Angelika Meier, Heimlich, heimlich mich vergiss

Ange­li­ka Meier, Heim­lich, heim­lich mich ver­giss

Heim­lich, heim­lich mich ver­giss ist ein Traum­ro­man, ein wun­der­bar­er und oft auch wun­der­lich­er Text. Ich will hier gar nicht eine Deu­tung dieses Buch­es ver­suchen. Der Witz an Ange­li­ka Meiers Roman ist ja in meinen Augen ger­ade, dass er sich ein­deuti­gen Lesarten ein­deutig ver­schließt: Alles — und wirk­lich so ziem­lich alles, vom Anfang bis Ende — kann, darf und soll man (also der Leser) immer auch anders ver­ste­hen. Gle­ich unge­heuer begeis­tert hat mich schon unmit­tel­bar während der Lek­türe die Art, wie Meier hier die Infor­ma­tionsver­mit­tlung gestal­tet. Sie stopft näm­lich nicht alles lehrbuch­mäßig in die Expo­si­tion, son­dern verteilt wesentliche Mit­teilun­gen zu Fig­uren, Kon­stel­la­tio­nen, Umstän­den, Set­ting und Hand­lung wun­der­bar ökonomisch und qua­si-natür­lich über die ganzen 300 Seit­en. Oder eben auch nicht: Die Autorin unter­liegt näm­lich nicht dem Wahn, alles zu sagen und erk­lären zu müssen, der die aktuelle Bel­letris­tik oft so lang­weilig macht. Hier ist der Leser/die Leserin noch selb­st gefragt. Solch ein Text hat naturgemäß viele offene Stellen, die man — denke ich — ein­fach mal so ste­hen lassen und aushal­ten muss. Oder als Leser selb­st füllt.

Aber worum geht es hier eigentlich? Das ist eine Frage, die über­haupt nicht ein­fach und abschließend zu beant­worten ist. Klar wird aber: Wir befind­en uns in ein­er zukün­fti­gen Gesellschaft, die wesentlich auf der Unter­schei­dung gesund vs. krank auf­baut. Im Mit­telpunkt des Textes ste­ht so etwas wie ein Arzt, der allerd­ings eine Art Men­sch-Mas­chine ist, ohne Herz am recht­en Fleck (das Herz wird mit dem Solarplexus irgend­wie oper­a­tiv vere­inigt bei den Ärzten), dafür mit zusät­zlichen Hirnka­paz­itäten und ein­er Art zweit­en, kon­trol­lieren­den Per­sön­lichkeit, dem Medi­a­tor. Dieser Arzt arbeit­et in einem Art Sana­to­ri­um, gegen das jenes aus dem Zauber­berg ein Kinder­spiel ist — hier kommt nie­mand rein und raus, es gibt keine Ein- oder Aus­gänge. Aber dann taucht doch irgend­wie eine ambu­lante Pati­entin auf, die sich als ehe­ma­lige Ehe­frau des Arztes ent­pup­pt, die ihn und seinen Sohn — der als Waise auch in diesem Institut/Komplex/Geflecht lebt — dazu bringt, eine Art “Aus­bruch” zu ver­suchen, der aber irgend­wie auch wieder scheit­ert und im Phan­tas­ma endet — wie man über­haupt den ganzen Text als eine Art Traum lesen kann, dessen Traum­charak­ter mit fortschre­i­t­en­der Seiten­zahl deut­lich­er wird, ohne jedoch je expliz­it als solch­er iden­ti­fizier­bar zu wer­den. Klar ist aber bald: Das ist keine Real­ität, die hier beschrieben wird. Der Traum­charak­ter wird aber erst ganz kurz vor Schluss aufgelöst, mit dem Aufwachen. Und davor gibt es auch nur wenige direk­te Hin­weise — vor allem die Unwirk­lichkeit des Erzählten selb­st drängt meine Lek­türe in diese Rich­tung …

Das schlägt sich auch in der Sprache wieder — zunächst hielt ich das für Manieris­mus, der Wech­sel zwis­chen Innen- und Außen­per­spek­tive der Haupt­fig­ur zwis­chen zwei Sätzen hin und her — aber das hat dann doch alles seinen guten Grund in der Instanz des “Medi­a­tors”. Und auch die Klarheit, ja Unkom­pliziertheit der Syn­tax ist ein schön­er Gegen­satz zur Fremd­heit der erzählten Welt (die auch nicht wirk­lich ver­traut wird — nicht wer­den kann und soll — hof­fentlich ) …

Ich kann meine Fasz­i­na­tion hier ger­ade nur schw­er begrün­den und/oder in Worte fassen — vielle­icht auch, weil mir erst im Laufe der Lek­türe aufge­gan­gen ist, wie gut das eigentlich ist. Wahrschein­lich müsste ich es gle­ich noch ein­mal lesen. Die Kri­tik­er — die das meis­tens auch (recht) gut fan­den — sind sich auch nicht so ganz einig, worum es in “Heim­lich, heim­lich mich ver­giss” eigentlich geht. Und das ist oft ein gutes Zeichen (denn wer will schon Büch­er lesen, die von Anfang an allen klar sind und alles klar machen? — Das sind in der Regel die lang­weili­gen Texte …). Oliv­er Jun­gen kon­sta­tiert zum Beispiel in der FAZ:

Das Zen­tralthe­ma Meiers ist die Neu­for­matierung des psy­chis­chen Sys­tems, wodurch auch Ver­gan­gen­heit und Zukun­ft, nichts als diskur­sive Kon­struk­te, neu aufge­set­zt wer­den. Ob sich die ver­schiede­nen Bewusst­sein­sebe­nen, welche dem Leser präsen­tiert wer­den, in erken­nt­nis­the­o­retis­ch­er Hin­sicht hier­ar­chisieren lassen, ob also ein Zus­tand der Wahrheit entspricht oder ob es gar kein Außen gibt, bleibt selb­stre­dend offen (Oliv­er Jun­gen, FAZ)

Ulrich Rüde­nauer in der Zeit set­zt andere Schw­er­punk­te:

Die Kör­p­er sind hier zu Diskurs­ge­gen­stän­den gewor­den, aus­ge­lagerte Objek­te, über die in einem fremd anmu­ten­den Jar­gon gere­det, gerichtet wird. Hier, in dieser zukün­fti­gen Klinik, die natür­lich auf unsere immer trans­par­entere, ver­wal­tete Gegen­wart ver­weist, hat alles seine Ord­nung.

Ange­li­ka Meier jeden­falls hat eine hochkom­plexe lit­er­arische Welt ent­wor­fen, eine kün­stliche, vom Erzäh­ler möglicher­weise nur fan­tasierte Par­al­lelord­nung, die deshalb gespen­stisch und ver­wirrend wirkt, weil sie so fern von unseren eige­nen Zukun­ft­säng­sten gar nicht ist. (Ulrich Rüde­nauer, Zeit)

Ange­li­ka Meier: Heim­lich, heim­lich mich ver­giss. Berlin: Diaphanes 2012. 336 Seit­en. ISBN 978–3‑03734–184‑1. 22,90 Euro.