Aber es wird eben deut­lich (wie so oft in diesem Roman: überdeut­lich), dass es in der näch­sten Gen­er­a­tion (wieder/noch) ein The­ma sein kann. Allerd­ings, da schließt sich der Kreis nicht ganz: Noch ist das ein Kind, das “alle Zeit der Welt” hat. Vielle­icht gelingt ihm/ihr (?) ja das Erwach­sen­wer­den der Zeit(empfindung) gemäß den gesellschaftlichen Konventionen/Erwartungen par­al­lel zum restlichen Erwach­sen­wer­den? (Wobei Zeitver­schiebung ja eigentlich eher die Frage aufwirft, ob man ohne dieses spezielle, d.h. “nor­male” Empfind­en der Zeit, das Beha­gen darin, über­haupt erwach­sen gewor­den ist — der Text verneint das eher und situ­iert seine Pro­tag­o­nistin ja mehr als deut­lich in einem Zwis­chen, einem Über­gangssta­di­um (klas­sisch: Pubertät), unab­hängig von ihrem Alter.

Ger­ade der Anfang ist dur­chaus char­mant erzählt, das muss man Schmidt attestieren, mit läs­siger und heit­er­er Ironie-Dis­tanz. Über­haupt ist die Sprache oft lakonisch, knapp und direkt mit Ten­denz zum Humor. Es gibt wenig Auss­chmück­ung, das hohe Tem­po des Geschehens nimmt der Text gut auf: Die Zeit ist ein­fach nie genug, vor allem — so behauptet die Erzäh­lerin immer wieder — lebt sie im Bewusst­sein, sie zu ver­schwen­den und hat per­ma­nent das Gefühl, die Zeit nicht genü­gend auszukosten, nicht aus­re­ichend zu nutzen, immer nicht das Digentliche (des Lebens) zu tun, son­dern nur einen Not­be­helf, eine Zwis­chen­lö­sung. Lei­der wird die Erzäh­lung und die Sprache zunehmend kon­ven­tioneller — sozusagen par­al­lel zum Leben, dem Lebensen­twurf der Erzäh­lerin. Und damit ver­liert der Text lei­der meines Eracht­ens etwas: Sich­er, das ist in Übere­in­stim­mung mit der geschilderten Entwick­lung. Aber es machte den Text für mich gegen Ende auch deut­lich lang­weiliger.

Ich ver­schwen­dete mehr und mehr Zeit damit zu fürcht­en, meine Zeit ern­sthaft zu ver­schwen­den. (105)

Gwe­naëlle Aubry: Nie­mand. Graz, Wien: Droschl 2013. 150 Seit­en. ISBN 978–3‑85420–843‑3.

aubry, niemand (cover)Nie­mand ist das Alpha­bet ein­er selt­samen, schwieri­gen Vater-Tochter-Beziehung, die durch Abwe­sen­heit­en wesentlich mitbes­timmt ist und von der Tochter nach dem Tod ihres Vaters erforscht und aufgeschrieben wird. Der wird uns als Melan­cho­lik­er gezeigt, der auch daran stirbt (naja, eigentlich dann doch am Herz­in­farkt), dessen Leben bes­timmt ist vom Wahnsinn der Melan­cholie (?) und der sich immer wieder tem­porär in sta­tionär­er Behand­lung befind­et, zugle­ich aber (!) hoch ange­se­hen­er Jura-Pro­fes­sor. Nie­mand nutzt für diesen nachträglichen Abschied den emo­tionalen, psy­chis­chen und lit­er­arischen Nach­lass des Vater, aus dessen Schriften (teil­weise auch fik­tion­al gedacht) wird immer wieder zitiert. Denn zugle­ich ist der Roman auch ein Ver­such des Erin­nerns, mehr noch: der Verge­gen­wär­ti­gung des Vaters durch die Auseinan­der­set­zung, Aufar­beitung (Dur­char­beitung) des Ver­hält­niss­es der Ich-Erzäh­lerin mit ihm und ein Ver­such, ihn — als Men­schen, als Per­son — zu ver­ste­hen. Schwierig ist das insofern, als er schon während dem Leben ver­schwindet, (oder das zumin­d­est als — in seinen Nieder­schriften offen­bartes — Ziel hat­te): eben ein Nie­mand wer­den, ein Mann ohne Eigen­schaften.

Die Erzäh­lerin ver­liert sich wun­der­bar in ihren eige­nen Sätzen, häuft immer mehr Details und Erin­nerun­gen an, türmt das auf, fügt immer neue Ergänzun­gen, Präzisierun­gen, Erweiterun­gen an. Die Sätze fan­gen oft ganz harm­los an und ufern dann maß­los aus. Aber das ist ja aber ger­ade der schöne und sym­pa­this­che Witz des Textes: die ungetüme, wilde, chao­tisch-frag­men­tarische Erin­nerung wird nur durch das Alpha­bet der Kapi­tel gezähmt — zumin­d­est schein­bar. Und let­ztlich bleibt der Ver­such der Ord­nung, ein kohärentes Ganzes dadurch zu schaf­fen (von Anfang bis Schluss in ein­er fest­ge­fügten Abfolge) auch verge­blich, eben nur ein Ver­such, der im Text ein­mal als „Ord­nung ohne Bedeu­tung“ klas­si­fiziert wird (147). Aber sie ist wohl doch mehr: Denn die Buch­staben ste­hen ja nicht alleine, son­dern wer­den in den Kapitelüber­schriften zum Wort (mit Aus­nahme des “Y”, wo die Ord­nung dann eben auch reflek­tiert wird …).

„Nun gehen die Buch­staben aus, diese Ord­nung ohne Bedeu­tung, mit deren Hil­fe ich ver­sucht habe, seine Unord­nung und meine in den Griff zu bekom­men, unsere Erin­nerun­gen zu glät­ten und stam­mel­nd dieses sehr alte Wis­sen zu buch­sta­bieren, zu dem ich nicht durchge­drun­gen bin, als ob diese Wörter und Sätze, die unter dem Impuls und der Notwendigkeit ein­er ander­ern Ord­nung, der seini­gen – ein­er Auf­forderung oder eines Ver­sprechens (einen Roman daraus machen) –, hingeschrieben wur­den, sogle­ich wieder in ihre ursprünglichen Bestandteile auseinan­der­fall­en wür­den […] (147)

Michael Fehr: Glanz und Schat­ten. Erzäh­lun­gen. Luzern: Der gesunde Men­schen­ver­sand 2017. 141 Seit­en. ISBN 9783038530398.

fehr, glanz und schatten (cover)Sime­liberg hat­te mich ziem­lich begeis­tert. Glanz und Schat­ten kann da lei­der nicht ganz mithal­ten. Vor allem die starke Konzen­tra­tion und die fremde Härte, jew­eils in Form und Sprache, von Sime­liberg fehlt mir hier. Ganz oft weiß ich spon­tan (und später) über­haupt nicht, was die Texte wollen und/oder sollen, die Fremd­heit ist und bleibt oft ziem­lich groß: Irgend­wie finde ich nicht zu dem Text. Dessen “The­ma” kön­nte man oft nen­nen: die kalte, erbar­mungslose Welt des (Spät-)Kapitalismus und des Kon­sums, die Zurich­tungs­maschi­nen und ‑mech­a­nis­men der („freien“) Gesellschaft, wie sie sich vor allem in der Fremdbes­tim­mung (statt Indi­vid­u­al­ität) äußern — aber der Fremdbes­tim­mung ein­er gesicht­slosen, anony­men Macht. Das spie­len die Texte mit dem Vor­führen von Rol­len­bildern und ‑klis­chees, v.a. denen der Geschlechter, durch. Gewalt spielt dabei immer wieder eine außeror­dentlich Rolle: als Ven­til, als Aus­bruch aus den unen­tkomm­baren Zwän­gen, als Umschla­gen der Energien. Nico Bleutge hat in sein­er Rezen­sion des Ban­des vorgeschla­gen, die Texte als zum Vor­trag bes­timmte zu lesen — vielle­icht ist das wirk­lich hil­fre­ich, denn “alleine”, als blanker Text, finde ich nur in eini­gen weni­gen (zum Beispiel dem inten­siv­en “Stu­dentin” oder “Mais”) genü­gend Fasz­i­na­tion bei der Lek­türe.

Felix Hart­laub: Don Juan d’Aus­tria und die Schlacht bei Lep­an­to. Her­aus­gegeben von Wol­fram Pyta und Wolf­gang M. Schwiedrzik. Neckargemünd, Wien: Edi­tion Mnemosyne 2017 (Gegen­Satz 8). 292 Seit­en. ISBN 9783934012301.

felix hartlaub, don juan d'austria (cover)
Eine geschichtswis­senschaftliche Dis­ser­ta­tion aus dem Jahr 1940 über ein Ereig­nis aus dem Jahr 1571 — lohnt die Lek­türe eines solchen Textes heute noch? Dur­chaus, kann man sagen, wenn der Ver­fass­er For­mat hat­te. Und das muss man Felix Hart­laub bescheini­gen. Deshalb ist Don Juan d’Aus­tria und die Schlacht bei Lep­an­to tat­säch­lich auch noch inter­es­sant, als his­torische Darstel­lung eines his­torischen Ereigniss­es. Inter­es­sant ist auch die Form: Hart­laub arbeit­et erzäh­lend, er bringt (fast) keine Zitate und nutzt auch ver­gle­ich­sweise wenige Quellen (und sowieso zur gedruck­te): Als geschichtswis­senschaftliche Qual­i­fika­tion­ss­chrift hätte das heute wohl keine Chance mehr. Auch als “Sach­buch” bin ich mir nicht ganz sich­er, ob sich die Lek­türe heute wirk­lich noch so unbe­d­ingt lohnt, wie die Her­aus­ge­ber beto­nen … Sich­er, die Stil­isierung des sowieso schon zur Welt­geschichte hochstil­isierten Ereigniss­es ist gekon­nt umge­set­zt. Aber viel mehr sehe ich da jet­zt nicht unbe­d­ingt …

Die let­zte Sin­nge­bung des Tages von Lep­an­to gewann wir auch so noch nicht. An die Seite solch­er Über­legun­gen muß wohl die Ahnung treten, daß der Tag von Lep­an­to zu den sel­te­nen Ereignis­sen gehört, die, wenn man es so aus­drück­en darf, auf ein­er höheren Ebene der Geschichte liegen und bei denen die Frage nach den tat­säch­lichen Fol­gen im let­zten nicht angemessen ist. Nur materiell betra­chtet, gehörte der Sieg freilich wohl zu den — im Ver­hält­nis zu dem Erfolge — allzu ver­schwen­derischen Blu­topfern, an denen vor allem auch die deutsche Geschichte so reich ist. In dieser Hin­sicht ist manche aus den unmit­tel­bar fol­gen­den Jahren erhal­tene Äußerung auf­schlußre­ich. Das ide­al Bild der Schlacht aber, die noch über­all, in den Galeeren im Hafen, in den Waf­fen und Nar­ben gegen­wär­tig war, löste sich rasch aus dem Gefüge men­schlich­er Pla­nun­gen; es war ganz in sich abgeschlossen, man kon­nte kein­er­lei Abwand­lun­gen und Fort­set­zun­gen ersin­nen. (237)

außer­dem gele­sen:

  • Axel Matthes: Georges Bataille nach Allem. Berlin: blauw­erke 2016 (split­ter 07). 66 Seit­en. ISBN 978–3‑945002–07‑0.
  • Gün­ter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biogra­phie. Über­ar­beit­ete und ver­mehrte Neu­fas­sung. Frank­furt: Fis­ch­er 2013. 350 Seit­en. ISBN 9783100096449.
  • Hans Jür­gen von der Wense: Das Nordlicht. Her­aus­gegeben von Vales­ka Bertonci­ni und Rein­er Niehoff. Mit einem Bei­wort von Vales­ka Bertonci­ni. Berlin: blauw­erke 2016 (split­ter 11). 58 Seit­en. ISBN 9783945002117.
  • Hans Jür­gen von der Wense: Das lose Werk. Mappe Nr. 01: Wolken. Berlin: blauew­erke 2016. ISBN 978–3‑945002–02‑5.
  • Ruth Klüger: Marie von Ebn­er-Eschen­bach. Anwältin der Unter­drück­ten. Wien: Man­del­baum 2016 (Autorin­nen feiern Autorin­nen). 56 Seit­en. ISBN 9783854765219.
  • Mar­lene Streeruwitz: Mar­lene Streeruwitz über Bertha von Sut­tner. Wien: Man­del­baum 2014 (Autorin­nen feiern Autorin­nen). 61 Seit­en. ISBN 9783854764564.

Radikalisierung

es ist an der zeit

sich zu radikalisieren
dafür muss ich aber erst ein­mal aufhören
die wollmäuse unter
dem bett
wegzufe­gen
[…] - Lüt­fiye Güzel, elle-rebelle (2017)

Selbst

Entschlage Dich des Bewußt­seyns, Dir selb­st zu gehören. Dann sey! Dann lebe! In aller Bedeu­tung! Fürchte nichts! Hoffe die Gegen­wart! Erwarte nichts! Dann find­est Du, daß Du Alles hast. Es zu erhal­ten, hast Du in dem Augen­blick schon gel­ernt. Bist Du nun, was Du bist, so find­et sich Dir was Du besitzen sollst. —Johann Wil­helm Rit­ter: Neun Briefe an Clemens Brentano aus dem Jahre 1802. Her­aus­gegeben & mit einem Nach­wort verse­hen von Rain­er Niehoff. Berlin: blauw­erke 2017 (split­ter 13), 9 (18–3‑1802)

Goethe erkennen

Wer möchte denn Goethe sein? So gnaden­re­ich es ist, ihn gewe­sen zu wis­sen, so peini­gend wäre es, er noch ein­mal sein zu müssen. Erken­nen heißt doch ger­ade, besitzen zu dür­fen, ohne es sein zu müssen. Hans Blu­men­berg: Leben­s­the­men. Aus dem Nach­laß, 151

Ichgefühl

O Nacht —:

[…]

O Nacht! Ich will ja nicht so viel,
ein kleines Stück Zusam­men­bal­lung,
ein Abend­nebel, eine Wal­lung
von Raumver­drang, von Ichge­fühl.

[…]

O Nacht! Ich mag dich kaum bemühn!
Ein kleines Stück nur, eine Spange
von Ichge­fühl — im Über­schwange
noch ein­mal vorm Vergäng­nis blühn!

[…]

O still! Ich spüre ein kleines Ram­meln:
Es sternt mich an — es ist kein Spott —:
Gesicht, ich: mich, ein­samen Gott,
sich groß um einen Don­ner sam­meln.
— Got­tfried Benn

frey, henrici (cover)

Das Fundament

“Ich baue beim Bau meines Haus­es ganz auf meine Hausautoren, sie sind das Fun­da­ment meines Ver­lags”, sagte Engel­er zu Henri­ci, als sie zusam­men in die Bau­grube blick­ten, wo einige Schrift­steller eben damit beschäftigt waren, mit ein­er Ner­ven­säge Wörter zu zer­legen. Die zu wirren Haufen aufgeschichteten Bausteine wur­den von den werk­müdi­ger­weise damit beauf­tragten Ana­gram­matik­ern so zusam­mengeschot­tert, dass
sie min­destens bis zum Richt­fest fast fest­ge­mauert in der Rede ste­hen wür­den. “Hausautoren sind zwar fundan1ental”, sagte Henri­ci, “aber ich bin beruhigt zu sehen, dass du nicht so sehr auf sie baust, dass du sie ein­mauerst.” Engel­er warf ihm einen etwas mis­strauis­chen Blick zu und meinte: “Unser ganz­er Fun­dus ist auss­chliesslich men­tal, allerd­ings mehr orna­men­tal als instru­men­tal, und weniger mon­u­men­tal als exper­i­men­tal. Deshalb kom­men wir auch ohne Zement aus. Die Wände mögen wie Papi­er ausse­hen, aber sie sind mit Bleis­tiften armiert. Das Haus ruht, wie du bemerkt haben wirst, auf fes­ten Grund­sätzen, denn wir wer­den jet­zt häus­lich, ganz ohne Feld‑, Wald- und Wiesen­poe­sie. Es begin­nt ein neuer Abschnitt.” “Man kön­nte fast sagen: ein Umbruch”, pflichtete ihm Henri­ci bei, “sog­ar noch bevor alles gestrichen ist.” —Hans-Jost Frey, Henri­ci, 11

bücherstapel

Aus-Lese #50

Ger­hard Falkn­er: Romeo oder Julia. München: Berlin 2017. 269 Seit­en. ISBN 978–3‑8270–1358‑3.

falkner, romeo oder julia (cover)Ich kann nicht sagen, dass ich von Romeo oder Julia wirk­lich begeis­tert gewe­sen wäre. Das liegt vor allem daran, dass ich nicht so recht kapiert habe, was der Text eigentlich (sein) möchte. Dabei hat er unbe­stre­it­bar aus­geze­ich­nete Momente und Seit­en, neben eini­gen Län­gen. Einige der aus­geze­ich­neten Momente find­en auf der Ebene der Sprache statt: Es gibt funkel­nde einzelne Sätze in einem Meer von stilis­tis­chem und gedanklichem Chaos. So habe ich mir das zunächst notiert — aber das stimmt so nicht ganz: chao­tisch (also real­is­tisch) erscheint der Text zunächst nur, er entwick­elt dann aber schon seine Form. Die zumin­d­est stel­len­weise hyper­tro­phe Stilis­tik in der Über­steigerung auf allen Ebe­nen ist dann auch tat­säch­lich lustig.

Uner­müdlich arbeit­eten hin­ter den Din­gen, an denen ich vor­beikam, die Grund­maschi­nen der Exis­tenz, die seit Jahrtausenden mit Men­schen­leben gefüt­tert wer­den, und die Stadt stützte ihre taube und orna­men­tale Masse auf dieses unterirdis­che Mag­ma von Lebens­gi­er, Kampf, Wille, Lust und Bewe­gung. 227

Was wird in Romeo oder Julia erzählt? Das ist eben die Frage. Irgend­wie geht es um einen Schrift­steller, Kurt Prinzhorn (über dessen lit­er­arische Werke nichts zu erfahren ist), der bei einem Hote­laufen­thalt in Inns­bruck von ein­er benutzten Bade­wanne und ver­schwun­de­nen Schlüs­seln etwas erschreckt wird. Rat­los bleibt er zurück und denkt immer wieder über die Rät­sel­haftigkeit des Geschehens nach, während das Autoren­leben mit Sta­tio­nen in Moskau und Madrid weit­erge­ht. Dort nähert sich dann auch die antik­li­mak­tis­che Auflö­sung, die in einem Nach­spiel in Berlin noch ein­mal aus­ge­bre­it­et wird: Der Erzäh­ler wird von ein­er sehr viel früheren kurzzeit­i­gen Fre­undin ver­fol­gt und bedro­ht, die dann beim Ver­such, zu ihm zu gelan­gen (um ihn zu töten), selb­st stirbt … Trotz des Plots, der nach Kri­mi oder Thriller klingt, bleibt Romeo oder Julia bei ein­er unbeschw­erten Rät­sel­haftigkeit, ein Spiel mit Span­nungse­le­menten, sex­is­tis­chem und völk­erpsy­chol­o­gis­chem Unsinn und anderen Pein­lichkeit­en. Immer­hin sind der knappe Umfang und die eher kurzen Kapi­tel (übri­gens genau 42 — wobei ich bei Falkn­er in diesem Fall keine Absicht unter­stelle) sehr leser­fre­undlich. Durch die zumin­d­est eingestreuten stilis­tis­chen Höhen­flüge war das für mich eine dur­chaus unter­halt­same Lek­türe, bei der ich keine Ahnung habe, was das eigentlich sein soll, was der Text eigentlich will. Wed­er die Kri­mi-Ele­mente noch die Poplit­er­aturkom­po­nente oder die mas­siv­en Inter­tex­tu­al­itätssig­nale (die ich nicht alle in vernün­ftige Beziehung zum Text bringe, aber sicher­lich habe ich auch eine Menge schlicht überse­hen) for­men sich bei mein­er Lek­türe zu einem Konzept: Ein schlüs­siges Sinnkon­strukt kann ich nicht so recht erken­nen, nicht lesen und lei­der auch nicht basteln.

Es war Son­ntagvor­mit­tag, und es gab kaum Leute auf der Straße. Straßen auf den Leuten gab es erst recht nicht. es gab auch keine Busse, die man sich auf der Zunge hätte zerge­hen lassen kön­nen, oder Friseure, die auf­grund ein­er ungestü­men Blümer­anz der Ohn­macht nahe gewe­sen wären. Auch nicht die Helden­fried­höfe, die in wilden und ausufer­n­den Vor­früh­lingsnächt­en von den Such­maschi­nen auf die Bild­schirme geza­ubert wer­den, um mit ihren schneeweißen und chris­tus­losen Kreuzen die Surfer in ihre leere Erde zu lock­en. Es gab nicht ein­mal die feuchte, warme Hand der katholis­chen Kirche oder das tröstliche Röcheln des Drachens, dem sein beliebtester Geg­n­er, der heilige Georg, ger­ade die eis­erne Lanze in den Rachen gestoßen hat. Es gab ein­fach wirk­lich nur das, was da war, was wir unmit­tel­bar vor Augen hat­ten, und die Tat­sache, dass ich in Kürze los­musste. 78

Ali­na Herb­ing: Nie­mand ist bei den Käl­bern. Zürich, Ham­burg: Arche 2017. 256 Seit­en. ISBN 9783716027622.

herbing, niemand ist bei den kälbern (cover)Das ist mal ein ziem­lich trost­los­es Buch über eine junge Bäuerin aus Alter­na­tivlosigkeit, die auch in den ange­blich so fes­ten Werten und sozialen Net­zen des Landlebens (der „Heimat“) keinen Halt find­et, keinen Sinn für ihr Leben. Stattdessen herrscht über­all Gewalt — gegen Dinge, Tiere und Men­schen. Ein­er­seits ist da also die Banal­ität des Landlebens, der Ödnis, der „Nor­mal­ität“, dem nicht-beson­deren, nicht-indi­vidu­ellen Leben. Ander­er­seits brodelt es darunter so stark, dass auch die Ober­fläche in Bewe­gung gerät und Risse bekommt. Natür­lich gibt es die Schön­heit des Lan­des, auch in der beschreiben­den Sprache (die freilich nicht so recht zur eigentlichen Erzählhal­tung passt und mit ihren angedeuteten pseu­do-umgangssprach­lichen Wen­dunge („nich“, “glaub ich”) auch viele schwache Seit­en hat und ner­ven kann). Aber genau­so natür­lich gibt es auch die Ver­let­zun­gen, die die Men­schen sich gegen­seit­ig und der “natür­lichen” Umwelt gle­icher­maßen zufü­gen.

Die Absicht von Nie­mand ist bei den Käl­bern ist schnell klar (schon mit dem Umschlag, son­st spätestens auf der ersten Seite, wenn das Rehkitz beim Mähen getötet wird): Heimat, v.a. aber das Landleben entza­ubern — denn es ist auch nur eine Rei­he von Banal­itäten und Ein­samkeit­en (auch & ger­ade zu zweit) und suche nach Liebe, Nähe, Emo­tio­nen. Die Natur bleibt von all dem unbeteiligt und eigentlich unberührt. Mich ner­ven aber so Haupt­fig­uren wie diese Christin, die — obwohl vielle­icht nicht direkt defätis­tisch — alles (!) ein­fach so hin­nehmen, ohne Gefühlsre­gung, ohne Gestal­tungswillen, ja fast ohne Willen über­haupt, denen alles nur passiert, die alles mit sich geschehen lassen. Dass da dann kein erfüll­ter Lebensen­twurf her­auskommt, ist abzuse­hen. Mir war das unter anderem deshalb zu ein­seit­ig, zu eindi­men­sion­al.

Manch­mal glaub ich, jedes Flugzeug, das ich sehe, existiert über­haupt nur, um mich daran zu erin­nern, dass ich ein­er der unbe­deu­tend­sten Men­schen der Welt bin. Wieso sollte ich son­st in diesem Moment auf einem halb abgemäht­en Feld ste­hen? Nicht mal in ein­er Nazi-Hochburg, nicht mal an der Ost­see oder auf der Seen­plat­te, nicht mal auf dem Todesstreifen, son­dern kurz davor, daneben, irgend­wo zwis­chen all­dem. Genau da, wo es eigentlich nichts gibt außer Gras und Lehm­bo­den und ein paar Plätze, die gut genug sind, um da Win­dräder hinzustellen. 11

Lau­rent Binet: Die siebte Sprach­funk­tion. Rein­bek: Rowohlt 2017. 524 Seit­en. ISBN 9783498006761.

laurent binet, die siebte sprachfunktion (cover)Das ist tat­säch­lich ein ziem­lich lustiger Roman über Roland Barthes, die post­mod­erne Philoso­phie, Sprach­wis­senschaft und Psy­cholo­gie in Frankre­ich, auch wenn der Text einige Län­gen hat. Vielle­icht ist das aber wirk­lich nur für Leser lustig, die sich zumin­d­est ein biss­chen in der Geschichte der franzö­sis­chen Post­mod­erne, ihrem Per­son­al und ihren Ideen (und deren Rezep­tion in den USA und Europa) ausken­nen. Und es ist auch ein etwas grotesker Humor, der so ziem­lich alle Geis­tesheroen des 20. Jahrhun­derts kör­per­lich und seel­isch beschädigt zurück­lässt.

Aus­gangspunkt der mehr als 500 Seit­en, die aber schnell gele­sen sind, ist der Tod des Struk­tu­ral­is­ten und Semi­otik­ers Roland Barthes, der im Feb­ru­ar 1980 bei einen Unfall über­fahren wurde. Für die Ermit­tlun­gen, die schnell ein­er­seits in das philosophisch geprägte Milieu der Post­mod­erne führen, ander­er­seits voller Absur­ditäten und grotesker Geschehnisse sind, verpflichtet der etwas hemd­särmelige Kom­mis­sar einen Dok­torand, der sich in diesem Gebi­et gut auszuken­nen scheint. Ihre Ermit­tlun­gen führt das Duo dann in fünf Sta­tio­nen von Paris über Bologna nach Ithaca/USA und zurück zu Umber­to Eco (der einzige, der einiger­maßen unversehrt davonkommt), wom­it die Reise, die Ermit­tlung und der Text das Net­zw­erk europäis­chen Denkens (mit seinen amerikanis­chen Satel­liten der Ostküste) in der zweit­en Hälfte des ver­gan­genen Jahrhun­derts nachze­ich­nen. Das ist so etwas wie ein Pop-Philoso­phie-Thriller, der für mich doch recht zügig seinen Reiz ver­lor, weil das als Roman­text eher banal und kon­ven­tionell bleibt. Inter­es­sant sind höch­stens die Metaebe­nen der Erzäh­lung (die es reich­lich gibt) und die Anachro­nis­men (die auch gerne und mit Absicht ver­wen­det wer­den), zumal die The­o­rie und ihr Per­son­al immer mehr aus dem Blick ger­at­en

Die im Titel ver­hießene siebte Sprach­funk­tion bleibt natür­lich Leer­stelle und wird nur in Andeu­tun­gen — als unwider­stehliche, poli­tisch nutzbare Überzeu­gungskraft der Rede — kon­turi­ert. Dafür gibt es genü­gend andere Sta­tio­nen, bei denen Binet sein Wis­sen der europäis­chen und amerikanis­chen Post­mod­erne großzügig aus­bre­it­en kann.

Während er rück­wärts­ge­ht, über­legt Simon: Angenom­men, er wäre wirk­lich eine Romangestalt (eine Annahme, die weit­ere Nahrung erhält durch das Set­ting, die Masken, die mächti­gen malerischen Gegen­stände: in einem Roman, der sich nicht zu gut dafür wäre, alle Klis­chees zu bedi­enen, denkt er), welch­er Gefahr wäre er im Ernst aus­ge­set­zt? Ein Roman ist kein Traum: In einem Roman kann man umkom­men. Hin­wiederum kommt nor­maler­weise die Haupt­fig­ur nicht ums Leben, außer vielle­icht gegen Ende der Hand­lung. / Aber wenn es das Ende der Hand­lung wäre, wie würde er das erfahren? Wie erfährt man, wann man auf der let­zten Seite angekom­men ist? / Und wenn er gar nicht die Haupt­fig­ur wäre? Hält sich nicht jed­er für den Helden sein­er eige­nen Exis­tenz? 420

Dieter Grimm: “Ich bin ein Fre­und der Ver­fas­sung”. Wis­senschafts­bi­ographis­ches Inter­view von Oliv­er Lep­sius, Chris­t­ian Wald­hoff(span> und Matthias Roßbach mit Dieter Grimm. Tübin­gen: Mohr Siebeck 2017. 325 Seit­en. ISBN 9783161554490.

grimm, freund der verfassung (cover)Ein feines, kleines Büch­lein. Mit “Inter­view” ist es viel zu pro­saisch umschrieben, denn ein­er­seits ist das ein vernün­ftiges Gespräch, ander­er­seits aber auch so etwas wie ein Auskun­fts­buch: Dieter Grimm gibt Auskun­ft über sich, sein Leben und sein Werk. Dabei lernt man auch als Nicht-Jurist eine Menge — zumin­d­est ging es mir so: Viel span­nen­des zur Entwick­lung von recht und Ver­fas­sung kon­nte ich hier lesen — span­nend vor allem durch das Inter­esse Grimms an Nach­bardiszi­plinen des Rechts, ins­beson­dere der Sozi­olo­gie. Deshalb tauchen dann auch ein paar nette Luh­mann-Anek­doten auf. Außer­dem gewin­nt man als Leser auch ein biss­chen Ein­blick in Ver­fahren, Organ­i­sa­tion und Beratung am Bun­desver­fas­sungs­gericht, an dem Grimm für 12 Jahre als Richter tätig war. Schön ist schon die nüchterne Schilderung der der nüchter­nen Wahl zum Richter — ein poli­tis­ch­er Auswahl­prozess, den Grimm für “erfreulich unpro­fes­sionell” (126) hält. Natür­lich gewin­nt das Buch nicht nur durch Grimms Ein­blick in grundle­gende Wesens­merk­male des Rechts und der Jurispru­denz, son­dern auch durch seine dur­chaus span­nende Biogra­phie mit ihren vie­len Sta­tio­nen — von Kas­sel über Frank­furt und Freiburg nach Paris und Har­vard wieder zurück nach Frank­furt und Biele­feld, dann natür­lich Karl­sruhe und zum Schluss noch Berlin — also qua­si die gesamte Geschichte der Bun­desre­pub­lik Deutsch­land — Grimm ist 1937 geboren — in einem Leben kon­den­siert.

Das Buch hat immer­hin auch seine Selt­samkeit­en — in einem solchen Text in zwei Stich­wörtern in der Fußnote zu erk­lären, wer Kon­rad Ade­nauer war, hat schon seine komis­che Seite. Bei so manch anderem Namen war ich aber froh über zumin­d­est die grobe Aufk­lärung, um wen es sich han­delt. Die andere Selt­samkeit bet­rifft den Satz. Dabei hat jemand näm­lich geschlampt, es kom­men immer wieder Pas­sagen vor, die ein Schrift­grad klein­er geset­zt wur­den, ohne dass das inhaltlich motiviert zu sein scheint — offen­sichtlich ein unschön­er Fehler, der bei einem renom­mierten und tra­di­tion­sre­ichen Ver­lag wie Mohr Siebeck ziem­lich pein­lich ist.

Adorno ver­stand ich nicht. Streck­en­weise unter­hielt ich mich ein­fach damit zu prüfen, ober er seine Schach­tel­sätze kor­rekt zu Ende brachte. Er tat es. 41

Con­stan­ti­jn Huy­gens: Euphra­sia. Augen­trost. Über­setzt und her­aus­ge­ge­ben von Ard Post­hu­ma. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2016. [ohne Sei­ten­zäh­lung]. ISBN 9783942901222.

Zu diesem schö­nen, wenn auch recht kurzen Vergnü­gen habe ich vor einiger Zeit schon etwas geson­dert geschrieben: klick.

außer­dem gele­sen:

  • Dirk von Peters­dorff: In der Bar zum Krokodil. Lieder und Songs als Gedichte. Göt­tin­gen: Wall­stein 2017 (Kleine Schriften zur lit­er­arischen Ästhetik und Hermeneu­tik, 9). 113 Seit­en. ISBN 978–3‑8353–3022‑1.
  • Hans-Rudolf Vaget: “Wehvolles Erbe”. Richard Wag­n­er in Deutsch­land. Hitler, Knap­perts­busch, Mann. Frank­furt am Main: Fis­ch­er 2017. 560 Seit­en. ISBN 9783103972443.

Denken

Am schwierig­sten ist es, beim Denken nicht immer nur die eige­nen Gedanken zu denken. Ger­hard Falkn­er, Romeo oder Julia, 137

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