Zwei Romane zum Preis von Einen. Oder auch nicht. Eigentlich ist ja doch nur einer, “Die Leinwand” von Benjamin Stein, der im “Turmsegler” auch ein sehr interessantes Blog hat. Aber er wird doppelt erzählt, mit Jan Wechsler und Amnon Zichroni als Zentren der jeweiligen Teile. Und damit auch jeder die Besonderheit merkt, sind die beiden Teile so gedruckt, dass man das Buch von jeder Seite beginnen kann: “Zwei Hauptwege und verschlungene Nebenpfade führen durch diesen Roman. Hinter jedem Umschlag befindet sich ein möglicher Ausgangspunkt für das Geschehen. Es ist Ihnen überlassen, wo Sie zu lesen beginnen.” — so heißt es auf dem Umschlag. Man darf aber auch zwischen jedem der 11 Kapitel die Leserichtung wechseln. Ich fing mit Ammon Zchroni an, las das komplett und wechselte erst dann zum Jan-Wechsler-Teil. Keine Ahnung, ob es eine bessere Variante gibt ;-).
Worum geht es: Um Wahrheit, um Erinnerung, ums Gedächtnis — und vor allem die ganzen Probleme, die damit zusammenhängen. Die trügerische Erinnerung, der unklare Status von Erinnerungen, und immer wieder die Frage: Was ist hier die Wahrheit? Was ist passiert? Was wird wie warum erinnert? Ziemlich am Anfang des Wechsler-Teiles, auf der Seite W.14 heißt es:
Niemand wüsste besser als ich, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion in jeder Erzählung mäandernd inmitten der Sprache verläuft, getarnt, unfassbar — und beweglich. Selbst das Wort “Wirklichkeit” führt ins Unwägbare.
Damit ist eigentlich schon fast alles über diese großartige Buch gesagt. Die Story ist entsprechend elaboriert. Der Zichroni-Teil erzählt die Geschichte eines mehr oder weniger strengglüubigen Juden, seine Ausbildung, seine Zweifel und Glaubensanfechtungen, aber auch seine Festigkeit im Glauben. Jan Wechsler ist ein Schriftsteller (oder auch nicht, er ist sich selbst da extrem unsicher, weil sein Gedächtnis ihn systematisch im Stich lässt), der im Endeffekt Zichroni umbringt — oder umgekehrt, je nach Erzählrichtung. Die fehlende Erinnerung, ihr trügerische (Un-)Sicherheit wird so zum Kriminalfall, das eher philosophische Problem des Status der “Wahrheit” hat auf einmal handfeste Konsequenzen. Dazu kommt noch, damit eng verknüpft, die Frage der Identität des Menschen — bin ich, was ich erinnere? Gibt es einen “wahren” Kern der Identität, die (auch) außerhalb meiner selbst, meiner — ja sowieso unzuverlässigen — Erinnerung liegt? Die ganzen “großen” Themen werden zwar sehr deutlich, aber — und das ist dann halt einfach das Schöne an diesem Buch — sie bleiben in die Erzählung wunderbar harmonisch eingebettet: Klar, man merkt recht schnell, worum es dem Autor geht. Aber die story bleibt spannend, die Erzähler können mit ihrer oft weit ausholenden, allen Nebenpfaden nachgehenden, aber genau konstruierten Erzählung trotzdem weiterhin fesseln.
Das entwickelt ziemlich schnell einen deutlichen Sog — vor allem der Zichroni-Teil hat mich sehr gefesselt: Mit seinen sehr farbigen Beschreibungen, seinen ausgesuchten Vergleichen und poetischen Stil — der Wechsler-Teil ist deutlich prosaischer, zumindest kam es mir beim Lesen so vor. Aber irgendwie gelingt es mir gerade nicht, die Freude und Begeisterung meiner Lektüre in Worte zu fassen … Gregor Keuschnig hat dagegen eine nicht nur sehr umfangreiche, sondern auch ziemlich gute und genaue Inhaltsangabe für das “Begleitschreiben” geschrieben. Einige weitere Reaktionen lassen sich über den oben erwähnten Turmsegler oder beim Perlentaucher finden — die meisten sind ziemlich positiv, was ich gut nachvollziehen kann.
Die Welt in mir war für micht die Welt. (W.75)
Ich bin, woran ich mich erinnere. Etwas anderes hab ich nicht. (W.121)
Benjamin Stein: Die Leinwand.Roman. München: Beck 2010. ISBN 978–3‑406–59841‑8.
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