Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten;
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:
Denn was innen ist das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis
—
Freuet euch des wahren Scheins,
Euch des ernsten Spieles:
Kein Lebendiges ist ein Eins,
Immer ist’s ein Vieles.Johann Wolfgang von Goethe, Epirrhema (aus: Sammlung von 1827, Abschnitt “Gott und Welt”)
Kategorie: literatur Seite 3 von 38

Ich probiere mal wieder etwas Neues … Da ich meine Meldungen “Aus-Lese” mit einer kurzen subjektiven Skizze der jeweiligen Lektüre und meines Eindruckes dazu versehen habe, bedeutet das einen (zwar kleinen) gewissen Aufwand, der mich in der letzten Zeit weitgehend davon abgehalten hat, die Serie fortzuführen. Also gibt es jetzt einen neuen Versuch im deutlich reduzierten Format …
Der schmale Band mit Erzählungen — überwiegend aus den 1950er und 1960er Jahren — hat es nicht geschafft, meine respektvolle Distanz zu Doderer zu verringern. Ich erkenne (und schätze) die Kunstfertigkeit und das Stilbewusstsein des Autors, aber davon abgesehen bleiben mir die Texte (das ging mir mit seinen Romanen ähnlich) eher fremd.
Eine nette kurze Feierabendlektüre, die den Menschen Marcus Tullius Cicero flott, unterhaltsam, auch pointiert porträtiert. Dabei klingt das große (selbstverständliche) Fachwissen der römischen Geschichte immer mit. Mir fehlt allerdings etwas die genauere und ausführlichere Beschäftigung mit den Inhalten von Ciceros Werken. Der Band bleibt (absichtlich) weitgehend (nicht nur, aber doch überwiegend) am Äußeren von Ciceros Leben. — Natürlich wäre das auch viel verlangt, beides auf 100 Seiten zufriedenstellend zu erledigen, das ist mir durchaus bewusst. Für meinen Geschmack hätte eine zumindest teilweise Verschiebung des Fokus aber dennoch gut getan.
Ein faszinierender Text. Ich könnte aber nur schwer genau sagen, was das eigentlich ist — und worauf der Text hinaus will. Auf der Suche nach so etwas wie einer geistigen Signatur der BRD liest Poppenberg Autoren und ihre Rückblicke auf die letzten Jahrzehnte. So kommen Philipp Felsch, Frank Witzel, Ulrich Raulff und Friedrich Kittler gemeinsam in den Blick, werden genau (!) gelesen und mit durchaus sujektive gefärbten Darstellungen und Erinnerungen kombiniert. Das klingt jetzt viel seltsamer als es im Text ist. Der ist nämlich durchaus faszinierend und gelehrt — eine überaus anregende Mischung und auch eine anregende Lektüre.
Roman oder autobiographische Erzählung — eigentlich ist das ja egal. Was es auf jeden Fall ist: Eine — angesichts des Sujets — erstaunlich leichte und leichtfüßige Erzählung der jüdischen Familie Senger vor und während des Nationalsozialismus. Das einzigartige daran ist, das merkt der Erzähler auch selbst, wie wundervoll das gelingt: Ein Wunder ist das Überleben, ein Wunder ohne Staunen. Natürlich gibt es, ganz klassisch, Schwierigkeiten zu überwinden. Aber um Ende siegt doch die Leichtigkeit, das Leben, die fast unverschämte Unvernunft und Unbesorgtheit des Erzählers und seiner Familie. Das ganze ist sehr direkt, unmittelbar erzählt — ein Text, dem man sich kaum entziehen kann (und es ja eigentlich auch nicht möchte). Die meistenteils knappen Kapitel, fast Erinnerungsbruchstücke (vor allem im ersten Teil, der frühen Kindheit des Erzählers) machen dne Text auch gut zugänglich und konsumierbar — sicherlich auch ein Faktor, der zum Erfolg des Buches, das seit 1978 in mehreren Auflagen und Ausgaben (und Verlagen) erschienen ist.
Der Titel kündigt eigentlich eher eine Streitschrift an: “Wider die Rückkehr des Nationalismus”. Das kann der Band aber kaum einlösen. Was er aber kann, und das durchaus recht gut und überzeugend: Hintergründe für Entwicklungen geben. Die Autor*innen bieten nämlich eine Rückschau auf die deutsche Geschichte seit 1945, in West und Ost, mit dem Fokus auf die diversen rechten, nationalistischen Strömungen, Diskussionen und Parteien, von der Entnazifizierung bis in die ungefähre Gegenwart. Das ist als Einordnung und Argumentationshilfe gut gemacht und gut zu nutzen. Die gesamtdeutsche Perspektive ist dabei durchaus hilfreich — unsicher bin ich allerdings, ob Bücher wie diese ihr Ziel wirklich erreichen können …

Eigentlich ist Schmidts Zeitverschiebung eine Geschichte des erweiterten Erwachsenwerdens: Das Ende des Studiums, die ersten Jobs, sich verfestigende Beziehungen, die Liebe und dann das Kind, ein neuer Job, Zusammenziehen mit dem Partner und ein Happy End — das ist das Gerüst des Romans. Aber das ist auch der weniger interessante Teil des Romans. Schnell wird aber klar — der Titel ist in dieser Hinsicht ja überdeutlich … -, dass etwas anderes das eigentliche Thema ist: Die Zeit, genauer vielleicht: ihre Wahrnehmung, oder die wahrgenommene Positionierung der Ich-Erzählerin in ihrem strömenden Fließen.
Zeit ist ohnehin eine Illusion. (140)
Das Erleben und vor allem das Erzählen der Zeit verbindet sich mit ähnlich abstrakten Konzepten wie Fortuna oder Zufall.
Denn die Verspätung — um die Zeitverschiebung etwas banaler zu verpassen — ist das zentrale Moment des Texte. Die chronologische Verspätung ist das eine, aber Verspätung ist eben auch ein Lebensgefühl (oder genauer: das Lebensgefühl einer Phase des Lebens): Das übermächtige Gefühl des Verpassens, des „zwischen“, „noch nicht“, und des immer schon zu spät sein, des Eindrucks, immer schon den Anfang verpasst zu haben … Aber selbst das happy end schlägt sich doch auch noch auf das Zeit(empfinden) — hier des eigenen, kleinen Kindes — nieder: „Und nimmt sich alle Zeit der Welt.“ (189) ist der Schlusssatz, der schön zum Anfangssatz passt: „Ich war ohnehin zu spät, konnte mir also Zeit lassen.“ (5)
Das Thema der Zeitverschiebung ist damit auf individueller Ebene sozusagen erledigt. Aber es wird eben deutlich (wie so oft in diesem Roman: überdeutlich), dass es in der nächsten Generation (wieder/noch) ein Thema sein kann. Allerdings, da schließt sich der Kreis nicht ganz: Noch ist das ein Kind, das “alle Zeit der Welt” hat. Vielleicht gelingt ihm/ihr (?) ja das Erwachsenwerden der Zeit(empfindung) gemäß den gesellschaftlichen Konventionen/Erwartungen parallel zum restlichen Erwachsenwerden? (Wobei Zeitverschiebung ja eigentlich eher die Frage aufwirft, ob man ohne dieses spezielle, d.h. “normale” Empfinden der Zeit, das Behagen darin, überhaupt erwachsen geworden ist — der Text verneint das eher und situiert seine Protagonistin ja mehr als deutlich in einem Zwischen, einem Übergangsstadium (klassisch: Pubertät), unabhängig von ihrem Alter.
Gerade der Anfang ist durchaus charmant erzählt, das muss man Schmidt attestieren, mit lässiger und heiterer Ironie-Distanz. Überhaupt ist die Sprache oft lakonisch, knapp und direkt mit Tendenz zum Humor. Es gibt wenig Ausschmückung, das hohe Tempo des Geschehens nimmt der Text gut auf: Die Zeit ist einfach nie genug, vor allem — so behauptet die Erzählerin immer wieder — lebt sie im Bewusstsein, sie zu verschwenden und hat permanent das Gefühl, die Zeit nicht genügend auszukosten, nicht ausreichend zu nutzen, immer nicht das Digentliche (des Lebens) zu tun, sondern nur einen Notbehelf, eine Zwischenlösung. Leider wird die Erzählung und die Sprache zunehmend konventioneller — sozusagen parallel zum Leben, dem Lebensentwurf der Erzählerin. Und damit verliert der Text leider meines Erachtens etwas: Sicher, das ist in Übereinstimmung mit der geschilderten Entwicklung. Aber es machte den Text für mich gegen Ende auch deutlich langweiliger.
Ich verschwendete mehr und mehr Zeit damit zu fürchten, meine Zeit ernsthaft zu verschwenden. (105)
Niemand ist das Alphabet einer seltsamen, schwierigen Vater-Tochter-Beziehung, die durch Abwesenheiten wesentlich mitbestimmt ist und von der Tochter nach dem Tod ihres Vaters erforscht und aufgeschrieben wird. Der wird uns als Melancholiker gezeigt, der auch daran stirbt (naja, eigentlich dann doch am Herzinfarkt), dessen Leben bestimmt ist vom Wahnsinn der Melancholie (?) und der sich immer wieder temporär in stationärer Behandlung befindet, zugleich aber (!) hoch angesehener Jura-Professor. Niemand nutzt für diesen nachträglichen Abschied den emotionalen, psychischen und literarischen Nachlass des Vater, aus dessen Schriften (teilweise auch fiktional gedacht) wird immer wieder zitiert. Denn zugleich ist der Roman auch ein Versuch des Erinnerns, mehr noch: der Vergegenwärtigung des Vaters durch die Auseinandersetzung, Aufarbeitung (Durcharbeitung) des Verhältnisses der Ich-Erzählerin mit ihm und ein Versuch, ihn — als Menschen, als Person — zu verstehen. Schwierig ist das insofern, als er schon während dem Leben verschwindet, (oder das zumindest als — in seinen Niederschriften offenbartes — Ziel hatte): eben ein Niemand werden, ein Mann ohne Eigenschaften.
Die Erzählerin verliert sich wunderbar in ihren eigenen Sätzen, häuft immer mehr Details und Erinnerungen an, türmt das auf, fügt immer neue Ergänzungen, Präzisierungen, Erweiterungen an. Die Sätze fangen oft ganz harmlos an und ufern dann maßlos aus. Aber das ist ja aber gerade der schöne und sympathische Witz des Textes: die ungetüme, wilde, chaotisch-fragmentarische Erinnerung wird nur durch das Alphabet der Kapitel gezähmt — zumindest scheinbar. Und letztlich bleibt der Versuch der Ordnung, ein kohärentes Ganzes dadurch zu schaffen (von Anfang bis Schluss in einer festgefügten Abfolge) auch vergeblich, eben nur ein Versuch, der im Text einmal als „Ordnung ohne Bedeutung“ klassifiziert wird (147). Aber sie ist wohl doch mehr: Denn die Buchstaben stehen ja nicht alleine, sondern werden in den Kapitelüberschriften zum Wort (mit Ausnahme des “Y”, wo die Ordnung dann eben auch reflektiert wird …).
„Nun gehen die Buchstaben aus, diese Ordnung ohne Bedeutung, mit deren Hilfe ich versucht habe, seine Unordnung und meine in den Griff zu bekommen, unsere Erinnerungen zu glätten und stammelnd dieses sehr alte Wissen zu buchstabieren, zu dem ich nicht durchgedrungen bin, als ob diese Wörter und Sätze, die unter dem Impuls und der Notwendigkeit einer anderern Ordnung, der seinigen – einer Aufforderung oder eines Versprechens (einen Roman daraus machen) –, hingeschrieben wurden, sogleich wieder in ihre ursprünglichen Bestandteile auseinanderfallen würden […] (147)
Simeliberg hatte mich ziemlich begeistert. Glanz und Schatten kann da leider nicht ganz mithalten. Vor allem die starke Konzentration und die fremde Härte, jeweils in Form und Sprache, von Simeliberg fehlt mir hier. Ganz oft weiß ich spontan (und später) überhaupt nicht, was die Texte wollen und/oder sollen, die Fremdheit ist und bleibt oft ziemlich groß: Irgendwie finde ich nicht zu dem Text. Dessen “Thema” könnte man oft nennen: die kalte, erbarmungslose Welt des (Spät-)Kapitalismus und des Konsums, die Zurichtungsmaschinen und ‑mechanismen der („freien“) Gesellschaft, wie sie sich vor allem in der Fremdbestimmung (statt Individualität) äußern — aber der Fremdbestimmung einer gesichtslosen, anonymen Macht. Das spielen die Texte mit dem Vorführen von Rollenbildern und ‑klischees, v.a. denen der Geschlechter, durch. Gewalt spielt dabei immer wieder eine außerordentlich Rolle: als Ventil, als Ausbruch aus den unentkommbaren Zwängen, als Umschlagen der Energien. Nico Bleutge hat in seiner Rezension des Bandes vorgeschlagen, die Texte als zum Vortrag bestimmte zu lesen — vielleicht ist das wirklich hilfreich, denn “alleine”, als blanker Text, finde ich nur in einigen wenigen (zum Beispiel dem intensiven “Studentin” oder “Mais”) genügend Faszination bei der Lektüre.
Eine geschichtswissenschaftliche Dissertation aus dem Jahr 1940 über ein Ereignis aus dem Jahr 1571 — lohnt die Lektüre eines solchen Textes heute noch? Durchaus, kann man sagen, wenn der Verfasser Format hatte. Und das muss man Felix Hartlaub bescheinigen. Deshalb ist Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto tatsächlich auch noch interessant, als historische Darstellung eines historischen Ereignisses. Interessant ist auch die Form: Hartlaub arbeitet erzählend, er bringt (fast) keine Zitate und nutzt auch vergleichsweise wenige Quellen (und sowieso zur gedruckte): Als geschichtswissenschaftliche Qualifikationsschrift hätte das heute wohl keine Chance mehr. Auch als “Sachbuch” bin ich mir nicht ganz sicher, ob sich die Lektüre heute wirklich noch so unbedingt lohnt, wie die Herausgeber betonen … Sicher, die Stilisierung des sowieso schon zur Weltgeschichte hochstilisierten Ereignisses ist gekonnt umgesetzt. Aber viel mehr sehe ich da jetzt nicht unbedingt …
Die letzte Sinngebung des Tages von Lepanto gewann wir auch so noch nicht. An die Seite solcher Überlegungen muß wohl die Ahnung treten, daß der Tag von Lepanto zu den seltenen Ereignissen gehört, die, wenn man es so ausdrücken darf, auf einer höheren Ebene der Geschichte liegen und bei denen die Frage nach den tatsächlichen Folgen im letzten nicht angemessen ist. Nur materiell betrachtet, gehörte der Sieg freilich wohl zu den — im Verhältnis zu dem Erfolge — allzu verschwenderischen Blutopfern, an denen vor allem auch die deutsche Geschichte so reich ist. In dieser Hinsicht ist manche aus den unmittelbar folgenden Jahren erhaltene Äußerung aufschlußreich. Das ideal Bild der Schlacht aber, die noch überall, in den Galeeren im Hafen, in den Waffen und Narben gegenwärtig war, löste sich rasch aus dem Gefüge menschlicher Planungen; es war ganz in sich abgeschlossen, man konnte keinerlei Abwandlungen und Fortsetzungen ersinnen. (237)
außerdem gelesen:
- Axel Matthes: Georges Bataille nach Allem. Berlin: blauwerke 2016 (splitter 07). 66 Seiten. ISBN 978–3‑945002–07‑0.
- Günter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie. Überarbeitete und vermehrte Neufassung. Frankfurt: Fischer 2013. 350 Seiten. ISBN 9783100096449.
- Hans Jürgen von der Wense: Das Nordlicht. Herausgegeben von Valeska Bertoncini und Reiner Niehoff. Mit einem Beiwort von Valeska Bertoncini. Berlin: blauwerke 2016 (splitter 11). 58 Seiten. ISBN 9783945002117.
- Hans Jürgen von der Wense: Das lose Werk. Mappe Nr. 01: Wolken. Berlin: blauewerke 2016. ISBN 978–3‑945002–02‑5.
- Ruth Klüger: Marie von Ebner-Eschenbach. Anwältin der Unterdrückten. Wien: Mandelbaum 2016 (Autorinnen feiern Autorinnen). 56 Seiten. ISBN 9783854765219.
- Marlene Streeruwitz: Marlene Streeruwitz über Bertha von Suttner. Wien: Mandelbaum 2014 (Autorinnen feiern Autorinnen). 61 Seiten. ISBN 9783854764564.
es ist an der zeit
sich zu radikalisieren
dafür muss ich aber erst einmal aufhören
die wollmäuse unter
dem bett
wegzufegen
[…] - Lütfiye Güzel, elle-rebelle (2017)
Entschlage Dich des Bewußtseyns, Dir selbst zu gehören. Dann sey! Dann lebe! In aller Bedeutung! Fürchte nichts! Hoffe die Gegenwart! Erwarte nichts! Dann findest Du, daß Du Alles hast. Es zu erhalten, hast Du in dem Augenblick schon gelernt. Bist Du nun, was Du bist, so findet sich Dir was Du besitzen sollst. —Johann Wilhelm Ritter: Neun Briefe an Clemens Brentano aus dem Jahre 1802. Herausgegeben & mit einem Nachwort versehen von Rainer Niehoff. Berlin: blauwerke 2017 (splitter 13), 9 (18–3‑1802)
Wer möchte denn Goethe sein? So gnadenreich es ist, ihn gewesen zu wissen, so peinigend wäre es, er noch einmal sein zu müssen. Erkennen heißt doch gerade, besitzen zu dürfen, ohne es sein zu müssen. Hans Blumenberg: Lebensthemen. Aus dem Nachlaß, 151
O Nacht! Ich will ja nicht so viel,
ein kleines Stück Zusammenballung,
ein Abendnebel, eine Wallung
von Raumverdrang, von Ichgefühl.
O Nacht! Ich mag dich kaum bemühn!
Ein kleines Stück nur, eine Spange
von Ichgefühl — im Überschwange
noch einmal vorm Vergängnis blühn!
O still! Ich spüre ein kleines Rammeln:
Es sternt mich an — es ist kein Spott —:
Gesicht, ich: mich, einsamen Gott,
sich groß um einen Donner sammeln.
— Gottfried Benn

“Ich baue beim Bau meines Hauses ganz auf meine Hausautoren, sie sind das Fundament meines Verlags”, sagte Engeler zu Henrici, als sie zusammen in die Baugrube blickten, wo einige Schriftsteller eben damit beschäftigt waren, mit einer Nervensäge Wörter zu zerlegen. Die zu wirren Haufen aufgeschichteten Bausteine wurden von den werkmüdigerweise damit beauftragten Anagrammatikern so zusammengeschottert, dass
sie mindestens bis zum Richtfest fast festgemauert in der Rede stehen würden. “Hausautoren sind zwar fundan1ental”, sagte Henrici, “aber ich bin beruhigt zu sehen, dass du nicht so sehr auf sie baust, dass du sie einmauerst.” Engeler warf ihm einen etwas misstrauischen Blick zu und meinte: “Unser ganzer Fundus ist ausschliesslich mental, allerdings mehr ornamental als instrumental, und weniger monumental als experimental. Deshalb kommen wir auch ohne Zement aus. Die Wände mögen wie Papier aussehen, aber sie sind mit Bleistiften armiert. Das Haus ruht, wie du bemerkt haben wirst, auf festen Grundsätzen, denn wir werden jetzt häuslich, ganz ohne Feld‑, Wald- und Wiesenpoesie. Es beginnt ein neuer Abschnitt.” “Man könnte fast sagen: ein Umbruch”, pflichtete ihm Henrici bei, “sogar noch bevor alles gestrichen ist.” —Hans-Jost Frey, Henrici, 11

Ich kann nicht sagen, dass ich von Romeo oder Julia wirklich begeistert gewesen wäre. Das liegt vor allem daran, dass ich nicht so recht kapiert habe, was der Text eigentlich (sein) möchte. Dabei hat er unbestreitbar ausgezeichnete Momente und Seiten, neben einigen Längen. Einige der ausgezeichneten Momente finden auf der Ebene der Sprache statt: Es gibt funkelnde einzelne Sätze in einem Meer von stilistischem und gedanklichem Chaos. So habe ich mir das zunächst notiert — aber das stimmt so nicht ganz: chaotisch (also realistisch) erscheint der Text zunächst nur, er entwickelt dann aber schon seine Form. Die zumindest stellenweise hypertrophe Stilistik in der Übersteigerung auf allen Ebenen ist dann auch tatsächlich lustig.
Unermüdlich arbeiteten hinter den Dingen, an denen ich vorbeikam, die Grundmaschinen der Existenz, die seit Jahrtausenden mit Menschenleben gefüttert werden, und die Stadt stützte ihre taube und ornamentale Masse auf dieses unterirdische Magma von Lebensgier, Kampf, Wille, Lust und Bewegung. 227
Was wird in Romeo oder Julia erzählt? Das ist eben die Frage. Irgendwie geht es um einen Schriftsteller, Kurt Prinzhorn (über dessen literarische Werke nichts zu erfahren ist), der bei einem Hotelaufenthalt in Innsbruck von einer benutzten Badewanne und verschwundenen Schlüsseln etwas erschreckt wird. Ratlos bleibt er zurück und denkt immer wieder über die Rätselhaftigkeit des Geschehens nach, während das Autorenleben mit Stationen in Moskau und Madrid weitergeht. Dort nähert sich dann auch die antiklimaktische Auflösung, die in einem Nachspiel in Berlin noch einmal ausgebreitet wird: Der Erzähler wird von einer sehr viel früheren kurzzeitigen Freundin verfolgt und bedroht, die dann beim Versuch, zu ihm zu gelangen (um ihn zu töten), selbst stirbt … Trotz des Plots, der nach Krimi oder Thriller klingt, bleibt Romeo oder Julia bei einer unbeschwerten Rätselhaftigkeit, ein Spiel mit Spannungselementen, sexistischem und völkerpsychologischem Unsinn und anderen Peinlichkeiten. Immerhin sind der knappe Umfang und die eher kurzen Kapitel (übrigens genau 42 — wobei ich bei Falkner in diesem Fall keine Absicht unterstelle) sehr leserfreundlich. Durch die zumindest eingestreuten stilistischen Höhenflüge war das für mich eine durchaus unterhaltsame Lektüre, bei der ich keine Ahnung habe, was das eigentlich sein soll, was der Text eigentlich will. Weder die Krimi-Elemente noch die Popliteraturkomponente oder die massiven Intertextualitätssignale (die ich nicht alle in vernünftige Beziehung zum Text bringe, aber sicherlich habe ich auch eine Menge schlicht übersehen) formen sich bei meiner Lektüre zu einem Konzept: Ein schlüssiges Sinnkonstrukt kann ich nicht so recht erkennen, nicht lesen und leider auch nicht basteln.
Es war Sonntagvormittag, und es gab kaum Leute auf der Straße. Straßen auf den Leuten gab es erst recht nicht. es gab auch keine Busse, die man sich auf der Zunge hätte zergehen lassen können, oder Friseure, die aufgrund einer ungestümen Blümeranz der Ohnmacht nahe gewesen wären. Auch nicht die Heldenfriedhöfe, die in wilden und ausufernden Vorfrühlingsnächten von den Suchmaschinen auf die Bildschirme gezaubert werden, um mit ihren schneeweißen und christuslosen Kreuzen die Surfer in ihre leere Erde zu locken. Es gab nicht einmal die feuchte, warme Hand der katholischen Kirche oder das tröstliche Röcheln des Drachens, dem sein beliebtester Gegner, der heilige Georg, gerade die eiserne Lanze in den Rachen gestoßen hat. Es gab einfach wirklich nur das, was da war, was wir unmittelbar vor Augen hatten, und die Tatsache, dass ich in Kürze losmusste. 78
Das ist mal ein ziemlich trostloses Buch über eine junge Bäuerin aus Alternativlosigkeit, die auch in den angeblich so festen Werten und sozialen Netzen des Landlebens (der „Heimat“) keinen Halt findet, keinen Sinn für ihr Leben. Stattdessen herrscht überall Gewalt — gegen Dinge, Tiere und Menschen. Einerseits ist da also die Banalität des Landlebens, der Ödnis, der „Normalität“, dem nicht-besonderen, nicht-individuellen Leben. Andererseits brodelt es darunter so stark, dass auch die Oberfläche in Bewegung gerät und Risse bekommt. Natürlich gibt es die Schönheit des Landes, auch in der beschreibenden Sprache (die freilich nicht so recht zur eigentlichen Erzählhaltung passt und mit ihren angedeuteten pseudo-umgangssprachlichen Wendunge („nich“, “glaub ich”) auch viele schwache Seiten hat und nerven kann). Aber genauso natürlich gibt es auch die Verletzungen, die die Menschen sich gegenseitig und der “natürlichen” Umwelt gleichermaßen zufügen.
Die Absicht von Niemand ist bei den Kälbern ist schnell klar (schon mit dem Umschlag, sonst spätestens auf der ersten Seite, wenn das Rehkitz beim Mähen getötet wird): Heimat, v.a. aber das Landleben entzaubern — denn es ist auch nur eine Reihe von Banalitäten und Einsamkeiten (auch & gerade zu zweit) und suche nach Liebe, Nähe, Emotionen. Die Natur bleibt von all dem unbeteiligt und eigentlich unberührt. Mich nerven aber so Hauptfiguren wie diese Christin, die — obwohl vielleicht nicht direkt defätistisch — alles (!) einfach so hinnehmen, ohne Gefühlsregung, ohne Gestaltungswillen, ja fast ohne Willen überhaupt, denen alles nur passiert, die alles mit sich geschehen lassen. Dass da dann kein erfüllter Lebensentwurf herauskommt, ist abzusehen. Mir war das unter anderem deshalb zu einseitig, zu eindimensional.
Manchmal glaub ich, jedes Flugzeug, das ich sehe, existiert überhaupt nur, um mich daran zu erinnern, dass ich einer der unbedeutendsten Menschen der Welt bin. Wieso sollte ich sonst in diesem Moment auf einem halb abgemähten Feld stehen? Nicht mal in einer Nazi-Hochburg, nicht mal an der Ostsee oder auf der Seenplatte, nicht mal auf dem Todesstreifen, sondern kurz davor, daneben, irgendwo zwischen alldem. Genau da, wo es eigentlich nichts gibt außer Gras und Lehmboden und ein paar Plätze, die gut genug sind, um da Windräder hinzustellen. 11
Das ist tatsächlich ein ziemlich lustiger Roman über Roland Barthes, die postmoderne Philosophie, Sprachwissenschaft und Psychologie in Frankreich, auch wenn der Text einige Längen hat. Vielleicht ist das aber wirklich nur für Leser lustig, die sich zumindest ein bisschen in der Geschichte der französischen Postmoderne, ihrem Personal und ihren Ideen (und deren Rezeption in den USA und Europa) auskennen. Und es ist auch ein etwas grotesker Humor, der so ziemlich alle Geistesheroen des 20. Jahrhunderts körperlich und seelisch beschädigt zurücklässt.
Ausgangspunkt der mehr als 500 Seiten, die aber schnell gelesen sind, ist der Tod des Strukturalisten und Semiotikers Roland Barthes, der im Februar 1980 bei einen Unfall überfahren wurde. Für die Ermittlungen, die schnell einerseits in das philosophisch geprägte Milieu der Postmoderne führen, andererseits voller Absurditäten und grotesker Geschehnisse sind, verpflichtet der etwas hemdsärmelige Kommissar einen Doktorand, der sich in diesem Gebiet gut auszukennen scheint. Ihre Ermittlungen führt das Duo dann in fünf Stationen von Paris über Bologna nach Ithaca/USA und zurück zu Umberto Eco (der einzige, der einigermaßen unversehrt davonkommt), womit die Reise, die Ermittlung und der Text das Netzwerk europäischen Denkens (mit seinen amerikanischen Satelliten der Ostküste) in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts nachzeichnen. Das ist so etwas wie ein Pop-Philosophie-Thriller, der für mich doch recht zügig seinen Reiz verlor, weil das als Romantext eher banal und konventionell bleibt. Interessant sind höchstens die Metaebenen der Erzählung (die es reichlich gibt) und die Anachronismen (die auch gerne und mit Absicht verwendet werden), zumal die Theorie und ihr Personal immer mehr aus dem Blick geraten
Die im Titel verhießene siebte Sprachfunktion bleibt natürlich Leerstelle und wird nur in Andeutungen — als unwiderstehliche, politisch nutzbare Überzeugungskraft der Rede — konturiert. Dafür gibt es genügend andere Stationen, bei denen Binet sein Wissen der europäischen und amerikanischen Postmoderne großzügig ausbreiten kann.
Während er rückwärtsgeht, überlegt Simon: Angenommen, er wäre wirklich eine Romangestalt (eine Annahme, die weitere Nahrung erhält durch das Setting, die Masken, die mächtigen malerischen Gegenstände: in einem Roman, der sich nicht zu gut dafür wäre, alle Klischees zu bedienen, denkt er), welcher Gefahr wäre er im Ernst ausgesetzt? Ein Roman ist kein Traum: In einem Roman kann man umkommen. Hinwiederum kommt normalerweise die Hauptfigur nicht ums Leben, außer vielleicht gegen Ende der Handlung. / Aber wenn es das Ende der Handlung wäre, wie würde er das erfahren? Wie erfährt man, wann man auf der letzten Seite angekommen ist? / Und wenn er gar nicht die Hauptfigur wäre? Hält sich nicht jeder für den Helden seiner eigenen Existenz? 420
Ein feines, kleines Büchlein. Mit “Interview” ist es viel zu prosaisch umschrieben, denn einerseits ist das ein vernünftiges Gespräch, andererseits aber auch so etwas wie ein Auskunftsbuch: Dieter Grimm gibt Auskunft über sich, sein Leben und sein Werk. Dabei lernt man auch als Nicht-Jurist eine Menge — zumindest ging es mir so: Viel spannendes zur Entwicklung von recht und Verfassung konnte ich hier lesen — spannend vor allem durch das Interesse Grimms an Nachbardisziplinen des Rechts, insbesondere der Soziologie. Deshalb tauchen dann auch ein paar nette Luhmann-Anekdoten auf. Außerdem gewinnt man als Leser auch ein bisschen Einblick in Verfahren, Organisation und Beratung am Bundesverfassungsgericht, an dem Grimm für 12 Jahre als Richter tätig war. Schön ist schon die nüchterne Schilderung der der nüchternen Wahl zum Richter — ein politischer Auswahlprozess, den Grimm für “erfreulich unprofessionell” (126) hält. Natürlich gewinnt das Buch nicht nur durch Grimms Einblick in grundlegende Wesensmerkmale des Rechts und der Jurisprudenz, sondern auch durch seine durchaus spannende Biographie mit ihren vielen Stationen — von Kassel über Frankfurt und Freiburg nach Paris und Harvard wieder zurück nach Frankfurt und Bielefeld, dann natürlich Karlsruhe und zum Schluss noch Berlin — also quasi die gesamte Geschichte der Bundesrepublik Deutschland — Grimm ist 1937 geboren — in einem Leben kondensiert.
Das Buch hat immerhin auch seine Seltsamkeiten — in einem solchen Text in zwei Stichwörtern in der Fußnote zu erklären, wer Konrad Adenauer war, hat schon seine komische Seite. Bei so manch anderem Namen war ich aber froh über zumindest die grobe Aufklärung, um wen es sich handelt. Die andere Seltsamkeit betrifft den Satz. Dabei hat jemand nämlich geschlampt, es kommen immer wieder Passagen vor, die ein Schriftgrad kleiner gesetzt wurden, ohne dass das inhaltlich motiviert zu sein scheint — offensichtlich ein unschöner Fehler, der bei einem renommierten und traditionsreichen Verlag wie Mohr Siebeck ziemlich peinlich ist.
Adorno verstand ich nicht. Streckenweise unterhielt ich mich einfach damit zu prüfen, ober er seine Schachtelsätze korrekt zu Ende brachte. Er tat es. 41
Zu diesem schönen, wenn auch recht kurzen Vergnügen habe ich vor einiger Zeit schon etwas gesondert geschrieben: klick.
außerdem gelesen:
- Dirk von Petersdorff: In der Bar zum Krokodil. Lieder und Songs als Gedichte. Göttingen: Wallstein 2017 (Kleine Schriften zur literarischen Ästhetik und Hermeneutik, 9). 113 Seiten. ISBN 978–3‑8353–3022‑1.
- Hans-Rudolf Vaget: “Wehvolles Erbe”. Richard Wagner in Deutschland. Hitler, Knappertsbusch, Mann. Frankfurt am Main: Fischer 2017. 560 Seiten. ISBN 9783103972443.
Am schwierigsten ist es, beim Denken nicht immer nur die eigenen Gedanken zu denken. Gerhard Falkner, Romeo oder Julia, 137