Irgend­wie, so habe ich manch­mal den Ein­druck, gibt es über die deutsch­spra­chi­ge Gegen­warts­li­te­ra­tur zu viel und zu wenig Unter­su­chun­gen. Geschrie­ben wird viel und viel geschrie­ben über das Geschrie­be­ne. Aber nur ganz, ganz wenig davon gelingt über­zeu­gend. Richard Käm­mer­lings Buch über „Das kur­ze Glück der Gegen­wart“, in dem er sich der duetsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur sein 1989 wid­met, ist so ein Fall: Schön, dass ein Kri­ti­ker ver­sucht, mehr zu tun als ein­zel­ne Bücher beim Erschei­nen zu bespre­chen und in der Rück­schau noch ein­mal zu ord­nen. Scha­de, dass er es so tut.

Das fängt schon ganz vor­ne an, mit der fal­schen Prä­mis­se – und ist dann lei­der auch noch schlecht durch­ge­führt. Also: Käm­mer­lings ver­langt, 1 dass die deutsch­spra­chi­ge Lite­ra­tur gegen­warts­hal­tig sei und ihren Lese­rin­nen und Lesern die Welt der Gegen­wart erklärt. Das ist natür­lich irgend­wie ein heh­rer Wunsch, der zunächst ein­mal schlüs­sig scheint, aber doch Unsinn ist: War­um soll die Lite­ra­tur das tun? Und war­um soll sie es – das ist näm­lich Käm­mer­lings Fol­ge­rung – unbe­dingt und aus­s­schließ­lich mit Stof­fen der angeb­li­chen Gegen­wart tun? Ist Lite­ra­tur nicht etwas mehr als blo­ße Welt­be­schrei­bung? Soll­te sie es nicht sein? Ist das die „Auf­ga­be“ der Kunst: Uns die Welt zu zei­gen und zu erklä­ren? Oder soll­te sie sich nicht mehr um „uns“ küm­mern – wenn sie über­haupt irgend etwas „soll“?

Jeden­falls geht es für Käm­mer­lings dar­um: Autoren sol­len ihre Stof­fe aus den Erschei­nun­gen der Gesell­schaft der Gegen­wart über­neh­men und ent­wi­ckeln, sie sol­len die Krie­ge der letz­ten Jah­re the­ma­ti­sie­ren, sozia­le Ungleich­hei­ten, wirt­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen, poli­ti­sches Gesche­hen. Und sie sol­len das offen­bar gefäl­ligst in les­ba­rer, nicht zu aus­ge­fal­le­ner Pro­sa tun – etwas ande­res kennt Käm­mer­lings in die­sem Buch nicht: Roma­ne sind – trotz des damit als groß­spre­che­risch sich erwei­sen­den Unter­ti­tels – sei­ne Form, mit eini­gen Aus­flü­gen in kür­ze­re For­men der erzäh­len­den Lite­ra­tur. Dra­ma­ti­sche Tex­te haben zur Gegen­wart nichts zu sagen? Und Lyrik auch nicht? – Das sieht wie ein typi­scher Fehl­schluss eines Zei­tungs-Kri­ti­kers aus, wür­de ich sagen, der mit sei­nen beruf­lich beding­ten (?) Scheu­klap­pen liest – in der Tat kommt in den deut­schen Zei­tun­gen die Lyrik schon nur extrem wenig vor, die dra­ma­ti­schen Tex­te als Tex­te (abseits der Per­for­manz der (Ur-)Aufführung) eigent­lich über­haupt nicht. Begründ­bar ist das in den Kunst­wer­ken nicht, höchs­tens in der ver­meint­li­chen Grö­ße des Inter­es­ses der Leser­schaft – selbst wenn man Gegen­warts­hal­tig­keit als Maß­stab anlegt, soll­te man erken­nen, dass dazu auch Lyrik und Dra­ma eini­ges zu sagen haben kön­nen.

Lei­der klebt Käm­mer­lings dann auch noch über den aller­größ­ten Teil der zwei­hun­dert Sei­ten bloß am Stoff der bespro­che­nen Bücher: Über blo­ße Inhalts­an­ga­ben, knap­pe Refe­ra­te des beschrie­be­nen Gesche­hens mit ein paar Bei­spiel­sät­zen geht er so gut wie nie hin­aus. Sowie es um die eigent­li­che künst­le­ri­sche Gestal­tung geht, um Stil­fra­gen, um Struk­tu­ren der Tex­te, ihre For­men und Gestal­ten, wird Käm­mer­lings aus­ge­spro­chen unge­nau und nebu­lös – viel­mehr als der „Ton“ eines Autors bleibt meist nicht übrig von sei­ner Ana­ly­se. Das ist natür­lich scha­de und aus­ge­spro­chen unbe­frie­di­gend. Denn es ist ja nicht so, dass er schlech­te Bücher vor­stellt …

Dafür spie­len inter­tex­tu­el­le Net­ze, die Bezie­hun­gen – inhalt­li­che und tem­po­ra­le – zwi­schen den Tex­te, also auch so etwas wie „Schu­len“ des Schrei­bens, eine ganz gro­ße Rol­le. Auch ech­te oder ver­meint­li­che Vor­bil­der sind für Käm­mer­lings sehr wich­tig – meist kom­men sie aus der ame­ri­ka­ni­schen Gegen­warts­li­te­ra­tur. Was die­ses Nach­ei­fern, die­ses Schrei­ben auf Anre­gung ande­rer Tex­te, aller­dings bedeu­tet, bleibt er wie­der­um ger­ne schul­dig: Was heißt es denn, das die­se Bezie­hung erkenn­bar ist? Für Käm­mer­lings scheint das eher ein Vor­teil zu sein, ein Ler­nen von den (rich­ti­gen) Meis­tern. Aber war­um soll mich das inter­es­sie­ren, ob Autor A jetzt B gekannt hat oder nicht? Neben die­sen Bezie­hun­gen der Tex­te unter­ein­an­der sucht Kämmr­lings auch ger­ne äuße­re Anläs­se für das Ent­ste­hen von lite­ra­ri­schen Wer­ken aus­zu­ma­chen. Und wie­der ist mir nicht ganz klar, was das für das Ver­ste­hen (oder auch nur Erfah­ren) des Kunst­wer­kes hel­fen soll. Für ihn ist das aber wich­tig, weil damit ja sein Gebot der Gegen­warts­nä­he erfüllt wird (bzw. zu wer­den scheint).

Die abschlie­ßen­de Lis­te der 10 bes­ten Bücher der letz­ten 20 Jah­re ist dann ja, nun ja, ein etwas selt­sa­mer Gag. Irgend­wie habe ich den Ein­druck, das war eine Ver­lags­idee, der sich Käm­mer­lings auch nur etwas wider­wil­lig gebeugt hat. Die Lis­te selbst bie­tet eine etwas merk­wür­di­ge Mischung, fin­de ich. Das sind ohne Zwei­fel gute Bücher – aber die bes­ten? Rai­nald Goetz ist zum Bei­spiel mit „Abfall für alle“ ver­tre­ten – war­um „Kla­ge“ oder „Los­la­bern“ schlech­ter sein sol­len, erschließt sich mir nicht. Aber die bei­den Bücher kennt Käm­mer­lings offen­bar nicht, muss man ver­mu­ten – im Text selbst kom­men sie näm­lich auch nicht vor – und das ist mir völ­lig unver­ständ­lich. Ingo Schul­zes „Simp­le Sto­ry“ hal­te ich ten­den­zi­ell ja auch für etwas über­schätzt – das ist, genau wie Mar­cel Bey­ers „Flug­hun­de“ etwa so ein Buch, das jeder irgend­wie gut fin­den kann. War­um Tho­mas Lehr aus­ge­rech­net mit „Nabo­kovs Kat­ze“ auf der Lis­te gelan­det ist, das ist mir auch wie­der­um nicht ganz klar – ich hal­te das nicht für sein bes­tes Buch.

Was bleibt als von Käm­mer­lings Ver­such, die (?) deutsch­spra­chi­ge Lite­ra­tur seit ’89 zu erfas­sen und zu erklä­ren? Eine Men­ge Bücher wer­den ange­ris­sen, kurz vor­ge­stellt, refe­riert – von denen mir durch­aus eini­ge wohl durch die Lap­pen gegan­gen sind (und durch­aus eini­ge sich viel­ver­spre­chend anhö­ren). Aber ganz, ganz vie­les – und lei­der eben vie­les unheim­lich Gutes – fällt durch das Ras­ter. Unver­ständ­lich bleibt mir eini­ges: War­um zum Bei­spiel Rein­hard Jirgl nur ein­mal nur neben­bei erwähnt wird (die Kunst des name-drop­ping beherrscht Käm­mer­lings ziem­lich gut …) – gera­de in das Kapi­tel zum erin­nern­den Roman hät­te er wun­der­bar gepasst. Und frag­lich bleibt dann doch auch, ob man aus Büchern wie denen von Kurz­eck (der etwas mehr Gna­de fin­det als Jirgl, aber natür­lich vor allem durch das unver­meid­li­che „proust­sche“ Erzäh­len cha­rak­te­ri­siert wird) nicht genau­so viel oder sogar mehr über uns und die Gegen­wart ler­nen kann als aus ver­meint­lich aktu­el­len Büchern (was bei Käm­mer­lings ja nur und vor allem aktu­el­le Stof­fe meint), die sich den spe­zi­fi­schen Situa­tio­nen der Gegen­wart, d.h. der letz­ten ca. 10 Jah­re, wid­men.

Aber das führt mich ja wie­der an den Anfang: Die For­de­rung der Gegen­warts­hal­tig­keit der Lite­ra­tur ist mei­nes Erach­tens kunst­frem­der Unsinn, der – wie Ina Hart­wig in der Süd­deut­schen ganz rich­tig anmerk­te – der Lite­ra­tur eine Stell­ver­tre­ter­funk­ti­on zuweist: Sie soll erle­ben, was wir selbst nicht tun. Der Anspruch, Lite­ra­tur müs­se uns unse­re „Gegen­wart“ irgend­wie erklä­ren, ist aber ein fal­scher, der den Kunst­wer­ken auch nur sel­ten gut tut. Dafür gibt es Jour­na­lis­ten. Und bezeich­nen­der­wei­se ist Käm­mer­lings von jour­na­lis­ti­schen Schreib­wei­sen wie Moritz von Uslars „Deutsch­bo­den“ eben auch sehr ange­tan – logisch, denn sie erfül­len eben sei­ne Bedin­gung der Gegen­warts­nä­he und ‑beschrei­bung. Aber Kunst soll­te doch etwas mehr sein. Und ist es ja auch immer wie­der – Käm­mer­lings zum Trotz sozu­sa­gen.

Richard Käm­mer­lings. Das kur­ze Glück der Gegen­wart. Deutsch­spra­chi­ge Lite­ra­tur seit ’89. Stutt­gart: Klett-Cot­ta 2011. 208 Sei­ten. ISBN 978−3−608−94607−9.

Show 1 foot­no­te

  1. Ja, er ver­langt das wirk­lich – er will, dass das die Autoren tun, er will ihnen vor­schrei­ben, wie Lite­ra­tur zu sein hat. Auch wenn er natür­lich klug genug ist, eine sol­che prä­skrip­ti­ve Ästhe­tik mit genü­gend Caveats zu ver­se­hen: Im Kern geht es ihm dar­um, eine bestimm­te Art von Lite­ra­tur als die (ein­zig) rich­ti­ge zu set­zen.