Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

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Wochenblog 3/2023

Wenig zu bericht­en von dieser Woche. Wieder mal etwas viel gear­beit­et, unge­fähr 50 Stun­den und damit nur leicht über dem Durch­schnitt ;-). Dabei hat­te ich wieder oft das Gefühl, nicht voranzukom­men, nichts wirk­lich zu erledi­gen. Immer­hin war auch einiges schönes dabei — ein Sem­i­nar, das so inten­sive disku­tiert, dass ich mit meinem Pro­gramm nicht durchkam; ein Pla­nungsmeet­ing, in dem es mal wirk­lich vorang­ing.

Lebens­mit­tel­preise sind ger­ade sehr, sehr selt­sam. Bei Aldi zum Beispiel ist das Toast­brot der Eigen­marke in diesem Jahr von 99 Cent auf 1,59 Euro gestiegen, um dann zwei Wochen später bei 1,29 Euro zu lan­den. Sauer­kraut ist im Bio­markt in Bioland-Qual­ität gün­stiger als beim Dis­counter. Irgend­wie komme ich mir bei solch­er Preis­gestal­tung zunehmend abge­zockt und nicht ernst genom­men vor. Nun ja, mal sehen, wie sich das alles weit­er entwick­elt.

Und am trüben Woch­enende habe ich mal wieder ein wenig an meinen Blogs rumge­bastelt, die Kom­pa­bil­ität mit php8 endlich gek­lärt, ein wenig am Design und den Ein­stel­lun­gen rumgeschraubt.

Ton: Eine wun­der­bare Hän­del-Auf­nahme habe ich gehört: “Han­del Goes Wild” von L’Arpeg­gia­ta und Christi­na Pluhar. Das sind Impro­vi­sa­tio­nen über Hän­del-Werke und impro­visierende Inter­pre­ta­tio­nen von Hän­del-Arien, die damit eine dur­chaus barock­typ­is­che Anver­wand­lung auf­greifen und das mit viel Spaß, Sub­til­ität und Ideen so tun, dass das Hören mir echte Freude bere­it­ete.
Und auch sehr gut und schön, wenn auch nicht ganz so überzeu­gend wie bei Christoph Pré­gar­di­en: Franz Schu­berts “Schwa­nenge­sang” in der neuen Auf­nahme von André Schuen und Daniel Hei­de.

Text: Das “Blut­buch” von Kim de l’Hori­zon fer­tig gele­sen. Es kommt mir inge­samt doch ein wenig prä­ten­tiös vor. Die ver­han­del­ten The­men sind eigentlich recht schnell klar, sie wer­den aber überdeckt von der wuch­ern­den, unge­formten Form des Textes, der so ziem­lich (beina­he) alle denkbaren Reg­is­ter zieht, um seine Avant­gardität vorzuführen (ein biss­chen Holzham­mer-Meth­ode). Ich musste da öfters an Baßlers These des Mid­cults (Inter­na­tion­al Style) denken. So wie ich das ver­standen habe (ohne seine eigentliche Arbeit zu lesen freilich), beobachtet er eine Vari­ante der Lit­er­atur, die durch schwere The­men und aus­gestellte for­male Abweichung(en) eine Pseu­do-Moder­nität, einen Pseu­do-Kun­stcharak­ter her­stellt, aber eigentlich mit tra­di­tionellen Mit­teln erzählt. Gut, das let­zte passt auf das “Blut­buch” vielle­icht nicht so voll­ständig, aber mein Hauptein­wand nach mein­er vielle­icht etwas unge­nauen Lek­türe ist, dass die Form des Textes, seine Struk­tur und seine Sprache, nur sehr dünn ästhetisch begrün­det sind und vor allem markieren sollen, wie avanciert der Text ist. Vielle­icht ist das avancierteste hier aber doch bloß die Posi­tion der Erzäh­ler­fig­ur, des fik­tiv­en Autors (die natür­lich mehr oder weniger aut­ofik­tion­al durch die lebensweltliche Autor­fig­ur Kim de l’Hori­zon abgesichert und ver­stärkt wirkd).

Draußen: Weit­er­hin täglich gelaufen, aber langsam und dafür immer nur kurze Run­den. Keine gute Entwick­lung ger­ade, aber die Moti­va­tion war auch nicht sehr hoch.

Bibliothek (gebogene Reihe)

Aus-Lese #54

Eber­hard Kolb: Otto von Bis­mar­ck. Eine Biogra­phie. München: Beck 2014. 208 Seit­en. ISBN 978–3‑406–66774‑9.

kolb, bismarck (cover)Als Biogra­phie ist das für mich kaum sat­is­fak­tions­fähig: Zu blass und ver­schwom­men bleibt das Bild. Der Men­sch Bis­mar­ck, die Per­son, tritt nahezu gar nicht auf — ab und an gibt es Hin­weise auf seine Gesund­heit oder ein paar ganz wenige auf Frau und Kinder. Im Vorder­grund oder bess­er alleine im Fokus ste­ht sein poli­tis­ches Han­deln. Das beschreibt Kolb mit Zunei­gung, aber dur­chaus auch mit Blick für die Ambivalen­zen Bis­mar­cks. Aber auch das Zen­trum, die Poli­tik, bleibt blut- und far­b­los. Das liegt vor allem daran, dass Kolb oft sehr großzügig durch die Geschehnisse und Tat­en durch eilt udn nur die Ergeb­nisse berichtet, den Weg aber meist nur sum­marisch (und oft genug mit dem Hin­weis: Die Details sind bekan­nt). Das wiederum hängt damit zusam­men, dass er keinen recht­en Zugriff find­et: Eigentlich ist das eine preußische/deutsche Geschichte am Beispiel Bis­mar­cks. Und bei­des ist in diesem Umfang natür­lich kaum beson­ders inten­siv oder tiefge­hend zu leis­ten.

Wu Ming: Man­i­tu­a­na. Berlin, Ham­burg: Assozi­a­tion A 2018. 509 Seit­en. ISBN 978–3‑86241–465‑9.

wu ming, manituana (cover)Man­i­tu­a­na reicht lei­der nicht an die let­zten Bände von Wu Ming her­an. Das kann dur­chaus daran liegen, dass der USA, ihre Unab­hängigkeit­skrieg und der Kampf mit, um und gegen die “Indi­an­er” schon an sich nicht so ganz mein Ding sind. Da passiert dann zwar wieder viel, es wird gekämpft, bet­ro­gen, ver­rat­en und ver­han­delt, eine Del­e­ga­tion darf auch nach Eng­land reisen und sich im Luxus (und den Niederun­gen Lon­dons) des Adel­slebens gehörig fremd fühlen. Ich hat­te beim Lesen aber schon eigentlich durch­weg den Ein­druck, dass das an Span­nung und vor allem hin­sichtlich des bild­haften, detail­re­ichen Erzäh­lens ein­fach nicht (mehr) so gut ist. Zu sehr dringt hier immer wieder die Absicht an die Ober­fläche und stellt sich vor den Text — und damit funk­tion­iert genau das, was bei anderen Tex­ten von Wu Ming die beson­dere Span­nung und den speziellen Reiz aus­macht, hier lei­der nicht.

Jan Peter Bre­mer: Der junge Dok­torand. 2. Auflage. München: Berlin 2019. 176 Seit­en. ISBN 978–3‑8270–1389‑7.

bremer, der junge doktorand (cover)Das ist ein über­raschend feines, kleines Buch. Jan Peter Bre­mer hat­te ich bish­er ja über­haupt nicht auf dem Schirm. Aber in Der junge Dok­torand zeigt er sich dur­chaus als gewiefter Erzäh­ler, der sein Handw­erk ver­ste­ht und vor allem ernst nimmt: Ernst nehmen in dem Sinn, dass er sich bemüht, sauber zu arbeit­en, Fehler zu ver­mei­den. Das zeigt der Text, der mit Gespür und Form­be­wusst­sein erzählt ist. Das kun­stvolle Beherrschen des Erzäh­lens zeigt sich auch in dem Umfang des Buch­es: Das ist ein klein­er Roman. Es geht auch gar nicht so sehr um große, allum­fassende Dinge — die Welt wird hier nicht ger­ade erzählt. Aber auch wenn er sich beschei­den gibt: Bre­mer gelingt es doch, auf den weni­gen Seit­en mit genauen Sätzen, tre­f­fend­en Beschrei­bun­gen und Bewusst­sein für das richtige Tem­po große The­men zu erzählen: Es geht um Ehe, um Gesellschaft und Indi­vidu­um, und natür­lich, vor allem, um Kun­st — und auch ein biss­chen um nicht-normierte Lebensläufe wie den des jun­gen Dok­toran­den, der wed­er jung noch Dok­torand ist. Das klingt in der Zusam­men­fas­sung recht trock­en und ja, fast banal, ent­fal­tet bei Bre­mer aber eine tre­f­fend­en und sub­tile Komik. Und das macht dann ein­fach Spaß.

Nor­bert Scheuer: Win­ter­bi­enen. 5. Auflage. München: Beck 2019. 319 Seit­en. ISBN 978–3‑406–73964‑4.

scheuer, winterbienen (cover)Die Win­ter­bi­enen haben mich etwas ent­täuscht und rat­los zurück­ge­lassen. Ich habe Scheuer ja dur­chaus als erfahre­nen Erzäh­ler und Autor schätzen gel­ernt. Dieser Roman hat aber mehr Schwächen als er mit seinen eher mäi­gen Stärken aus­gle­ichen kann. Da ist zum einen die selt­same Tage­buch-Fik­tion. Die passt näm­lich vorne und hin­ten nicht: Gut, dass der Tage­buch­text in Fußnoten die lateinis­chen Zitate über­set­zt, das wird noch von der Her­aus­ge­ber­fik­tion gedeckt. Dass (als ein Beispiel von vie­len) Egid­ius Ari­mond (schon der Name macht mich ja beina­he wahnsin­nig) als erfahren­er Imk­er aber nach jahrzehn­te­langer Tätigkeit seinem Tage­buch erk­lärt, was er warum bei den Bienen, vor allem eben im Win­ter, macht, ist ein­fach handw­erk­lich­er bzw. erzähltech­nis­ch­er Unsinn, der ein­er Lek­torin dur­chaus mal hätte auf­fall­en dür­fen. Der Roman an sich ist für mich etwas zwiespältig: Natür­lich sehr durch­drun­gen von völkisch­er Ide­olo­gie, die eben wieder durch die Tage­buch-Fik­tion legit­imiert wird. Dann ist da noch das Lei­den eines Krieges, der auf die Aggres­soren zurück­ge­fall­en wird, hier aber — in Ari­mond und den restlichen, schemen­haft auf­tauchen­den Eifel­be­wohn­ern — eher als irgend­wie gegeben hin­genom­men wird. Ange­blich ist die erzählte Welt geprägt von dem “Wun­sch nach ein­er friedlichen Zukun­ft” — davon merkt man im Text aber reich­lich wenig. Im ganzen bleibt mir das etwas frag­würdig und vor allem aus­ge­sprochen unbe­friedi­gend: Warum erzählt Scheuer uns das? Und warum ver­steckt sich der Autor so (beina­he) vol­lkom­men hin­ter sein­er Fig­ur — was will mir das eigentlich sagen?

außer­dem gele­sen:

  • Heim­i­to von Doder­er: Unter schwarzen Ster­nen. Erzäh­lun­gen. München: Deutsch­er Taschen­buch Ver­lag 1973. 154 Seit­en. ISBN 3–7642-0055–3.
  • Glenn Gould: Frei­heit und Musik. Reden und Schriften. 2., durchge­se­hene und ergänzte Auflage. Ditzin­gen: Reclam 2019 (Was bedeutet das alles?). 84 Seit­en. ISBN 978–3‑15–019412‑6.
  • Alger­non Black­wood: Eine Kan­u­fahrt auf der Donau. / Die Wei­den. Ulm: danube bookes 2018. 154 Seit­en. ISBN 978–3‑946046–13‑4.
  • Sibylle Schwarz: Ist Lieben Lust, wer bringt dann das Beschw­er?. Leipzig: Rei­necke & Voß 2016. 58 Seit­en. ISBN 978–3‑942901–21‑5.
bücher (von oben & hinten)

Aus-Lese #51

Almut Tina Schmidt: Zeitver­schiebung. Graz, Wien: Droschl 2016. 189 Seit­en. ISBN 978–3‑85420–978‑2.

schmidt, zeitverschiebung (cover)Eigentlich ist Schmidts Zeitver­schiebung eine Geschichte des erweit­erten Erwach­sen­wer­dens: Das Ende des Studi­ums, die ersten Jobs, sich ver­fes­ti­gende Beziehun­gen, die Liebe und dann das Kind, ein neuer Job, Zusam­men­ziehen mit dem Part­ner und ein Hap­py End — das ist das Gerüst des Romans. Aber das ist auch der weniger inter­es­sante Teil des Romans. Schnell wird aber klar — der Titel ist in dieser Hin­sicht ja überdeut­lich … -, dass etwas anderes das eigentliche The­ma ist: Die Zeit, genauer vielle­icht: ihre Wahrnehmung, oder die wahrgenommene Posi­tion­ierung der Ich-Erzäh­lerin in ihrem strö­menden Fließen.

Zeit ist ohne­hin eine Illu­sion. (140)

Das Erleben und vor allem das Erzählen der Zeit verbindet sich mit ähn­lich abstrak­ten Konzepten wie For­tu­na oder Zufall.
Denn die Ver­spä­tung — um die Zeitver­schiebung etwas banaler zu ver­passen — ist das zen­trale Moment des Texte. Die chro­nol­o­gis­che Ver­spä­tung ist das eine, aber Ver­spä­tung ist eben auch ein Lebens­ge­fühl (oder genauer: das Lebens­ge­fühl ein­er Phase des Lebens): Das über­mächtige Gefühl des Ver­passens, des „zwis­chen“, „noch nicht“, und des immer schon zu spät sein, des Ein­drucks, immer schon den Anfang ver­passt zu haben … Aber selb­st das hap­py end schlägt sich doch auch noch auf das Zeit(empfinden) — hier des eige­nen, kleinen Kindes — nieder: „Und nimmt sich alle Zeit der Welt.“ (189) ist der Schlusssatz, der schön zum Anfangssatz passt: „Ich war ohne­hin zu spät, kon­nte mir also Zeit lassen.“ (5)

Das The­ma der Zeitver­schiebung ist damit auf indi­vidu­eller Ebene sozusagen erledigt. Aber es wird eben deut­lich (wie so oft in diesem Roman: überdeut­lich), dass es in der näch­sten Gen­er­a­tion (wieder/noch) ein The­ma sein kann. Allerd­ings, da schließt sich der Kreis nicht ganz: Noch ist das ein Kind, das “alle Zeit der Welt” hat. Vielle­icht gelingt ihm/ihr (?) ja das Erwach­sen­wer­den der Zeit(empfindung) gemäß den gesellschaftlichen Konventionen/Erwartungen par­al­lel zum restlichen Erwach­sen­wer­den? (Wobei Zeitver­schiebung ja eigentlich eher die Frage aufwirft, ob man ohne dieses spezielle, d.h. “nor­male” Empfind­en der Zeit, das Beha­gen darin, über­haupt erwach­sen gewor­den ist — der Text verneint das eher und situ­iert seine Pro­tag­o­nistin ja mehr als deut­lich in einem Zwis­chen, einem Über­gangssta­di­um (klas­sisch: Pubertät), unab­hängig von ihrem Alter.

Ger­ade der Anfang ist dur­chaus char­mant erzählt, das muss man Schmidt attestieren, mit läs­siger und heit­er­er Ironie-Dis­tanz. Über­haupt ist die Sprache oft lakonisch, knapp und direkt mit Ten­denz zum Humor. Es gibt wenig Auss­chmück­ung, das hohe Tem­po des Geschehens nimmt der Text gut auf: Die Zeit ist ein­fach nie genug, vor allem — so behauptet die Erzäh­lerin immer wieder — lebt sie im Bewusst­sein, sie zu ver­schwen­den und hat per­ma­nent das Gefühl, die Zeit nicht genü­gend auszukosten, nicht aus­re­ichend zu nutzen, immer nicht das Digentliche (des Lebens) zu tun, son­dern nur einen Not­be­helf, eine Zwis­chen­lö­sung. Lei­der wird die Erzäh­lung und die Sprache zunehmend kon­ven­tioneller — sozusagen par­al­lel zum Leben, dem Lebensen­twurf der Erzäh­lerin. Und damit ver­liert der Text lei­der meines Eracht­ens etwas: Sich­er, das ist in Übere­in­stim­mung mit der geschilderten Entwick­lung. Aber es machte den Text für mich gegen Ende auch deut­lich lang­weiliger.

Ich ver­schwen­dete mehr und mehr Zeit damit zu fürcht­en, meine Zeit ern­sthaft zu ver­schwen­den. (105)

Gwe­naëlle Aubry: Nie­mand. Graz, Wien: Droschl 2013. 150 Seit­en. ISBN 978–3‑85420–843‑3.

aubry, niemand (cover)Nie­mand ist das Alpha­bet ein­er selt­samen, schwieri­gen Vater-Tochter-Beziehung, die durch Abwe­sen­heit­en wesentlich mitbes­timmt ist und von der Tochter nach dem Tod ihres Vaters erforscht und aufgeschrieben wird. Der wird uns als Melan­cho­lik­er gezeigt, der auch daran stirbt (naja, eigentlich dann doch am Herz­in­farkt), dessen Leben bes­timmt ist vom Wahnsinn der Melan­cholie (?) und der sich immer wieder tem­porär in sta­tionär­er Behand­lung befind­et, zugle­ich aber (!) hoch ange­se­hen­er Jura-Pro­fes­sor. Nie­mand nutzt für diesen nachträglichen Abschied den emo­tionalen, psy­chis­chen und lit­er­arischen Nach­lass des Vater, aus dessen Schriften (teil­weise auch fik­tion­al gedacht) wird immer wieder zitiert. Denn zugle­ich ist der Roman auch ein Ver­such des Erin­nerns, mehr noch: der Verge­gen­wär­ti­gung des Vaters durch die Auseinan­der­set­zung, Aufar­beitung (Dur­char­beitung) des Ver­hält­niss­es der Ich-Erzäh­lerin mit ihm und ein Ver­such, ihn — als Men­schen, als Per­son — zu ver­ste­hen. Schwierig ist das insofern, als er schon während dem Leben ver­schwindet, (oder das zumin­d­est als — in seinen Nieder­schriften offen­bartes — Ziel hat­te): eben ein Nie­mand wer­den, ein Mann ohne Eigen­schaften.

Die Erzäh­lerin ver­liert sich wun­der­bar in ihren eige­nen Sätzen, häuft immer mehr Details und Erin­nerun­gen an, türmt das auf, fügt immer neue Ergänzun­gen, Präzisierun­gen, Erweiterun­gen an. Die Sätze fan­gen oft ganz harm­los an und ufern dann maß­los aus. Aber das ist ja aber ger­ade der schöne und sym­pa­this­che Witz des Textes: die ungetüme, wilde, chao­tisch-frag­men­tarische Erin­nerung wird nur durch das Alpha­bet der Kapi­tel gezähmt — zumin­d­est schein­bar. Und let­ztlich bleibt der Ver­such der Ord­nung, ein kohärentes Ganzes dadurch zu schaf­fen (von Anfang bis Schluss in ein­er fest­ge­fügten Abfolge) auch verge­blich, eben nur ein Ver­such, der im Text ein­mal als „Ord­nung ohne Bedeu­tung“ klas­si­fiziert wird (147). Aber sie ist wohl doch mehr: Denn die Buch­staben ste­hen ja nicht alleine, son­dern wer­den in den Kapitelüber­schriften zum Wort (mit Aus­nahme des “Y”, wo die Ord­nung dann eben auch reflek­tiert wird …).

„Nun gehen die Buch­staben aus, diese Ord­nung ohne Bedeu­tung, mit deren Hil­fe ich ver­sucht habe, seine Unord­nung und meine in den Griff zu bekom­men, unsere Erin­nerun­gen zu glät­ten und stam­mel­nd dieses sehr alte Wis­sen zu buch­sta­bieren, zu dem ich nicht durchge­drun­gen bin, als ob diese Wörter und Sätze, die unter dem Impuls und der Notwendigkeit ein­er ander­ern Ord­nung, der seini­gen – ein­er Auf­forderung oder eines Ver­sprechens (einen Roman daraus machen) –, hingeschrieben wur­den, sogle­ich wieder in ihre ursprünglichen Bestandteile auseinan­der­fall­en wür­den […] (147)

Michael Fehr: Glanz und Schat­ten. Erzäh­lun­gen. Luzern: Der gesunde Men­schen­ver­sand 2017. 141 Seit­en. ISBN 9783038530398.

fehr, glanz und schatten (cover)Sime­liberg hat­te mich ziem­lich begeis­tert. Glanz und Schat­ten kann da lei­der nicht ganz mithal­ten. Vor allem die starke Konzen­tra­tion und die fremde Härte, jew­eils in Form und Sprache, von Sime­liberg fehlt mir hier. Ganz oft weiß ich spon­tan (und später) über­haupt nicht, was die Texte wollen und/oder sollen, die Fremd­heit ist und bleibt oft ziem­lich groß: Irgend­wie finde ich nicht zu dem Text. Dessen “The­ma” kön­nte man oft nen­nen: die kalte, erbar­mungslose Welt des (Spät-)Kapitalismus und des Kon­sums, die Zurich­tungs­maschi­nen und ‑mech­a­nis­men der („freien“) Gesellschaft, wie sie sich vor allem in der Fremdbes­tim­mung (statt Indi­vid­u­al­ität) äußern — aber der Fremdbes­tim­mung ein­er gesicht­slosen, anony­men Macht. Das spie­len die Texte mit dem Vor­führen von Rol­len­bildern und ‑klis­chees, v.a. denen der Geschlechter, durch. Gewalt spielt dabei immer wieder eine außeror­dentlich Rolle: als Ven­til, als Aus­bruch aus den unen­tkomm­baren Zwän­gen, als Umschla­gen der Energien. Nico Bleutge hat in sein­er Rezen­sion des Ban­des vorgeschla­gen, die Texte als zum Vor­trag bes­timmte zu lesen — vielle­icht ist das wirk­lich hil­fre­ich, denn “alleine”, als blanker Text, finde ich nur in eini­gen weni­gen (zum Beispiel dem inten­siv­en “Stu­dentin” oder “Mais”) genü­gend Fasz­i­na­tion bei der Lek­türe.

Felix Hart­laub: Don Juan d’Aus­tria und die Schlacht bei Lep­an­to. Her­aus­gegeben von Wol­fram Pyta und Wolf­gang M. Schwiedrzik. Neckargemünd, Wien: Edi­tion Mnemosyne 2017 (Gegen­Satz 8). 292 Seit­en. ISBN 9783934012301.

felix hartlaub, don juan d'austria (cover)
Eine geschichtswis­senschaftliche Dis­ser­ta­tion aus dem Jahr 1940 über ein Ereig­nis aus dem Jahr 1571 — lohnt die Lek­türe eines solchen Textes heute noch? Dur­chaus, kann man sagen, wenn der Ver­fass­er For­mat hat­te. Und das muss man Felix Hart­laub bescheini­gen. Deshalb ist Don Juan d’Aus­tria und die Schlacht bei Lep­an­to tat­säch­lich auch noch inter­es­sant, als his­torische Darstel­lung eines his­torischen Ereigniss­es. Inter­es­sant ist auch die Form: Hart­laub arbeit­et erzäh­lend, er bringt (fast) keine Zitate und nutzt auch ver­gle­ich­sweise wenige Quellen (und sowieso zur gedruck­te): Als geschichtswis­senschaftliche Qual­i­fika­tion­ss­chrift hätte das heute wohl keine Chance mehr. Auch als “Sach­buch” bin ich mir nicht ganz sich­er, ob sich die Lek­türe heute wirk­lich noch so unbe­d­ingt lohnt, wie die Her­aus­ge­ber beto­nen … Sich­er, die Stil­isierung des sowieso schon zur Welt­geschichte hochstil­isierten Ereigniss­es ist gekon­nt umge­set­zt. Aber viel mehr sehe ich da jet­zt nicht unbe­d­ingt …

Die let­zte Sin­nge­bung des Tages von Lep­an­to gewann wir auch so noch nicht. An die Seite solch­er Über­legun­gen muß wohl die Ahnung treten, daß der Tag von Lep­an­to zu den sel­te­nen Ereignis­sen gehört, die, wenn man es so aus­drück­en darf, auf ein­er höheren Ebene der Geschichte liegen und bei denen die Frage nach den tat­säch­lichen Fol­gen im let­zten nicht angemessen ist. Nur materiell betra­chtet, gehörte der Sieg freilich wohl zu den — im Ver­hält­nis zu dem Erfolge — allzu ver­schwen­derischen Blu­topfern, an denen vor allem auch die deutsche Geschichte so reich ist. In dieser Hin­sicht ist manche aus den unmit­tel­bar fol­gen­den Jahren erhal­tene Äußerung auf­schlußre­ich. Das ide­al Bild der Schlacht aber, die noch über­all, in den Galeeren im Hafen, in den Waf­fen und Nar­ben gegen­wär­tig war, löste sich rasch aus dem Gefüge men­schlich­er Pla­nun­gen; es war ganz in sich abgeschlossen, man kon­nte kein­er­lei Abwand­lun­gen und Fort­set­zun­gen ersin­nen. (237)

außer­dem gele­sen:

  • Axel Matthes: Georges Bataille nach Allem. Berlin: blauw­erke 2016 (split­ter 07). 66 Seit­en. ISBN 978–3‑945002–07‑0.
  • Gün­ter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biogra­phie. Über­ar­beit­ete und ver­mehrte Neu­fas­sung. Frank­furt: Fis­ch­er 2013. 350 Seit­en. ISBN 9783100096449.
  • Hans Jür­gen von der Wense: Das Nordlicht. Her­aus­gegeben von Vales­ka Bertonci­ni und Rein­er Niehoff. Mit einem Bei­wort von Vales­ka Bertonci­ni. Berlin: blauw­erke 2016 (split­ter 11). 58 Seit­en. ISBN 9783945002117.
  • Hans Jür­gen von der Wense: Das lose Werk. Mappe Nr. 01: Wolken. Berlin: blauew­erke 2016. ISBN 978–3‑945002–02‑5.
  • Ruth Klüger: Marie von Ebn­er-Eschen­bach. Anwältin der Unter­drück­ten. Wien: Man­del­baum 2016 (Autorin­nen feiern Autorin­nen). 56 Seit­en. ISBN 9783854765219.
  • Mar­lene Streeruwitz: Mar­lene Streeruwitz über Bertha von Sut­tner. Wien: Man­del­baum 2014 (Autorin­nen feiern Autorin­nen). 61 Seit­en. ISBN 9783854764564.
bücherstapel

Aus-Lese #50

Ger­hard Falkn­er: Romeo oder Julia. München: Berlin 2017. 269 Seit­en. ISBN 978–3‑8270–1358‑3.

falkner, romeo oder julia (cover)Ich kann nicht sagen, dass ich von Romeo oder Julia wirk­lich begeis­tert gewe­sen wäre. Das liegt vor allem daran, dass ich nicht so recht kapiert habe, was der Text eigentlich (sein) möchte. Dabei hat er unbe­stre­it­bar aus­geze­ich­nete Momente und Seit­en, neben eini­gen Län­gen. Einige der aus­geze­ich­neten Momente find­en auf der Ebene der Sprache statt: Es gibt funkel­nde einzelne Sätze in einem Meer von stilis­tis­chem und gedanklichem Chaos. So habe ich mir das zunächst notiert — aber das stimmt so nicht ganz: chao­tisch (also real­is­tisch) erscheint der Text zunächst nur, er entwick­elt dann aber schon seine Form. Die zumin­d­est stel­len­weise hyper­tro­phe Stilis­tik in der Über­steigerung auf allen Ebe­nen ist dann auch tat­säch­lich lustig.

Uner­müdlich arbeit­eten hin­ter den Din­gen, an denen ich vor­beikam, die Grund­maschi­nen der Exis­tenz, die seit Jahrtausenden mit Men­schen­leben gefüt­tert wer­den, und die Stadt stützte ihre taube und orna­men­tale Masse auf dieses unterirdis­che Mag­ma von Lebens­gi­er, Kampf, Wille, Lust und Bewe­gung. 227

Was wird in Romeo oder Julia erzählt? Das ist eben die Frage. Irgend­wie geht es um einen Schrift­steller, Kurt Prinzhorn (über dessen lit­er­arische Werke nichts zu erfahren ist), der bei einem Hote­laufen­thalt in Inns­bruck von ein­er benutzten Bade­wanne und ver­schwun­de­nen Schlüs­seln etwas erschreckt wird. Rat­los bleibt er zurück und denkt immer wieder über die Rät­sel­haftigkeit des Geschehens nach, während das Autoren­leben mit Sta­tio­nen in Moskau und Madrid weit­erge­ht. Dort nähert sich dann auch die antik­li­mak­tis­che Auflö­sung, die in einem Nach­spiel in Berlin noch ein­mal aus­ge­bre­it­et wird: Der Erzäh­ler wird von ein­er sehr viel früheren kurzzeit­i­gen Fre­undin ver­fol­gt und bedro­ht, die dann beim Ver­such, zu ihm zu gelan­gen (um ihn zu töten), selb­st stirbt … Trotz des Plots, der nach Kri­mi oder Thriller klingt, bleibt Romeo oder Julia bei ein­er unbeschw­erten Rät­sel­haftigkeit, ein Spiel mit Span­nungse­le­menten, sex­is­tis­chem und völk­erpsy­chol­o­gis­chem Unsinn und anderen Pein­lichkeit­en. Immer­hin sind der knappe Umfang und die eher kurzen Kapi­tel (übri­gens genau 42 — wobei ich bei Falkn­er in diesem Fall keine Absicht unter­stelle) sehr leser­fre­undlich. Durch die zumin­d­est eingestreuten stilis­tis­chen Höhen­flüge war das für mich eine dur­chaus unter­halt­same Lek­türe, bei der ich keine Ahnung habe, was das eigentlich sein soll, was der Text eigentlich will. Wed­er die Kri­mi-Ele­mente noch die Poplit­er­aturkom­po­nente oder die mas­siv­en Inter­tex­tu­al­itätssig­nale (die ich nicht alle in vernün­ftige Beziehung zum Text bringe, aber sicher­lich habe ich auch eine Menge schlicht überse­hen) for­men sich bei mein­er Lek­türe zu einem Konzept: Ein schlüs­siges Sinnkon­strukt kann ich nicht so recht erken­nen, nicht lesen und lei­der auch nicht basteln.

Es war Son­ntagvor­mit­tag, und es gab kaum Leute auf der Straße. Straßen auf den Leuten gab es erst recht nicht. es gab auch keine Busse, die man sich auf der Zunge hätte zerge­hen lassen kön­nen, oder Friseure, die auf­grund ein­er ungestü­men Blümer­anz der Ohn­macht nahe gewe­sen wären. Auch nicht die Helden­fried­höfe, die in wilden und ausufer­n­den Vor­früh­lingsnächt­en von den Such­maschi­nen auf die Bild­schirme geza­ubert wer­den, um mit ihren schneeweißen und chris­tus­losen Kreuzen die Surfer in ihre leere Erde zu lock­en. Es gab nicht ein­mal die feuchte, warme Hand der katholis­chen Kirche oder das tröstliche Röcheln des Drachens, dem sein beliebtester Geg­n­er, der heilige Georg, ger­ade die eis­erne Lanze in den Rachen gestoßen hat. Es gab ein­fach wirk­lich nur das, was da war, was wir unmit­tel­bar vor Augen hat­ten, und die Tat­sache, dass ich in Kürze los­musste. 78

Ali­na Herb­ing: Nie­mand ist bei den Käl­bern. Zürich, Ham­burg: Arche 2017. 256 Seit­en. ISBN 9783716027622.

herbing, niemand ist bei den kälbern (cover)Das ist mal ein ziem­lich trost­los­es Buch über eine junge Bäuerin aus Alter­na­tivlosigkeit, die auch in den ange­blich so fes­ten Werten und sozialen Net­zen des Landlebens (der „Heimat“) keinen Halt find­et, keinen Sinn für ihr Leben. Stattdessen herrscht über­all Gewalt — gegen Dinge, Tiere und Men­schen. Ein­er­seits ist da also die Banal­ität des Landlebens, der Ödnis, der „Nor­mal­ität“, dem nicht-beson­deren, nicht-indi­vidu­ellen Leben. Ander­er­seits brodelt es darunter so stark, dass auch die Ober­fläche in Bewe­gung gerät und Risse bekommt. Natür­lich gibt es die Schön­heit des Lan­des, auch in der beschreiben­den Sprache (die freilich nicht so recht zur eigentlichen Erzählhal­tung passt und mit ihren angedeuteten pseu­do-umgangssprach­lichen Wen­dunge („nich“, “glaub ich”) auch viele schwache Seit­en hat und ner­ven kann). Aber genau­so natür­lich gibt es auch die Ver­let­zun­gen, die die Men­schen sich gegen­seit­ig und der “natür­lichen” Umwelt gle­icher­maßen zufü­gen.

Die Absicht von Nie­mand ist bei den Käl­bern ist schnell klar (schon mit dem Umschlag, son­st spätestens auf der ersten Seite, wenn das Rehkitz beim Mähen getötet wird): Heimat, v.a. aber das Landleben entza­ubern — denn es ist auch nur eine Rei­he von Banal­itäten und Ein­samkeit­en (auch & ger­ade zu zweit) und suche nach Liebe, Nähe, Emo­tio­nen. Die Natur bleibt von all dem unbeteiligt und eigentlich unberührt. Mich ner­ven aber so Haupt­fig­uren wie diese Christin, die — obwohl vielle­icht nicht direkt defätis­tisch — alles (!) ein­fach so hin­nehmen, ohne Gefühlsre­gung, ohne Gestal­tungswillen, ja fast ohne Willen über­haupt, denen alles nur passiert, die alles mit sich geschehen lassen. Dass da dann kein erfüll­ter Lebensen­twurf her­auskommt, ist abzuse­hen. Mir war das unter anderem deshalb zu ein­seit­ig, zu eindi­men­sion­al.

Manch­mal glaub ich, jedes Flugzeug, das ich sehe, existiert über­haupt nur, um mich daran zu erin­nern, dass ich ein­er der unbe­deu­tend­sten Men­schen der Welt bin. Wieso sollte ich son­st in diesem Moment auf einem halb abgemäht­en Feld ste­hen? Nicht mal in ein­er Nazi-Hochburg, nicht mal an der Ost­see oder auf der Seen­plat­te, nicht mal auf dem Todesstreifen, son­dern kurz davor, daneben, irgend­wo zwis­chen all­dem. Genau da, wo es eigentlich nichts gibt außer Gras und Lehm­bo­den und ein paar Plätze, die gut genug sind, um da Win­dräder hinzustellen. 11

Lau­rent Binet: Die siebte Sprach­funk­tion. Rein­bek: Rowohlt 2017. 524 Seit­en. ISBN 9783498006761.

laurent binet, die siebte sprachfunktion (cover)Das ist tat­säch­lich ein ziem­lich lustiger Roman über Roland Barthes, die post­mod­erne Philoso­phie, Sprach­wis­senschaft und Psy­cholo­gie in Frankre­ich, auch wenn der Text einige Län­gen hat. Vielle­icht ist das aber wirk­lich nur für Leser lustig, die sich zumin­d­est ein biss­chen in der Geschichte der franzö­sis­chen Post­mod­erne, ihrem Per­son­al und ihren Ideen (und deren Rezep­tion in den USA und Europa) ausken­nen. Und es ist auch ein etwas grotesker Humor, der so ziem­lich alle Geis­tesheroen des 20. Jahrhun­derts kör­per­lich und seel­isch beschädigt zurück­lässt.

Aus­gangspunkt der mehr als 500 Seit­en, die aber schnell gele­sen sind, ist der Tod des Struk­tu­ral­is­ten und Semi­otik­ers Roland Barthes, der im Feb­ru­ar 1980 bei einen Unfall über­fahren wurde. Für die Ermit­tlun­gen, die schnell ein­er­seits in das philosophisch geprägte Milieu der Post­mod­erne führen, ander­er­seits voller Absur­ditäten und grotesker Geschehnisse sind, verpflichtet der etwas hemd­särmelige Kom­mis­sar einen Dok­torand, der sich in diesem Gebi­et gut auszuken­nen scheint. Ihre Ermit­tlun­gen führt das Duo dann in fünf Sta­tio­nen von Paris über Bologna nach Ithaca/USA und zurück zu Umber­to Eco (der einzige, der einiger­maßen unversehrt davonkommt), wom­it die Reise, die Ermit­tlung und der Text das Net­zw­erk europäis­chen Denkens (mit seinen amerikanis­chen Satel­liten der Ostküste) in der zweit­en Hälfte des ver­gan­genen Jahrhun­derts nachze­ich­nen. Das ist so etwas wie ein Pop-Philoso­phie-Thriller, der für mich doch recht zügig seinen Reiz ver­lor, weil das als Roman­text eher banal und kon­ven­tionell bleibt. Inter­es­sant sind höch­stens die Metaebe­nen der Erzäh­lung (die es reich­lich gibt) und die Anachro­nis­men (die auch gerne und mit Absicht ver­wen­det wer­den), zumal die The­o­rie und ihr Per­son­al immer mehr aus dem Blick ger­at­en

Die im Titel ver­hießene siebte Sprach­funk­tion bleibt natür­lich Leer­stelle und wird nur in Andeu­tun­gen — als unwider­stehliche, poli­tisch nutzbare Überzeu­gungskraft der Rede — kon­turi­ert. Dafür gibt es genü­gend andere Sta­tio­nen, bei denen Binet sein Wis­sen der europäis­chen und amerikanis­chen Post­mod­erne großzügig aus­bre­it­en kann.

Während er rück­wärts­ge­ht, über­legt Simon: Angenom­men, er wäre wirk­lich eine Romangestalt (eine Annahme, die weit­ere Nahrung erhält durch das Set­ting, die Masken, die mächti­gen malerischen Gegen­stände: in einem Roman, der sich nicht zu gut dafür wäre, alle Klis­chees zu bedi­enen, denkt er), welch­er Gefahr wäre er im Ernst aus­ge­set­zt? Ein Roman ist kein Traum: In einem Roman kann man umkom­men. Hin­wiederum kommt nor­maler­weise die Haupt­fig­ur nicht ums Leben, außer vielle­icht gegen Ende der Hand­lung. / Aber wenn es das Ende der Hand­lung wäre, wie würde er das erfahren? Wie erfährt man, wann man auf der let­zten Seite angekom­men ist? / Und wenn er gar nicht die Haupt­fig­ur wäre? Hält sich nicht jed­er für den Helden sein­er eige­nen Exis­tenz? 420

Dieter Grimm: “Ich bin ein Fre­und der Ver­fas­sung”. Wis­senschafts­bi­ographis­ches Inter­view von Oliv­er Lep­sius, Chris­t­ian Wald­hoff(span> und Matthias Roßbach mit Dieter Grimm. Tübin­gen: Mohr Siebeck 2017. 325 Seit­en. ISBN 9783161554490.

grimm, freund der verfassung (cover)Ein feines, kleines Büch­lein. Mit “Inter­view” ist es viel zu pro­saisch umschrieben, denn ein­er­seits ist das ein vernün­ftiges Gespräch, ander­er­seits aber auch so etwas wie ein Auskun­fts­buch: Dieter Grimm gibt Auskun­ft über sich, sein Leben und sein Werk. Dabei lernt man auch als Nicht-Jurist eine Menge — zumin­d­est ging es mir so: Viel span­nen­des zur Entwick­lung von recht und Ver­fas­sung kon­nte ich hier lesen — span­nend vor allem durch das Inter­esse Grimms an Nach­bardiszi­plinen des Rechts, ins­beson­dere der Sozi­olo­gie. Deshalb tauchen dann auch ein paar nette Luh­mann-Anek­doten auf. Außer­dem gewin­nt man als Leser auch ein biss­chen Ein­blick in Ver­fahren, Organ­i­sa­tion und Beratung am Bun­desver­fas­sungs­gericht, an dem Grimm für 12 Jahre als Richter tätig war. Schön ist schon die nüchterne Schilderung der der nüchter­nen Wahl zum Richter — ein poli­tis­ch­er Auswahl­prozess, den Grimm für “erfreulich unpro­fes­sionell” (126) hält. Natür­lich gewin­nt das Buch nicht nur durch Grimms Ein­blick in grundle­gende Wesens­merk­male des Rechts und der Jurispru­denz, son­dern auch durch seine dur­chaus span­nende Biogra­phie mit ihren vie­len Sta­tio­nen — von Kas­sel über Frank­furt und Freiburg nach Paris und Har­vard wieder zurück nach Frank­furt und Biele­feld, dann natür­lich Karl­sruhe und zum Schluss noch Berlin — also qua­si die gesamte Geschichte der Bun­desre­pub­lik Deutsch­land — Grimm ist 1937 geboren — in einem Leben kon­den­siert.

Das Buch hat immer­hin auch seine Selt­samkeit­en — in einem solchen Text in zwei Stich­wörtern in der Fußnote zu erk­lären, wer Kon­rad Ade­nauer war, hat schon seine komis­che Seite. Bei so manch anderem Namen war ich aber froh über zumin­d­est die grobe Aufk­lärung, um wen es sich han­delt. Die andere Selt­samkeit bet­rifft den Satz. Dabei hat jemand näm­lich geschlampt, es kom­men immer wieder Pas­sagen vor, die ein Schrift­grad klein­er geset­zt wur­den, ohne dass das inhaltlich motiviert zu sein scheint — offen­sichtlich ein unschön­er Fehler, der bei einem renom­mierten und tra­di­tion­sre­ichen Ver­lag wie Mohr Siebeck ziem­lich pein­lich ist.

Adorno ver­stand ich nicht. Streck­en­weise unter­hielt ich mich ein­fach damit zu prüfen, ober er seine Schach­tel­sätze kor­rekt zu Ende brachte. Er tat es. 41

Con­stan­ti­jn Huy­gens: Euphra­sia. Augen­trost. Über­setzt und her­aus­ge­ge­ben von Ard Post­hu­ma. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2016. [ohne Sei­ten­zäh­lung]. ISBN 9783942901222.

Zu diesem schö­nen, wenn auch recht kurzen Vergnü­gen habe ich vor einiger Zeit schon etwas geson­dert geschrieben: klick.

außer­dem gele­sen:

  • Dirk von Peters­dorff: In der Bar zum Krokodil. Lieder und Songs als Gedichte. Göt­tin­gen: Wall­stein 2017 (Kleine Schriften zur lit­er­arischen Ästhetik und Hermeneu­tik, 9). 113 Seit­en. ISBN 978–3‑8353–3022‑1.
  • Hans-Rudolf Vaget: “Wehvolles Erbe”. Richard Wag­n­er in Deutsch­land. Hitler, Knap­perts­busch, Mann. Frank­furt am Main: Fis­ch­er 2017. 560 Seit­en. ISBN 9783103972443.
drahtnetz (detail)

Ins Netz gegangen (9.3.)

Ins Netz gegan­gen am 9.3.:

  • Die unge­wollte Pati­entin | taz → die taz zeigt in ein­er ein­drück­lichen reportage, wie schwierig abtrei­bun­gen auch im ange­blich so lib­eralen deutsch­land in manchen gegen­den sind und wie sich die lage für die frauen eher ver­schlechtert
  • Misha Men­gel­berg (1935 — 2017) | The Free Jazz Col­lec­tive → nachruf auf den großen misha men­gel­berg. den deutschen qual­ität­spub­likumsme­di­en scheint der tod des pianis­ten keine nachricht/nachruf wert zu sein
  • Hier irrte der Ver­leger – und kor­rigierte sein Urteil | Log­buch Suhrkamp → lek­tor raimund fellinger über sigfried unselds urteil der “ästhetik des wider­stands” von peter weiss und die arbeit mit ihm daran — mit zwei fak­sim­i­lies aus unselds jour­nal von 1975 und 1978
  • House of Jazz: Der Leucht­turm und sein Wärter| Tagesspiegel → guter überblick über die diskus­sion um till brön­ners berlin­er “house of jazz”, der bei­den seit­en — der eher kusche­lig-wohlfühl-tra­di­tion­al­is­tis­chen von brön­ner und der eher fortschrit­tlich-avant­gardis­tisch ori­en­tieren der berlin­er szene — raum und ver­ständ­nis gibt
  • Ver­net­ztes Radeln, oder Smart ist doof | … ach, nichts. → bringt meinen stand­punkt zum ziem­lich zwang­haften “ver­net­zen” des fahrrads ziem­lich gut auf den punkt: das wesentlich — die (unbeschw­erte) ein­fach­heit — geht dadurch ver­loren, der gewinn ist (bis­lang zumin­d­est) eher mar­gin­al …
  • Rev­o­lu­tion in Sicht | Zeit → die “zeit” berichtet von einem vor­sichti­gen umdenken in teilen der kon­ven­tionellen land­wirtschaft, der dlg, was frucht­folge, chemieein­satz und nach­haltigkeit sowie arten­schutz ange­ht.

Ins Netz gegangen (24.1.)

Ins Netz gegan­gen am 24.1.:

  • Knaus­gård ist gut, aber Hand­ke ist bess­er | FAZ → ein kluger beitrag von jan wiele zur “authen­tiz­itäts­de­bat­te”, die vor allem die “welt” (vol­lkom­men unsin­niger weise …) los­ge­treten hat

    enn man irgen­det­was aus den Debat­ten über real­is­tis­ches Erzählen der let­zten Jahrzehnte mitgenom­men hätte, müsste man eigentlich mis­strauisch wer­den angesichts ein­er solchen Schein­wirk­lichkeit­sprosa, die so tut, also könne man ein­fach „erzählen, wie es gewe­sen ist“ — und das gilt eben nicht nur für Knaus­gård, son­dern all­ge­mein.
    […]
    Es wirkt — nicht nur aus ein­er his­torisch-kri­tis­chen Hal­tung her­aus, son­dern auch für das per­sön­liche Empfind­en von lit­er­arischen Tex­ten — befremdlich, wenn nun hin­ter all die ästhetis­chen Über­legun­gen zum real­is­tis­chen Erzählen, vor allem aber hin­ter die Werke, die aus ihnen her­aus ent­standen sind, wieder zurück­ge­gan­gen wer­den soll und man so tut, als gäbe es irgen­dein unschuldiges, authen­tisch-nicht­fik­tionales Erzählen.

  • Gemein­nützigkeit als Türöffn­er | Bil­dungsRadar → der “bil­dungsradar” ver­sucht her­auszubekom­men, wie das ganze pro­jekt “cal­liope” funk­tion­iert bzw. funk­tion­ieren soll — und stößt auf viele mauern und einige selt­same mauscheleien …
  • Die Mode der Philosophen — Wie sich große Denker klei­den | Deutsch­landra­dio Kul­tur → nette kleine geschichte über die typgemäße klei­dung für philosophen (frauen gibt’s zum schluss auch kurz)
  • Don­ald Trump: Pop­ulis­mus als Poli­tik | Tele­po­lis → der wie meist kluge georg seeßlen im inter­view mit dominik irtenkauf über trump, demokratie/postdemokratie und medi­al insze­nierun­gen:

    Gegen ein Bünd­nis aus mehr oder weniger authen­tisch Recht­sex­tremen, Neo-Nation­al­is­ten und Exzep­tion­al­is­ten, fun­da­men­tal­is­tis­chen Markt-Anar­chis­ten, mafiös ver­net­zten Klep­tokrat­en und einem Mit­tel­stand in real­er und manip­uliert­er Abstiegsangst kann eine demokratis­che Zivilge­sellschaft nur beste­hen, wenn sie neue Ideen und neuen Zusam­men­halt find­et. Der Zusam­men­schluss der post­demokratis­chen Kräfte hinge­gen find­et seine Schubkraft dage­gen vor allem im Oppor­tunis­mus und in der poli­tis­chen und medi­alen Kor­rup­tion.
    […]
    Schon jet­zt gibt es irre­versible Fol­gen des Trump­is­mus, eben jene Ver­mis­chung von poli­tis­chem Amt und ökonomis­chen Inter­essen, die einst den Berlus­con­is­mus prägte, den Wan­del der poli­tis­chen Sprache, eine Spal­tung der Gesellschaft, die über alle gewöhn­lichen “poli­tis­chen Mei­n­ungsver­schieden­heit­en” hin­aus geht, eine Patron­age, Clan­wirtschaft, Abhängigkeit­snet­ze: Wir sehen einem Macht­sys­tem bei der Entste­hung zu, das viel tiefer geht als die Beset­zung eines Amtes. Und wie bei Berlus­coni lässt sich nach dem Ende der Amt­szeit nur ein Teil davon demokratisch rück­gewin­nen.

Sommerlektüre

Som­mer­lek­türe, via Insta­gram

Aus-Lese #47

Han­no Rauter­berg: Wir sind die Stadt! Urbanes Leben in der Dig­i­talmod­erne. 3. Auflage. Berlin: Suhrkamp 2014. 157 Seit­en. ISBN 9783518126745.

rauterberg, stadt (cover)Beobach­t­end und erk­lärend geht es in Wir sind die Stadt! um den neuen Umgang mit der Stadt und ihren Räu­men, um eine Art Re-Urban­isierung in der dig­i­tal­en Mod­erne. Das ist ein bewusstes Lob der Stadt der Vielfalt, der vielfälti­gen (wech­sel­nden, spon­ta­nen, insta­bilen) Koali­tio­nen, die aber auch über sich selb­st, über die Stadt hin­aus reichen, denn: “In der Stadt gedei­ht, wenn es gut geht, der Sinn für Staatlichkeit.” (149). Rauter­berg hat, das gibt er auch zu, vor allem die neuen pos­i­tiv­en Seit­en der Stadt im Blick — die Möglichkeit­en, die die dig­i­tale Mod­erne (also vor allem die Ver­net­zung im Netz und die Kom­mu­nika­tion mit Smart­phones etc.) für eine Art Wieder­bele­bung städtis­ch­er Räume eröffnet. Er sieht und beschreibt eher die pos­i­tiv­en Seit­en der Verän­derung der Stadt und des Lebens in der Stadt durch die dig­i­tale Mod­erne, ohne den Schat­ten aber ganz auszublenden. Sein Begriff der “Stadterquick­er” (56) bringt es vielle­icht am besten auf den Punkt: Er beobachtet eine neue Aneig­nung der Stadt, der urba­nen Räume indi­vidu­ell im Kollek­tiv: “Die Stadt wird zum Raum für ein Ich, das sich ohne Wir nicht denken möchte.” (75) Und genau das geschieht nicht (mehr) vor­wiegend planer­isch ges­teuert und auch nicht in erster Lin­ie (wenn über­haupt) in insti­tu­tion­al­isierten For­men (wie etwa Vere­inen), son­dern wesentlich flu­ider, schneller, spon­tan­er, aber auch kur­zlebiger. Die Offen­heit des Raumes der Stadt und der Stadt ist dafür Voraus­set­zung und wird durch diese per­ma­nente Umwid­mung, Aneig­nung, Inanspruch- und Inbe­sitz­nahme aber auch über­haupt erst kon­sti­tu­iert. Deshalb sieht Rauter­berg in den aktuellen Ten­den­zen und Möglichkeit­en eine neue, aktive und pos­i­tive Chance für Urban­ität: “Eine Stadt ist Stadt, wenn sie mit sich sel­ber uneins bleibt.” (129)

Bei dieser Art der Raumer­grei­fung han­delt es sich um weit mehr als eine Mod­eer­schei­n­ung oder das Freizeitvergnü­gen einiger Jungerwach­sen­er der Mit­telschicht. Es gäbe keine Wieder­bele­bung des öffentlichen Raums, würde sie nicht von einem bre­it­en gesellschaftlichen Wan­del der Ide­al­bilder und Leitvorstel­lun­gen getra­gen. Wie weit dieser Wan­del reicht, zeigt sich nicht zulet­zt daran, dass auch viele Stadt­plan­er ihr Ver­hält­nis zum Raum neu bes­tim­men, auf eine Weise, die aber­mals an manche der Kün­stler und Architek­ten denken lässt. Das Prinzip der Offen­heit und freien Aneig­nung, unvorherse­hbar und unge­hin­dert von äußeren Zwän­gen, ist mancherorts sog­ar zum neuen Leit­bild der Pla­nung avanciert. (37)
Die Stadt ist nicht länger Zone, sie darf wieder Raum sein, undefiniert. (39)

Saša Stanišić: Vor dem Fest. RM Buch und Medi­en 2014. 316 Seit­en.

stanisic, vor dem fest (cover)Jet­zt habe ich endlich auch mal ein Buch von Saša Stanišić. Vor dem Fest ist ein ganz inter­es­san­ter und schön­er Roman über Fürsten­felde, die Uck­er­mar­ck, Deutsch­land und auch ein biss­chen über die Welt. In kleinen, leicht auch zwis­chen­durch und mit jed­erzeit­i­gen Unter­brechun­gen kon­sum­ier­baren Häp­pchen-Kapiteln erzählt Stanišić ein Dorf und seine Bewohn­er in der ost­deutschen Prov­inz. Äußer­er Anlass ist die Nacht vor dem großen Anna-Fest, in der die meis­ten noch eine oder andere Vor­bere­itun­gen für den näch­sten Tag tre­f­fen. Zugle­ich weist der Text mit Quel­len­ab­schnit­ten weit in die Dor­fgeschichte bis zum 16. Jahrhun­dert zurück — wobei ich mir nicht sich­er bin, ob das ernst gemeint ist: Die Sprache dieser (Pseudo-)Quellen scheint mir zu oft nicht ganz zeit­gemäß, immer ein biss­chen daneben, so dass ich das eigentlich als Fälschun­gen aus der Hand der “Archivarin” lese — dazu passt ja auch das große geheimnisvolle Getue, das um die Dor­fchronik gemacht wird. Und dass es sie nicht geben kann, weil sie eigentlich dem Dorf­brand von 1742 zum Opfer gefall­en ist. Egal: Das ist alles recht unter­halt­sam und dur­chaus erhel­lend in seinen vie­len Per­spek­tiv­en, Stilen und Zeit­ebe­nen. Auch wenn ich manch­mal den Ein­druck hat­te, die Idee — mit der Nacht vor dem “Fest” das Dorf, seine Gemein­schaft, seine Geschichte und auch noch die Weltzusam­men­hänge darzustellen — wird etwas über­reizt. Unklar blieb mir zum Beispiel die Notwendigkeit, das auch noch auf die Tier­welt auszudehnen …

Sehr gut gefall­en hat mir aber der spielerische Umgang des Erzäh­lers mit seinem Text: Zum einen pro­duziert das Fab­u­lieren hier selb­st Fra­gen an den eige­nen Text, die auch Teil des Textes wer­den und bleiben. Zum anderen ist da dieses inklu­sives “Wir” des Erzäh­lers als dem Vertreter der Dorf­bevölkerung, das also den Erzäh­ler zu einem Teil sein­er Geschichte macht und zumin­d­est behauptet, dass hier nicht von ein­er Außen­po­si­tion erzählt wird (auch wenn es einige wenige Hin­weise auf eine Dif­ferenz gibt …). Aber, das ist inter­es­sant, dieses “wir” gilt nicht nur der derzeit­i­gen Dor­fge­mein­schaft, son­dern der aller Zeit­en. Über­haupt ist Vor dem Fest mit sein­er erzäh­lerischen Lust und Begeis­terung ein etwas kapriz­iös­er Text, der sich selb­st nicht über­mäßig ernst nimmt, son­dern Spaß am eige­nen Erzählen und Erfind­en hat und auch gerne das eigene Erzählen ein­fach miterzählt.

Der Fährmann hat ein­mal erzählt, es gebe im Dorf jeman­den, der mehr Erin­nerun­gen von anderen Leuten besitze als Erin­nerun­gen, die seine eige­nen sind. Das Dorf hat sofort geglaubt, er meint Ditzsche. Kön­nten aber andere gemeint gewe­sen sein, meinen wir. (233)

Olga Mar­tyno­va: Mörikes Schlüs­sel­bein. Graz, Wien: Droschl 2013. 320 Seit­en. ISBN 9783854208419.

martynova, mörikes schluesselbein (cover)Mörikes Schlüs­sel­bein ist so etwas sieein Wun­dertüten-Text: Der ganze Roman quillt über. Das fängt schon “vor” dem Roman an, mit der Über­fülle an Para­tex­ten, vor allem den extrem vie­len Mot­ti auf ver­schiede­nen Ebe­nen des Textes, die oft auch noch nicht allein, son­dern gle­ich zu mehreren auftreten. Und es geht im Text weit­er, mit sein­er etwas hyper­tro­phen Fülle an Stilmit­teln und auch an The­men. Ins­ge­samt präsen­tierte Mörikes Schlüs­sel­bein sich mir als ein ziem­lich umher irren­der Roman. Ich hat­te immer wieder den Ein­druck, der Text sucht seine/eine Stimme, da wird aus­pro­biert und ver­wor­fen, dass es eine Freude ist. Vielle­icht liegt es auch daran, dass sich Mar­tyno­vas Erzäh­lerin sehr von ihren Fig­uren (und davon gibt es eine ganze Menge) und ihrem Eigen­leben treiben lässt — so war zumin­d­est mein Ein­druck.

Auf jeden Fall ist das vir­tu­os erzählt — aber was wird eigentlich erzählt und warum? Die Frage stellt sich schon früh beim Lesen, bis zum Ende habe ich keine richtige Antwort gefun­den (auch in den Rezen­sio­nen übri­gens nicht …). Das hängt natür­lich damit zusam­men, das Mörikes Schlüs­sel­bein ein Episo­den­netz ohne Zen­trum und ohne Rand ist, dessen Zusam­men­hänge teil­weise bewusst unklar bleiben. Da fühlt man sich manch­mal etwas ver­loren im Text — was, um es noch ein­mal zu sagen, nicht heißt, es wäre ein schlechter Text: vieles gefällt (mir), vieles ist gut, geschickt und sehr über­legt gemacht. Nur sehe ich kein Ziel außer dem Zeigen der Ziel­losigkeit, dem Vor­führen des Fehlens von (verbindlichen) Zie­len und Zusam­men­hän­gen. Vielle­icht habe ich auch schlecht gele­sen, näm­lich mit mehreren (unge­planten) Unter­brechun­gen, die mich zu viel ver­lieren ließen?

So lese ich Mörikes Schlüs­sel­bein als ein Spiel mit den Gren­zen von Real­itäten und Wahrschein­lichkeit­en (die selt­samen Zeitreisen- bzw. Zeitvek­toren-Episo­den, die so irrlichternd in den Text hineingeschichtet sind, verdeut­lichen das vielle­icht am besten). Über­haupt spielt der Roman auf allen Ebe­nen, vom Zeichen (bzw. sein­er typographis­chen Repräsen­ta­tion, etwa mit unter­schiedlichen Schwarzsät­ti­gun­gen …) bis zur Makro­form (deren Struk­tur ich über­haupt nicht ver­standen habe …). Und die Mot­ti nicht zu vergessen, die auf ver­schiede­nen Ebe­nen den Text sehr reich­haltig zieren. Und irgend­wie, das macht Mörikes Schlüs­sel­bein doch immer wieder inter­es­sant, gelingt es Mar­tyno­va, damit (fast) das ganze 20. Jahrhun­dert zu erzählen, mit der Geschichte Deutsch­lands, dem Zweit­em Weltkrieg, USA, UdSSR bzw. Rus­s­land und dem Kalten Krieg etc. pp. Und noch die aben­teuer­lich­sten Kuriositäten wer­den von Mar­tyno­va erzählt, als seien sie das nor­mal­ste auf der Welt: Klar, das zeigt (wieder mal) den Ver­lust (all­ge­me­ingültiger) Maßstäbe: alles gilt (gle­ich viel) — aber war es das schon? Oder will der Text noch mehr? — Da bin ich rat­los. Rat­los übri­gens auch beim Klap­pen­text — ob der absichtlich so blödsin­nig-nichtssagend ist? Eigentlich habe ich vom Droschl-Ver­lag eine bessere Mei­n­ung. Aber diesen Text als einen „Roman über Fam­i­lie und Fre­und­schaft: liebevoll, weib­lich, scharf­sichtig und humor­voll“ zu charak­ter­isieren kann ja nicht wirk­lich ernst gemeint sein. Sich­er, humor­voll ist der Text, das Lesen macht immer wieder große Freude. Aber was ist daran bitteschön weib­lich?

Wenn man Wolkenkratzer mit Kathe­dralen ver­gle­icht, meint man irrtüm­licher­weise in erster Lin­ie ihre gesellschaftliche Bedeu­tung: Macht und Reich­tum, die über das Leben der gemeinen Men­schen empor­ra­gen. Aber sie haben eine architek­tonis­che Funk­tion: die Men­schen dazu zu brin­gen, den Blick zum Him­mel zu erheben. Dazu nützt irgen­deine schöpferische Kraft die Macht, den Reich­tum und die wan­dern­den Bauleute, dachte Mari­na und hörte die Fet­zen ein­er (oder mehrerer) osteu­ropäis­ch­er Sprache(n), bedrohliche Zartheit in den gedehn­ten Laut­en. (165)

Diet­mar Dath: Lei­der bin ich tot. Berlin: Suhrkamp 2016. 463 Seit­en. ISBN 9783518466544.

dietmar dath, leider bin ich tot (cover)Diet­mar Daths Schaf­fen kann ich in seinen Verästelun­gen – ich kenne wed­er einen anderen Autor, der so vielfältige The­men­felder beack­ert noch bei so vie­len unter­schiedlichen Ver­la­gen veröf­fentlicht – kaum noch nachvol­lziehen. Aber wenn ich dann ab und an wieder etwas aus sein­er schw­er beschäftigten Fed­er lese, ist es immer wieder über­raschend und erquick­end. Das gilt auch für Lei­der bin ich tot. Der Text hängt irgend­wo zwis­chen Sci­ence-Fic­tion, Wis­senschaft­sthriller, poli­tis­chem Roman, Kri­mi und was weiß ich noch alles. Genau­so “wild” ist auch die erzählte Geschichte, die sich kaum vernün­ftig zusam­men­fassen lässt (und ohne wesentliche Plot­twists zu ver­rat­en schon gar nicht …, ziem­lich gut macht das Son­ja Grebe auf satt.org). Es geht um höhere Intel­li­gen­zen, um Reli­gio­nen und Göt­ter, auch um Ter­ror und Gewalt in allen möglichen For­men. Und ganz wesentlich auch um Zeit, um die Zeit — es zeigt sich näm­lich, dass manche Fig­uren in Lei­der bin tot die Zeit aus ihrem Strahlen­da­sein befreien kön­nen und eine Zeitschleife in Form eines Möbius­ban­des schaf­fen. Das bringt nicht nur so einige neue Möglichkeit­en, auch der Manip­u­la­tion, ins Spiel, son­dern sorgt auch für reich­haltige Ver­wirrun­gen und Irrlichtereien.

Außer­dem steckt in Lei­der bin ich tot – und darin ist es ein typ­is­ch­er Dath-Roman – ganz viel Gegen­warts­beschrei­bung und ‑diag­nose. Der Autor hat einen schar­fen Blick, er sieht und erken­nt unheim­lich viel und kann es in seinen Roman – mal ele­gan­ter, mal etwas plumper – alles hinein­pack­en. Der Ver­lag behauptet im Klap­pen­text zwar, das sei eine “Med­i­ta­tion”, aber das halte ich für Unsinn. Dafür ist das Buch schon viel zu action­ge­laden. Sich­er, es wird viel gedacht und viel über philosophis­che, the­ol­o­gis­che, erken­nt­nis­the­o­retis­che Prob­leme gere­det. Aber das ist nur eine Ebene des vielfälti­gen Textes. Die Vielfalt ist eh Dath-typ­isch. Genau wie das zunächst ganz real­is­tisch erscheinende Erzählen, das sich dann nach und nach leicht ver­schiebt, immer ver­schroben­er wird und immer etwas ver­rück­ter, grausamer und berech­nen­der (im tech­nis­chen Sinn). Und Büch­er, die ihren Autor selb­st so wun­der­bar unernst-selb­stiro­nisch auftreten lassen, sind sowieso meis­tens ein großes Vergnü­gen. Und das gilt für Lei­der bin ich tot auf jeden Fall.

»Krieger. Leute im Krieg. Die nur verklei­det sind als Kün­stler oder Intellek­tuelle. Nicht? Wir sind … wir müssen immer die Besten sein. Die Schön­sten, die Unwider­stehlich­sten. Wir sind Klugscheißer und Zauber­er und Träumer. Wir sind Rechthaber, weil wir …«
»Ver­let­zte sind.« (63)

Urs Jaeg­gi: Bran­deis. Darm­stadt, Neuwied: Luchter­hand 1978. 269 Seit­en. ISBN 347296463X.

Noch ein erstaunlich span­nen­der und inter­es­san­ter Zufalls­fund. Ich muss geste­hen, dass mir Urs Jaeg­gi, der als Sozi­ologe auch immer wieder bel­letris­tisch tätig war, bis dato unbekan­nt war. Das ist schade, denn Bran­deis ist nicht nur ein faszinieren­der Zeitro­man, son­dern auch ein aus­ge­sprochen guter Roman. Bran­deis, die Haupt­fig­ur und Erzäh­ler­stimme, aus deren per­son­aler Per­spek­tive alle drei Teile erzählt wer­den, ist sozusagen das alter ego des Autors: Sozi­olo­gie, der zu Beginn noch in der Schweiz (in Bern) lehrt, dann an die neuge­grün­dete, noch zu bauende bzw. im Auf­bau begrif­f­ene Uni­ver­sität in Bochum berufen wird, einige Zeit als Gast­dozent in New York weilt und zum Schluss (“Berlin 1977”) in Berlin einen Sozi­olo­gie-Lehrstuhl innehat — die äußeren Sta­tio­nen entsprechen Jaeg­gis Kar­riere genau. Das aber nur neben­bei.

Inter­es­sant ist anderes. Bran­deis ist ein poli­tisch aktiv­er, empirisch arbei­t­en­der Sozi­ologe, der sich aus ein­er dezi­diert linken (marx­is­tis­chen) Posi­tion auch und vor allem sehr inten­siv mit seinen Studieren­den und ihrem Blick auf die Welt und Gesellschaft auseinan­der­set­zt. Das ermöglicht zum einen eine span­nende Darstel­lung der Kon­flik­te am Ende der 1960er Jahre an den Hochschulen (aber auch einen Blick auf die Dif­ferenz der dor­ti­gen Diskus­sio­nen und Sit­u­a­tio­nen zu den Gegeben­heit­en der Arbeit­er­schaft, etwa bei den Bochumer Opel-Werken) über die Entwick­lung zum linksradikalen Ter­ror­is­mus und den Viet­namkrieg bzw. dem Kampf gegen den Krieb bis zu den amerikanis­chen Bewe­gun­gen Anfang der 1970er Jahre wie Black pow­er und Fem­i­nis­mus. Und es gibt dem Autor einen sehr klu­gen, ana­lytis­chen Erzäh­ler, der bei seinem Blick auf die Welt auch die eige­nen Posi­tion und deren the­o­retis­che Voraus­set­zun­gen immer wieder mitbe- und über­denkt. Äußer­lich passiert dann gar nicht so sehr viel, es wird vor allem gere­det und disku­tiert, gestrit­ten und demon­stri­ert, analysiert und erk­lärt.

Der zweite, sehr inter­es­sante Punkt ist die Form von Bran­deis. Die ist näm­lich für die Entste­hungszeit — der Roman ist immer­hin schon 1978 erschienen — erstaunlich avanciert und auf der Höhe der Zeit. Und es zeigt sich auch, dass sich in den Jahrzehn­ten sei­ther bei den zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­teln für Prosa­texte erstaunlich wenig getan hat. Bran­deis ist genau­so frag­men­tiert wie ein ordentlich­er post­mod­erne Roman der Gegen­wart, er nutzt viele Errun­gen­schaften des mod­er­nen Romans, auch sein Erzäh­ler spricht in zwei Per­spek­tiv­en und reflek­tiert das auch gerne selb­st:

Oh, ja. Ich weiß, Fre­und, hier geht es kreuz und quer: ich und er. Er Bran­deis und ich Bran­deis. Ich habe es sowieso pro­biert: »Ich« in die Gegen­wart zu set­zen, »Er« in die Ver­gan­gen­heit. Ganz logisch. Logisch: und doch ging es dann gle­ich wieder durcheinan­der, obwohl ich weiß: Ord­nung muß sein, wie bei den Fußnoten, was die Deutschen so gut kön­nen und die Fran­zosen nie ler­nen, nicht ler­nen wollen. Also gut. (97)

Über­haupt ist der ganze Roman erstaunlich selb­st­be­wusst und reflek­tierend. Und Jaeg­gi gelingt es aus­ge­sprochen gut, die Vielfalt der for­malen Gestal­tungse­le­mente zu nutzen und recht har­monisch miteinan­der zu verbinden (auch wenn sich an eini­gen Stellen vielle­icht manche Länge eingeschlicht­en hat).

Das so ein großar­tiger Text nicht zum Kanon deutschsprachiger Lit­er­atur gehört (selb­st der Luchter­hand-Ver­lag, bei dem seine Romane erschienen, ken­nt ihn nicht mehr …), ist eigentlich erstaunlich. Aber ander­er­seits vielle­icht auch symp­to­ma­tisch: Längst näm­lich scheint mir die Lit­er­atur zunehmend ihre eigene Geschichte (und damit auch ihre eige­nen Voraus­set­zun­gen und (schon ganz banal handw­erk­lichen) Errun­gen­schaften) zu vergessen – es bleiben let­ztlich ein­fach nur ein paar wenige Texte und Autoren dauer­haft im kollek­tiv­en Gedächt­nis. Stattdessen tut man – und das schließt sowohl die Pro­duzentin­nen als auch die Rezip­i­en­ten (wie etwa die Lit­er­aturkri­tik) ein – gerne so, als würde jede Sai­son, spätestens aber jede Gen­er­a­tion die Lit­er­atur neu erfun­den. Die Lek­türe von Tex­ten wie dem Bran­deis würde da mehr helfen als die “Wieder­ent­deck­ung” einst pop­ulär­er Romane von von Fal­la­da, Keun etc.

Die Geschichte tut nichts, sagt Bran­deis, sie kämpft keine Kämpfe. Es ist der Men­sch, der wirk­liche, lebendi­ge, Men­sch, der alles tut, besitzt oder erkämpft. Es ist nicht die Geschichte, die den Men­schen zum Mit­tel braucht, um ihre Zwecke durchzuar­beit­en, als ob sie eine aparte Per­son wäre; die Geschichte ist nichts als die Tätigkeit der ihre Zwecke ver­fol­gen­den Men­schen. (21)

außer­dem gele­sen:

Die andere DNA der Sprache: Titus Meyers Palindrom-Roman

meyer, andere dna (cover)Kann man einen Roman als Palin­drom schreiben? Oder ein Palin­drom als Roman schreiben und lesen? Titus Mey­er ver­sucht es zumin­d­est. Andere DNA heißt das Ergeb­nis (natür­lich selb­st eines der vie­len Palin­drome in diesem Palin­drom), das – wie schon sein Band mit Palin­drom-Gedicht­en – bei Rei­necke & Voß erschienen ist. Ich habe jet­zt nicht kon­trol­liert, ob das wirk­lich ein Palin­drom ist. 56 Seit­en sind zwar für einen Roman erst ein­mal nicht viel Text, aber sehr, sehr, sehr viel, um ein Palin­drom zu überblick­en. Ich ver­traue da also mal Autor und Ver­lag …

Gegliedert ist Andere DNA als lose Folge von kurzen Abschnit­ten (meist 1–2 Seit­en, manch­mal auch mehr) mit so schö­nen Titeln wie „Sin­neten­nis“, „Banale Magd“ oder „Ein­siedelei“, aber auch eher gener­isch („Tod“, „Zeit“, „Moral“ zum Beispiel). Hier gibt es tat­säch­lich so etwas wie the­ma­tis­che Zusam­men­hänge der wilden syn­tak­tis­chen Kon­struk­tio­nen Mey­ers. Als ganzes kon­nte ich dem Buch aber wed­er einen kohärenten Inhalt noch ein wirk­lich­es The­ma ent­nehmen. Darum geht es wohl auch gar nicht. Denn mit Erzählen hat das hier natür­lich nichts zu tun. Es ist ja schon die Frage, ob man so etwas über­haupt Schreiben nen­nen kann. Und wer schreibt dann hier? Der Autor oder die Regel?

Aber wahrnehmen lässt sich trotz­dem etwas. Die Sprache selb­st, aber auch die bere­its erwäh­n­ten Sinnzusam­men­hänge oder Sinnkon­struk­te, die lassen sich also beobacht­en. Aber meist nur gran­u­lar: Ein paar Sätze, viel mehr sind das sel­ten („Ein­siedelei“ ist so ein Fall, wo das auch mal über län­gere Strecke gelingt) – dann stolpert der Text wieder, der Sinn löst sich in alle Rich­tun­gen auf. Ich kon­nte das nur in kleineren Dosen lesen, nach ein paar weni­gen Sätzen schon fängt der Kopf an zu schwirren.

Es gibt dabei dur­chaus schöne Stellen, wo auf ein­mal neue, gewagte, schöne For­mulierun­gen auf­blitzen. Auf irgendwelche Zusam­men­hänge darf man aber wirk­lich nicht zu sehr hof­fen. Vor allem aber stellte sich mir immer wieder die Frage: Kann man das lesen? Und: Wie liest man so etwas eigentlich? Klas­sis­ches hermeneutis­ches Lesen funk­tion­iert jeden­falls über­haupt nicht, das wird ganz schnell klar. Ich habe mich dann oft beim Lesen qua­si selb­st beobachtet und gemerkt, wie man aus kle­in­sten Hin­weisen Zusam­men­hänge, ja sog­ar „Geschicht­en“ kon­stru­ieren will. Bis man – oder eben der Text – sich wieder bremst und sich irgend­wann ein­fach der Sprache aus­liefert, auch wenn das trock­en und wüst scheint.

Und natür­lich hat Andere DNA auch Momente ein­er Leis­tungss­chau nach dem Mot­to: Seht her, auch das kann „Sprache“, das kann Lit­er­atur (und so etwas ver­track­tes bekomme ich als Autor hin …): Die Tech­nol­o­giz­ität der Sprache pur sozusagen als lit­er­arischen Text verkör­pern und aufzeigen. Ob das aber mehr ist? Ich bin mir nicht so sich­er. Etwas anderes ist es auf jeden Fall. Und dann schwingt natür­lich auch noch ein gewiss­es kom­pet­i­tives Moment – ein so langes Palin­drom gab es noch nie! – immer etwas mit. Ins­ge­samt aber habe ich das dann doch eher als proof of con­cept denn als mögliche (Weiter)Entwicklung ein­er zeit­gemäßen, zeit­genös­sis­chen Lit­er­atur gele­sen. Aber vielle­icht habe ich dabei auch zu sehr von der Ober­fläche ablenken lassen, wer weiß …

Titus Mey­er: Andere DNA. Leipzig: Rei­necke & Voß 2016. 56 Seit­en. ISBN 9783942901208.

Lange Fluchten, gebrochene Menschen

danz, lange fluchtenEin unfer­tiger Rohbau irgend­wo in der deutschen Prov­inz, die Muster­fam­i­lie — Vater, Mut­ter, zwei Kinder — wohnt pro­vi­sorisch in Con­tain­ern auf dem Grund­stück. Das Set­ting von Daniela Danz Roman Lange Flucht­en klingt ziem­lich ein­fach und banal. Und doch ist an dem kurzen Text — ger­ade ein­mal 146 Seit­en, das ist heute nicht viel für einen Roman — nichts banal. Und nichts ist ein­fach, wed­er für den Leser noch für die Fig­uren des Textes.

Gut, das ist kein über­mäßig schwieriger Text, so scheint es zunächst. Aber entwick­elt doch seine Wider­ständigkeit­en. Denn worum geht es eigentlich? Cons (eine etwas selt­same Kurz­form für Con­stan­tin, in der das „Dage­gen“ offen­bar wird) ist ein ehe­ma­liger Beruf­s­sol­dat mit Frau und Kindern und Geliebter und einem tod­kranken Fre­und. Er lebt nach einem „Vor­fall“ in sein­er Zeit als Zeit­sol­dat in diesem pro­vi­sorisch ein­gerichteten Leben, das seines nicht so ganz zu sein scheint. Er lebt in merk­würdi­ger Nähe und Tren­nung von Frau und Fam­i­lie, er ver­schwindet für Tage, geht auf die Jagd, fährt ziel­los herum, bringt nach zwei Tagen die ver­sproch­ene Milch nach Hause — und scheint generell recht wenig auf die Rei­he zu bekom­men. Irgend­wie hängt das mit dem nicht näher erläuterten, nur nach und nach in Schemen erkennbaren Vor­fall bei einem Gefechts­man­över zusam­men, dass Con­stan­tin offen­bar psy­chisch geschädigt hat — die Frage ein­er Entschädi­gung ste­ht im Raum, ver­langt aber mehr Aktiv­ität, als er auf­brin­gen kann — und ihn in diesem persep­k­tiv- und ziel­losen Leben zurück­lässt.

Die Jagd bleibt da als einziger Rest von Aktiv­ität — nicht zufäl­lig ist das ein dem Mil­itär ähn­liche Zeitvertreib (und nicht zufäl­lig sind die betr­e­f­fend­en Pas­sagen dann auch vor­sichtig fach­sprach­lich getönt). Aber für Con­stan­tin geht es dabei wohl auch um den Moment der total­en Kon­trolle, des (mehr oder weniger willkür­lichen) Entschei­dens über Leben und Tod ein­er anderen Krea­tur — woran er selb­st tragis­cher­weise wiederum scheit­ert. Eine gewis­ser­maßen ähn­liche Ebene bringt der Selb­st­mord seines einzi­gen Fre­un­des, Hen­ning, in die Hand­lung. Der kann nur gelin­gen, weil Cons mit ein­er Bohrmas­chine (um das Seil zum Erhän­gen zu befes­ti­gen) aushil­ft — wie unbe­wusst und ungewusst das wirk­lich war, ist nicht so ganz deut­lich.

Lange Flucht­en ist bei all dem immer fast quälend nahe an der Haupt­fig­ur. Der Text im per­ma­nen­ten Präsens ist ein sehr gelun­ge­nes Abbild der Leere, der Ziel­losigkeit von Cons: Alles bleibt ohne Antrieb, aber irgend­wie auch ohne Grund:

Was soll man auch auf­schreiben, was ist für einen anderen am eige­nen Leben inter­es­sant? Was geht es irgend­je­man­den an? (81)

Dabei hat der Roman eine qua­si-natür­liche, har­monis­che Form, zum Beispiel qua­si sich selb­st ergebende Kapitelzusam­men­hänge. Über­haupt ist der ganze Text ein sehr behut­samer Text: nie ver­rä­ter­isch, aber auch nie „ver­ständ­nisvoll“, ein vorgegebenes Ver­ste­hen erheis­chend. Daniela Danz gelingt näm­lich eine ein­drück­liche Mis­chung aus zwin­gen­den Schilderun­gen und geheimnisvoller Kom­po­si­tion: Vieles bleibt — ganz natür­lich in der Erzäh­lung — ohne Grund, ohne Erk­lärung oder Demon­stra­tion von Kausal­itäten.

Erst kurz vor dem Ende geschieht etwas im und vor allem mit dem Text. Auf der inhaltlichen Ebene wird das dop­pelt vor­bere­it­et: Cons kommt über Zufälle zu einem Art Mil­i­taris­ten­tr­e­f­fen und hat dort, im Waldge­wit­ter und der Kon­fronta­tion mit einem Hirsch, eine Art Epiphanie. Dem schließt sich dann ein spon­tan­er Fam­i­lienurlaub am Meer an. Und nach der Rück­kehr von ein­er Schiff­s­rund­fahrt auf der „Alten Liebe“ bricht der Text dann, zunächst mit dem Ver­schwinden der Ehe­frau Anna (später fol­gen die bei­den Kinder ins Nichts): Das Erzähltem­pus wech­selt ins Imper­fekt, die Ober­fläche wird eben­falls als dif­fer­ent markiert durch die kur­sive Type — bei­des bis zum bald fol­gen­den Schluss durchge­hal­ten.

Und das macht aus Lange Flucht­en eigentlich noch ein­mal einen neuen, einen anderen Text. Der Wirk­lichkeitssta­tus von Text und berichtetem Geschehen wird nun endgültig fraglich und unsich­er. Unklar wird auch die Gat­tungszuord­nung: Ist das jet­zt ein Roman? Oder — darauf weist der Schlussteil hin — eine Leg­ende? Auch das bleibt am Ende dunkel, eine Auflö­sung bietet der Text selb­st nicht mehr. Die Ver­such­sanord­nung wird der Leserin ein­fach präsen­tiert, ohne Erk­lärung.

Es bleibt ein­fach ein ziem­lich radikaler Bruch ins Mythis­che, Irreale — aber was bedeutet das? Man kann dann den Text als Leg­ende lesen, d.h. als exem­plar­ischen Text. Dann wäre der Schlussteil sozusagen eine Art Kom­men­tar zum Text im Text selb­st, eine Rezep­tion­ss­teuerung — damit der „Haupt­text“ nicht (bloß) als Schildeurng eines indi­vidu­ellen Schick­sals gele­sen wer­den kann, wird das und sein Text am Schluss trans­formiert (im Sinne von „aufge­hoben“). Immer­hin begin­nt das im Kapi­tel XXVI mit dem beze­ich­nen­den Satz:

Lass mich noch ein­mal erzählen. Jet­zt ist alles ganz klar und voller Zusammenhänge.(137)

Was dann fol­gt, ist zwar über­haupt nicht klar, aber: Erst jet­zt, mit diesem Satz, begin­nt das Erzählen … (und ist damit aber auch schon wieder am Ende ange­langt).

Diese Rät­sel­haftigkeit — ohne Auflö­sung — ist die große Stärke des Textes. Auch die Deu­tung als Leg­ende hil­ft ja nur wenig — denn was heißt das denn nun für den Text und seine Fig­uren, wenn er kein Roman, son­dern eine Leg­ende ist? Dass Con­stan­tin ein Heiliger ist? Aber warum und wofür? Fra­gen bleiben nach dem Lesen, aber auch die offene Fasz­i­na­tion des Buch­es, das man zwar bei­seite leg­en kann, aber nicht so ein­fach beendi­gen. Je länger ich drüber nach­denke, desto faszinieren­der wer­den die Lan­gen Flucht­en

Er geht auf das Haus zu, ein Ver­wal­tungsmon­ster aus Back­stein und Glas. Män­ner in Anzü­gen, Leis­tungsträger, gehen schnell an ihm vor­bei, begeg­nen anderen Män­nern, Frauen, man grüßt. Mahlzeit ist das Pass­wort, mit dem man dazuge­hört. Er merkt, wie sein Gang sich von dem der anderen unter­schei­det. Er ver­sucht, ihrem Gehen, so nen­nt er es abschätzig, seinen Gang ent­ge­gen­zuset­zen, seinen stolzen Gang, aber es gelingt ihm nicht. Die gläserne Ein­gangstür öffnet sich, nir­gends ein Wider­stand. Nein, er fragt nicht den Pfört­ner, er sucht den Raum mit der Num­mer 423 selb­st. ‚Alexan­der Ste­ger‘ ste­ht auf dem Schild neben der Tür. drei leere Stüh­le davor. Er set­zt sich. Er hat ein­mal gel­ernt, eine Strate­gie zu entwick­eln, ‚Führen mit Auf­trag‘, er muss das Heft in die Hand kriegen jet­zt. Er sitzt hier, weil Anne gesagt hat, er solle hinge­hen zu dem Ter­min. (37)

Daniela Danz: Lange Flucht­en. Göt­tin­gen: Wall­stein 2016. 146 Seit­en. ISBN 9783835318410.

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