Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: roman Seite 4 von 6

Aus-Lese #12

Johan­nes Bobrow­ski: Nach­bar­schaft. Gedich­te. Aus­ge­wählt und mit einem Nach­wort von Klaus Wagen­bach. Ber­lin: Klaus Wagen­bach 2010 (Klaus Wagen­bachs Oktav­hef­te). 77 Sei­ten.

Eine Aus­wahl­aus­ga­be der Gedich­te Bobrow­skis, die im Wagen­bach-Ver­lag zum Ver­lags­ju­bi­lä­um erschien und mich, da ich noch nichts von Bobrow­ski (außer sei­nem Namen) kann­te, ange­lacht hat. Nach dem Lesen war das nicht mehr so sehr der Fall: Einen rech­ten Zugang habe ich nicht gefun­den, die Lyrik Bobrow­skis reso­niert nicht so recht bei mir. Es ist eine ganz bestim­te Art von Dich­tung der und über Land­schaf­ten, was hier immer gan­ze Land­schaf­ten meint, mit ihren Leu­ten, Tie­ren und der Gegend – aber eben nicht nur die der Natur etc. Er beschreibt das weni­ger, son­dern besingt die – auch schon zum Ent­ste­hungs­zeit­punkt – unter­ge­gan­ge­ne, ver­lo­ren gegan­ge­ne Land­schaf­ten sehr poe­tisch und auch gewollt poe­tisch. Das klingt mir dann oft sehr empha­tisch auf­ge­la­den, in einer bewusst und gewollt artis­tisch über­höh­ten Spra­che, die ihre (Landschafts-)Bilder immer gera­de­zu zwang­haft meta­pho­risch und mythisch ergänzt bzw. über­höht – das pas­siert natür­lich fast immer bei (guter) Land­schafts­dich­tung, fiel mir hier aber als beson­ders gesuch­te Form sehr auf.

Ildi­kó Noé­mi Nagy: Oh Bume­rang. Sto­ries. Salz­burg: Jung und Jung 2013. 127 Sei­ten.

Das Som­mer­buch von Tubuk-Delu­xe. Und ein ech­tes Spät­som­mer­buch, das schon ein biss­chen auf den Herbst ein­stimmt. Nagys „Sto­ries“ sind wirk­li­che kur­ze Geschich­ten, die man kaum Erzäh­lung nen­nen mag: Moment­auf­nah­men, fast lyrisch ver­dich­tet, manch­mal nur knap­pe zwei Sei­ten lang – aber immer sehr genau und prä­zi­se. Immer geht es hier um eine Art Lee­re, vor allem die emo­tio­na­le. Auch eine gewis­se Orts­lo­sig­keit spielt da häu­fig mit hin­ein, die irgend­wie mit der unga­risch-stäm­mi­gen Ame­ri­ka­ne­rin als Ich-Erzäh­le­rin (die Ähn­lich­kei­ten mit der Autorin hat) zusam­men­hängt: Die „Unbe­haust­heit“ ist hier nicht nur (aber auch) meta­phy­sisch, sie mani­fes­tiert sich hier immer wie­der. Und dann ist da noch eine Art offe­ne Trau­rig­keit, die die Stim­mung der meis­ten Sto­ries prägt. Auch in den Per­so­nen­kon­stel­la­tio­nen, dem Umgang der Per­so­nen mit­ein­an­der, der fast immer beim Neben­ein­an­der ver­bleibt, zeigt sich das immer wie­der. So gibt es nur ganz weni­ge Gesprä­che, in denen Kom­mu­ni­ka­ti­on wirk­lich gelingt. Die gro­ße Fremd­heit geht aber noch wei­ter, sie umschließt auch das eige­ne Lebens und das eige­ne Selbst. Über­haupt ist (oder scheint?) immer alles schon länst ver­gan­gen und ver­lo­ren – Zukunft gibt es nur ganz sel­ten, Gegen­wart auch nicht so häu­fig. Das ist dann nur in klei­nen Dosen genieß­bar, sonst ver­liert man sich dar­in wie in einer boden­lo­sen Tie­fe. Aber das ist auch kein Pro­blem, die „Sto­ries“ sind ja alle kurz und knapp.

Pas­cal Mer­cier: Nacht­zug nach Lis­sa­bon. 8. Auf­la­ge. Mün­chen: btb 2008. 697 Sei­ten.

Ein schö­nes Buch hat Pas­cal Mer­cier da geschrie­ben, über die Mög­lich­keit des rech­ten, rich­ti­gen und wah­ren Lebens. Und über die Tie­fe der See­le. Und über die Mög­lich­keit, einen ande­ren Men­schen ken­nen: Das Pro­blem fängt ja schon beim Indi­vi­du­um selbst an: Kann man sich selbst ken­nen? Und kann man dann ande­re Men­schen (er-)kennen? Und kann man Men­schen nach ihrem Tod noch ken­nen ler­nen? In den Erin­ne­run­gen derer, die die­sen Men­schen über­leb­ten? In sei­nen Taten? In sei­nen poe­ti­schen Erkun­dun­gen, sei­nen Nota­ten und sei­nen Nie­der­schrif­ten?

Das Leben ist nicht das, was wir leben; es ist das, was wir uns vor­stel­len zu leben.

Der Plot dafür ist manch­mal etwas arg kon­stru­iert für mei­nen Geschmack, und manch­mal wird es auch etwas lang­at­mig. Aber schön – nicht nur inhalt­lich, auch gera­de im sprach­li­chen Sin­ne – ist der Nacht­zug nach Lis­sa­bon trotz­dem.

Kitsch ist das tückischs­te aller Gefäng­nis­se. Die Git­ter­stä­be sind mit dem Gold ver­ein­fach­ter, unwirk­li­cher Gefüh­le ver­klei­det, so daß man sie für die Säu­len eines Palas­tes hält.

Netzfunde der letzten Tage

Mei­ne Netz­fun­de für die Zeit vom 5.3. zum 14.3.:

  • Wie klas­si­sche Musik fas­zi­niert, heu­te – Hans Ulrich Gum­brecht über­legt in sei­nem FAZ-Blog „Digital/​Pausen“ aus Anlass eines (offen­bar recht typi­schen) Kon­zer­tes mit Streich­quar­tet­ten und ähn­li­chem, war­um uns Musik der Klas­sik (& Roman­tik) anders/​mehr fas­zi­niert als die der Moder­ne (hier: Brit­ten (!)) -

    Noch inten­si­ver als die Musik unse­rer Gegen­wart viel­leicht schei­nen vie­le Stü­cke aus dem Reper­toire, das wir “klas­sisch” nen­nen, die­se Ahnung, die­se unse­re Exis­tenz grun­die­ren­de Erin­ne­rung zu eröff­nen, wie­der Teil einer Welt der Din­ge zu wer­den. Genau das könn­te die Intui­ti­on, die vor­be­wuss­te Intui­ti­on der Hörer im aus­ge­schnit­te­nen Mara­thon-Hemd sein—die sich zu wei­nen und zu lachen erlau­ben, wenn sie Mozart und Beet­ho­ven hören.

    (via Published artic­les)

  • Abmah­nung für Klaus Graf in der Cau­sa Scha­van | Schmalenstroer.net – Abmah­nung für Klaus Graf in der Cau­sa Scha­van (via Published artic­les)
  • John­sons JAHRESTAGE – Der Kom­men­tar – Kom­men­tar zu Uwe John­sons Roman »Jah­res­ta­ge«
  • Klei­nes Adreß­buch für Jeri­chow und New York – Rolf Michae­lis: Klei­nes Adreß­buch für Jeri­chow und New York.
    Ein Regis­ter zu Uwe John­sons Roman »Jah­res­ta­ge. Aus dem Leben von Gesi­ne Cress­pahl« (1970−1983)
    Über­ar­bei­tet und neu her­aus­ge­ge­ben von Anke-Marie Loh­mei­er
    Über­ar­bei­te­te, digi­ta­le Neu­aus­ga­be 2012
  • Abschluss der «Enzy­klo­pä­die der Neu­zeit»: Die Vor­mo­der­ne in sech­zehn Bän­den – Tho­mas Mais­sen lobt – mit eini­gen Ein­schrän­kun­gen – in der NZZ die plang­e­recht abge­schlos­se­ne EdN:

    «Schluss­be­trach­tun­gen und Ergeb­nis­se» run­den das Werk ab. Das ist für eine Enzy­klo­pä­die unge­wöhn­lich, macht aber das pro­gram­ma­ti­sche Ziel deut­lich. Die «Enzy­klo­pä­die der Neu­zeit» sam­melt nicht abschlies­send Wis­sen, son­dern will die Grund­la­ge abge­ben für neu­ar­ti­ge Unter­su­chun­gen zu his­to­ri­schen Pro­zes­sen, wel­che vor den Gren­zen der Dis­zi­pli­nen eben­so wenig halt­ma­chen wie vor den­je­ni­gen der Natio­nen und Kul­tu­ren. Inso­fern dient das Werk pri­mär For­schen­den und Leh­ren­den, die ihren eige­nen Zugang rela­ti­vie­ren und erwei­tern wol­len, durch kom­pakt und reflek­tiert prä­sen­tier­te Infor­ma­ti­on auf hohem Niveau.

  • Sprach­schmugg­ler in der Wiki­pe­dia? – Sprach­log – Sprach­schmugg­ler in der Wiki­pe­dia? (via Published artic­les)
  • DDR-Pres­se (ZEFYS) – Im Rah­men eines von der Deut­schen For­schungs­ge­mein­schaft (DFG) geför­der­ten Pro­jekts wer­den drei DDR-Tages­zei­tun­gen digi­ta­li­siert und im Voll­text erschlos­sen: Neu­es Deutsch­land [ND] (23. April 1946 – 3. Okto­ber 1990, voll­stän­dig in Prä­sen­ta­ti­on), Ber­li­ner Zei­tung [BZ] (21. Mai 1945 – 3. Okto­ber 1990, 1945–1964 in Prä­sen­ta­ti­on) & Neue Zeit [NZ] (22. Juli 1945 – 5. Juli 1994, Prä­sen­ta­ti­on folgt)

    Damit ist ein ers­ter, bedeu­ten­der Teil der Tages­pres­se der SBZ (Sowje­ti­sche Besat­zungs­zo­ne, 1945–1949) und der DDR (Deut­sche Demo­kra­ti­sche Repu­blik, 1949–1990) für die wis­sen­schaft­li­che For­schung und Recher­che frei zugäng­lich.

  • Druck­sa­chen und Ple­nar­pro­to­kol­le des Bun­des­ta­ges – 1949 bis 2005 – In die­sem elek­tro­ni­schen Archiv kön­nen sämt­li­che Druck­sa­chen und Ste­no­gra­fi­schen Berich­te des Deut­schen Bun­des­ta­ges von der 1. bis zur 15. Wahl­pe­ri­ode recher­chiert und im pdf-For­mat abge­ru­fen wer­den.

Netzfunde vom 6.1. bis zum 11.1.

Mei­ne Netz­fun­de für die Zeit vom 6.1. zum 15.1.:

  • Mal Rosa, mal Hell­blau, meis­tens Mauve | Das Nuf Advan­ced -

    Seit Wochen mischen sich unter­schied­li­che Gedan­ken zum The­ma Spra­che, Femi­nis­mus und Pol­ti­cal Cor­rect­ness und ich hät­te ger­ne einen Arti­kel ver­fasst, der alles ord­net, viel­leicht mit einer Pri­se Humor abrun­det – lei­der bin ich an die­sem Wunsch geschei­tert und schrei­be des­we­gen alles ver­hält­nis­mä­ßig unge­ord­net zusam­men.

    Trotz­dem sehr lesens­wert

  • Die Hoff­nun­gen ruhen auf den Bio-Imkern » Deli­nat-Blog – Die Hoff­nun­gen ruhen auf den Bio-Imkern (via Published artic­les)
  • De:Bug Maga­zin » Rück­blick 2012: Das Jahr des Rai­nald Goetz – Rück­blick 2012: Das Jahr des Rai­nald Goetz

    Neu­lich im Hass Semi­nar. 2012 zeig­te die Goetz’sche Hau-drauf-Poe­to­lo­gie mehr denn je, dass text­li­cher Gro­bia­nis­mus erkennt­nis­för­dernd wirkt.

  • Friedrich’s Law: Ein Vor­schlag | the boy in the bubble -

    Ich schla­ge des­halb ana­log zu Godwin’s Law hier­mit Friedrich’s Law vor:
    Wer als Ver­tre­ter des Staa­tes in einer Ver­hand­lung vor dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt argu­men­tiert, die Bür­ger soll­ten dar­auf ver­trau­en, der Staat wer­de das ange­grif­fe­ne Gesetz nicht in ver­fas­sungs­wid­ri­ger Wei­se nut­zen, der hat die Ver­hand­lung mit sofor­ti­ger Wir­kung ver­lo­ren.

  • Der Umblät­te­rer: »Welt­mül­ler« für alle -

    Nun hat sich end­lich ein Anlass gefun­den! Am 5. Janu­ar 2013 fei­ern ein paar Leu­te 60 Jah­re »War­ten auf Godot« on stage. Und da fei­ern wir mit und schi­cken den berühm­tes­ten Godot-Dar­stel­ler aller Zei­ten mit einer Crea­ti­ve Com­mons-Lizenz ins Netz

  • Rund­funk­bei­trag bald fast so schlimm wie Hit­ler « Ste­fan Nig­ge­mei­er -

    Es gibt allem Anschein nach nichts, was dem »Han­dels­blatt« zu falsch oder zu dumm ist, um es im Kampf gegen ARD und ZDF zu ver­wen­den. Den vor­läu­fi­gen (und schwer zu unter­tref­fen­den) Tief­punkt mar­kiert ein Gast­bei­trag der frü­he­ren CDU-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten Vera Lengs­feld, den die Zei­tung ges­tern auf ihrer Inter­net­sei­te ver­öf­fent­lich­te.

  • Shun the Plug­in: 100 Word­Press Code Snip­pets from Across the Net

Heimlich vergessen und bewusst werden

Angelika Meier, Heimlich, heimlich mich vergiss

Ange­li­ka Mei­er, Heim­lich, heim­lich mich ver­giss

Heim­lich, heim­lich mich ver­giss ist ein Traum­ro­man, ein wun­der­ba­rer und oft auch wun­der­li­cher Text. Ich will hier gar nicht eine Deu­tung die­ses Buches ver­su­chen. Der Witz an Ange­li­ka Mei­ers Roman ist ja in mei­nen Augen gera­de, dass er sich ein­deu­ti­gen Les­ar­ten ein­deu­tig ver­schließt: Alles – und wirk­lich so ziem­lich alles, vom Anfang bis Ende – kann, darf und soll man (also der Leser) immer auch anders ver­ste­hen. Gleich unge­heu­er begeis­tert hat mich schon unmit­tel­bar wäh­rend der Lek­tü­re die Art, wie Mei­er hier die Infor­ma­ti­ons­ver­mitt­lung gestal­tet. Sie stopft näm­lich nicht alles lehr­buch­mä­ßig in die Expo­si­ti­on, son­dern ver­teilt wesent­li­che Mit­tei­lun­gen zu Figu­ren, Kon­stel­la­tio­nen, Umstän­den, Set­ting und Hand­lung wun­der­bar öko­no­misch und qua­si-natür­lich über die gan­zen 300 Sei­ten. Oder eben auch nicht: Die Autorin unter­liegt näm­lich nicht dem Wahn, alles zu sagen und erklä­ren zu müs­sen, der die aktu­el­le Bel­le­tris­tik oft so lang­wei­lig macht. Hier ist der Leser/​die Lese­rin noch selbst gefragt. Solch ein Text hat natur­ge­mäß vie­le offe­ne Stel­len, die man – den­ke ich – ein­fach mal so ste­hen las­sen und aus­hal­ten muss. Oder als Leser selbst füllt.

Aber wor­um geht es hier eigent­lich? Das ist eine Fra­ge, die über­haupt nicht ein­fach und abschlie­ßend zu beant­wor­ten ist. Klar wird aber: Wir befin­den uns in einer zukünf­ti­gen Gesell­schaft, die wesent­lich auf der Unter­schei­dung gesund vs. krank auf­baut. Im Mit­tel­punkt des Tex­tes steht so etwas wie ein Arzt, der aller­dings eine Art Mensch-Maschi­ne ist, ohne Herz am rech­ten Fleck (das Herz wird mit dem Solar­ple­xus irgend­wie ope­ra­tiv ver­ei­nigt bei den Ärz­ten), dafür mit zusätz­li­chen Hirn­ka­pa­zi­tä­ten und einer Art zwei­ten, kon­trol­lie­ren­den Per­sön­lich­keit, dem Media­tor. Die­ser Arzt arbei­tet in einem Art Sana­to­ri­um, gegen das jenes aus dem Zau­ber­berg ein Kin­der­spiel ist – hier kommt nie­mand rein und raus, es gibt kei­ne Ein- oder Aus­gän­ge. Aber dann taucht doch irgend­wie eine ambu­lan­te Pati­en­tin auf, die sich als ehe­ma­li­ge Ehe­frau des Arz­tes ent­puppt, die ihn und sei­nen Sohn – der als Wai­se auch in die­sem Institut/​Komplex/​Geflecht lebt – dazu bringt, eine Art „Aus­bruch“ zu ver­su­chen, der aber irgend­wie auch wie­der schei­tert und im Phan­tas­ma endet – wie man über­haupt den gan­zen Text als eine Art Traum lesen kann, des­sen Traum­cha­rak­ter mit fort­schrei­ten­der Sei­ten­zahl deut­li­cher wird, ohne jedoch je expli­zit als sol­cher iden­ti­fi­zier­bar zu wer­den. Klar ist aber bald: Das ist kei­ne Rea­li­tät, die hier beschrie­ben wird. Der Traum­cha­rak­ter wird aber erst ganz kurz vor Schluss auf­ge­löst, mit dem Auf­wa­chen. Und davor gibt es auch nur weni­ge direk­te Hin­wei­se – vor allem die Unwirk­lich­keit des Erzähl­ten selbst drängt mei­ne Lek­tü­re in die­se Rich­tung …

Das schlägt sich auch in der Spra­che wie­der – zunächst hielt ich das für Manie­ris­mus, der Wech­sel zwi­schen Innen- und Außen­per­spek­ti­ve der Haupt­fi­gur zwi­schen zwei Sät­zen hin und her – aber das hat dann doch alles sei­nen guten Grund in der Instanz des „Media­tors“. Und auch die Klar­heit, ja Unkom­pli­ziert­heit der Syn­tax ist ein schö­ner Gegen­satz zur Fremd­heit der erzähl­ten Welt (die auch nicht wirk­lich ver­traut wird – nicht wer­den kann und soll – hof­fent­lich ) …

Ich kann mei­ne Fas­zi­na­ti­on hier gera­de nur schwer begrün­den und/​oder in Wor­te fas­sen – viel­leicht auch, weil mir erst im Lau­fe der Lek­tü­re auf­ge­gan­gen ist, wie gut das eigent­lich ist. Wahr­schein­lich müss­te ich es gleich noch ein­mal lesen. Die Kri­ti­ker – die das meis­tens auch (recht) gut fan­den – sind sich auch nicht so ganz einig, wor­um es in „Heim­lich, heim­lich mich ver­giss“ eigent­lich geht. Und das ist oft ein gutes Zei­chen (denn wer will schon Bücher lesen, die von Anfang an allen klar sind und alles klar machen? – Das sind in der Regel die lang­wei­li­gen Tex­te …). Oli­ver Jun­gen kon­sta­tiert zum Bei­spiel in der FAZ:

Das Zen­tral­the­ma Mei­ers ist die Neu­for­ma­tie­rung des psy­chi­schen Sys­tems, wodurch auch Ver­gan­gen­heit und Zukunft, nichts als dis­kur­si­ve Kon­struk­te, neu auf­ge­setzt wer­den. Ob sich die ver­schie­de­nen Bewusst­seins­ebe­nen, wel­che dem Leser prä­sen­tiert wer­den, in erkennt­nis­theo­re­ti­scher Hin­sicht hier­ar­chi­sie­ren las­sen, ob also ein Zustand der Wahr­heit ent­spricht oder ob es gar kein Außen gibt, bleibt selbst­re­dend offen (Oli­ver Jun­gen, FAZ)

Ulrich Rüde­nau­er in der Zeit setzt ande­re Schwer­punk­te:

Die Kör­per sind hier zu Dis­kurs­ge­gen­stän­den gewor­den, aus­ge­la­ger­te Objek­te, über die in einem fremd anmu­ten­den Jar­gon gere­det, gerich­tet wird. Hier, in die­ser zukünf­ti­gen Kli­nik, die natür­lich auf unse­re immer trans­pa­ren­te­re, ver­wal­te­te Gegen­wart ver­weist, hat alles sei­ne Ord­nung.

Ange­li­ka Mei­er jeden­falls hat eine hoch­kom­ple­xe lite­ra­ri­sche Welt ent­wor­fen, eine künst­li­che, vom Erzäh­ler mög­li­cher­wei­se nur fan­ta­sier­te Par­al­lel­ord­nung, die des­halb gespens­tisch und ver­wir­rend wirkt, weil sie so fern von unse­ren eige­nen Zukunfts­ängs­ten gar nicht ist. (Ulrich Rüde­nau­er, Zeit)

Ange­li­ka Mei­er: Heim­lich, heim­lich mich ver­giss. Ber­lin: Dia­pha­nes 2012. 336 Sei­ten. ISBN 978−3−03734−184−1. 22,90 Euro.

Vielen Dank für nichts

Was, ver­dammt noch mal, macht ein glück­li­ches Leben aus, und ist es mög­lich, bei­de For­men aus­zu­pro­bie­ren? (174f.)

Grau­sam ist alles: Grau­sam­keit beherrscht die Men­schen, die Gesell­schaf­ten, die Natur, die Sys­te­me, die Län­der, die Wel­ten, das Leben – alles. Grau­sam ist auch die­ses Buch, auf die typi­sche Sibyl­le-Berg-Wei­se. Näm­lich getarnt als scho­nungs­lo­se Offen­le­gung der Wirk­lich­keit – und ihrer Lee­re. Schön hyper­bo­lisch ist das, wirk­lich schön, inso­fern die Grau­sam­keit des Stof­fes und der Spra­che eben doch immer wie­der in Schön­heit umschlägt. Und es wird immer stär­ker. Ange­kom­men ist Sibyl­le Berg nun bei abso­lu­ter, per­ma­nen­ter Endzeit(-stimmung): Ganz allei­ne ist Toto.

Blut sah jeder ger­ne, wenn es nicht das eige­ne war, Prü­ge­lei­en sah jeder ger­ne, wenn er nicht selbst ver­prü­gelt wur­de, Aggres­sio­nen und Pein­lich­kei­ten, ohn­mäch­ti­ge Kin­der, gefal­le­ne Kin­der, das sah man sich doch ger­ne an, und wenn man nicht betei­ligt war, sah man sich auch ger­ne Unfäl­le an, doch nicht, um zu begrei­fen, wie schnell ein gesun­der Kör­per zu einem geschun­de­nen Kör­per wird, son­dern um sich zu freu­en, dass einer weni­ger zur Kon­kur­renz gehör­te. (66)

Die zen­tra­le Figur von Sibyl­le Bergs Roman Vie­len Dank für das Leben ist eine selt­sa­me Figur: Es wird nicht ganz klar, ob Toto Herm­aphro­dit, Inter­se­xu­el­ler, Zwit­ter oder was auch immer ist. Zunächst lebt er als Jun­ge, spä­ter dann als Frau. Aber genau­so unglück­lich. Eben­so egal ist es auch, ob Toto sich in der DDR befin­det, wo er auf­wächst, im Elend des sozia­lis­ti­schen Kin­der­heims und auf dem Dorf, bei einem Bau­ern­ehe­paar. Oder eher neben ihm, denn Toto ist immer, von Anfang an, von der Geburt an, als dem Arzt der ers­te Satz „Es ist ein …“, mit dem übli­cher­wei­se die Geschlechts­zu­schrei­bung erfolgt, miss­lingt, schon von die­sem Moment ist Toto an ein Außen­sei­ter. Aber ein tota­ler. Nicht, dass er über­haupt je eine Chan­ce gehabt hät­te, dar­an etwas zu ändern. Spä­ter frei­lich, nach der etwas selt­sam-unbe­tei­ligt-unfrei­wil­li­gen Flucht in die BRD, die eher eine Mit­nah­me ist (irgend­wann in den spä­ten 80ern muss das sein, aber alles im Text – fast alles – ist merk­wür­dig (und manch­mal ange­strengt) zeit- und ort­los), spä­ter gibt es von sei­ten Totos aus eini­ge zag­haf­te Ver­su­che der behut­sa­men (Pseudo-)Eingliederung in das, was sich da Gesell­schaft nennt. Aber irgend­wie ist Toto am Ran­de, als Beob­ach­ter der ande­ren, ste­cken­ge­blie­ben – ihre/​seine ein­zi­ge mög­li­che Rol­le von frü­hen Zei­ten an, in der sie kon­se­quent drin­bleibt. Weder zag­haf­te Ver­su­che posi­ti­ver Emo­tio­nen (etwa die Lie­be in Phnom Penh) oder Schmer­zen (der Bei­na­he-Tot­schlag …) befrei­en ihn/​sie dar­aus (wobei das befrei­en auch schon frag­lich wäre – ist das eine Befrei­ung? Oder ist Toto als Nicht-Teil, als sich-selbst-alles-Sei­en­der (viel­leicht meint das sein selt­sam kurio­ser Name?) frei­er als die „Norm“-Entwürfe des­sen, was man gemein­hin Leben nennt …

Und dar­um geht es ja irgend­wie immer, das ist mehr als deut­lich: Gutes Leben, die gan­zen Ideen und Vor­stel­lung davon, wie man/​wir seine/​unsere Zeit auf Erden zu ver­brin­gen haben – das sind eben alles nur Mög­lich­kei­ten, nur Ideen, denen genau­so wenig Sinn inhä­rent ist wie ihren Gegen­tei­len. Da hilft auch das über­ir­di­sche Sin­gen fern jeder Prä­gung durch Bil­dung oder ande­re Musik, das Toto betreibt und das regel­mä­ßig bei den Zuhö­rern Gefühls­aus­brü­che & Wei­nen her­vor­ruft, nicht.

So groß­ar­tig Vie­len Dank für das Leben in man­chen Tei­len ist, es schei­nen doch auch eini­ge Län­gen durch. Und manch­mal wird der Ton­fall ner­vend, die­ses Dozie­ren der Schlech­tig­keit der Welt, der Men­schen, der Natur, des Kapi­ta­lis­mus, des Sozia­lis­mus, des allen (vor allem in den „Kommentar“-Teilen „Der Anfang“, „Die Mit­te“, „Das Ende“ ist das über­deut­lich, es schlägt aber auch sonst manch­mal arg auf­fäl­lig durch, dann kom­men nur noch blo­ße Phra­sen bei her­aus …). Aber dann gibt es eben doch immer wie­der auch die­se fas­zi­nie­ren­de Klar­heit der Berg’schen Pro­sa, die ver­let­zend wie Chi­ru­gen­stahl durch die Wirk­lich­keit schnei­det:

Dege­ne­riert mögen sie sein, von Tumo­ren zer­setzt, doch die ster­ben nicht aus, die gewöh­nen sich an alles. Die Men­schen. (315)

Und die End­zeit hört ja auch ein­fach nicht auf, es bleibt ein­fach immer schreck­lich, kaum noch stei­ger­bar, aber irgend­wie doch im per­ma­men­ten Ver­fall. „Und wei­ter.“ sind dann auch in die­sem Sin­ne wun­der­bar tref­fend alle Kapi­tel der Toto-Hand­lung über­schrie­ben, die nicht nur durch die drei Kom­men­ta­re, son­dern auch durch ver­ein­zel­te Kapi­tel mit Aus­bli­cke in Neben­hand­lun­gen unter­bor­chen wer­den (unter denen Kasi­mir als eine Art Begleit- oder Gegen­fi­gur zu Toto her­aus­sticht: Kasi­mir, der mit Toto im Kin­der­heim auf­wächst, mit dem ihm kurz so etwas wie Freund­schaft (und Ver­lan­gen) ver­bin­det, dass dann in sys­te­ma­ti­schen Hass umge­formt wird von einem erwach­se­nen Kasi­mir, der ganz und gar im Sys­tem auf­geht, und einen ela­bo­riert-per­fi­den Plan der Ver­nich­tung Totos aus­ge­tüf­telt hat …) Nun ist das natür­lich kein Kul­tur­pes­sis­mus alter Sor­te, der sich eine wie auch immer phan­ta­sier­te bes­se­re Zeit zurück­wünscht. Das ist ein­fach tota­le (manch­mal viel­leicht auch tota­li­tät­re?) Des­il­lu­sio­nie­rungs­pro­sa. Das muss einem gefal­len, sonst wird man sich hier nur quä­len. Und gequält wer­den, von die­sem glo­ba­len Schei­tern.

Ein Gefühl war nicht geplant gewe­sen. (367)

Sibyl­le Berg: Vie­len Dank für das Leben. Mün­chen: Han­ser 2012. 400 Sei­ten. 21,90 Euro. ISBN 978−3−446−23970−8

Unboxing eines Kunstwerkes

Unboxing ist ja eigent­lich ein Sport/​Hobby, das sich vor allem bei elek­tro­ni­schen Gerä­ten aus­tobt. Ich habe das lett­zens mal mit einem Kunst­werk gemacht – einem Kunst­werk, zu des­sen Gehalt und Wert ich noch nichts sagen kann (das kommt spä­ter …), das aber immer­hin mit erheb­li­chem Anspruch daher­kommt: XO von Fran­cis Nenik. Das ist kein Buch, son­dern eine Lose­blatt­samm­lung (die übri­gens unter eine CC-Lizenz steht und auch kos­ten­los zugäng­lich ist) mit Text-Tei­len,1 ver­packt in einem Kar­ton, der Teil des Tex­tes ist und so wei­ter – ich lie­be ja sol­che Meta-Spie­le­rei­en.

Show 1 foot­no­te

  1. Die Idee, die linea­re Lek­tü­re von erzäh­len­den Tex­ten auf­zu­bre­chen, ist ja nicht so wahn­sin­nig neu. Zuletzt den­ke ich da etwa an Benja­min SteinsLein­wand“, die nicht nur die Lek­tü­re­rei­hen­fol­ge der zwei Groß­tei­le in die Ent­schei­dung des Leser stellt, son­dern aus­drück­lich das Wech­seln auch zwi­schen den Tei­len ermu­tigt und vor­schlägt. Oder an Aka Mor­chil­ad­ze, des­sen „San­ta Espe­ran­za“ auch durch die Ver­pa­ckung auf­fällt: eine Tasche mit 36 beli­big kom­bi­nier­ba­ren Ein­zel­hef­ten. Nicht zuletzt kann man auch Kaf­kas „Pro­cess“ so lesen, zumin­dest in der Aus­ga­be bei Wagen­bach, die sich der edi­to­ri­schen Ent­schei­dung der Anord­nung der Text­hef­te Kaf­kas ver­wei­gert. Man sieht: Es gibt also nichts Neu­es unter der Son­ne …

Leben

„Das Leben ist kein Roman. Es ist die Anein­an­der­rei­hung von mehr oder weni­ger poin­tier­ten Kurz­ge­schich­ten.“

— Manue­la Reich­art, Zehn Minu­ten und ein gan­zes Leben

Hausgemachter Islandroman

Wer erzählt denn hier über­haupt?? (107)

War­um zieht Island eigent­lich die Spin­ner an? Zumin­dest die gut­mü­ti­gen? Wolf­gang Mül­ler ist ja schon eine Wei­le auf die­se Spe­zia­li­tä­ten wie Feen, Elfe und Kobol­de – alles islän­di­sche Bestän­de – abon­niert. Jetzt offen­bar auch Albrecht E. Mang­ler. Mit „VERASCHUNG“ (die Ver­sa­li­en sind Absicht), das über Tubuk Delu­xe (inklu­si­ve ori­gi­na­ler Island-Asche!) den Weg auf mei­nen Lese­tisch fand, ist jeden­falls aus­rei­chend ver­rückt, um Mang­ler zu einem Ehren-Islän­der zu machen.

Schon die gan­ze Auf­ma­chung, das ewi­ge drun­ter & drü­ber, die zusätz­lich ein­ge­scho­be­ne Erzäh­ler­fik­ti­on, das Cas­ting für Figu­ren der Erzäh­lung, … machen den Leser schwind­lig. „Ver­aschung“ ist näm­lich vie­les, aber eines bestimmt nicht: dis­zi­pli­niert. Statt­des­sen ist das Büch­lein, „der Island-Roman“, aus­schwei­fend, undis­zi­pli­nert, unbän­dig, wild, wirr (im bes­ten, näm­lich unter­hal­ten­den Sin­ne das alles …) – und vor allem komisch. Mit allem, was das Erzäh­ler­herz und ‑hirn her­gibt, wird gespielt: Mit Fuß­no­ten, mit Ergän­zun­gen, Ver­wei­sen, Pseu­do-Inter­ak­ti­vi­tät (inklu­si­ve Blog, Face­book-Account – und mit „War­te­sei­ten“ im Buch, um die Zeit bis zur Aus­zäh­lung zu über­brü­cken …) – das ist fast ein gedruck­ter Hyper­text. Aller­dings nur als Show, sozu­sa­gen, nur auf­ge­setzt, um mög­lichst viel Far­be und Ver­wir­rung in den Lese­fluss und den mehr oder weni­ger geneig­ten Leser zu bekom­men … Dazu noch – nicht zu ver­ges­sen (und auch nicht zu über­se­hen) – die Selbst­re­fe­ren­zia­li­tät auf ver­schie­de­nen Ebe­nen des Tex­tes – eine furi­os Mischung, fast ein Lehr­buch der Nar­ra­ti­vi­tät.

Mang­ler zieht näm­lich so ziem­lich alle Regis­ter des (auch mal noto­risch unzu­ver­läs­si­gen) Erzäh­lens, unzäh­li­ge Erzäh­ler­fik­tio­nen, Fuß­no­ten, Stim­men­wech­sel, der „Gast­bei­trag“ von Jökull Eld­fells­son, der das gan­ze noch ein­mal unter­bricht, aber auch die Mit­tel der Mul­ti­me­dia­li­tät (nicht nur Zeich­nun­gen und Bild­ver­wei­se, auch noch eine islän­di­sche Hob­by­fo­to­stre­cke in der Mit­te, stil­echt auf Hoch­glanz­pa­pier) und der Hyper­fik­ti­on, Spiel mit den Gat­tun­gen … so könn­te man jetzt noch eine gan­ze Wei­le wei­ter auf­zäh­len, was er sich so alles ein­fal­len lässt bzw. was er von ande­ren über­nimmt. Zum Glück für „Ver­aschung“ ist das mit 127 Sei­ten gera­de noch so im Rah­men, das der unauf­hör­li­che Strom an erzäh­le­ri­schen Gim­micks noch aus­zu­hal­ten ist – viel län­ger hät­te ich das wohl nicht ertra­gen. Ach ja, so etwas wie eine „Fabel“, einen erzäh­le­ri­schen Kern, gibt es auch noch. Der ist aber fast banal, den brau­che ich hier nicht zu refe­rie­ren – ein biss­chen muss dem Leser auch selbst über­las­sen blei­ben. Schieß­lich ist das Ent­zif­fern und Ent­wir­ren desr Erzähl­knäuls ein wesen­ti­cher Teil des Spa­ßes – und das ist schon ein rund­um amü­san­tes Spiel.

Wer erzählt denn hier über­haupt?? (107)

Albrecht E. Mang­ler: VERASCHUNG. Der Island-Roman erzählt von Vigo LaFlam­me. Mit einem Gast­bei­trag von Jökull Eld­fells­son. Wien: Mile­na 2011. 127 Sei­ten. ISBN 978−3−85286−210−1.

Die Gegenwart, das Glück und die Literatur

Irgend­wie, so habe ich manch­mal den Ein­druck, gibt es über die deutsch­spra­chi­ge Gegen­warts­li­te­ra­tur zu viel und zu wenig Unter­su­chun­gen. Geschrie­ben wird viel und viel geschrie­ben über das Geschrie­be­ne. Aber nur ganz, ganz wenig davon gelingt über­zeu­gend. Richard Käm­mer­lings Buch über „Das kur­ze Glück der Gegen­wart“, in dem er sich der duetsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur sein 1989 wid­met, ist so ein Fall: Schön, dass ein Kri­ti­ker ver­sucht, mehr zu tun als ein­zel­ne Bücher beim Erschei­nen zu bespre­chen und in der Rück­schau noch ein­mal zu ord­nen. Scha­de, dass er es so tut.

Das fängt schon ganz vor­ne an, mit der fal­schen Prä­mis­se – und ist dann lei­der auch noch schlecht durch­ge­führt. Also: Käm­mer­lings ver­langt, 1 dass die deutsch­spra­chi­ge Lite­ra­tur gegen­warts­hal­tig sei und ihren Lese­rin­nen und Lesern die Welt der Gegen­wart erklärt. Das ist natür­lich irgend­wie ein heh­rer Wunsch, der zunächst ein­mal schlüs­sig scheint, aber doch Unsinn ist: War­um soll die Lite­ra­tur das tun? Und war­um soll sie es – das ist näm­lich Käm­mer­lings Fol­ge­rung – unbe­dingt und aus­s­schließ­lich mit Stof­fen der angeb­li­chen Gegen­wart tun? Ist Lite­ra­tur nicht etwas mehr als blo­ße Welt­be­schrei­bung? Soll­te sie es nicht sein? Ist das die „Auf­ga­be“ der Kunst: Uns die Welt zu zei­gen und zu erklä­ren? Oder soll­te sie sich nicht mehr um „uns“ küm­mern – wenn sie über­haupt irgend etwas „soll“?

Jeden­falls geht es für Käm­mer­lings dar­um: Autoren sol­len ihre Stof­fe aus den Erschei­nun­gen der Gesell­schaft der Gegen­wart über­neh­men und ent­wi­ckeln, sie sol­len die Krie­ge der letz­ten Jah­re the­ma­ti­sie­ren, sozia­le Ungleich­hei­ten, wirt­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen, poli­ti­sches Gesche­hen. Und sie sol­len das offen­bar gefäl­ligst in les­ba­rer, nicht zu aus­ge­fal­le­ner Pro­sa tun – etwas ande­res kennt Käm­mer­lings in die­sem Buch nicht: Roma­ne sind – trotz des damit als groß­spre­che­risch sich erwei­sen­den Unter­ti­tels – sei­ne Form, mit eini­gen Aus­flü­gen in kür­ze­re For­men der erzäh­len­den Lite­ra­tur. Dra­ma­ti­sche Tex­te haben zur Gegen­wart nichts zu sagen? Und Lyrik auch nicht? – Das sieht wie ein typi­scher Fehl­schluss eines Zei­tungs-Kri­ti­kers aus, wür­de ich sagen, der mit sei­nen beruf­lich beding­ten (?) Scheu­klap­pen liest – in der Tat kommt in den deut­schen Zei­tun­gen die Lyrik schon nur extrem wenig vor, die dra­ma­ti­schen Tex­te als Tex­te (abseits der Per­for­manz der (Ur-)Aufführung) eigent­lich über­haupt nicht. Begründ­bar ist das in den Kunst­wer­ken nicht, höchs­tens in der ver­meint­li­chen Grö­ße des Inter­es­ses der Leser­schaft – selbst wenn man Gegen­warts­hal­tig­keit als Maß­stab anlegt, soll­te man erken­nen, dass dazu auch Lyrik und Dra­ma eini­ges zu sagen haben kön­nen.

Lei­der klebt Käm­mer­lings dann auch noch über den aller­größ­ten Teil der zwei­hun­dert Sei­ten bloß am Stoff der bespro­che­nen Bücher: Über blo­ße Inhalts­an­ga­ben, knap­pe Refe­ra­te des beschrie­be­nen Gesche­hens mit ein paar Bei­spiel­sät­zen geht er so gut wie nie hin­aus. Sowie es um die eigent­li­che künst­le­ri­sche Gestal­tung geht, um Stil­fra­gen, um Struk­tu­ren der Tex­te, ihre For­men und Gestal­ten, wird Käm­mer­lings aus­ge­spro­chen unge­nau und nebu­lös – viel­mehr als der „Ton“ eines Autors bleibt meist nicht übrig von sei­ner Ana­ly­se. Das ist natür­lich scha­de und aus­ge­spro­chen unbe­frie­di­gend. Denn es ist ja nicht so, dass er schlech­te Bücher vor­stellt …

Dafür spie­len inter­tex­tu­el­le Net­ze, die Bezie­hun­gen – inhalt­li­che und tem­po­ra­le – zwi­schen den Tex­te, also auch so etwas wie „Schu­len“ des Schrei­bens, eine ganz gro­ße Rol­le. Auch ech­te oder ver­meint­li­che Vor­bil­der sind für Käm­mer­lings sehr wich­tig – meist kom­men sie aus der ame­ri­ka­ni­schen Gegen­warts­li­te­ra­tur. Was die­ses Nach­ei­fern, die­ses Schrei­ben auf Anre­gung ande­rer Tex­te, aller­dings bedeu­tet, bleibt er wie­der­um ger­ne schul­dig: Was heißt es denn, das die­se Bezie­hung erkenn­bar ist? Für Käm­mer­lings scheint das eher ein Vor­teil zu sein, ein Ler­nen von den (rich­ti­gen) Meis­tern. Aber war­um soll mich das inter­es­sie­ren, ob Autor A jetzt B gekannt hat oder nicht? Neben die­sen Bezie­hun­gen der Tex­te unter­ein­an­der sucht Kämmr­lings auch ger­ne äuße­re Anläs­se für das Ent­ste­hen von lite­ra­ri­schen Wer­ken aus­zu­ma­chen. Und wie­der ist mir nicht ganz klar, was das für das Ver­ste­hen (oder auch nur Erfah­ren) des Kunst­wer­kes hel­fen soll. Für ihn ist das aber wich­tig, weil damit ja sein Gebot der Gegen­warts­nä­he erfüllt wird (bzw. zu wer­den scheint).

Die abschlie­ßen­de Lis­te der 10 bes­ten Bücher der letz­ten 20 Jah­re ist dann ja, nun ja, ein etwas selt­sa­mer Gag. Irgend­wie habe ich den Ein­druck, das war eine Ver­lags­idee, der sich Käm­mer­lings auch nur etwas wider­wil­lig gebeugt hat. Die Lis­te selbst bie­tet eine etwas merk­wür­di­ge Mischung, fin­de ich. Das sind ohne Zwei­fel gute Bücher – aber die bes­ten? Rai­nald Goetz ist zum Bei­spiel mit „Abfall für alle“ ver­tre­ten – war­um „Kla­ge“ oder „Los­la­bern“ schlech­ter sein sol­len, erschließt sich mir nicht. Aber die bei­den Bücher kennt Käm­mer­lings offen­bar nicht, muss man ver­mu­ten – im Text selbst kom­men sie näm­lich auch nicht vor – und das ist mir völ­lig unver­ständ­lich. Ingo Schul­zes „Simp­le Sto­ry“ hal­te ich ten­den­zi­ell ja auch für etwas über­schätzt – das ist, genau wie Mar­cel Bey­ers „Flug­hun­de“ etwa so ein Buch, das jeder irgend­wie gut fin­den kann. War­um Tho­mas Lehr aus­ge­rech­net mit „Nabo­kovs Kat­ze“ auf der Lis­te gelan­det ist, das ist mir auch wie­der­um nicht ganz klar – ich hal­te das nicht für sein bes­tes Buch.

Was bleibt als von Käm­mer­lings Ver­such, die (?) deutsch­spra­chi­ge Lite­ra­tur seit ’89 zu erfas­sen und zu erklä­ren? Eine Men­ge Bücher wer­den ange­ris­sen, kurz vor­ge­stellt, refe­riert – von denen mir durch­aus eini­ge wohl durch die Lap­pen gegan­gen sind (und durch­aus eini­ge sich viel­ver­spre­chend anhö­ren). Aber ganz, ganz vie­les – und lei­der eben vie­les unheim­lich Gutes – fällt durch das Ras­ter. Unver­ständ­lich bleibt mir eini­ges: War­um zum Bei­spiel Rein­hard Jirgl nur ein­mal nur neben­bei erwähnt wird (die Kunst des name-drop­ping beherrscht Käm­mer­lings ziem­lich gut …) – gera­de in das Kapi­tel zum erin­nern­den Roman hät­te er wun­der­bar gepasst. Und frag­lich bleibt dann doch auch, ob man aus Büchern wie denen von Kurz­eck (der etwas mehr Gna­de fin­det als Jirgl, aber natür­lich vor allem durch das unver­meid­li­che „proust­sche“ Erzäh­len cha­rak­te­ri­siert wird) nicht genau­so viel oder sogar mehr über uns und die Gegen­wart ler­nen kann als aus ver­meint­lich aktu­el­len Büchern (was bei Käm­mer­lings ja nur und vor allem aktu­el­le Stof­fe meint), die sich den spe­zi­fi­schen Situa­tio­nen der Gegen­wart, d.h. der letz­ten ca. 10 Jah­re, wid­men.

Aber das führt mich ja wie­der an den Anfang: Die For­de­rung der Gegen­warts­hal­tig­keit der Lite­ra­tur ist mei­nes Erach­tens kunst­frem­der Unsinn, der – wie Ina Hart­wig in der Süd­deut­schen ganz rich­tig anmerk­te – der Lite­ra­tur eine Stell­ver­tre­ter­funk­ti­on zuweist: Sie soll erle­ben, was wir selbst nicht tun. Der Anspruch, Lite­ra­tur müs­se uns unse­re „Gegen­wart“ irgend­wie erklä­ren, ist aber ein fal­scher, der den Kunst­wer­ken auch nur sel­ten gut tut. Dafür gibt es Jour­na­lis­ten. Und bezeich­nen­der­wei­se ist Käm­mer­lings von jour­na­lis­ti­schen Schreib­wei­sen wie Moritz von Uslars „Deutsch­bo­den“ eben auch sehr ange­tan – logisch, denn sie erfül­len eben sei­ne Bedin­gung der Gegen­warts­nä­he und ‑beschrei­bung. Aber Kunst soll­te doch etwas mehr sein. Und ist es ja auch immer wie­der – Käm­mer­lings zum Trotz sozu­sa­gen.

Richard Käm­mer­lings. Das kur­ze Glück der Gegen­wart. Deutsch­spra­chi­ge Lite­ra­tur seit ’89. Stutt­gart: Klett-Cot­ta 2011. 208 Sei­ten. ISBN 978−3−608−94607−9.

Show 1 foot­no­te

  1. Ja, er ver­langt das wirk­lich – er will, dass das die Autoren tun, er will ihnen vor­schrei­ben, wie Lite­ra­tur zu sein hat. Auch wenn er natür­lich klug genug ist, eine sol­che prä­skrip­ti­ve Ästhe­tik mit genü­gend Caveats zu ver­se­hen: Im Kern geht es ihm dar­um, eine bestimm­te Art von Lite­ra­tur als die (ein­zig) rich­ti­ge zu set­zen.

Wahrheit oder Leben

Zwei Roma­ne zum Preis von Einen. Oder auch nicht. Eigent­lich ist ja doch nur einer, „Die Lein­wand“ von Ben­ja­min Stein, der im „Turm­seg­ler“ auch ein sehr inter­es­san­tes Blog hat. Aber er wird dop­pelt erzählt, mit Jan Wechs­ler und Amnon Zichro­ni als Zen­tren der jewei­li­gen Tei­le. Und damit auch jeder die Beson­der­heit merkt, sind die bei­den Tei­le so gedruckt, dass man das Buch von jeder Sei­te begin­nen kann: „Zwei Haupt­we­ge und ver­schlun­ge­ne Neben­pfa­de füh­ren durch die­sen Roman. Hin­ter jedem Umschlag befin­det sich ein mög­li­cher Aus­gangs­punkt für das Gesche­hen. Es ist Ihnen über­las­sen, wo Sie zu lesen begin­nen.“ – so heißt es auf dem Umschlag. Man darf aber auch zwi­schen jedem der 11 Kapi­tel die Lese­rich­tung wech­seln. Ich fing mit Ammon Zchro­ni an, las das kom­plett und wech­sel­te erst dann zum Jan-Wechs­ler-Teil. Kei­ne Ahnung, ob es eine bes­se­re Vari­an­te gibt ;-).

Wor­um geht es: Um Wahr­heit, um Erin­ne­rung, ums Gedächtnis – und vor allem die gan­zen Pro­ble­me, die damit zusam­men­hän­gen. Die trü­ge­ri­sche Erin­ne­rung, der unkla­re Sta­tus von Erin­ne­run­gen, und immer wie­der die Fra­ge: Was ist hier die Wahr­heit? Was ist pas­siert? Was wird wie war­um erin­nert? Ziem­lich am Anfang des Wechs­ler-Tei­les, auf der Sei­te W.14 heißt es:

Nie­mand wüss­te bes­ser als ich, dass die Gren­ze zwi­schen Rea­li­tät und Fik­ti­on in jeder Erzählung mäan­dernd inmit­ten der Spra­che ver­läuft, getarnt, unfass­bar – und beweg­lich. Selbst das Wort „Wirk­lich­keit“ führt ins Unwäg­ba­re.

Damit ist eigent­lich schon fast alles über die­se groß­ar­ti­ge Buch gesagt. Die Sto­ry ist ent­spre­chend ela­bo­riert. Der Zichro­ni-Teil erzählt die Geschich­te eines mehr oder weni­ger streng­glüu­bi­gen Juden, sei­ne Aus­bil­dung, sei­ne Zwei­fel und Glau­bens­an­fech­tun­gen, aber auch sei­ne Fes­tig­keit im Glau­ben. Jan Wechs­ler ist ein Schrift­stel­ler (oder auch nicht, er ist sich selbst da extrem unsi­cher, weil sein Gedächt­nis ihn sys­te­ma­tisch im Stich lässt), der im End­ef­fekt Zichro­ni umbringt – oder umge­kehrt, je nach Erzähl­rich­tung. Die feh­len­de Erin­ne­rung, ihr trü­ge­ri­sche (Un-)Sicherheit wird so zum Kri­mi­nal­fall, das eher phi­lo­so­phi­sche Pro­blem des Sta­tus der „Wahr­heit“ hat auf ein­mal hand­fes­te Kon­se­quen­zen. Dazu kommt noch, damit eng ver­knüpft, die Fra­ge der Iden­ti­tät des Men­schen – bin ich, was ich erin­ne­re? Gibt es einen „wah­ren“ Kern der Iden­ti­tät, die (auch) außer­halb mei­ner selbst, mei­ner – ja sowie­so unzu­ver­läs­si­gen – Erin­ne­rung liegt? Die gan­zen „gro­ßen“ The­men wer­den zwar sehr deut­lich, aber – und das ist dann halt ein­fach das Schö­ne an die­sem Buch – sie blei­ben in die Erzäh­lung wun­der­bar har­mo­nisch ein­ge­bet­tet: Klar, man merkt recht schnell, wor­um es dem Autor geht. Aber die sto­ry bleibt span­nend, die Erzäh­ler kön­nen mit ihrer oft weit aus­ho­len­den, allen Neben­pfa­den nach­ge­hen­den, aber genau kon­stru­ier­ten Erzäh­lung trotz­dem wei­ter­hin fes­seln.

Das ent­wi­ckelt ziem­lich schnell einen deut­li­chen Sog – vor allem der Zichro­ni-Teil hat mich sehr gefes­selt: Mit sei­nen sehr far­bi­gen Beschrei­bun­gen, sei­nen aus­ge­such­ten Ver­glei­chen und poe­ti­schen Stil – der Wechs­ler-Teil ist deut­lich pro­sa­ischer, zumin­dest kam es mir beim Lesen so vor. Aber irgend­wie gelingt es mir gera­de nicht, die Freu­de und Begeis­te­rung mei­ner Lek­tü­re in Wor­te zu fas­sen … Gre­gor Keu­sch­nig hat dage­gen eine nicht nur sehr umfang­rei­che, son­dern auch ziem­lich gute und genaue Inhalts­an­ga­be für das „Begleit­schrei­ben“ geschrie­ben. Eini­ge wei­te­re Reak­tio­nen las­sen sich über den oben erwähn­ten Turm­seg­ler oder beim Per­len­tau­cher fin­den – die meis­ten sind ziem­lich posi­tiv, was ich gut nach­voll­zie­hen kann.

Die Welt in mir war für micht die Welt. (W.75)
Ich bin, wor­an ich mich erin­ne­re. Etwas ande­res hab ich nicht. (W.121)

Ben­ja­min Stein: Die Leinwand.Roman. Mün­chen: Beck 2010. ISBN 978−3−406−59841−8.

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