Jürgen Becker: Die folgenden Seiten. Journalgeschichten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. 156 Seiten. ISBN 978–3‑518–41820‑8.
Schon der Untertitel zeigt die Ambivalenz des Buches: Ist das ein Journal oder sind es Geschichten? Man muss das wohl wirklich zusammendenken: Das ist kein Tagebuch, also schon Fiktion. Aber es simuliert das tägliche Schreiben: Der Erzähler nimmt sich ein Notizbuch mit 200 Seiten vor und beschreibt jeden Tag eine Seite mehr oder weniger voll. Vielleicht hat Becker das auch so gemacht – aber das ist ja auch egal. Schade ist nur, dass der Verlag die Idee, die 200 Seiten eines Journale fiktional zu beschreiben (des Erzählers), nicht im realen Buch abbilden wollte – das wäre doch eine schöne Performanz des Textes gewesen, der sein Organisationsprinzip ja immerhin selbst erläutert. Dafür sind die Journalgeschichten aber immerhin ohne Seitenzahlen gedruckt.
Man erlebt, seufzt der Mensch, das Wetter gar nicht mehr, wie es kommt, wie es ist, wie es geht. Man erlebt nur noch, wie es eine Prophezeiung erfüllt. (150)
Der Text ist eine Mischung aus grundsätzlichen Reflexionen, leicht und fast nebenbei, als Zufall und Fundstücke etc präsentiert, mit den Erinnerungen und vielfältigen Erinnerungsanlässen eines alt(ernd)en Mannes, die immer wieder vom Einbruch der „Realität“ der Schreibgegenwart, zum Beispiel den wiederholt auftauchenden „Gästen“, unterbrochen werden. Vieles sind „nette“, freundliche, zugewandte Tagebuchskizzen mit viel untergemischter (persönlicher) „Vergangenheitsbewältigung“, auch viel Hitler & Co. Das ist dann – nicht nur hin und wieder – schon etwas sentimental, aber dank der Wortkunst Beckers noch auszuhalten. Dennoch ist mir das insgesamt etwas zu belanglos, das plätschert zu ziellos vor sich hin. Die sympathische kurze/kleine Form wird für meinen Geschmack nicht ausreichend für die poetische Verdichtung genutzt, deshalb wirkt vieles doch etwas blass und bleibt ohne tiefere Wirkung für mich.
In diesem Jahr könnte es soweit sein. Im vergangenen Jahr hätte es auch soweit sein können, ebenso im Jahr davor, oder vor zwei, drei, vor zehn Jahren schon. Vielleicht ist es erst im nächsten Jahr soweit, oder im übernächsten; dabei müssen es nicht einmal Jahre, es können auch kürzere Fristen sein, Wochen, Tage, Stunden, wer weiß. Ganz sicher ist, irgendwann ist es soweit, ob plötzlich, oder ob es sich hinzieht. (16)
Giulia Becker: Das Leben ist eines der Härtesten. Hamburg: Rowohlt 2019. 224 Seiten. ISBN 978–3‑498–00689‑1.
Matthias | Giulia Beckers erster Roman mit dem schönen Titel Das Leben ist eines der Härtesten fällt hier wahrscheinlich etwas aus dem Rahmen. Denn das ist, auch wenn es im Literaturverlag Rowohlt erschienen ist, keine Kunst, sondern Unterhaltung. Und auch noch recht derbe Unterhaltung dazu. Die kurze, episodenhaft erzählte Geschichte um einige Verlierertypen aus Borken ist aber immerhin durchaus komisch oder, um das gleich etwas einzuschränken, hat zumindest viele komische Momente in der Übertreibung und Zuspitzung der Charaktere (die eher ziemlich flache Typen sind). Aber, und das ist halt ein großes Aber: Literarisch taugt das nicht, weder formal noch stilistisch trägt das irgendwie. Ästhetisch ist das belanglos (so wie der Inhalt der Geschichte ja auch eigentlich eher belanglos bleibt). Das funktioniert als nette – und recht flache – Unterhaltung, als eine unkomplizierte, anspruchslose Lektüre für zwischendurch, mit dem einen oder anderen Lacher. Die Süddeutsche hat das in ihrer Rezension als „Privatfernsehliteratur“ bezeichnet (behauptet der Perlentaucher) – und das trifft es ziemlich genau: Mit und vor allem über die vermurksten Leben der anderen lachen, sich selbst dabei wohlig überheblich und sicher fühlen – viel mehr will und kann dieser Text nicht.
Sinclair Lewis: Babbitt. Übersetzt von Bernhard Robben. Mit einem Nachwort von Michael Köhlmeier. München: Manesse 2017. 784 Seiten. ISBN 978–3‑641–211476‑0.
Matthias | Bonaventura hat mich darauf gebracht, doch mal wieder außerhalb des deutschsprachigen Bereichs zu lesen. In der Tat war mir Sinclair Lewis bisher gerade so dem Namen nach bekannt, gelesen hatte ich noch nichts. Das hat sich nun geändert: Babbitt ist eine durchaus vergnügliche Lektüre. Von den über 700 Seiten sollte man sich nicht abschrecken lassen. Erstens sind das Seiten im kleinen Manesse-Verlag, wo die Neuübersetzung von Bernhard Robben (mit einigen wenigen Stellen, die mir seltsam schienen, ohne sie am Original geprüft zu haben) 2017 erschienen ist. Zweitens lässt sich das, zumindest in der Übersetzung, recht flott lesen. Babbitt ist, da würde ich Michael Köhlmeiers seltsamen Nachwort doch widersprechen, eine Satire. Eine Satire auf den amerikanischen Mittelstand kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Der namensgebende Titelheld, George F. Babbitt, ist Immobilienmakler und vor allem ein Angeber und Schwätzer vor dem Herren. Der Roman bestätigt schön meine Vorurteile über die oberflächliche, kapitalistische, patriarchalische und weitgehend un- bzw. amoralische Gesellschaft der USA im 20. Jahrhundert (ja, ich weiß, böse Vorurteile – und nicht, dass es in Europa besser wäre …). Lewis macht das aber auf eine sehr amüsante Weise und erzählt Babbitt vor allem als einen imperfekten Menschen, der nach mehr – dem Sinn des Lebens, der Erfüllung, irgendwas neben dem erwarteten und vorgezeichneten Leben eines amerikanischen Geschäftsmannes eben – sucht, ohne selbst zu wissen, das er auf der Suche ist und schon gar nicht, wonach ihm eigentlich dürstet und gelüstet (jenseits des Alkohols natürlich …). Babbitt fängt sehr dicht am Protagonisten an, folgt ihm sozusagen zunächst auf Schritt und Tritt, in feiner Detailauflösung. Zunehmend löst sich das, die Handlung springt, beschleunigt und bremst wieder, was mir doch hin und wieder den Eindruck eines formalen Ungleichgewichts erweckte: Nach der äußerst detaillierten und ausführlichen Exposition scheint sich die Fabel gerade im letzten Viertel immer mehr zu beschleunigen und weniger genau erzählt zu werden. Das funktioniert natürlich trotzdem, gerade durch und wegen des hyperdetaillierten Beginns. Dabei wird die Gesellschaft der fiktiven Großstadt Zenith, in der Babbitt spielt, aber immer deutlicher als eine restriktive und stratifizierte erkennbar, in der gerade nichtsnutzige Schwätzer wie Babbitt durch ihre Verbindung mit anderen ihresgleichen (in den Clubs und Vereinigungen) die Macht und vor allem das wirtschaftliche Geschehen, ungeachtetet ihrer im Roman ziemlich deutlich zutage tretenden Inkompetenz und Amoralität, fest in der Hand haben und behalten.
Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall. Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg 2019. 288 Seiten. ISBN 978–3‑85420–978‑2.
Matthias | Ich weiß ja wieder einmal nicht so recht: Von der Kritik recht einhellig sehr positiv bewertet und besprochen, finde ich das Buch dann doch eher belanglos. Ja, die fünf Lebensläufe der Frauen, die lose miteinander verknüpft diesen Roman bzw. dessen fünf Abschnitte bilden, sind interessant zu verfolgen (auch gerade als männlicher Leser wahrscheinlich). Aber das bleibt im Erzählen wieder so schrecklich banal und gewöhnlich. Vielleicht sind solche Bücher, gerade in ihrer Stillosigkeit (oder zumindest in ihrem neutralen, unauffälligen Stil) notwendig – aber packen oder gar begeistern kann mich das nicht.
Das mag auch daran liegen, dass mir das arg pessimistisch grundiert zu sein scheint: Änderungen, Entwicklungen der Protagonistinnen zum Beispiel, scheinen hier kaum bis gar nicht möglich. Ansätze dazu gibt es, die werden aber gerne und immer wieder von der Außenwelt, von den anderen, von Männern und Kindern und anderen Verwandten vor allem, vernichtet und zerschmettert.
Sie weiß mehr als damals, doch was nützt es ihr? (125)
Interessant übrigens, das nur am Rande, dass alle Frauen auffällig viel Musik – und zwar in erster Linie klassische Musik – hören. Das wäre wahrscheinlich einen genaueren Blick wert. Beim ersten Lesen scheint mir das aber, gerade im Zusammenhang mit den erzählten Lebensläufen und deren Problemen, nicht besonders ergiebig. Aufgefallen ist es mir vor allem, weil es mir zumindest zu einem Teil der Figuren nicht so recht zu passen scheint. Aber typisch für Die Liebe im Ernstfall ist, dass auch dies – wie nahezu alle äußere Handlung (abseits von der Gefühlsinnenwelt der Protagonistinnen) nur Nebensache ist, nur so anbei geschieht. „Sätze ohne Spannung, ohne Klang, ohne Zauber“ beschreibt eine der Protagonistinnen, die als Schriftstellerin arbeitet oder zu arbeiten versucht, wenn die Kinder ihr Zeit und Energie lassen, einmal ihre Tagesproduktion (125). Und das trifft auch Die Liebe im Ernstfall ziemlich genau.
außerdem gelesen:
Moritz Föllmer: „Ein Leben wie im Traum“. Kultur im Dritten Reich. München Beck 2016. 288 Seiten. ISBN 978–3‑406–67905‑6.
Jan Philipp Reemtsma: Gewalt als Lebensform. Zwei Reden. Stuttgart: Reclam 2016. 64 Seiten. ISBN 9783150193822.
Heinz Gärtner: Der Kalte Krieg. Bündnisse – Krisen – Konflikte. Wiesbaden: marix 2017. 254 Seiten. ISBN 9783737410335.
Hans Eisenträger: Der Mann seiner Frau. Novelle. Hrsg. von Nikola Roßbach. Hannover: Wehrhahn 2018. 68 Seiten. ISBN 978–3‑86525–641‑6.
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