Die Faszination der Wolken

„das her­auf­beschwo­eren der wolken / geschieht so wie das was in diesem buch geschieht, / die wolken im jura, zwis­chen frankre­ich und der schweiz, / und das ist das beste“ — so sind die „48 tiefliegende wolken für Rudolf Rieser von Dieter Roth — 1969 im Kom­plex der Wolkengedichte (u.a. „301 kleine wolken“ und „32 tiefer­liegende wolken“) über­schrieben oder angekündigt. Und genau wie die Frage, was diese vie­len Klein- und Kle­in­st­texte, Gedichte, Apho­ris­men oder was auch immer eigentlich mit Wolken zu tun habe, ist auch die Frage nach der Fasz­i­na­tion von Wolken über­haupt eine ver­wick­elte und schwierige.1

Denn die Fasz­i­na­tion der Wolken ist eine ver­steck­te: Sie liegt nicht im Spek­takulären, sie betont nicht das Außergewöhn­liche — son­dern umgekehrt das Nor­male und Alltägliche. Aber, das ist ja ger­ade das faszierende Moment der Wolken: Es gibt keine Nor­mal­ität, keinen All­t­ag. Es gibt nur einzi­gar­tiges — so wie keine Schneeflocke der anderen gle­icht ist auch keine Wolke mit der vorheri­gen oder näch­sten iden­tisch. Und auch das ist ein wesentlich­er Teil der Fasz­i­na­tion: Wolken sind Indi­viduen — wie Men­schen. Und wie bei Men­schen ist die Indi­vid­u­al­ität mehr oder weniger sicht­bar, gibt es auch bei den Wolken Ähn­lichkeit­en und Ver­wandtschaften, aber auch Unter­schiede und auss­chließende Abgren­zun­gen.

Jede Wolke ist anders als die benach­barte oder die gestrige, jed­er Tag bringt ein neues Reper­toire der For­men und Far­ben her­vor: Das sat­te Gelb in der Abend­däm­merung kurz vor dem Som­merge­wit­ter, das reine Weiß über den schneebe­deck­ten Alpen, die bedrohliche Grauschwärze — kaum etwas kön­nen Wolken nicht sein oder scheinen. So sind sie Ele­mente der Phan­tasie und aber auch Teil ein­er großen, kos­mis­chen Ord­nung. Das heißt, anders gewen­det: Wolken sind freie, poet­is­che Objek­te — und doch sortier­bar, klas­si­fizier­bar, bes­timm­bar. Wolken, selb­st die kle­in­sten und zartesten, ver­haucht­en, sind voll dieser Gegen­sätze. Und genau deshalb lassen sie sich gle­ichzeit­ig träu­men und lesen, lassen sie sich erken­nen und phan­tastieren. Etwa als als Bild und als (Wetter-)Zeichen. Denn Wolken sind eben auch Möglichkeits­for­men: Sie wer­den das, was wir ihnen zu- und ein­schreiben. Zugle­ich sind sie aber auch von sich aus ganz beson­dere Möglichkeits­for­men, indem sie die Zukun­ft des Wet­ters — oder eine mögliche Zukun­ft — in sich tra­gen. Und in dieser Hin­sicht sind sie eben auch les­bar (oder wären es, wenn ich über die notwendi­ge Erfahrung und Grund­lage ver­fügte). Vor allem aber laden sie dazu ein, sie in diesen bei­den Erfahrung und For­men wahrzunehmen oder zu betra­cht­en: Als rela­tionale Objek­te, die ihre Form, Farbe und ihren Sinn erst durch uns erfahren und als absolute Objek­te, die Teil eines Sys­tems sind, das wir nicht (vol­lends) entz­if­fern, erk­lären oder ver­ste­hen kön­nten — aber gerne möcht­en.

In diesem Gegen­satz liegt auch ihr Dop­pelcharak­ter von Gefahr und Rein­heit mit­be­grün­det. Genau wie Wolken für Wan­del und Bewe­gung ste­hen, sind sie auch vom Men­schen unberührte (ja, sog­ar unberührbare), unbee­in­flusste „Dinge“, die ihre eigene Makel­losigkeit und grav­i­tas behal­ten. Und doch kön­nen sie im Nu all das ver­lieren und zur reinen, total­en Bedro­hung wer­den — im Un-Wet­ter, im Aufruhr der Ele­mente.

Wolken sind noch mehr und ihr Gegen­teil: Sie sind Welt und doch nicht Welt, wirk­lich und unwirk­lich, nah und fern, hier und nicht-hier/­dort/­fort. Ihr Wesen ist die unablässliche Trans­for­ma­tion, ein per­ma­nentes Mor­phen: Bewe­gung in sich und über uns. Immer sind Wolken aber auch ein­fach das Andere: Sie sind nicht irdisch, aber doch eine unab­d­ing­bare Voraus­set­zung der Welt. Das abso­lut verza­ubernde Faszi­nosum ist aber ihre Art der Bewe­gung — die mag zwar natur­wis­senschaftlich erk­lär­bar sein und physikalis­chen Geset­zen gehorschen, mir erscheint sie aber immer insofern außergewöhn­lich, als sie ihre Geset­zmäßigkeit­en so vol­lkom­men ver­birgt. Ihre Bewe­gung ist (bzw. eben: scheint) ohne Antrieb, ohne Basis, auch ohne Ref­erenz: Wolken sind ein­fach Zuschrei­bungs­flächen. Das macht sie span­nend und ihre Erfahrung einzi­gar­tig. Noch eine Erfahrung, die Wolken ermöglichen: Das Gefühl, in die Wolke zu tauchen, beim Wan­dern, beim Rad- oder Ski­fahren: Der Ver­lust der Welt, das Zurück­ge­wor­fen­sein auf sich selb­st, die Leere, unbeschrieben und nicht beschrift­bar — ein wun­der­bares Gleit­en, das in diesem Falle sozusagen sys­tem­be­d­ingt ist.

Wolken kön­nen aber viel mehr: Wolken machen Unendlichkeit, die end­lose Weite des Him­mels erst sicht­bar. Und sie machen den Him­mel drei­di­men­sion­al, ver­wan­deln ihn erst von ein­er „Fläche“ (oder eigentlich ja eher ein­er Pseu­do­fläche) zum Raum — kaum etwas ist lang­weiliger als ein rein­er, leere blauer Him­mel … Aber in und mit den Wolken wird eben auch die Tiefe des Raums und nicht zu Let­zt auch die Ent­fer­nung zum Hor­i­zont erleb- und erfahrbar. Diese unge­heure natür­liche und kul­turelle Mul­ti­pli­zi­tät, die Vielfalt der For­men und Far­ben, Bewe­gun­gen und Bedeu­tun­gen hat übri­gens Felix Hart­laub in seinen „Kriegsaufze­ich­nung aus Paris“ (die ja, trotz ihres Titels, kaum etwas mit dem Krieg, dafür umso mehr mit der Stadt und der Natur zu tun haben) wun­der­bar beschrieben, wo es etwa heißt: „Langsame Wolken schlep­pen ihre bre­it­en, lilabraunen Schat­ten darüber hin, die oft mit ein­er Mulde, einem Wald­stück zusam­men­z­u­fall­en scheinen, sich langsam ver­lagern. Die Hel­ligkeit­en noch win­ter­lich fahl, der Anblick der las­ten­den Schat­ten macht frösteln, während die hellen Wolken­rän­der ein Gefühl von Hitze, von dun­stigem heis­sem Wind her­vor­rufen.“ Oder, wie Hart­laub einige Wochen später, in der som­mer­lichen Stadt, beobachtet und notiert: „Langge­zo­gene, kör­per­lose Wolken, wie blendend weisse Schleim­spuren, die sich unmerk­lich aus­dehnen, ausspin­nen. Das Him­mels­blau dazwis­chen erscheint matt, sein­er Strahlung beraubt, wie verblich­en­er Atlas.“ 2 Zur Form- und Bedeu­tungsvielfalt der Wolken gehört sicher­lich auch das roman­tis­chste Motiv über­haupt, der Voll­mond, der ger­ade als roman­tis­ches Motiv ohne leicht ver­schleiernde Wolken oder eine Lücke in der Wolk­endecke kaum denkbar ist: Wieder spielt hier das Ele­ment des Raum­mark­ers mit, aber auch die Ambivalenz von Verdeck­en und Enthüllen, die den Wolken so unhin­terge­hbar eingeschrieben ist: Genau wie sie andere (Himmels-)Objekte ver- und enthüllen, sind sie selb­st ja eben­falls zugle­ich opak und trans­par­ent, erkennbar und undurch­schaubar …

Ob sie nun majestätisch treiben, eilend davon­gleit­en, drän­gend schieben, sich stapeln oder durch­drin­gen — Wolken sind immer zugle­ich sicht­bare Leere. Nicht nur in der Dif­ferenz, son­dern auch in sich: Wolken sind, weil sie nicht sind — nicht mehr oder noch nicht, nicht Luft, noch nicht Regen, Schnee oder Hagel … Damit sind Wolke per­fek­te Ele­mente des Zwis­chen, eine span­nende Verkör­pe­rung der Dif­ferenz. Und doch: Obwohl Wolken damit Mark­er von Dif­ferenz sind, bleiben sie selb­st immer merk­würdig unbes­timmt und gren­zen­los, ihre eige­nen Gren­zen lösen sich in sich selb­st auf: Wolken bleiben ohne klare, definierte Abgren­zung zu ihrer Umge­bung. Wolken sind damit per­fek­te para­doxale Wesen oder Kon­struk­tio­nen — bewusst, bemerkt, aber ohne es zu wis­sen oder auch ohne, dass wir es beim Betra­cht­en der Wolken unbe­d­ingt selb­st wis­sen.

Und dann bleiben da schließlich noch die Fra­gen: Wie weit „reist“ eine Wolke? Wie viel wiegt eine Wolke? Wie groß ist eine Wolke? Wie lange „lebt“ eine Wolke? Leicht und schw­er zugle­ich sind Wolken, jew­eils hier und dort, zugle­ich groß, ja riesig jen­seits jed­er Dimen­sion und doch klein, zart und ver­let­ztlich — im Hauch vergänglich wie wir Men­schen. Klar ist also gar nichts — noch nicht ein­mal, ob Wolken Natur oder Kul­tur sind. Und das ist natür­lich ger­ade ihr größter Reiz: Wolken sind immer (auch) das andere.

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  1. Bei Dieter Roth ist es wohl ger­ade das Freis­chwebende, die Vielfalt der For­men, die Möglichkeit, Wolken (also die Natur­erschei­n­un­gen) als Pro­jek­tions­fläche für men­schliche Ideen, Gedanken udn Phan­tasien zu nutzen, die zu dem Titel führt. Denn Wolken spie­len in den Tex­ten eigentlich keine Rolle (mehr), zumin­d­est wer­den sie jen­seits des zitierten Mot­tos nicht mehr expliz­it einge­führt. Stattdessen geht es — wie bei Dieter Roths lit­er­arischen Arbeit­en so oft — um epis­te­mol­o­gis­che und ontol­o­gis­che Fra­gen (und natür­lich nicht zulet­zt um ästhetis­che Über­legun­gen, in denen sich diese Fra­gen tre­f­fen oder über­schnei­den.
  2. Felix Hart­laub: Kriegsaufze­ich­nug­nen aus Paris. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 78.