Schon der Untertitel zeigt die Ambivalenz des Buches: Ist das ein Journal oder sind es Geschichten? Man muss das wohl wirklich zusammendenken: Das ist kein Tagebuch, also schon Fiktion. Aber es simuliert das tägliche Schreiben: Der Erzähler nimmt sich ein Notizbuch mit 200 Seiten vor und beschreibt jeden Tag eine Seite mehr oder weniger voll. Vielleicht hat Becker das auch so gemacht — aber das ist ja auch egal. Schade ist nur, dass der Verlag die Idee, die 200 Seiten eines Journale fiktional zu beschreiben (des Erzählers), nicht im realen Buch abbilden wollte — das wäre doch eine schöne Performanz des Textes gewesen, der sein Organisationsprinzip ja immerhin selbst erläutert. Dafür sind die Journalgeschichten aber immerhin ohne Seitenzahlen gedruckt.
Man erlebt, seufzt der Mensch, das Wetter gar nicht mehr, wie es kommt, wie es ist, wie es geht. Man erlebt nur noch, wie es eine Prophezeiung erfüllt. (150)
Der Text ist eine Mischung aus grundsätzlichen Reflexionen, leicht und fast nebenbei, als Zufall und Fundstücke etc präsentiert, mit den Erinnerungen und vielfältigen Erinnerungsanlässen eines alt(ernd)en Mannes, die immer wieder vom Einbruch der “Realität” der Schreibgegenwart, zum Beispiel den wiederholt auftauchenden “Gästen”, unterbrochen werden. Vieles sind “nette”, freundliche, zugewandte Tagebuchskizzen mit viel untergemischter (persönlicher) “Vergangenheitsbewältigung”, auch viel Hitler & Co. Das ist dann — nicht nur hin und wieder — schon etwas sentimental, aber dank der Wortkunst Beckers noch auszuhalten. Dennoch ist mir das insgesamt etwas zu belanglos, das plätschert zu ziellos vor sich hin. Die sympathische kurze/kleine Form wird für meinen Geschmack nicht ausreichend für die poetische Verdichtung genutzt, deshalb wirkt vieles doch etwas blass und bleibt ohne tiefere Wirkung für mich.
In diesem Jahr könnte es soweit sein. Im vergangenen Jahr hätte es auch soweit sein können, ebenso im Jahr davor, oder vor zwei, drei, vor zehn Jahren schon. Vielleicht ist es erst im nächsten Jahr soweit, oder im übernächsten; dabei müssen es nicht einmal Jahre, es können auch kürzere Fristen sein, Wochen, Tage, Stunden, wer weiß. Ganz sicher ist, irgendwann ist es soweit, ob plötzlich, oder ob es sich hinzieht. (16)
Aber, und das ist halt ein großes Aber: Literarisch taugt das nicht, weder formal noch stilistisch trägt das irgendwie. Ästhetisch ist das belanglos (so wie der Inhalt der Geschichte ja auch eigentlich eher belanglos bleibt). Das funktioniert als nette — und recht flache — Unterhaltung, als eine unkomplizierte, anspruchslose Lektüre für zwischendurch, mit dem einen oder anderen Lacher. Die Süddeutsche hat das in ihrer Rezension als “Privatfernsehliteratur” bezeichnet (behauptet der Perlentaucher) — und das trifft es ziemlich genau: Mit und vor allem über die vermurksten Leben der anderen lachen, sich selbst dabei wohlig überheblich und sicher fühlen — viel mehr will und kann dieser Text nicht.
Das mag auch daran liegen, dass mir das arg pessimistisch grundiert zu sein scheint: Änderungen, Entwicklungen der Protagonistinnen zum Beispiel, scheinen hier kaum bis gar nicht möglich. Ansätze dazu gibt es, die werden aber gerne und immer wieder von der Außenwelt, von den anderen, von Männern und Kindern und anderen Verwandten vor allem, vernichtet und zerschmettert.
Sie weiß mehr als damals, doch was nützt es ihr? (125)
Interessant übrigens, das nur am Rande, dass alle Frauen auffällig viel Musik — und zwar in erster Linie klassische Musik — hören. Das wäre wahrscheinlich einen genaueren Blick wert. Beim ersten Lesen scheint mir das aber, gerade im Zusammenhang mit den erzählten Lebensläufen und deren Problemen, nicht besonders ergiebig. Aufgefallen ist es mir vor allem, weil es mir zumindest zu einem Teil der Figuren nicht so recht zu passen scheint. Aber typisch für Die Liebe im Ernstfall ist, dass auch dies — wie nahezu alle äußere Handlung (abseits von der Gefühlsinnenwelt der Protagonistinnen) nur Nebensache ist, nur so anbei geschieht. “Sätze ohne Spannung, ohne Klang, ohne Zauber” beschreibt eine der Protagonistinnen, die als Schriftstellerin arbeitet oder zu arbeiten versucht, wenn die Kinder ihr Zeit und Energie lassen, einmal ihre Tagesproduktion (125). Und das trifft auch Die Liebe im Ernstfall ziemlich genau.
außerdem gelesen:
- Moritz Föllmer: “Ein Leben wie im Traum”. Kultur im Dritten Reich. München Beck 2016. 288 Seiten. ISBN 978–3‑406–67905‑6.
- Jan Philipp Reemtsma: Gewalt als Lebensform. Zwei Reden. Stuttgart: Reclam 2016. 64 Seiten. ISBN 9783150193822.
- Heinz Gärtner: Der Kalte Krieg. Bündnisse — Krisen — Konflikte. Wiesbaden: marix 2017. 254 Seiten. ISBN 9783737410335.
- Hans Eisenträger: Der Mann seiner Frau. Novelle. Hrsg. von Nikola Roßbach. Hannover: Wehrhahn 2018. 68 Seiten. ISBN 978–3‑86525–641‑6.
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