Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Kategorie: diverses Seite 2 von 19

Fasching

[…]

Ein einziges Mal im Jahre nur, wenige kurze Wochen hin­durch, kom­men die Men­schen da, wo sich noch etwas vor­lutherisch­er Geist erhal­ten hat, zur Besin­nung und Freude. Es ist, als ob im Karneval die Ein­sicht über sie käme, dass all ihr alltäglich­es Gehaben grauen­voll albern­er Mum­men­schanz ist, und als ob das ver­schüt­tete Gefühl der selb­st­ständi­gen Wesen­heit jedes Einzel­nen ein­mal wenig­stens sich empor­wühlen müsse, um tief Atem zu holen und dann wieder, am Ascher­mittwoch, zurück­zusinken in den Alp­druckschlaf der unwahrschein­lichen Wirk­lichkeit.
Diesel­ben Leute, die son­st nicht weit genug abrück­en kön­nen von denen, die in Klei­dung, Haar­tra­cht oder Benehmen von den üblichen Kon­ven­tio­nen abwe­ichen, oder sich gar zu ein­er Weltan­schau­ung beken­nen, die von den demokratis­chen Vorschriften im Kern unter­schieden ist diese sel­ben Leute klei­den sich plöt­zlich in bunte Lap­pen, putzen sich so orig­inell zurecht, wie es ihnen nur möglich ist, und bewe­gen sich ungezwun­gen, lebendig, her­zlich unter den gle­ich­falls verklei­de­ten Neben­men­schen. Sie empfind­en mit einem Male, dass sie, je sin­gulär­er ihre Erschei­n­ung in der Menge wirkt, den übri­gen Lar­ven umso enger ver­bun­den sind, und sie find­en die ihnen im gewöhn­lichen Leben ganz fremde Frei­heit, über­mütig zu sein, die Zwangs­for­men der Geschäftlichkeit bei­seit­ezuschieben und öffentlich vor aller Augen men­schliche Regun­gen einzugeste­hen.
Die Behör­den selb­st müssen die über­all aufgepflanzten Ver­bot­spfäh­le zurück­steck­en, um der Aus­ge­lassen­heit freiere Bahn zu schaf­fen, und wo sie es nicht tun, wo verknöchert­er Beamteneifer mit Polizeis­tun­den und Sit­tlichkeitsverord­nun­gen auch noch im Getriebe der Faschings­fröh­lichkeit herum­fuhrw­erkt, da hört man von den bravsten Bürg­ern kräftige Ver­wün­schun­gen und erfrischende Beken­nt­nisse zu anar­chis­chen Lebens­for­men. Sie vergessen, dass sie das ganze Jahr vor dem Fasching die Beauf­sich­ti­gung durch den Schutz­mann selb­st gewün­scht haben, dass sie sie das ganze Jahr nach dem Fasching wieder wün­schen wer­den und dass sie willig Steuern gezahlt haben für die Besol­dung der Nüchtern­heit, die, verkör­pert in Para­grafendrech­slern, die vielle­icht selb­st ganz gern mit den andern trinken, tanzen und küssen möcht­en, auch in dem kurzen Zeitraum der pflich­t­ent­bun­de­nen Freude mech­a­nisch weit­er­funk­tion­iert.
Es ist verzweifelt schade, dass von dem Geiste des Karnevals, der recht eigentlich der Geist der Rebel­lion ist, so gar keine Spur über den Faschings­di­en­stag hin­aus gerettet wer­den kann. Nach­her wird die Rech­nerei und Schacherei und all das ver­rück­te Getue wieder los­ge­hen.

[…] Erich Müh­sam, Fasching (1933) [zitiert nach: Erich Müh­sam: Das seid ihr Hunde wert! Ein Lese­buch. Her­aus­gegeben von Markus Liske und Man­ja Präkels. Berlin: Ver­brech­er 2014, S. 153f.]
wense, der desenberg (um 1936) (postkarte)

Wetter

Die Land­schaft lebt vom Wet­ter! An sich ist sie nichts! Hans Jür­gen von der Wense, Mappe “Sied­lung, Verkehr”

Radwege in Mainz — ein Dauer-Ärgernis

Auch wenn die lokale CDU das Gegen­teil meint: Die Förderung des Rad­verkehrs in Mainz geht selb­st unter eine grü­nen Verkehrs­dez­er­nentin nur in mikroskopisch kleinen Schrit­ten voran. Immer wieder passiert so etwas:

baustelle große bleiche, 1

An der Klaras­traße ist die Baustelle bere­its erkennbar — der Rad­weg geht aber unver­drossen weit­er …

Der Rad­weg an der Großen Ble­iche dürfte nach den ein­schlägi­gen Geset­zen und Ver­wal­tungsvorschriften sowieso nicht benutzungspflichtig sein (was das Verkehrs­dez­er­nat auch seit Jahren weiß, aber trotz­dem nicht ändert — doch das ist eine andere Geschichte). Aber Baustellen wie diese sind eine Katas­tro­phe — übri­gens nicht nur für Rad­fahrerin­nen, son­dern auch für diejeni­gen, die das zu Fuß unter­wegs sind. Die Benutzungspflicht an der Ein­mün­dung Klaras­traße — keine hun­dert Meter von der Baustelle, die den Rad­weg vol­lends und den Fußweg teil­weise versper­rt, ent­fer­nt — wurde nicht aufge­hoben. Schlim­mer noch: Nicht ein­mal an der Baustelle selb­st wird der Rad­weg been­det. Nur in der Gegen­rich­tung (!), in der dieser Rad­weg nicht befahren wer­den darf, hängt ein Alibi-“Schild”, das wed­er ein ordentlich­es Schild ist noch irgen­deine geset­zliche Wirkung für Fahrräder hat.

Ich frage mich ja immer, wie so etwas wieder und wieder passieren kann. Immer­hin hat Mainz eine Rad­verkehrs­beauf­tragte. Die hat aber offen­sichtlich kein­er­lei Inter­esse daran, so etwas zu ver­mei­den — und das wäre ja ein­fach, weil es so schreck­lich abse­hbar und erwart­bar ist: Sie müsste ja nur mal vor­beiradeln und der Bau­fir­ma erk­lären, wie das richtig geht …

Nach­trag: Nach meinem Hinweis/Beschwerde und ein paar Tagen Wartezeit ist die (momen­tan ruhende) Baustelle nun sowohl für Fußgänger als auch für Rad­fahrerin­nen vernün­ftig passier­bar — es geht also …

Unver­schämtheit ist Ver­trauen auf unseren Geist, auf unser Aus­drucksver­mö­gen. Jean Genet, Querelle, 168

Analogie

Analo­gie ist aber Pfusch, wie man es auch dreht. T. E. Lawrence, Wüsten-Gueril­la (Die Revolte wächst), 23

Taglied 21.7.2016

Irène Schweiz­er & Pierre Favre, Fly­ing over the Lim­mat:


Beim Klick­en auf das und beim Abspie­len des von YouTube einge­bet­teten Videos wer­den (u. U. per­so­n­en­be­zo­gene) Dat­en wie die IP-Adresse an YouTube über­tra­gen.

(ich höre mich ger­ade durch einige der älteren Schweiz­er-Auf­nah­men — da sind wirk­lich tolle Sachen dabei …)

Temporäre Enteignung

Für eine der größten Ver­wirbelun­gen der Sphären [öffentlich und pri­vat] aber sorgt das Auto: Jede Fahrt mit dieser rol­len­den Pri­vatkapsel wird zur tem­porären Enteig­nung, zur Kurzzeitver­wand­lung ein­er öffentlichen Fläche in eine semi­pri­vate. Han­no Rauter­berg, Wir sind die Stadt!, 48

Typographische Langeweile

In JPod lässt Dou­glas Cou­p­land (der im Buch als er selb­st auch immer wieder auf­taucht) seinen Ich-Erzäh­ler Ethan beobacht­en und sagen:

I’ve come to the con­clu­sion that doc­u­ments are thir­ty-four per­cent more bor­ing when pre­sent­ed in the Couri­er font.

Und, wie in diesem Text nicht anders zu erwarten (der gerne mit typographis­chen Mustern spielt und das tra­di­tionelle Erzählen reich­lich aus­reizt), fol­gt gle­ich ein Beispiel. Das sieht in mein­er Aus­gabe (Blooms­bury Paper­back, 2007) so aus:
douglas coupland, jpod, seite 243

Helden

–Zu Jed­erzeit sind Helden­tum & Blöd­heit einan­der ähn­lich wie Zwill­ings­brüder, sie sehen zu ver­schiede­nen Zeit­en & an ver­schiede­nen Orten nur anders aus; haben jedoch Heer­scharen von Ver­wandten. Und von Alten Helden über­leben immer die-Pferde, von den Neuen Helden die-Akten­taschen. Rein­hard Jir­gl, Oben das Feuer, unten der Berg, 95

Schuldzuschreibung

Die Polizei Mainz twit­tert ger­ade:

Das ist ein wun­der­bares Beispiel dafür, wie man als Behörde mehr oder weniger sub­til und mehr oder weniger indi­rekt Schuld zuschreibt und ver­schiebt (im Englis­chen gibt es das schöne Wort vic­tim­blaim­ing dafür): Eine Frau wird von einem/einer anderen Verkehrsteilnehmer/in ver­let­zt. Die Polizei legt aber dann Wert darauf, dass sie “dunkel gek­lei­det” war — und impliziert, dass der Aut­o­fahrer sie deshalb nicht rechtzeit­ig sehen kon­nte. Nun ist aber laut StVO der Aut­o­fahrer verpflichtet, so zu fahren, dass er andere nicht gefährdet. Das heißt vielle­icht auch, im Dunkeln etwas mehr Vor­sicht wal­ten zu lassen. Inter­es­sant ist auch der let­zte Satz: “Sie stürzte und wurde ver­let­zt.” Man hätte auch schreiben kön­nen: Sie wurde umge­fahren und vom Aut­o­fahrer ver­let­zt.

In der Lang­fas­sung ist es übri­gens über­haupt nicht bess­er: Dann ist nicht der Führer des Kfz schuld, son­dern sein Fahrzeug: “Der graue Renault Megane erfasste die Fußgän­gerin mit der recht­en Fahrzeug­seite.” Offen­bar also ein vol­lkom­men autonom fahren­des Auto …

Es kann ja dur­chaus sein, dass die Fußgän­gerin (mit)schuldig am Unfall war — die Polizei ist sich dessen aber offen­bar nicht sich­er, son­dern bitte um Zeu­gen­hin­weise … Ihre Mel­dun­gen sprechen aber eben eine andere Sprache. Und das ist eben lei­der kein Einzelfall: Immer wieder wer­den solche Mel­dun­gen allein aus der Sicht von Aut­o­fahren­den geschrieben, für die andere Verkehrsteil­nehmer wie Fußgän­gerin­nen oder Rad­fahrerin­nen Stör­fak­toren sind, die sich gefäl­ligst den Pkws anzu­passen und unterzuord­nen haben. Das muss auch gar keine Absicht sein, dass die Polizei so schreibt — ich ver­mute sog­ar, dass es ger­ade keine ist: Sie denken eben ein­fach als Aut­o­fahrer. Schließlich sind sie ja im Dienst auch nahezu auss­chließlich motorisiert in Blech­schachteln unter­wegs …

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