Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

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Kunststück

Einen Nagel mit weni­gen Ham­mer­schlä­gen so in ein Stück Holz zu schla­gen, dass ist kein Handw­erk mehr, son­dern ein Kun­st­stück (das ich nicht selb­st voll­brachte):

nagel im holz

Beim Schrei nach Gerechtigkeit

In der Son­der­ausstel­lung “Schrei nach Gerechtigkeit” des Dom­mu­se­ums Mainz:

Der "Schrei nach Gerechtigkeit" hat Gesellschaft bekommen ...

Der “Schrei nach Gerechtigkeit” hat Gesellschaft bekom­men …

Arg viele Besuch­er hat die Ausstel­lung wohl nicht (als ich da war, war ich öfters sehr alleine), das Auf­sichtsper­son­al hat Zeit zum Lesen …

Selige Zeit der ersten Liebe

Selige, selige Zeit! du bist schon lange vor­bei! O die Jahre, worin der Men­sch seine ersten Gedichte und Sys­tem lieset und macht, wo der Geist seine ersten Wel­ten schafft und seg­net, und wo er voll frisch­er Mor­gengedanken die ersten Gestirne der Wahrheit kom­men sieht, tra­gen einen ewigen Glanz und ste­hen ewig vor dem sehnen­den Herzen, das sie genossen hat und dem die Zeit nach­her nur astronomis­che Ephemeri­den und Refrak­tion­sta­bellen über die Mor­genge­stirne reicht, nur ver­al­tete Wahrheit­en und ver­jüngte Lügen! – O damals wurd’ er von der Milch der Wahrheit wie ein frisches durstiges Kind getränkt und großge­zo­gen, später wird er von ihr nur als ein welk­er skep­tis­ch­er Hek­tikus kuri­ert! – Aber du kannst freilich nicht wiederkom­men, her­rliche Zeit der ersten Liebe gegen die Wahrheit, und diese Seufz­er sollen mir eben nur deine Erin­nerung wärmer geben; – und kehrest du wieder, so geschieht es gewiß nicht hier im tiefen niedri­gen Gruben­baue des Lebens, wo unsere Mor­gen­röte in den Gold­flämm­lein auf dem Gold­kiese beste­ht und unsere Sonne im Gruben­licht – nein, son­dern dann kann es geschehen, wenn der Tod uns aufdeckt und den Sargdeck­el des Schacht­es von den tiefen blaßgel­ben Arbeit­ern wegreißet, und wir nun wieder, wie erste Men­schen, in ein­er neuen vollen Erde ste­hen und unter einem frischen uner­meßlichen Him­mel! – Jean Paul, Titan, 25. Zykel

Achtung, Schild

Eines mein­er absoluten Lieblingss­childer ste­ht im Oden­wald, am Hal­tepunkt Hetschbach der Oden­wald­bahn (hier lei­der nur in ein­er sehr schlecht­en Auf­nahme):

schild

Das Gesetz der deutschen Straße

itstart­ed­with­afight hat einen schö­nen fernse­hbeitrag des br von 1964 gefun­den und weist zu recht darauf hin, dass sich in den jahrzehn­ten seit­dem wenig geän­dert hat:

Film vom 27 04 1964 Ver­hal­tensweise deutsch­er Aut­o­fahrer Report München

Beim Klick­en auf das und beim Abspie­len des von YouTube einge­bet­teten Videos wer­den (u. U. per­so­n­en­be­zo­gene) Dat­en wie die IP-Adresse an YouTube über­tra­gen.

Sokrates

Alle Welt freut sich aus den ver­schieden­sten Grün­den und Anlässen immer wieder über den alber­nen, Sokrates zugeschriebe­nen Satz »Ich weiß, dass ich nichts weiß«. Er enthält drei defin­i­torisches Unsauberkeit­en, zwei fette Kat­e­gorien­fehler, min­destens ein Para­dox­on, anderthalb Tau­tolo­gien, Son­nen­blu­menöl, Zwiebelpul­ver, Sch­neck­en­paste und unzäh­lige gequirlte Ausre­den, aber berühmt ist er trotz­dem. Diet­mar Dath/Heike Aumüller, Ver­botene Verbesserun­gen, 44

Rosenpracht

Am Woch­enende im Oden­wald:

Critical Mass in Mainz, die Sommerausgabe

Logo der Critical MassAm Fre­itag — wie jeden ersten Fre­itag in jedem Monat — war in Mainz wieder die Crit­i­cal Mass unter­wegs. Und nach län­ger­er Pause war ich auch wieder dabei. Die tem­poräre Absti­nenz hat­te kein beson­deren Gründe — der Ter­min (fre­itags ab 18 Uhr) ist für mich nur etwas ungün­stig, da habe ich oft andere Verpflich­tun­gen oder ver­lasse Mainz ger­ade für das Woch­enende …

Aber im Juni hat es geklappt — aus­gerech­net an einem Brück­en­tag, nach dem im immer noch katholis­chen Rhein­land-Pfalz (und Mainz) entsprechend began­genen Fron­le­ich­nams­fest). Ich hat­te mich extra beeilt, weil ich bis kurz vor sechs auf dem Cam­pus war. Und dann war es doch wieder umson­st … Denn nicht zum ersten Mal startete die Crit­i­cal Mass mit erhe­blich­er Verzögerung — erst kurz vor halb Sieben set­zte sich der Tross in Bewe­gung. Einen Grund dafür kon­nte ich nicht so recht erken­nen — es war nicht ger­ade so, dass die Massen noch mit ihren Rädern zum Guten­berg­platz strömten. Mich nervt so etwas ja immer unge­mein: Was soll das Rumgeste­he und Warten auf dem Guten­berg­platz? Es muss ja nicht unbe­d­ingt um Punkt 18.00 los­ge­hen. Aber knapp 30 Minuten Verzögerung müssen eben auch nicht sein.

Egal: trotz oder wegen her­rlich­stem Som­mer­wet­ter — etwa 32 Grad bei strahlen­dem Son­nen­schein — waren knapp 90 Radlerin­nen und Radler dabei. Lei­der war auch viel Bier mit im Spiel — schon vorher sam­melten sich die Flaschen und Dosen auf den Trep­pen des Staat­sthe­aters und auch während (!) des Fahrens wurde noch fleißig weit­er gepichelt. Und das ist etwas, was ich gar nicht ver­ste­hen kann und will: Die Crit­i­cal Mass bemüht sich darum, dass Fahrräder als Teil des Verkehrs ernst und wichtig genom­men wer­den. Da passt so etwas doch nicht wirk­lich dazu, zumal ich dur­chaus der Mei­n­ung bin, dass Rauschmit­tel im Verkehr nichts zu suchen haben … Aber zur Mainz­er Crit­i­cal Mass, vor allem zu der gestri­gen, passte das wiederum dur­chaus. Die hat sich näm­lich stark auf das Rhein­ufer konzen­tri­ert und kam mir eher wie eine Freizeit­fahrt als eine verkehrspoli­tis­che Aktion vor. Blöd nur, dass man dann auch mal durch die Fußgänger­zone radelt. Und vom regel­widri­gen Abbiegen von der Theodor-Heuss-Brücke in die Große Ble­iche will ich gar nicht reden, auch wenn ich das für total falsch halte, zumal die Rhe­in­straße eine viel sin­nvollere Alter­na­tive böte. Aber warum die Crit­i­cal Mass um den Win­ter­hafen gurken muss? Um den gril­len­den Stu­den­ten zuzuwinken? Oder warum sie am Kastel­er Rhein­ufer vor­beis­chauen muss? Ich hab’s nicht ver­standen.

Mir ist das alles jeden­falls zu viel Par­ty und zu wenig Verkehrspoli­tik. Dazu passt auch, dass die Crit­i­cal Mass jet­zt in Mainz zwar etabliert ist, aber auch nie­man­den zu stören oder zu beschäfti­gen scheint: Das gehört nun offen­bar ein­fach zur Folk­lore des städtis­chen Lebens dazu, dass ab und an Fre­itags abends ein Rad­fahrer-Kor­don durch die Stadt zieht. Genau wie zu jed­er Crit­i­cal Mass ein Aut­o­fahrer gehört, der schimpfend und aus­ras­tend sich über die Chaoten auf den Zweirädern aufregt. Aber ich sehe im Moment nicht, dass so eine Par­tyver­anstal­tung etwas anderes als ein net­ter Zeitvertreib und eine schöne Zeit für die Beteiligten ist … Das ist ja wiederum an sich nicht verkehrt und auch nicht an sich anstößig, ver­fol­gt aber eben doch einen anderen Zweck. Und ja, ich weiß, manch­es davon, was ich hier bemän­gele, ließe sich mit etwas mehr Engange­ment mein­er­seits vielle­icht sog­ar ändern. Aber dazu bin ich dann doch zu zurück­hal­tend (oder zu pas­siv oder zu wenig engagiert …). Also werde ich erst ein­mal wieder etwas Pause von der Mainz­er Crit­i­cal Mass machen und später mal wieder vor­beis­chauen …

Radfahrer, Unfälle und Schuld

Es ist schein­bar ein Automa­tismus bei Pressemel­dun­gen der Polizei: Sobald eine Rad­fahrerin in einen Unfall ver­wick­elt ist, muss unbe­d­ingt erwäh­nt wer­den, ob sie einen Helm trug — auch wenn das für den Unfall, die Ver­let­zun­gen und über­haupt vol­lkom­men unwichtig ist (genau­sogut kön­nte man übri­gens bei jedem Aut­o­fahrer erwäh­nen, ob er Radio hörte oder mit eventuell anwe­senden Beifahrern sprach …). Und die Zeitun­gen übernehmen das immer wieder gerne, ohne die dahin­ter­ste­hen­den Überzeu­gun­gen und Ein­stel­lun­gen zu hin­ter­fra­gen. Denn was soll das bezweck­en, wenn ich so etwas lese:

Ein 50 Jahre alter Aut­o­fahrer über­sah nach ersten Ermit­tlun­gen beim ver­botswidri­gen Abbiegen von der Saarstraße in die Untere Zahlbach­er Straße den dort vorhan­de­nen Rad­weg nutzen­den Rad­fahrer, der ohne Helm unter­wegs war. (All­ge­meine Zeitung Mainz)

Die Schuld­frage scheint abso­lut unstrit­tig zu sein, der Rad­fahrer ver­hielt sich im Gegen­satz zum Pkw-Fahrer vol­lkom­men regelkon­form. Warum muss dann der nicht getra­gene Helm erwäh­nt wer­den? Es geht natür­lich darum, zumin­d­est impliz­it Schuld zu verteilen: Hätte der Rad­fahrer einen Helm getra­gen, wäre er vielle­icht nicht so schlimm ver­let­zt wor­den (das ist übri­gens gar nicht immer so ganz klar …). Und noch eine Agen­da ste­ht dahin­ter: Rad­fahrer haben bitte immer einen Helm zu tra­gen, damit sie nicht so ungeschützt sind, wenn die Aut­o­fahrer ihre anderthalb Ton­nen schwere Waffe nicht mehr im Griff haben (ok, das war jet­zt etwas polemisch — aber der Punkt ist doch: Nicht die Rad­fahrer verur­sachen diese schw­eren Unfälle, son­dern die Aut­o­fahrer. Also müssen sie sich anders ver­hal­ten, nicht das Opfer.)

Wolken

Die Faszination der Wolken

„das her­auf­beschwo­eren der wolken / geschieht so wie das was in diesem buch geschieht, / die wolken im jura, zwis­chen frankre­ich und der schweiz, / und das ist das beste“ — so sind die „48 tiefliegende wolken für Rudolf Rieser von Dieter Roth — 1969 im Kom­plex der Wolkengedichte (u.a. „301 kleine wolken“ und „32 tiefer­liegende wolken“) über­schrieben oder angekündigt. Und genau wie die Frage, was diese vie­len Klein- und Kle­in­st­texte, Gedichte, Apho­ris­men oder was auch immer eigentlich mit Wolken zu tun habe, ist auch die Frage nach der Fasz­i­na­tion von Wolken über­haupt eine ver­wick­elte und schwierige.1

Denn die Fasz­i­na­tion der Wolken ist eine ver­steck­te: Sie liegt nicht im Spek­takulären, sie betont nicht das Außergewöhn­liche — son­dern umgekehrt das Nor­male und Alltägliche. Aber, das ist ja ger­ade das faszierende Moment der Wolken: Es gibt keine Nor­mal­ität, keinen All­t­ag. Es gibt nur einzi­gar­tiges — so wie keine Schneeflocke der anderen gle­icht ist auch keine Wolke mit der vorheri­gen oder näch­sten iden­tisch. Und auch das ist ein wesentlich­er Teil der Fasz­i­na­tion: Wolken sind Indi­viduen — wie Men­schen. Und wie bei Men­schen ist die Indi­vid­u­al­ität mehr oder weniger sicht­bar, gibt es auch bei den Wolken Ähn­lichkeit­en und Ver­wandtschaften, aber auch Unter­schiede und auss­chließende Abgren­zun­gen.

Jede Wolke ist anders als die benach­barte oder die gestrige, jed­er Tag bringt ein neues Reper­toire der For­men und Far­ben her­vor: Das sat­te Gelb in der Abend­däm­merung kurz vor dem Som­merge­wit­ter, das reine Weiß über den schneebe­deck­ten Alpen, die bedrohliche Grauschwärze — kaum etwas kön­nen Wolken nicht sein oder scheinen. So sind sie Ele­mente der Phan­tasie und aber auch Teil ein­er großen, kos­mis­chen Ord­nung. Das heißt, anders gewen­det: Wolken sind freie, poet­is­che Objek­te — und doch sortier­bar, klas­si­fizier­bar, bes­timm­bar. Wolken, selb­st die kle­in­sten und zartesten, ver­haucht­en, sind voll dieser Gegen­sätze. Und genau deshalb lassen sie sich gle­ichzeit­ig träu­men und lesen, lassen sie sich erken­nen und phan­tastieren. Etwa als als Bild und als (Wetter-)Zeichen. Denn Wolken sind eben auch Möglichkeits­for­men: Sie wer­den das, was wir ihnen zu- und ein­schreiben. Zugle­ich sind sie aber auch von sich aus ganz beson­dere Möglichkeits­for­men, indem sie die Zukun­ft des Wet­ters — oder eine mögliche Zukun­ft — in sich tra­gen. Und in dieser Hin­sicht sind sie eben auch les­bar (oder wären es, wenn ich über die notwendi­ge Erfahrung und Grund­lage ver­fügte). Vor allem aber laden sie dazu ein, sie in diesen bei­den Erfahrung und For­men wahrzunehmen oder zu betra­cht­en: Als rela­tionale Objek­te, die ihre Form, Farbe und ihren Sinn erst durch uns erfahren und als absolute Objek­te, die Teil eines Sys­tems sind, das wir nicht (vol­lends) entz­if­fern, erk­lären oder ver­ste­hen kön­nten — aber gerne möcht­en.

In diesem Gegen­satz liegt auch ihr Dop­pelcharak­ter von Gefahr und Rein­heit mit­be­grün­det. Genau wie Wolken für Wan­del und Bewe­gung ste­hen, sind sie auch vom Men­schen unberührte (ja, sog­ar unberührbare), unbee­in­flusste „Dinge“, die ihre eigene Makel­losigkeit und grav­i­tas behal­ten. Und doch kön­nen sie im Nu all das ver­lieren und zur reinen, total­en Bedro­hung wer­den — im Un-Wet­ter, im Aufruhr der Ele­mente.

Wolken sind noch mehr und ihr Gegen­teil: Sie sind Welt und doch nicht Welt, wirk­lich und unwirk­lich, nah und fern, hier und nicht-hier/­dort/­fort. Ihr Wesen ist die unablässliche Trans­for­ma­tion, ein per­ma­nentes Mor­phen: Bewe­gung in sich und über uns. Immer sind Wolken aber auch ein­fach das Andere: Sie sind nicht irdisch, aber doch eine unab­d­ing­bare Voraus­set­zung der Welt. Das abso­lut verza­ubernde Faszi­nosum ist aber ihre Art der Bewe­gung — die mag zwar natur­wis­senschaftlich erk­lär­bar sein und physikalis­chen Geset­zen gehorschen, mir erscheint sie aber immer insofern außergewöhn­lich, als sie ihre Geset­zmäßigkeit­en so vol­lkom­men ver­birgt. Ihre Bewe­gung ist (bzw. eben: scheint) ohne Antrieb, ohne Basis, auch ohne Ref­erenz: Wolken sind ein­fach Zuschrei­bungs­flächen. Das macht sie span­nend und ihre Erfahrung einzi­gar­tig. Noch eine Erfahrung, die Wolken ermöglichen: Das Gefühl, in die Wolke zu tauchen, beim Wan­dern, beim Rad- oder Ski­fahren: Der Ver­lust der Welt, das Zurück­ge­wor­fen­sein auf sich selb­st, die Leere, unbeschrieben und nicht beschrift­bar — ein wun­der­bares Gleit­en, das in diesem Falle sozusagen sys­tem­be­d­ingt ist.

Wolken kön­nen aber viel mehr: Wolken machen Unendlichkeit, die end­lose Weite des Him­mels erst sicht­bar. Und sie machen den Him­mel drei­di­men­sion­al, ver­wan­deln ihn erst von ein­er „Fläche“ (oder eigentlich ja eher ein­er Pseu­do­fläche) zum Raum — kaum etwas ist lang­weiliger als ein rein­er, leere blauer Him­mel … Aber in und mit den Wolken wird eben auch die Tiefe des Raums und nicht zu Let­zt auch die Ent­fer­nung zum Hor­i­zont erleb- und erfahrbar. Diese unge­heure natür­liche und kul­turelle Mul­ti­pli­zi­tät, die Vielfalt der For­men und Far­ben, Bewe­gun­gen und Bedeu­tun­gen hat übri­gens Felix Hart­laub in seinen „Kriegsaufze­ich­nung aus Paris“ (die ja, trotz ihres Titels, kaum etwas mit dem Krieg, dafür umso mehr mit der Stadt und der Natur zu tun haben) wun­der­bar beschrieben, wo es etwa heißt: „Langsame Wolken schlep­pen ihre bre­it­en, lilabraunen Schat­ten darüber hin, die oft mit ein­er Mulde, einem Wald­stück zusam­men­z­u­fall­en scheinen, sich langsam ver­lagern. Die Hel­ligkeit­en noch win­ter­lich fahl, der Anblick der las­ten­den Schat­ten macht frösteln, während die hellen Wolken­rän­der ein Gefühl von Hitze, von dun­stigem heis­sem Wind her­vor­rufen.“ Oder, wie Hart­laub einige Wochen später, in der som­mer­lichen Stadt, beobachtet und notiert: „Langge­zo­gene, kör­per­lose Wolken, wie blendend weisse Schleim­spuren, die sich unmerk­lich aus­dehnen, ausspin­nen. Das Him­mels­blau dazwis­chen erscheint matt, sein­er Strahlung beraubt, wie verblich­en­er Atlas.“ 2 Zur Form- und Bedeu­tungsvielfalt der Wolken gehört sicher­lich auch das roman­tis­chste Motiv über­haupt, der Voll­mond, der ger­ade als roman­tis­ches Motiv ohne leicht ver­schleiernde Wolken oder eine Lücke in der Wolk­endecke kaum denkbar ist: Wieder spielt hier das Ele­ment des Raum­mark­ers mit, aber auch die Ambivalenz von Verdeck­en und Enthüllen, die den Wolken so unhin­terge­hbar eingeschrieben ist: Genau wie sie andere (Himmels-)Objekte ver- und enthüllen, sind sie selb­st ja eben­falls zugle­ich opak und trans­par­ent, erkennbar und undurch­schaubar …

Ob sie nun majestätisch treiben, eilend davon­gleit­en, drän­gend schieben, sich stapeln oder durch­drin­gen — Wolken sind immer zugle­ich sicht­bare Leere. Nicht nur in der Dif­ferenz, son­dern auch in sich: Wolken sind, weil sie nicht sind — nicht mehr oder noch nicht, nicht Luft, noch nicht Regen, Schnee oder Hagel … Damit sind Wolke per­fek­te Ele­mente des Zwis­chen, eine span­nende Verkör­pe­rung der Dif­ferenz. Und doch: Obwohl Wolken damit Mark­er von Dif­ferenz sind, bleiben sie selb­st immer merk­würdig unbes­timmt und gren­zen­los, ihre eige­nen Gren­zen lösen sich in sich selb­st auf: Wolken bleiben ohne klare, definierte Abgren­zung zu ihrer Umge­bung. Wolken sind damit per­fek­te para­doxale Wesen oder Kon­struk­tio­nen — bewusst, bemerkt, aber ohne es zu wis­sen oder auch ohne, dass wir es beim Betra­cht­en der Wolken unbe­d­ingt selb­st wis­sen.

Und dann bleiben da schließlich noch die Fra­gen: Wie weit „reist“ eine Wolke? Wie viel wiegt eine Wolke? Wie groß ist eine Wolke? Wie lange „lebt“ eine Wolke? Leicht und schw­er zugle­ich sind Wolken, jew­eils hier und dort, zugle­ich groß, ja riesig jen­seits jed­er Dimen­sion und doch klein, zart und ver­let­ztlich — im Hauch vergänglich wie wir Men­schen. Klar ist also gar nichts — noch nicht ein­mal, ob Wolken Natur oder Kul­tur sind. Und das ist natür­lich ger­ade ihr größter Reiz: Wolken sind immer (auch) das andere.

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  1. Bei Dieter Roth ist es wohl ger­ade das Freis­chwebende, die Vielfalt der For­men, die Möglichkeit, Wolken (also die Natur­erschei­n­un­gen) als Pro­jek­tions­fläche für men­schliche Ideen, Gedanken udn Phan­tasien zu nutzen, die zu dem Titel führt. Denn Wolken spie­len in den Tex­ten eigentlich keine Rolle (mehr), zumin­d­est wer­den sie jen­seits des zitierten Mot­tos nicht mehr expliz­it einge­führt. Stattdessen geht es — wie bei Dieter Roths lit­er­arischen Arbeit­en so oft — um epis­te­mol­o­gis­che und ontol­o­gis­che Fra­gen (und natür­lich nicht zulet­zt um ästhetis­che Über­legun­gen, in denen sich diese Fra­gen tre­f­fen oder über­schnei­den.
  2. Felix Hart­laub: Kriegsaufze­ich­nug­nen aus Paris. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 78.

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