Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Kategorie: literatur Seite 3 von 38

Aus-Lese #53

Jür­gen Becker: Die fol­gen­den Sei­ten. Jour­nal­ge­schich­ten. Frank­furt am Main: Suhr­kamp 2006. 156 Sei­ten. ISBN 978−3−518−41820−8.

becker, seiten (cover)Schon der Unter­ti­tel zeigt die Ambi­va­lenz des Buches: Ist das ein Jour­nal oder sind es Geschich­ten? Man muss das wohl wirk­lich zusam­men­den­ken: Das ist kein Tage­buch, also schon Fik­ti­on. Aber es simu­liert das täg­li­che Schrei­ben: Der Erzäh­ler nimmt sich ein Notiz­buch mit 200 Sei­ten vor und beschreibt jeden Tag eine Sei­te mehr oder weni­ger voll. Viel­leicht hat Becker das auch so gemacht – aber das ist ja auch egal. Scha­de ist nur, dass der Ver­lag die Idee, die 200 Sei­ten eines Jour­na­le fik­tio­nal zu beschrei­ben (des Erzäh­lers), nicht im rea­len Buch abbil­den woll­te – das wäre doch eine schö­ne Per­for­manz des Tex­tes gewe­sen, der sein Orga­ni­sa­ti­ons­prin­zip ja immer­hin selbst erläu­tert. Dafür sind die Jour­nal­ge­schich­ten aber immer­hin ohne Sei­ten­zah­len gedruckt. 

Man erlebt, seufzt der Mensch, das Wet­ter gar nicht mehr, wie es kommt, wie es ist, wie es geht. Man erlebt nur noch, wie es eine Pro­phe­zei­ung erfüllt. (150)

Der Text ist eine Mischung aus grund­sätz­li­chen Refle­xio­nen, leicht und fast neben­bei, als Zufall und Fund­stü­cke etc prä­sen­tiert, mit den Erin­ne­run­gen und viel­fäl­ti­gen Erin­ne­rungs­an­läs­sen eines alt(ernd)en Man­nes, die immer wie­der vom Ein­bruch der „Rea­li­tät“ der Schreib­ge­gen­wart, zum Bei­spiel den wie­der­holt auf­tau­chen­den „Gäs­ten“, unter­bro­chen wer­den. Vie­les sind „net­te“, freund­li­che, zuge­wand­te Tage­buch­skiz­zen mit viel unter­ge­misch­ter (per­sön­li­cher) „Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung“, auch viel Hit­ler & Co. Das ist dann – nicht nur hin und wie­der – schon etwas sen­ti­men­tal, aber dank der Wort­kunst Beckers noch aus­zu­hal­ten. Den­noch ist mir das ins­ge­samt etwas zu belang­los, das plät­schert zu ziel­los vor sich hin. Die sym­pa­thi­sche kurze/​kleine Form wird für mei­nen Geschmack nicht aus­rei­chend für die poe­ti­sche Ver­dich­tung genutzt, des­halb wirkt vie­les doch etwas blass und bleibt ohne tie­fe­re Wir­kung für mich.

In die­sem Jahr könn­te es soweit sein. Im ver­gan­ge­nen Jahr hät­te es auch soweit sein kön­nen, eben­so im Jahr davor, oder vor zwei, drei, vor zehn Jah­ren schon. Viel­leicht ist es erst im nächs­ten Jahr soweit, oder im über­nächs­ten; dabei müs­sen es nicht ein­mal Jah­re, es kön­nen auch kür­ze­re Fris­ten sein, Wochen, Tage, Stun­den, wer weiß. Ganz sicher ist, irgend­wann ist es soweit, ob plötz­lich, oder ob es sich hin­zieht. (16)

Giu­lia Becker: Das Leben ist eines der Här­tes­ten. Ham­burg: Rowohlt 2019. 224 Sei­ten. ISBN 978−3−498−00689−1.
giulia becker, das leben ist eines der härtesten (cover)
Giu­lia Beckers ers­ter Roman mit dem schö­nen Titel Das Leben ist eines der Här­tes­ten fällt hier wahr­schein­lich etwas aus dem Rah­men. Denn das ist, auch wenn es im Lite­ra­tur­ver­lag Rowohlt erschie­nen ist, kei­ne Kunst, son­dern Unter­hal­tung. Und auch noch recht der­be Unter­hal­tung dazu. Die kur­ze, epi­so­den­haft erzähl­te Geschich­te um eini­ge Ver­lie­rer­ty­pen aus Bor­ken ist aber immer­hin durch­aus komisch oder, um das gleich etwas ein­zu­schrän­ken, hat zumin­dest vie­le komi­sche Momen­te in der Über­trei­bung und Zuspit­zung der Cha­rak­te­re (die eher ziem­lich fla­che Typen sind).
Aber, und das ist halt ein gro­ßes Aber: Lite­ra­risch taugt das nicht, weder for­mal noch sti­lis­tisch trägt das irgend­wie. Ästhe­tisch ist das belang­los (so wie der Inhalt der Geschich­te ja auch eigent­lich eher belang­los bleibt). Das funk­tio­niert als net­te – und recht fla­che – Unter­hal­tung, als eine unkom­pli­zier­te, anspruchs­lo­se Lek­tü­re für zwi­schen­durch, mit dem einen oder ande­ren Lacher. Die Süd­deut­sche hat das in ihrer Rezen­si­on als „Pri­vat­fern­seh­li­te­ra­tur“ bezeich­net (behaup­tet der Per­len­tau­cher) – und das trifft es ziem­lich genau: Mit und vor allem über die ver­murks­ten Leben der ande­ren lachen, sich selbst dabei woh­lig über­heb­lich und sicher füh­len – viel mehr will und kann die­ser Text nicht.
Sin­clair Lewis: Bab­bitt. Über­setzt von Bern­hard Rob­ben. Mit einem Nach­wort von Micha­el Köhl­mei­er. Mün­chen: Manes­se 2017. 784 Sei­ten. ISBN 978−3−641−211476−0.
lewis, babbitt (cover)
Bona­ven­tura hat mich dar­auf gebracht, doch mal wie­der außer­halb des deutsch­spra­chi­gen Bereichs zu lesen. In der Tat war mir Sin­clair Lewis bis­her gera­de so dem Namen nach bekannt, gele­sen hat­te ich noch nichts. Das hat sich nun geän­dert: Bab­bitt ist eine durch­aus ver­gnüg­li­che Lek­tü­re. Von den über 700 Sei­ten soll­te man sich nicht abschre­cken las­sen. Ers­tens sind das Sei­ten im klei­nen Manes­se-Ver­lag, wo die Neu­über­set­zung von Bern­hard Rob­ben (mit eini­gen weni­gen Stel­len, die mir selt­sam schie­nen, ohne sie am Ori­gi­nal geprüft zu haben) 2017 erschie­nen ist. Zwei­tens lässt sich das, zumin­dest in der Über­set­zung, recht flott lesen. Bab­bitt ist, da wür­de ich Micha­el Köhl­mei­ers selt­sa­men Nach­wort doch wider­spre­chen, eine Sati­re. Eine Sati­re auf den ame­ri­ka­ni­schen Mit­tel­stand kurz nach dem Ers­ten Welt­krieg. Der namens­ge­ben­de Titel­held, Geor­ge F. Bab­bitt, ist Immo­bi­li­en­mak­ler und vor allem ein Ange­ber und Schwät­zer vor dem Her­ren. Der Roman bestä­tigt schön mei­ne Vor­ur­tei­le über die ober­fläch­li­che, kapi­ta­lis­ti­sche, patri­ar­cha­li­sche und weit­ge­hend un- bzw. amo­ra­li­sche Gesell­schaft der USA im 20. Jahr­hun­dert (ja, ich weiß, böse Vor­ur­tei­le – und nicht, dass es in Euro­pa bes­ser wäre …). Lewis macht das aber auf eine sehr amü­san­te Wei­se und erzählt Bab­bitt vor allem als einen imper­fek­ten Men­schen, der nach mehr – dem Sinn des Lebens, der Erfül­lung, irgend­was neben dem erwar­te­ten und vor­ge­zeich­ne­ten Leben eines ame­ri­ka­ni­schen Geschäfts­man­nes eben – sucht, ohne selbst zu wis­sen, das er auf der Suche ist und schon gar nicht, wonach ihm eigent­lich dürs­tet und gelüs­tet (jen­seits des Alko­hols natür­lich …). Bab­bitt fängt sehr dicht am Prot­ago­nis­ten an, folgt ihm sozu­sa­gen zunächst auf Schritt und Tritt, in fei­ner Detail­auf­lö­sung. Zuneh­mend löst sich das, die Hand­lung springt, beschleu­nigt und bremst wie­der, was mir doch hin und wie­der den Ein­druck eines for­ma­len Ungleich­ge­wichts erweck­te: Nach der äußerst detail­lier­ten und aus­führ­li­chen Expo­si­ti­on scheint sich die Fabel gera­de im letz­ten Vier­tel immer mehr zu beschleu­ni­gen und weni­ger genau erzählt zu wer­den. Das funk­tio­niert natür­lich trotz­dem, gera­de durch und wegen des hyper­de­tail­lier­ten Beginns. Dabei wird die Gesell­schaft der fik­ti­ven Groß­stadt Zenith, in der Bab­bitt spielt, aber immer deut­li­cher als eine restrik­ti­ve und stra­ti­fi­zier­te erkenn­bar, in der gera­de nichts­nut­zi­ge Schwät­zer wie Bab­bitt durch ihre Ver­bin­dung mit ande­ren ihres­glei­chen (in den Clubs und Ver­ei­ni­gun­gen) die Macht und vor allem das wirt­schaft­li­che Gesche­hen, unge­ach­te­tet ihrer im Roman ziem­lich deut­lich zuta­ge tre­ten­den Inkom­pe­tenz und Amo­ra­li­tät, fest in der Hand haben und behalten.
Danie­la Kri­en: Die Lie­be im Ernst­fall. Frank­furt am Main: Bücher­gil­de Guten­berg 2019. 288 Sei­ten. ISBN 978−3−85420−978−2.
daniela krien, liebe im ernstfall (cover)
Ich weiß ja wie­der ein­mal nicht so recht: Von der Kri­tik recht ein­hel­lig sehr posi­tiv bewer­tet und bespro­chen, fin­de ich das Buch dann doch eher belang­los. Ja, die fünf Lebens­läu­fe der Frau­en, die lose mit­ein­an­der ver­knüpft die­sen Roman bzw. des­sen fünf Abschnit­te bil­den, sind inter­es­sant zu ver­fol­gen (auch gera­de als männ­li­cher Leser wahr­schein­lich). Aber das bleibt im Erzäh­len wie­der so schreck­lich banal und gewöhn­lich. Viel­leicht sind sol­che Bücher, gera­de in ihrer Stil­lo­sig­keit (oder zumin­dest in ihrem neu­tra­len, unauf­fäl­li­gen Stil) not­wen­dig – aber packen oder gar begeis­tern kann mich das nicht. 

Das mag auch dar­an lie­gen, dass mir das arg pes­si­mis­tisch grun­diert zu sein scheint: Ände­run­gen, Ent­wick­lun­gen der Prot­ago­nis­tin­nen zum Bei­spiel, schei­nen hier kaum bis gar nicht mög­lich. Ansät­ze dazu gibt es, die wer­den aber ger­ne und immer wie­der von der Außen­welt, von den ande­ren, von Män­nern und Kin­dern und ande­ren Ver­wand­ten vor allem, ver­nich­tet und zerschmettert. 

Sie weiß mehr als damals, doch was nützt es ihr? (125)

Inter­es­sant übri­gens, das nur am Ran­de, dass alle Frau­en auf­fäl­lig viel Musik – und zwar in ers­ter Linie klas­si­sche Musik – hören. Das wäre wahr­schein­lich einen genaue­ren Blick wert. Beim ers­ten Lesen scheint mir das aber, gera­de im Zusam­men­hang mit den erzähl­ten Lebens­läu­fen und deren Pro­ble­men, nicht beson­ders ergie­big. Auf­ge­fal­len ist es mir vor allem, weil es mir zumin­dest zu einem Teil der Figu­ren nicht so recht zu pas­sen scheint. Aber typisch für Die Lie­be im Ernst­fall ist, dass auch dies – wie nahe­zu alle äuße­re Hand­lung (abseits von der Gefühls­in­nen­welt der Prot­ago­nis­tin­nen) nur Neben­sa­che ist, nur so anbei geschieht. „Sät­ze ohne Span­nung, ohne Klang, ohne Zau­ber“ beschreibt eine der Prot­ago­nis­tin­nen, die als Schrift­stel­le­rin arbei­tet oder zu arbei­ten ver­sucht, wenn die Kin­der ihr Zeit und Ener­gie las­sen, ein­mal ihre Tages­pro­duk­ti­on (125). Und das trifft auch Die Lie­be im Ernst­fall ziem­lich genau.

außer­dem gelesen:

  • Moritz Föll­mer: „Ein Leben wie im Traum“. Kul­tur im Drit­ten Reich. Mün­chen Beck 2016. 288 Sei­ten. ISBN 978−3−406−67905−6.
  • Jan Phil­ipp Reemts­ma: Gewalt als Lebens­form. Zwei Reden. Stutt­gart: Reclam 2016. 64 Sei­ten. ISBN 9783150193822.
  • Heinz Gärt­ner: Der Kal­te Krieg. Bünd­nis­se – Kri­sen – Kon­flik­te. Wies­ba­den: marix 2017. 254 Sei­ten. ISBN 9783737410335.
  • Hans Eisen­trä­ger: Der Mann sei­ner Frau. Novel­le. Hrsg. von Niko­la Roß­bach. Han­no­ver: Wehr­hahn 2018. 68 Sei­ten. ISBN 978−3−86525−641−6.

Epirrhema

Müs­set im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten;
Nichts ist drin­nen, nichts ist draußen:
Denn was innen ist das ist außen.
So ergrei­fet ohne Säumnis
Hei­lig öffent­lich Geheimnis

Freu­et euch des wah­ren Scheins,
Euch des erns­ten Spieles:
Kein Leben­di­ges ist ein Eins,
Immer ist’s ein Vie­les.Johann Wolf­gang von Goe­the, Epir­r­he­ma (aus: Samm­lung von 1827, Abschnitt „Gott und Welt“)

Bücherreihe

Aus-Lese #52

Ich pro­bie­re mal wie­der etwas Neu­es … Da ich mei­ne Mel­dun­gen „Aus-Lese“ mit einer kur­zen sub­jek­ti­ven Skiz­ze der jewei­li­gen Lek­tü­re und mei­nes Ein­dru­ckes dazu ver­se­hen habe, bedeu­tet das einen (zwar klei­nen) gewis­sen Auf­wand, der mich in der letz­ten Zeit weit­ge­hend davon abge­hal­ten hat, die Serie fort­zu­füh­ren. Also gibt es jetzt einen neu­en Ver­such im deut­lich redu­zier­ten Format …

Hei­mi­to von Dode­rer: Unter schwar­zen Ster­nen. Erzäh­lun­gen. Mün­chen: Deut­scher Taschen­buch-Ver­lag 1973. 153 Sei­ten. ISBN 978−3−423−00889−1.

Der schma­le Band mit Erzäh­lun­gen – über­wie­gend aus den 1950er und 1960er Jah­ren – hat es nicht geschafft, mei­ne respekt­vol­le Distanz zu Dode­rer zu ver­rin­gern. Ich erken­ne (und schät­ze) die Kunst­fer­tig­keit und das Stil­be­wusst­sein des Autors, aber davon abge­se­hen blei­ben mir die Tex­te (das ging mir mit sei­nen Roma­nen ähn­lich) eher fremd.

Wolf­gang Schul­ler: Cice­ro. Dit­zin­gen: Reclam 2018 (Reclam 100 Sei­ten). 101 Sei­ten. ISBN 978−3−15−020435−1.

Eine net­te kur­ze Fei­er­abend­lek­tü­re, die den Men­schen Mar­cus Tul­li­us Cice­ro flott, unter­halt­sam, auch poin­tiert por­trä­tiert. Dabei klingt das gro­ße (selbst­ver­ständ­li­che) Fach­wis­sen der römi­schen Geschich­te immer mit. Mir fehlt aller­dings etwas die genaue­re und aus­führ­li­che­re Beschäf­ti­gung mit den Inhal­ten von Cice­ros Wer­ken. Der Band bleibt (absicht­lich) weit­ge­hend (nicht nur, aber doch über­wie­gend) am Äuße­ren von Cice­ros Leben. – Natür­lich wäre das auch viel ver­langt, bei­des auf 100 Sei­ten zufrie­den­stel­lend zu erle­di­gen, das ist mir durch­aus bewusst. Für mei­nen Geschmack hät­te eine zumin­dest teil­wei­se Ver­schie­bung des Fokus aber den­noch gut getan. 

Ger­hard Pop­pen­berg: Herbst der Theo­rie. Erin­ne­run­gen an die alte Gelehr­ten­re­pu­blik Deutsch­land. Ber­lin: Matthes & Seitz 2018 (Fröh­li­che Wis­sen­schaft 111). 239 Sei­ten. ISBN 978−3−95757−386−5.

Ein fas­zi­nie­ren­der Text. Ich könn­te aber nur schwer genau sagen, was das eigent­lich ist – und wor­auf der Text hin­aus will. Auf der Suche nach so etwas wie einer geis­ti­gen Signa­tur der BRD liest Pop­pen­berg Autoren und ihre Rück­bli­cke auf die letz­ten Jahr­zehn­te. So kom­men Phil­ipp Felsch, Frank Wit­zel, Ulrich Raulff und Fried­rich Kitt­ler gemein­sam in den Blick, wer­den genau (!) gele­sen und mit durch­aus sujek­ti­ve gefärb­ten Dar­stel­lun­gen und Erin­ne­run­gen kom­bi­niert. Das klingt jetzt viel selt­sa­mer als es im Text ist. Der ist näm­lich durch­aus fas­zi­nie­rend und gelehrt – eine über­aus anre­gen­de Mischung und auch eine anre­gen­de Lektüre.

Valen­tin Sen­ger: Kai­ser­hof­stra­ße 12. 4. Auf­la­ge der Neu­aus­ga­be. Frank­furt am Main: Schöff­ling 2012. 316 Sei­ten. ISBN 978−3−89561−485−9.

senger, kaiserhofstraße 12 (cover)Roman oder auto­bio­gra­phi­sche Erzäh­lung – eigent­lich ist das ja egal. Was es auf jeden Fall ist: Eine – ange­sichts des Sujets – erstaun­lich leich­te und leicht­fü­ßi­ge Erzäh­lung der jüdi­schen Fami­lie Sen­ger vor und wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Das ein­zig­ar­ti­ge dar­an ist, das merkt der Erzäh­ler auch selbst, wie wun­der­voll das gelingt: Ein Wun­der ist das Über­le­ben, ein Wun­der ohne Stau­nen. Natür­lich gibt es, ganz klas­sisch, Schwie­rig­kei­ten zu über­win­den. Aber um Ende siegt doch die Leich­tig­keit, das Leben, die fast unver­schäm­te Unver­nunft und Unbe­sorgt­heit des Erzäh­lers und sei­ner Fami­lie. Das gan­ze ist sehr direkt, unmit­tel­bar erzählt – ein Text, dem man sich kaum ent­zie­hen kann (und es ja eigent­lich auch nicht möch­te). Die meis­ten­teils knap­pen Kapi­tel, fast Erin­ne­rungs­bruch­stü­cke (vor allem im ers­ten Teil, der frü­hen Kind­heit des Erzäh­lers) machen dne Text auch gut zugäng­lich und kon­su­mier­bar – sicher­lich auch ein Fak­tor, der zum Erfolg des Buches, das seit 1978 in meh­re­ren Auf­la­gen und Aus­ga­ben (und Ver­la­gen) erschie­nen ist.

Nor­bert Frei/​Christian Morina/​Franka Maubach/​Maik Tänd­ler: Zur rech­ten Zeit. Wider die Rück­kehr des Natio­na­lis­mus. Ber­lin: Ull­stein 2019. 224 Sei­ten. ISBN 978−3−550−20015−1.

frei et al., zur rechten zeit (cover)Der Titel kün­digt eigent­lich eher eine Streit­schrift an: „Wider die Rück­kehr des Natio­na­lis­mus“. Das kann der Band aber kaum ein­lö­sen. Was er aber kann, und das durch­aus recht gut und über­zeu­gend: Hin­ter­grün­de für Ent­wick­lun­gen geben. Die Autor*innen bie­ten näm­lich eine Rück­schau auf die deut­sche Geschich­te seit 1945, in West und Ost, mit dem Fokus auf die diver­sen rech­ten, natio­na­lis­ti­schen Strö­mun­gen, Dis­kus­sio­nen und Par­tei­en, von der Ent­na­zi­fi­zie­rung bis in die unge­fäh­re Gegen­wart. Das ist als Ein­ord­nung und Argu­men­ta­ti­ons­hil­fe gut gemacht und gut zu nut­zen. Die gesamt­deut­sche Per­spek­ti­ve ist dabei durch­aus hilf­reich – unsi­cher bin ich aller­dings, ob Bücher wie die­se ihr Ziel wirk­lich errei­chen können …

bücher (von oben & hinten)

Aus-Lese #51

Almut Tina Schmidt: Zeit­ver­schie­bung. Graz, Wien: Dro­schl 2016. 189 Sei­ten. ISBN 978−3−85420−978−2.

schmidt, zeitverschiebung (cover)Eigent­lich ist Schmidts Zeit­ver­schie­bung eine Geschich­te des erwei­ter­ten Erwach­sen­wer­dens: Das Ende des Stu­di­ums, die ers­ten Jobs, sich ver­fes­ti­gen­de Bezie­hun­gen, die Lie­be und dann das Kind, ein neu­er Job, Zusam­men­zie­hen mit dem Part­ner und ein Hap­py End – das ist das Gerüst des Romans. Aber das ist auch der weni­ger inter­es­san­te Teil des Romans. Schnell wird aber klar – der Titel ist in die­ser Hin­sicht ja über­deut­lich … -, dass etwas ande­res das eigent­li­che The­ma ist: Die Zeit, genau­er viel­leicht: ihre Wahr­neh­mung, oder die wahr­ge­nom­me­ne Posi­tio­nie­rung der Ich-Erzäh­le­rin in ihrem strö­men­den Fließen. 

Zeit ist ohne­hin eine Illu­si­on. (140)

Das Erle­ben und vor allem das Erzäh­len der Zeit ver­bin­det sich mit ähn­lich abs­trak­ten Kon­zep­ten wie For­tu­na oder Zufall.
Denn die Ver­spä­tung – um die Zeit­ver­schie­bung etwas bana­ler zu ver­pas­sen – ist das zen­tra­le Moment des Tex­te. Die chro­no­lo­gi­sche Ver­spä­tung ist das eine, aber Ver­spä­tung ist eben auch ein Lebens­ge­fühl (oder genau­er: das Lebens­ge­fühl einer Pha­se des Lebens): Das über­mäch­ti­ge Gefühl des Ver­pas­sens, des „zwi­schen“, „noch nicht“, und des immer schon zu spät sein, des Ein­drucks, immer schon den Anfang ver­passt zu haben … Aber selbst das hap­py end schlägt sich doch auch noch auf das Zeit(empfinden) – hier des eige­nen, klei­nen Kin­des – nie­der: „Und nimmt sich alle Zeit der Welt.“ (189) ist der Schluss­satz, der schön zum Anfangs­satz passt: „Ich war ohne­hin zu spät, konn­te mir also Zeit las­sen.“ (5)

Das The­ma der Zeit­ver­schie­bung ist damit auf indi­vi­du­el­ler Ebe­ne sozu­sa­gen erle­digt. Aber es wird eben deut­lich (wie so oft in die­sem Roman: über­deut­lich), dass es in der nächs­ten Gene­ra­ti­on (wieder/​noch) ein The­ma sein kann. Aller­dings, da schließt sich der Kreis nicht ganz: Noch ist das ein Kind, das „alle Zeit der Welt“ hat. Viel­leicht gelingt ihm/​ihr (?) ja das Erwach­sen­wer­den der Zeit(empfindung) gemäß den gesell­schaft­li­chen Konventionen/​Erwartungen par­al­lel zum rest­li­chen Erwach­sen­wer­den? (Wobei Zeit­ver­schie­bung ja eigent­lich eher die Fra­ge auf­wirft, ob man ohne die­ses spe­zi­el­le, d.h. „nor­ma­le“ Emp­fin­den der Zeit, das Beha­gen dar­in, über­haupt erwach­sen gewor­den ist – der Text ver­neint das eher und situ­iert sei­ne Prot­ago­nis­tin ja mehr als deut­lich in einem Zwi­schen, einem Über­gangs­sta­di­um (klas­sisch: Puber­tät), unab­hän­gig von ihrem Alter. 

Gera­de der Anfang ist durch­aus char­mant erzählt, das muss man Schmidt attes­tie­ren, mit läs­si­ger und hei­te­rer Iro­nie-Distanz. Über­haupt ist die Spra­che oft lako­nisch, knapp und direkt mit Ten­denz zum Humor. Es gibt wenig Aus­schmü­ckung, das hohe Tem­po des Gesche­hens nimmt der Text gut auf: Die Zeit ist ein­fach nie genug, vor allem – so behaup­tet die Erzäh­le­rin immer wie­der – lebt sie im Bewusst­sein, sie zu ver­schwen­den und hat per­ma­nent das Gefühl, die Zeit nicht genü­gend aus­zu­kos­ten, nicht aus­rei­chend zu nut­zen, immer nicht das Digent­li­che (des Lebens) zu tun, son­dern nur einen Not­be­helf, eine Zwi­schen­lö­sung. Lei­der wird die Erzäh­lung und die Spra­che zuneh­mend kon­ven­tio­nel­ler – sozu­sa­gen par­al­lel zum Leben, dem Lebens­ent­wurf der Erzäh­le­rin. Und damit ver­liert der Text lei­der mei­nes Erach­tens etwas: Sicher, das ist in Über­ein­stim­mung mit der geschil­der­ten Ent­wick­lung. Aber es mach­te den Text für mich gegen Ende auch deut­lich langweiliger.

Ich ver­schwen­de­te mehr und mehr Zeit damit zu fürch­ten, mei­ne Zeit ernst­haft zu ver­schwen­den. (105)

Gwen­aël­le Aubry: Nie­mand. Graz, Wien: Dro­schl 2013. 150 Sei­ten. ISBN 978−3−85420−843−3.

aubry, niemand (cover)Nie­mand ist das Alpha­bet einer selt­sa­men, schwie­ri­gen Vater-Toch­ter-Bezie­hung, die durch Abwe­sen­hei­ten wesent­lich mit­be­stimmt ist und von der Toch­ter nach dem Tod ihres Vaters erforscht und auf­ge­schrie­ben wird. Der wird uns als Melan­cho­li­ker gezeigt, der auch dar­an stirbt (naja, eigent­lich dann doch am Herz­in­farkt), des­sen Leben bestimmt ist vom Wahn­sinn der Melan­cho­lie (?) und der sich immer wie­der tem­po­rär in sta­tio­nä­rer Behand­lung befin­det, zugleich aber (!) hoch ange­se­he­ner Jura-Pro­fes­sor. Nie­mand nutzt für die­sen nach­träg­li­chen Abschied den emo­tio­na­len, psy­chi­schen und lite­ra­ri­schen Nach­lass des Vater, aus des­sen Schrif­ten (teil­wei­se auch fik­tio­nal gedacht) wird immer wie­der zitiert. Denn zugleich ist der Roman auch ein Ver­such des Erin­nerns, mehr noch: der Ver­ge­gen­wär­ti­gung des Vaters durch die Aus­ein­an­der­set­zung, Auf­ar­bei­tung (Durch­ar­bei­tung) des Ver­hält­nis­ses der Ich-Erzäh­le­rin mit ihm und ein Ver­such, ihn – als Men­schen, als Per­son – zu ver­ste­hen. Schwie­rig ist das inso­fern, als er schon wäh­rend dem Leben ver­schwin­det, (oder das zumin­dest als – in sei­nen Nie­der­schrif­ten offen­bar­tes – Ziel hat­te): eben ein Nie­mand wer­den, ein Mann ohne Eigenschaften. 

Die Erzäh­le­rin ver­liert sich wun­der­bar in ihren eige­nen Sät­zen, häuft immer mehr Details und Erin­ne­run­gen an, türmt das auf, fügt immer neue Ergän­zun­gen, Prä­zi­sie­run­gen, Erwei­te­run­gen an. Die Sät­ze fan­gen oft ganz harm­los an und ufern dann maß­los aus. Aber das ist ja aber gera­de der schö­ne und sym­pa­thi­sche Witz des Tex­tes: die unge­tü­me, wil­de, chao­tisch-frag­men­ta­ri­sche Erin­ne­rung wird nur durch das Alpha­bet der Kapi­tel gezähmt – zumin­dest schein­bar. Und letzt­lich bleibt der Ver­such der Ord­nung, ein kohä­ren­tes Gan­zes dadurch zu schaf­fen (von Anfang bis Schluss in einer fest­ge­füg­ten Abfol­ge) auch ver­geb­lich, eben nur ein Ver­such, der im Text ein­mal als „Ord­nung ohne Bedeu­tung“ klas­si­fi­ziert wird (147). Aber sie ist wohl doch mehr: Denn die Buch­sta­ben ste­hen ja nicht allei­ne, son­dern wer­den in den Kapi­tel­über­schrif­ten zum Wort (mit Aus­nah­me des „Y“, wo die Ord­nung dann eben auch reflek­tiert wird …).

„Nun gehen die Buch­sta­ben aus, die­se Ord­nung ohne Bedeu­tung, mit deren Hil­fe ich ver­sucht habe, sei­ne Unord­nung und mei­ne in den Griff zu bekom­men, unse­re Erin­ne­run­gen zu glät­ten und stam­melnd die­ses sehr alte Wis­sen zu buch­sta­bie­ren, zu dem ich nicht durch­ge­drun­gen bin, als ob die­se Wör­ter und Sät­ze, die unter dem Impuls und der Not­wen­dig­keit einer ande­rern Ord­nung, der sei­ni­gen – einer Auf­for­de­rung oder eines Ver­spre­chens (einen Roman dar­aus machen) –, hin­ge­schrie­ben wur­den, sogleich wie­der in ihre ursprüng­li­chen Bestand­tei­le aus­ein­an­der­fal­len wür­den […] (147)

Micha­el Fehr: Glanz und Schat­ten. Erzäh­lun­gen. Luzern: Der gesun­de Men­schen­ver­sand 2017. 141 Sei­ten. ISBN 9783038530398.

fehr, glanz und schatten (cover)Sime­li­berg hat­te mich ziem­lich begeis­tert. Glanz und Schat­ten kann da lei­der nicht ganz mit­hal­ten. Vor allem die star­ke Kon­zen­tra­ti­on und die frem­de Här­te, jeweils in Form und Spra­che, von Sime­li­berg fehlt mir hier. Ganz oft weiß ich spon­tan (und spä­ter) über­haupt nicht, was die Tex­te wol­len und/​oder sol­len, die Fremd­heit ist und bleibt oft ziem­lich groß: Irgend­wie fin­de ich nicht zu dem Text. Des­sen „The­ma“ könn­te man oft nen­nen: die kal­te, erbar­mungs­lo­se Welt des (Spät-)Kapitalismus und des Kon­sums, die Zurich­tungs­ma­schi­nen und ‑mecha­nis­men der („frei­en“) Gesell­schaft, wie sie sich vor allem in der Fremd­be­stim­mung (statt Indi­vi­dua­li­tät) äußern – aber der Fremd­be­stim­mung einer gesichts­lo­sen, anony­men Macht. Das spie­len die Tex­te mit dem Vor­füh­ren von Rol­len­bil­dern und ‑kli­schees, v.a. denen der Geschlech­ter, durch. Gewalt spielt dabei immer wie­der eine außer­or­dent­lich Rol­le: als Ven­til, als Aus­bruch aus den unent­komm­ba­ren Zwän­gen, als Umschla­gen der Ener­gien. Nico Bleut­ge hat in sei­ner Rezen­si­on des Ban­des vor­ge­schla­gen, die Tex­te als zum Vor­trag bestimm­te zu lesen – viel­leicht ist das wirk­lich hilf­reich, denn „allei­ne“, als blan­ker Text, fin­de ich nur in eini­gen weni­gen (zum Bei­spiel dem inten­si­ven „Stu­den­tin“ oder „Mais“) genü­gend Fas­zi­na­ti­on bei der Lektüre. 

Felix Hart­laub: Don Juan d’Aus­tria und die Schlacht bei Lepan­to. Her­aus­ge­ge­ben von Wolf­ram Pyta und Wolf­gang M. Schwiedrzik. Neckar­ge­münd, Wien: Edi­ti­on Mne­mo­sy­ne 2017 (Gegen­Satz 8). 292 Sei­ten. ISBN 9783934012301.

felix hartlaub, don juan d'austria (cover)
Eine geschichts­wis­sen­schaft­li­che Dis­ser­ta­ti­on aus dem Jahr 1940 über ein Ereig­nis aus dem Jahr 1571 – lohnt die Lek­tü­re eines sol­chen Tex­tes heu­te noch? Durch­aus, kann man sagen, wenn der Ver­fas­ser For­mat hat­te. Und das muss man Felix Hart­laub beschei­ni­gen. Des­halb ist Don Juan d’Aus­tria und die Schlacht bei Lepan­to tat­säch­lich auch noch inter­es­sant, als his­to­ri­sche Dar­stel­lung eines his­to­ri­schen Ereig­nis­ses. Inter­es­sant ist auch die Form: Hart­laub arbei­tet erzäh­lend, er bringt (fast) kei­ne Zita­te und nutzt auch ver­gleichs­wei­se weni­ge Quel­len (und sowie­so zur gedruck­te): Als geschichts­wis­sen­schaft­li­che Qua­li­fi­ka­ti­ons­schrift hät­te das heu­te wohl kei­ne Chan­ce mehr. Auch als „Sach­buch“ bin ich mir nicht ganz sicher, ob sich die Lek­tü­re heu­te wirk­lich noch so unbe­dingt lohnt, wie die Her­aus­ge­ber beto­nen … Sicher, die Sti­li­sie­rung des sowie­so schon zur Welt­ge­schich­te hoch­sti­li­sier­ten Ereig­nis­ses ist gekonnt umge­setzt. Aber viel mehr sehe ich da jetzt nicht unbedingt …

Die letz­te Sinn­ge­bung des Tages von Lepan­to gewann wir auch so noch nicht. An die Sei­te sol­cher Über­le­gun­gen muß wohl die Ahnung tre­ten, daß der Tag von Lepan­to zu den sel­te­nen Ereig­nis­sen gehört, die, wenn man es so aus­drü­cken darf, auf einer höhe­ren Ebe­ne der Geschich­te lie­gen und bei denen die Fra­ge nach den tat­säch­li­chen Fol­gen im letz­ten nicht ange­mes­sen ist. Nur mate­ri­ell betrach­tet, gehör­te der Sieg frei­lich wohl zu den – im Ver­hält­nis zu dem Erfol­ge – all­zu ver­schwen­de­ri­schen Blut­op­fern, an denen vor allem auch die deut­sche Geschich­te so reich ist. In die­ser Hin­sicht ist man­che aus den unmit­tel­bar fol­gen­den Jah­ren erhal­te­ne Äuße­rung auf­schluß­reich. Das ide­al Bild der Schlacht aber, die noch über­all, in den Galee­ren im Hafen, in den Waf­fen und Nar­ben gegen­wär­tig war, lös­te sich rasch aus dem Gefü­ge mensch­li­cher Pla­nun­gen; es war ganz in sich abge­schlos­sen, man konn­te kei­ner­lei Abwand­lun­gen und Fort­set­zun­gen ersin­nen. (237)

außer­dem gelesen:

  • Axel Matthes: Geor­ges Batail­le nach Allem. Ber­lin: blau­wer­ke 2016 (split­ter 07). 66 Sei­ten. ISBN 978−3−945002−07−0.
  • Gün­ter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Fried­rich Rich­ter. Eine Bio­gra­phie. Über­ar­bei­te­te und ver­mehr­te Neu­fas­sung. Frank­furt: Fischer 2013. 350 Sei­ten. ISBN 9783100096449.
  • Hans Jür­gen von der Wen­se: Das Nord­licht. Her­aus­ge­ge­ben von Val­eska Ber­ton­ci­ni und Rei­ner Nie­hoff. Mit einem Bei­wort von Val­eska Ber­ton­ci­ni. Ber­lin: blau­wer­ke 2016 (split­ter 11). 58 Sei­ten. ISBN 9783945002117.
  • Hans Jür­gen von der Wen­se: Das lose Werk. Map­pe Nr. 01: Wol­ken. Ber­lin: blau­e­wer­ke 2016. ISBN 978−3−945002−02−5.
  • Ruth Klü­ger: Marie von Ebner-Eschen­bach. Anwäl­tin der Unter­drück­ten. Wien: Man­del­baum 2016 (Autorin­nen fei­ern Autorin­nen). 56 Sei­ten. ISBN 9783854765219.
  • Mar­le­ne Stre­eru­witz: Mar­le­ne Stre­eru­witz über Ber­tha von Sutt­ner. Wien: Man­del­baum 2014 (Autorin­nen fei­ern Autorin­nen). 61 Sei­ten. ISBN 9783854764564.

Radikalisierung

es ist an der zeit

sich zu radikalisieren
dafür muss ich aber erst ein­mal aufhören
die woll­mäu­se unter
dem bett
wegzufegen
[…] - Lüt­fi­ye Güzel, elle-rebel­le (2017)

Selbst

Ent­schla­ge Dich des Bewußt­seyns, Dir selbst zu gehö­ren. Dann sey! Dann lebe! In aller Bedeu­tung! Fürch­te nichts! Hof­fe die Gegen­wart! Erwar­te nichts! Dann fin­dest Du, daß Du Alles hast. Es zu erhal­ten, hast Du in dem Augen­blick schon gelernt. Bist Du nun, was Du bist, so fin­det sich Dir was Du besit­zen sollst. —Johann Wil­helm Rit­ter: Neun Brie­fe an Cle­mens Bren­ta­no aus dem Jah­re 1802. Her­aus­ge­ge­ben & mit einem Nach­wort ver­se­hen von Rai­ner Nie­hoff. Ber­lin: blau­wer­ke 2017 (split­ter 13), 9 (18−3−1802)

Goethe erkennen

Wer möch­te denn Goe­the sein? So gna­den­reich es ist, ihn gewe­sen zu wis­sen, so pei­ni­gend wäre es, er noch ein­mal sein zu müs­sen. Erken­nen heißt doch gera­de, besit­zen zu dür­fen, ohne es sein zu müs­sen. Hans Blu­men­berg: Lebens­the­men. Aus dem Nach­laß, 151

Ichgefühl

O Nacht —:

[…]

O Nacht! Ich will ja nicht so viel,
ein klei­nes Stück Zusammenballung,
ein Abend­ne­bel, eine Wallung
von Raum­ver­drang, von Ichgefühl.

[…]

O Nacht! Ich mag dich kaum bemühn!
Ein klei­nes Stück nur, eine Spange
von Ichgefühl—im Überschwange
noch ein­mal vorm Ver­gäng­nis blühn!

[…]

O still! Ich spü­re ein klei­nes Rammeln:
Es sternt mich an—es ist kein Spott —:
Gesicht, ich: mich, ein­sa­men Gott,
sich groß um einen Don­ner sammeln.
—Gott­fried Benn

frey, henrici (cover)

Das Fundament

„Ich baue beim Bau mei­nes Hau­ses ganz auf mei­ne Haus­au­to­ren, sie sind das Fun­da­ment mei­nes Ver­lags“, sag­te Enge­ler zu Hen­ri­ci, als sie zusam­men in die Bau­gru­be blick­ten, wo eini­ge Schrift­stel­ler eben damit beschäf­tigt waren, mit einer Ner­ven­sä­ge Wör­ter zu zer­le­gen. Die zu wir­ren Hau­fen auf­ge­schich­te­ten Bau­stei­ne wur­den von den werk­mü­di­ger­wei­se damit beauf­trag­ten Ana­gram­ma­ti­kern so zusam­men­ge­schot­tert, dass
sie min­des­tens bis zum Richt­fest fast fest­ge­mau­ert in der Rede ste­hen wür­den. „Haus­au­to­ren sind zwar fundan1ental“, sag­te Hen­ri­ci, „aber ich bin beru­higt zu sehen, dass du nicht so sehr auf sie baust, dass du sie ein­mau­erst.“ Enge­ler warf ihm einen etwas miss­traui­schen Blick zu und mein­te: „Unser gan­zer Fun­dus ist aus­schliess­lich men­tal, aller­dings mehr orna­men­tal als instru­men­tal, und weni­ger monu­men­tal als expe­ri­men­tal. Des­halb kom­men wir auch ohne Zement aus. Die Wän­de mögen wie Papier aus­se­hen, aber sie sind mit Blei­stif­ten armiert. Das Haus ruht, wie du bemerkt haben wirst, auf fes­ten Grund­sät­zen, denn wir wer­den jetzt häus­lich, ganz ohne Feld‑, Wald- und Wie­sen­poe­sie. Es beginnt ein neu­er Abschnitt.“ „Man könn­te fast sagen: ein Umbruch“, pflich­te­te ihm Hen­ri­ci bei, „sogar noch bevor alles gestri­chen ist.“ —Hans-Jost Frey, Hen­ri­ci, 11

bücherstapel

Aus-Lese #50

Ger­hard Falk­ner: Romeo oder Julia. Mün­chen: Ber­lin 2017. 269 Sei­ten. ISBN 978−3−8270−1358−3.

falkner, romeo oder julia (cover)Ich kann nicht sagen, dass ich von Romeo oder Julia wirk­lich begeis­tert gewe­sen wäre. Das liegt vor allem dar­an, dass ich nicht so recht kapiert habe, was der Text eigent­lich (sein) möch­te. Dabei hat er unbe­streit­bar aus­ge­zeich­ne­te Momen­te und Sei­ten, neben eini­gen Län­gen. Eini­ge der aus­ge­zeich­ne­ten Momen­te fin­den auf der Ebe­ne der Spra­che statt: Es gibt fun­keln­de ein­zel­ne Sät­ze in einem Meer von sti­lis­ti­schem und gedank­li­chem Cha­os. So habe ich mir das zunächst notiert – aber das stimmt so nicht ganz: chao­tisch (also rea­lis­tisch) erscheint der Text zunächst nur, er ent­wi­ckelt dann aber schon sei­ne Form. Die zumin­dest stel­len­wei­se hyper­tro­phe Sti­lis­tik in der Über­stei­ge­rung auf allen Ebe­nen ist dann auch tat­säch­lich lustig.

Uner­müd­lich arbei­te­ten hin­ter den Din­gen, an denen ich vor­bei­kam, die Grund­ma­schi­nen der Exis­tenz, die seit Jahr­tau­sen­den mit Men­schen­le­ben gefüt­tert wer­den, und die Stadt stütz­te ihre tau­be und orna­men­ta­le Mas­se auf die­ses unter­ir­di­sche Mag­ma von Lebens­gier, Kampf, Wil­le, Lust und Bewe­gung. 227

Was wird in Romeo oder Julia erzählt? Das ist eben die Fra­ge. Irgend­wie geht es um einen Schrift­stel­ler, Kurt Prinz­horn (über des­sen lite­ra­ri­sche Wer­ke nichts zu erfah­ren ist), der bei einem Hotel­auf­ent­halt in Inns­bruck von einer benutz­ten Bade­wan­ne und ver­schwun­de­nen Schlüs­seln etwas erschreckt wird. Rat­los bleibt er zurück und denkt immer wie­der über die Rät­sel­haf­tig­keit des Gesche­hens nach, wäh­rend das Autoren­le­ben mit Sta­tio­nen in Mos­kau und Madrid wei­ter­geht. Dort nähert sich dann auch die anti­kli­mak­ti­sche Auf­lö­sung, die in einem Nach­spiel in Ber­lin noch ein­mal aus­ge­brei­tet wird: Der Erzäh­ler wird von einer sehr viel frü­he­ren kurz­zei­ti­gen Freun­din ver­folgt und bedroht, die dann beim Ver­such, zu ihm zu gelan­gen (um ihn zu töten), selbst stirbt … Trotz des Plots, der nach Kri­mi oder Thril­ler klingt, bleibt Romeo oder Julia bei einer unbe­schwer­ten Rät­sel­haf­tig­keit, ein Spiel mit Span­nungs­ele­men­ten, sexis­ti­schem und völ­ker­psy­cho­lo­gi­schem Unsinn und ande­ren Pein­lich­kei­ten. Immer­hin sind der knap­pe Umfang und die eher kur­zen Kapi­tel (übri­gens genau 42 – wobei ich bei Falk­ner in die­sem Fall kei­ne Absicht unter­stel­le) sehr leser­freund­lich. Durch die zumin­dest ein­ge­streu­ten sti­lis­ti­schen Höhen­flü­ge war das für mich eine durch­aus unter­halt­sa­me Lek­tü­re, bei der ich kei­ne Ahnung habe, was das eigent­lich sein soll, was der Text eigent­lich will. Weder die Kri­mi-Ele­men­te noch die Pop­li­te­ra­tur­kom­po­nen­te oder die mas­si­ven Inter­tex­tua­li­täts­si­gna­le (die ich nicht alle in ver­nünf­ti­ge Bezie­hung zum Text brin­ge, aber sicher­lich habe ich auch eine Men­ge schlicht über­se­hen) for­men sich bei mei­ner Lek­tü­re zu einem Kon­zept: Ein schlüs­si­ges Sinn­kon­strukt kann ich nicht so recht erken­nen, nicht lesen und lei­der auch nicht basteln.

Es war Sonn­tag­vor­mit­tag, und es gab kaum Leu­te auf der Stra­ße. Stra­ßen auf den Leu­ten gab es erst recht nicht. es gab auch kei­ne Bus­se, die man sich auf der Zun­ge hät­te zer­ge­hen las­sen kön­nen, oder Fri­seu­re, die auf­grund einer unge­stü­men Blü­mer­anz der Ohn­macht nahe gewe­sen wären. Auch nicht die Hel­den­fried­hö­fe, die in wil­den und aus­ufern­den Vor­früh­lings­näch­ten von den Such­ma­schi­nen auf die Bild­schir­me gezau­bert wer­den, um mit ihren schnee­wei­ßen und chris­tus­lo­sen Kreu­zen die Sur­fer in ihre lee­re Erde zu locken. Es gab nicht ein­mal die feuch­te, war­me Hand der katho­li­schen Kir­che oder das tröst­li­che Röcheln des Dra­chens, dem sein belieb­tes­ter Geg­ner, der hei­li­ge Georg, gera­de die eiser­ne Lan­ze in den Rachen gesto­ßen hat. Es gab ein­fach wirk­lich nur das, was da war, was wir unmit­tel­bar vor Augen hat­ten, und die Tat­sa­che, dass ich in Kür­ze los­muss­te. 78

Ali­na Her­bing: Nie­mand ist bei den Käl­bern. Zürich, Ham­burg: Arche 2017. 256 Sei­ten. ISBN 9783716027622.

herbing, niemand ist bei den kälbern (cover)Das ist mal ein ziem­lich trost­lo­ses Buch über eine jun­ge Bäue­rin aus Alter­na­tiv­lo­sig­keit, die auch in den angeb­lich so fes­ten Wer­ten und sozia­len Net­zen des Land­le­bens (der „Hei­mat“) kei­nen Halt fin­det, kei­nen Sinn für ihr Leben. Statt­des­sen herrscht über­all Gewalt – gegen Din­ge, Tie­re und Men­schen. Einer­seits ist da also die Bana­li­tät des Land­le­bens, der Ödnis, der „Nor­ma­li­tät“, dem nicht-beson­de­ren, nicht-indi­vi­du­el­len Leben. Ande­rer­seits bro­delt es dar­un­ter so stark, dass auch die Ober­flä­che in Bewe­gung gerät und Ris­se bekommt. Natür­lich gibt es die Schön­heit des Lan­des, auch in der beschrei­ben­den Spra­che (die frei­lich nicht so recht zur eigent­li­chen Erzähl­hal­tung passt und mit ihren ange­deu­te­ten pseu­do-umgangs­sprach­li­chen Wen­dun­ge („nich“, „glaub ich“) auch vie­le schwa­che Sei­ten hat und ner­ven kann). Aber genau­so natür­lich gibt es auch die Ver­let­zun­gen, die die Men­schen sich gegen­sei­tig und der „natür­li­chen“ Umwelt glei­cher­ma­ßen zufügen.

Die Absicht von Nie­mand ist bei den Käl­bern ist schnell klar (schon mit dem Umschlag, sonst spä­tes­tens auf der ers­ten Sei­te, wenn das Reh­kitz beim Mähen getö­tet wird): Hei­mat, v.a. aber das Land­le­ben ent­zau­bern – denn es ist auch nur eine Rei­he von Bana­li­tä­ten und Ein­sam­kei­ten (auch & gera­de zu zweit) und suche nach Lie­be, Nähe, Emo­tio­nen. Die Natur bleibt von all dem unbe­tei­ligt und eigent­lich unbe­rührt. Mich ner­ven aber so Haupt­fi­gu­ren wie die­se Chris­tin, die – obwohl viel­leicht nicht direkt defä­tis­tisch – alles (!) ein­fach so hin­neh­men, ohne Gefühls­re­gung, ohne Gestal­tungs­wil­len, ja fast ohne Wil­len über­haupt, denen alles nur pas­siert, die alles mit sich gesche­hen las­sen. Dass da dann kein erfüll­ter Lebens­ent­wurf her­aus­kommt, ist abzu­se­hen. Mir war das unter ande­rem des­halb zu ein­sei­tig, zu eindimensional.

Manch­mal glaub ich, jedes Flug­zeug, das ich sehe, exis­tiert über­haupt nur, um mich dar­an zu erin­nern, dass ich einer der unbe­deu­tends­ten Men­schen der Welt bin. Wie­so soll­te ich sonst in die­sem Moment auf einem halb abge­mäh­ten Feld ste­hen? Nicht mal in einer Nazi-Hoch­burg, nicht mal an der Ost­see oder auf der Seen­plat­te, nicht mal auf dem Todes­strei­fen, son­dern kurz davor, dane­ben, irgend­wo zwi­schen all­dem. Genau da, wo es eigent­lich nichts gibt außer Gras und Lehm­bo­den und ein paar Plät­ze, die gut genug sind, um da Wind­rä­der hin­zu­stel­len. 11

Lau­rent Binet: Die sieb­te Sprach­funk­ti­on. Rein­bek: Rowohlt 2017. 524 Sei­ten. ISBN 9783498006761.

laurent binet, die siebte sprachfunktion (cover)Das ist tat­säch­lich ein ziem­lich lus­ti­ger Roman über Roland Bar­thes, die post­mo­der­ne Phi­lo­so­phie, Sprach­wis­sen­schaft und Psy­cho­lo­gie in Frank­reich, auch wenn der Text eini­ge Län­gen hat. Viel­leicht ist das aber wirk­lich nur für Leser lus­tig, die sich zumin­dest ein biss­chen in der Geschich­te der fran­zö­si­schen Post­mo­der­ne, ihrem Per­so­nal und ihren Ideen (und deren Rezep­ti­on in den USA und Euro­pa) aus­ken­nen. Und es ist auch ein etwas gro­tes­ker Humor, der so ziem­lich alle Geis­tes­he­ro­en des 20. Jahr­hun­derts kör­per­lich und see­lisch beschä­digt zurücklässt.

Aus­gangs­punkt der mehr als 500 Sei­ten, die aber schnell gele­sen sind, ist der Tod des Struk­tu­ra­lis­ten und Semio­ti­kers Roland Bar­thes, der im Febru­ar 1980 bei einen Unfall über­fah­ren wur­de. Für die Ermitt­lun­gen, die schnell einer­seits in das phi­lo­so­phisch gepräg­te Milieu der Post­mo­der­ne füh­ren, ande­rer­seits vol­ler Absur­di­tä­ten und gro­tes­ker Gescheh­nis­se sind, ver­pflich­tet der etwas hemds­är­me­li­ge Kom­mis­sar einen Dok­to­rand, der sich in die­sem Gebiet gut aus­zu­ken­nen scheint. Ihre Ermitt­lun­gen führt das Duo dann in fünf Sta­tio­nen von Paris über Bolo­gna nach Ithaca/​USA und zurück zu Umber­to Eco (der ein­zi­ge, der eini­ger­ma­ßen unver­sehrt davon­kommt), womit die Rei­se, die Ermitt­lung und der Text das Netz­werk euro­päi­schen Den­kens (mit sei­nen ame­ri­ka­ni­schen Satel­li­ten der Ost­küs­te) in der zwei­ten Hälf­te des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts nach­zeich­nen. Das ist so etwas wie ein Pop-Phi­lo­so­phie-Thril­ler, der für mich doch recht zügig sei­nen Reiz ver­lor, weil das als Roman­text eher banal und kon­ven­tio­nell bleibt. Inter­es­sant sind höchs­tens die Meta­ebe­nen der Erzäh­lung (die es reich­lich gibt) und die Ana­chro­nis­men (die auch ger­ne und mit Absicht ver­wen­det wer­den), zumal die Theo­rie und ihr Per­so­nal immer mehr aus dem Blick geraten

Die im Titel ver­hie­ße­ne sieb­te Sprach­funk­ti­on bleibt natür­lich Leer­stel­le und wird nur in Andeu­tun­gen – als unwi­der­steh­li­che, poli­tisch nutz­ba­re Über­zeu­gungs­kraft der Rede – kon­tu­riert. Dafür gibt es genü­gend ande­re Sta­tio­nen, bei denen Binet sein Wis­sen der euro­päi­schen und ame­ri­ka­ni­schen Post­mo­der­ne groß­zü­gig aus­brei­ten kann. 

Wäh­rend er rück­wärts­geht, über­legt Simon: Ange­nom­men, er wäre wirk­lich eine Roman­ge­stalt (eine Annah­me, die wei­te­re Nah­rung erhält durch das Set­ting, die Mas­ken, die mäch­ti­gen male­ri­schen Gegen­stän­de: in einem Roman, der sich nicht zu gut dafür wäre, alle Kli­schees zu bedie­nen, denkt er), wel­cher Gefahr wäre er im Ernst aus­ge­setzt? Ein Roman ist kein Traum: In einem Roman kann man umkom­men. Hin­wie­der­um kommt nor­ma­ler­wei­se die Haupt­fi­gur nicht ums Leben, außer viel­leicht gegen Ende der Hand­lung. /​Aber wenn es das Ende der Hand­lung wäre, wie wür­de er das erfah­ren? Wie erfährt man, wann man auf der letz­ten Sei­te ange­kom­men ist? /​Und wenn er gar nicht die Haupt­fi­gur wäre? Hält sich nicht jeder für den Hel­den sei­ner eige­nen Exis­tenz? 420

Die­ter Grimm: „Ich bin ein Freund der Ver­fas­sung“. Wis­sen­schafts­bio­gra­phi­sches Inter­view von Oli­ver Lep­si­us, Chris­ti­an Wald­hoff(span> und Mat­thi­as Roß­bach mit Die­ter Grimm. Tübin­gen: Mohr Sie­beck 2017. 325 Sei­ten. ISBN 9783161554490.

grimm, freund der verfassung (cover)Ein fei­nes, klei­nes Büch­lein. Mit „Inter­view“ ist es viel zu pro­sa­isch umschrie­ben, denn einer­seits ist das ein ver­nünf­ti­ges Gespräch, ande­rer­seits aber auch so etwas wie ein Aus­kunfts­buch: Die­ter Grimm gibt Aus­kunft über sich, sein Leben und sein Werk. Dabei lernt man auch als Nicht-Jurist eine Men­ge – zumin­dest ging es mir so: Viel span­nen­des zur Ent­wick­lung von recht und Ver­fas­sung konn­te ich hier lesen – span­nend vor allem durch das Inter­es­se Grimms an Nach­bar­dis­zi­pli­nen des Rechts, ins­be­son­de­re der Sozio­lo­gie. Des­halb tau­chen dann auch ein paar net­te Luh­mann-Anek­do­ten auf. Außer­dem gewinnt man als Leser auch ein biss­chen Ein­blick in Ver­fah­ren, Orga­ni­sa­ti­on und Bera­tung am Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, an dem Grimm für 12 Jah­re als Rich­ter tätig war. Schön ist schon die nüch­ter­ne Schil­de­rung der der nüch­ter­nen Wahl zum Rich­ter – ein poli­ti­scher Aus­wahl­pro­zess, den Grimm für „erfreu­lich unpro­fes­sio­nell“ (126) hält. Natür­lich gewinnt das Buch nicht nur durch Grimms Ein­blick in grund­le­gen­de Wesens­merk­ma­le des Rechts und der Juris­pru­denz, son­dern auch durch sei­ne durch­aus span­nen­de Bio­gra­phie mit ihren vie­len Sta­tio­nen – von Kas­sel über Frank­furt und Frei­burg nach Paris und Har­vard wie­der zurück nach Frank­furt und Bie­le­feld, dann natür­lich Karls­ru­he und zum Schluss noch Ber­lin – also qua­si die gesam­te Geschich­te der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land – Grimm ist 1937 gebo­ren – in einem Leben kondensiert. 

Das Buch hat immer­hin auch sei­ne Selt­sam­kei­ten – in einem sol­chen Text in zwei Stich­wör­tern in der Fuß­no­te zu erklä­ren, wer Kon­rad Ade­nau­er war, hat schon sei­ne komi­sche Sei­te. Bei so manch ande­rem Namen war ich aber froh über zumin­dest die gro­be Auf­klä­rung, um wen es sich han­delt. Die ande­re Selt­sam­keit betrifft den Satz. Dabei hat jemand näm­lich geschlampt, es kom­men immer wie­der Pas­sa­gen vor, die ein Schrift­grad klei­ner gesetzt wur­den, ohne dass das inhalt­lich moti­viert zu sein scheint – offen­sicht­lich ein unschö­ner Feh­ler, der bei einem renom­mier­ten und tra­di­ti­ons­rei­chen Ver­lag wie Mohr Sie­beck ziem­lich pein­lich ist.

Ador­no ver­stand ich nicht. Stre­cken­wei­se unter­hielt ich mich ein­fach damit zu prü­fen, ober er sei­ne Schach­tel­sät­ze kor­rekt zu Ende brach­te. Er tat es. 41

Con­stan­ti­jn Huy­gens: Euphra­sia. Augen­trost. Über­setzt und her­aus­ge­ge­ben von Ard Post­hu­ma. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2016. [ohne Sei­ten­zäh­lung]. ISBN 9783942901222.

Zu die­sem schö­nen, wenn auch recht kur­zen Ver­gnü­gen habe ich vor eini­ger Zeit schon etwas geson­dert geschrie­ben: klick.

außer­dem gelesen:

  • Dirk von Peters­dorff: In der Bar zum Kro­ko­dil. Lie­der und Songs als Gedich­te. Göt­tin­gen: Wall­stein 2017 (Klei­ne Schrif­ten zur lite­ra­ri­schen Ästhe­tik und Her­me­neu­tik, 9). 113 Sei­ten. ISBN 978−3−8353−3022−1.
  • Hans-Rudolf Vaget: „Weh­vol­les Erbe“. Richard Wag­ner in Deutsch­land. Hit­ler, Knap­perts­busch, Mann. Frank­furt am Main: Fischer 2017. 560 Sei­ten. ISBN 9783103972443.

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