Wenig zu berichten von dieser Woche. Wieder mal etwas viel gearbeitet, ungefähr 50 Stunden und damit nur leicht über dem Durchschnitt ;-). Dabei hatte ich wieder oft das Gefühl, nicht voranzukommen, nichts wirklich zu erledigen. Immerhin war auch einiges schönes dabei — ein Seminar, das so intensive diskutiert, dass ich mit meinem Programm nicht durchkam; ein Planungsmeeting, in dem es mal wirklich voranging.
Lebensmittelpreise sind gerade sehr, sehr seltsam. Bei Aldi zum Beispiel ist das Toastbrot der Eigenmarke in diesem Jahr von 99 Cent auf 1,59 Euro gestiegen, um dann zwei Wochen später bei 1,29 Euro zu landen. Sauerkraut ist im Biomarkt in Bioland-Qualität günstiger als beim Discounter. Irgendwie komme ich mir bei solcher Preisgestaltung zunehmend abgezockt und nicht ernst genommen vor. Nun ja, mal sehen, wie sich das alles weiter entwickelt.
Und am trüben Wochenende habe ich mal wieder ein wenig an meinen Blogs rumgebastelt, die Kompabilität mit php8 endlich geklärt, ein wenig am Design und den Einstellungen rumgeschraubt.
Ton: Eine wunderbare Händel-Aufnahme habe ich gehört: “Handel Goes Wild” von L’Arpeggiata und Christina Pluhar. Das sind Improvisationen über Händel-Werke und improvisierende Interpretationen von Händel-Arien, die damit eine durchaus barocktypische Anverwandlung aufgreifen und das mit viel Spaß, Subtilität und Ideen so tun, dass das Hören mir echte Freude bereitete. Und auch sehr gut und schön, wenn auch nicht ganz so überzeugend wie bei Christoph Prégardien: Franz Schuberts “Schwanengesang” in der neuen Aufnahme von André Schuen und Daniel Heide.
Text: Das “Blutbuch” von Kim de l’Horizon fertig gelesen. Es kommt mir ingesamt doch ein wenig prätentiös vor. Die verhandelten Themen sind eigentlich recht schnell klar, sie werden aber überdeckt von der wuchernden, ungeformten Form des Textes, der so ziemlich (beinahe) alle denkbaren Register zieht, um seine Avantgardität vorzuführen (ein bisschen Holzhammer-Methode). Ich musste da öfters an Baßlers These des Midcults (International Style) denken. So wie ich das verstanden habe (ohne seine eigentliche Arbeit zu lesen freilich), beobachtet er eine Variante der Literatur, die durch schwere Themen und ausgestellte formale Abweichung(en) eine Pseudo-Modernität, einen Pseudo-Kunstcharakter herstellt, aber eigentlich mit traditionellen Mitteln erzählt. Gut, das letzte passt auf das “Blutbuch” vielleicht nicht so vollständig, aber mein Haupteinwand nach meiner vielleicht etwas ungenauen Lektüre ist, dass die Form des Textes, seine Struktur und seine Sprache, nur sehr dünn ästhetisch begründet sind und vor allem markieren sollen, wie avanciert der Text ist. Vielleicht ist das avancierteste hier aber doch bloß die Position der Erzählerfigur, des fiktiven Autors (die natürlich mehr oder weniger autofiktional durch die lebensweltliche Autorfigur Kim de l’Horizon abgesichert und verstärkt wirkd).
Draußen: Weiterhin täglich gelaufen, aber langsam und dafür immer nur kurze Runden. Keine gute Entwicklung gerade, aber die Motivation war auch nicht sehr hoch.
Eberhard Kolb: Otto von Bismarck. Eine Biographie. München: Beck 2014. 208 Seiten. ISBN 978–3‑406–66774‑9.
Als Biographie ist das für mich kaum satisfaktionsfähig: Zu blass und verschwommen bleibt das Bild. Der Mensch Bismarck, die Person, tritt nahezu gar nicht auf — ab und an gibt es Hinweise auf seine Gesundheit oder ein paar ganz wenige auf Frau und Kinder. Im Vordergrund oder besser alleine im Fokus steht sein politisches Handeln. Das beschreibt Kolb mit Zuneigung, aber durchaus auch mit Blick für die Ambivalenzen Bismarcks. Aber auch das Zentrum, die Politik, bleibt blut- und farblos. Das liegt vor allem daran, dass Kolb oft sehr großzügig durch die Geschehnisse und Taten durch eilt udn nur die Ergebnisse berichtet, den Weg aber meist nur summarisch (und oft genug mit dem Hinweis: Die Details sind bekannt). Das wiederum hängt damit zusammen, dass er keinen rechten Zugriff findet: Eigentlich ist das eine preußische/deutsche Geschichte am Beispiel Bismarcks. Und beides ist in diesem Umfang natürlich kaum besonders intensiv oder tiefgehend zu leisten.
Wu Ming: Manituana. Berlin, Hamburg: Assoziation A 2018. 509 Seiten. ISBN 978–3‑86241–465‑9.
Manituana reicht leider nicht an die letzten Bände von Wu Ming heran. Das kann durchaus daran liegen, dass der USA, ihre Unabhängigkeitskrieg und der Kampf mit, um und gegen die “Indianer” schon an sich nicht so ganz mein Ding sind. Da passiert dann zwar wieder viel, es wird gekämpft, betrogen, verraten und verhandelt, eine Delegation darf auch nach England reisen und sich im Luxus (und den Niederungen Londons) des Adelslebens gehörig fremd fühlen. Ich hatte beim Lesen aber schon eigentlich durchweg den Eindruck, dass das an Spannung und vor allem hinsichtlich des bildhaften, detailreichen Erzählens einfach nicht (mehr) so gut ist. Zu sehr dringt hier immer wieder die Absicht an die Oberfläche und stellt sich vor den Text — und damit funktioniert genau das, was bei anderen Texten von Wu Ming die besondere Spannung und den speziellen Reiz ausmacht, hier leider nicht.
Jan Peter Bremer: Der junge Doktorand. 2. Auflage. München: Berlin 2019. 176 Seiten. ISBN 978–3‑8270–1389‑7.
Das ist ein überraschend feines, kleines Buch. Jan Peter Bremer hatte ich bisher ja überhaupt nicht auf dem Schirm. Aber in Der junge Doktorand zeigt er sich durchaus als gewiefter Erzähler, der sein Handwerk versteht und vor allem ernst nimmt: Ernst nehmen in dem Sinn, dass er sich bemüht, sauber zu arbeiten, Fehler zu vermeiden. Das zeigt der Text, der mit Gespür und Formbewusstsein erzählt ist. Das kunstvolle Beherrschen des Erzählens zeigt sich auch in dem Umfang des Buches: Das ist ein kleiner Roman. Es geht auch gar nicht so sehr um große, allumfassende Dinge — die Welt wird hier nicht gerade erzählt. Aber auch wenn er sich bescheiden gibt: Bremer gelingt es doch, auf den wenigen Seiten mit genauen Sätzen, treffenden Beschreibungen und Bewusstsein für das richtige Tempo große Themen zu erzählen: Es geht um Ehe, um Gesellschaft und Individuum, und natürlich, vor allem, um Kunst — und auch ein bisschen um nicht-normierte Lebensläufe wie den des jungen Doktoranden, der weder jung noch Doktorand ist. Das klingt in der Zusammenfassung recht trocken und ja, fast banal, entfaltet bei Bremer aber eine treffenden und subtile Komik. Und das macht dann einfach Spaß.
Die Winterbienen haben mich etwas enttäuscht und ratlos zurückgelassen. Ich habe Scheuer ja durchaus als erfahrenen Erzähler und Autor schätzen gelernt. Dieser Roman hat aber mehr Schwächen als er mit seinen eher mäigen Stärken ausgleichen kann. Da ist zum einen die seltsame Tagebuch-Fiktion. Die passt nämlich vorne und hinten nicht: Gut, dass der Tagebuchtext in Fußnoten die lateinischen Zitate übersetzt, das wird noch von der Herausgeberfiktion gedeckt. Dass (als ein Beispiel von vielen) Egidius Arimond (schon der Name macht mich ja beinahe wahnsinnig) als erfahrener Imker aber nach jahrzehntelanger Tätigkeit seinem Tagebuch erklärt, was er warum bei den Bienen, vor allem eben im Winter, macht, ist einfach handwerklicher bzw. erzähltechnischer Unsinn, der einer Lektorin durchaus mal hätte auffallen dürfen. Der Roman an sich ist für mich etwas zwiespältig: Natürlich sehr durchdrungen von völkischer Ideologie, die eben wieder durch die Tagebuch-Fiktion legitimiert wird. Dann ist da noch das Leiden eines Krieges, der auf die Aggressoren zurückgefallen wird, hier aber — in Arimond und den restlichen, schemenhaft auftauchenden Eifelbewohnern — eher als irgendwie gegeben hingenommen wird. Angeblich ist die erzählte Welt geprägt von dem “Wunsch nach einer friedlichen Zukunft” — davon merkt man im Text aber reichlich wenig. Im ganzen bleibt mir das etwas fragwürdig und vor allem ausgesprochen unbefriedigend: Warum erzählt Scheuer uns das? Und warum versteckt sich der Autor so (beinahe) vollkommen hinter seiner Figur — was will mir das eigentlich sagen?
außerdem gelesen:
Heimito von Doderer: Unter schwarzen Sternen. Erzählungen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1973. 154 Seiten. ISBN 3–7642-0055–3.
Glenn Gould: Freiheit und Musik. Reden und Schriften. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Ditzingen: Reclam 2019 (Was bedeutet das alles?). 84 Seiten. ISBN 978–3‑15–019412‑6.
Algernon Blackwood: Eine Kanufahrt auf der Donau. / Die Weiden. Ulm: danube bookes 2018. 154 Seiten. ISBN 978–3‑946046–13‑4.
Sibylle Schwarz: Ist Lieben Lust, wer bringt dann das Beschwer?. Leipzig: Reinecke & Voß 2016. 58 Seiten. ISBN 978–3‑942901–21‑5.
Almut Tina Schmidt: Zeitverschiebung. Graz, Wien: Droschl 2016. 189 Seiten. ISBN 978–3‑85420–978‑2.
Eigentlich ist SchmidtsZeitverschiebung eine Geschichte des erweiterten Erwachsenwerdens: Das Ende des Studiums, die ersten Jobs, sich verfestigende Beziehungen, die Liebe und dann das Kind, ein neuer Job, Zusammenziehen mit dem Partner und ein Happy End — das ist das Gerüst des Romans. Aber das ist auch der weniger interessante Teil des Romans. Schnell wird aber klar — der Titel ist in dieser Hinsicht ja überdeutlich … -, dass etwas anderes das eigentliche Thema ist: Die Zeit, genauer vielleicht: ihre Wahrnehmung, oder die wahrgenommene Positionierung der Ich-Erzählerin in ihrem strömenden Fließen.
Zeit ist ohnehin eine Illusion. (140)
Das Erleben und vor allem das Erzählen der Zeit verbindet sich mit ähnlich abstrakten Konzepten wie Fortuna oder Zufall. Denn die Verspätung — um die Zeitverschiebung etwas banaler zu verpassen — ist das zentrale Moment des Texte. Die chronologische Verspätung ist das eine, aber Verspätung ist eben auch ein Lebensgefühl (oder genauer: das Lebensgefühl einer Phase des Lebens): Das übermächtige Gefühl des Verpassens, des „zwischen“, „noch nicht“, und des immer schon zu spät sein, des Eindrucks, immer schon den Anfang verpasst zu haben … Aber selbst das happy end schlägt sich doch auch noch auf das Zeit(empfinden) — hier des eigenen, kleinen Kindes — nieder: „Und nimmt sich alle Zeit der Welt.“ (189) ist der Schlusssatz, der schön zum Anfangssatz passt: „Ich war ohnehin zu spät, konnte mir also Zeit lassen.“ (5)
Das Thema der Zeitverschiebung ist damit auf individueller Ebene sozusagen erledigt. Aber es wird eben deutlich (wie so oft in diesem Roman: überdeutlich), dass es in der nächsten Generation (wieder/noch) ein Thema sein kann. Allerdings, da schließt sich der Kreis nicht ganz: Noch ist das ein Kind, das “alle Zeit der Welt” hat. Vielleicht gelingt ihm/ihr (?) ja das Erwachsenwerden der Zeit(empfindung) gemäß den gesellschaftlichen Konventionen/Erwartungen parallel zum restlichen Erwachsenwerden? (Wobei Zeitverschiebung ja eigentlich eher die Frage aufwirft, ob man ohne dieses spezielle, d.h. “normale” Empfinden der Zeit, das Behagen darin, überhaupt erwachsen geworden ist — der Text verneint das eher und situiert seine Protagonistin ja mehr als deutlich in einem Zwischen, einem Übergangsstadium (klassisch: Pubertät), unabhängig von ihrem Alter.
Gerade der Anfang ist durchaus charmant erzählt, das muss man Schmidt attestieren, mit lässiger und heiterer Ironie-Distanz. Überhaupt ist die Sprache oft lakonisch, knapp und direkt mit Tendenz zum Humor. Es gibt wenig Ausschmückung, das hohe Tempo des Geschehens nimmt der Text gut auf: Die Zeit ist einfach nie genug, vor allem — so behauptet die Erzählerin immer wieder — lebt sie im Bewusstsein, sie zu verschwenden und hat permanent das Gefühl, die Zeit nicht genügend auszukosten, nicht ausreichend zu nutzen, immer nicht das Digentliche (des Lebens) zu tun, sondern nur einen Notbehelf, eine Zwischenlösung. Leider wird die Erzählung und die Sprache zunehmend konventioneller — sozusagen parallel zum Leben, dem Lebensentwurf der Erzählerin. Und damit verliert der Text leider meines Erachtens etwas: Sicher, das ist in Übereinstimmung mit der geschilderten Entwicklung. Aber es machte den Text für mich gegen Ende auch deutlich langweiliger.
Ich verschwendete mehr und mehr Zeit damit zu fürchten, meine Zeit ernsthaft zu verschwenden. (105)
Niemand ist das Alphabet einer seltsamen, schwierigen Vater-Tochter-Beziehung, die durch Abwesenheiten wesentlich mitbestimmt ist und von der Tochter nach dem Tod ihres Vaters erforscht und aufgeschrieben wird. Der wird uns als Melancholiker gezeigt, der auch daran stirbt (naja, eigentlich dann doch am Herzinfarkt), dessen Leben bestimmt ist vom Wahnsinn der Melancholie (?) und der sich immer wieder temporär in stationärer Behandlung befindet, zugleich aber (!) hoch angesehener Jura-Professor. Niemand nutzt für diesen nachträglichen Abschied den emotionalen, psychischen und literarischen Nachlass des Vater, aus dessen Schriften (teilweise auch fiktional gedacht) wird immer wieder zitiert. Denn zugleich ist der Roman auch ein Versuch des Erinnerns, mehr noch: der Vergegenwärtigung des Vaters durch die Auseinandersetzung, Aufarbeitung (Durcharbeitung) des Verhältnisses der Ich-Erzählerin mit ihm und ein Versuch, ihn — als Menschen, als Person — zu verstehen. Schwierig ist das insofern, als er schon während dem Leben verschwindet, (oder das zumindest als — in seinen Niederschriften offenbartes — Ziel hatte): eben ein Niemand werden, ein Mann ohne Eigenschaften.
Die Erzählerin verliert sich wunderbar in ihren eigenen Sätzen, häuft immer mehr Details und Erinnerungen an, türmt das auf, fügt immer neue Ergänzungen, Präzisierungen, Erweiterungen an. Die Sätze fangen oft ganz harmlos an und ufern dann maßlos aus. Aber das ist ja aber gerade der schöne und sympathische Witz des Textes: die ungetüme, wilde, chaotisch-fragmentarische Erinnerung wird nur durch das Alphabet der Kapitel gezähmt — zumindest scheinbar. Und letztlich bleibt der Versuch der Ordnung, ein kohärentes Ganzes dadurch zu schaffen (von Anfang bis Schluss in einer festgefügten Abfolge) auch vergeblich, eben nur ein Versuch, der im Text einmal als „Ordnung ohne Bedeutung“ klassifiziert wird (147). Aber sie ist wohl doch mehr: Denn die Buchstaben stehen ja nicht alleine, sondern werden in den Kapitelüberschriften zum Wort (mit Ausnahme des “Y”, wo die Ordnung dann eben auch reflektiert wird …).
„Nun gehen die Buchstaben aus, diese Ordnung ohne Bedeutung, mit deren Hilfe ich versucht habe, seine Unordnung und meine in den Griff zu bekommen, unsere Erinnerungen zu glätten und stammelnd dieses sehr alte Wissen zu buchstabieren, zu dem ich nicht durchgedrungen bin, als ob diese Wörter und Sätze, die unter dem Impuls und der Notwendigkeit einer anderern Ordnung, der seinigen – einer Aufforderung oder eines Versprechens (einen Roman daraus machen) –, hingeschrieben wurden, sogleich wieder in ihre ursprünglichen Bestandteile auseinanderfallen würden […] (147)
Michael Fehr: Glanz und Schatten. Erzählungen. Luzern: Der gesunde Menschenversand 2017. 141 Seiten. ISBN 9783038530398.
Simeliberg hatte mich ziemlich begeistert. Glanz und Schatten kann da leider nicht ganz mithalten. Vor allem die starke Konzentration und die fremde Härte, jeweils in Form und Sprache, von Simeliberg fehlt mir hier. Ganz oft weiß ich spontan (und später) überhaupt nicht, was die Texte wollen und/oder sollen, die Fremdheit ist und bleibt oft ziemlich groß: Irgendwie finde ich nicht zu dem Text. Dessen “Thema” könnte man oft nennen: die kalte, erbarmungslose Welt des (Spät-)Kapitalismus und des Konsums, die Zurichtungsmaschinen und ‑mechanismen der („freien“) Gesellschaft, wie sie sich vor allem in der Fremdbestimmung (statt Individualität) äußern — aber der Fremdbestimmung einer gesichtslosen, anonymen Macht. Das spielen die Texte mit dem Vorführen von Rollenbildern und ‑klischees, v.a. denen der Geschlechter, durch. Gewalt spielt dabei immer wieder eine außerordentlich Rolle: als Ventil, als Ausbruch aus den unentkommbaren Zwängen, als Umschlagen der Energien. Nico Bleutge hat in seiner Rezension des Bandes vorgeschlagen, die Texte als zum Vortrag bestimmte zu lesen — vielleicht ist das wirklich hilfreich, denn “alleine”, als blanker Text, finde ich nur in einigen wenigen (zum Beispiel dem intensiven “Studentin” oder “Mais”) genügend Faszination bei der Lektüre.
Felix Hartlaub: Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto. Herausgegeben von Wolfram Pyta und Wolfgang M. Schwiedrzik. Neckargemünd, Wien: Edition Mnemosyne 2017 (GegenSatz 8). 292 Seiten. ISBN 9783934012301.
Eine geschichtswissenschaftliche Dissertation aus dem Jahr 1940 über ein Ereignis aus dem Jahr 1571 — lohnt die Lektüre eines solchen Textes heute noch? Durchaus, kann man sagen, wenn der Verfasser Format hatte. Und das muss man Felix Hartlaub bescheinigen. Deshalb ist Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto tatsächlich auch noch interessant, als historische Darstellung eines historischen Ereignisses. Interessant ist auch die Form: Hartlaub arbeitet erzählend, er bringt (fast) keine Zitate und nutzt auch vergleichsweise wenige Quellen (und sowieso zur gedruckte): Als geschichtswissenschaftliche Qualifikationsschrift hätte das heute wohl keine Chance mehr. Auch als “Sachbuch” bin ich mir nicht ganz sicher, ob sich die Lektüre heute wirklich noch so unbedingt lohnt, wie die Herausgeber betonen … Sicher, die Stilisierung des sowieso schon zur Weltgeschichte hochstilisierten Ereignisses ist gekonnt umgesetzt. Aber viel mehr sehe ich da jetzt nicht unbedingt …
Die letzte Sinngebung des Tages von Lepanto gewann wir auch so noch nicht. An die Seite solcher Überlegungen muß wohl die Ahnung treten, daß der Tag von Lepanto zu den seltenen Ereignissen gehört, die, wenn man es so ausdrücken darf, auf einer höheren Ebene der Geschichte liegen und bei denen die Frage nach den tatsächlichen Folgen im letzten nicht angemessen ist. Nur materiell betrachtet, gehörte der Sieg freilich wohl zu den — im Verhältnis zu dem Erfolge — allzu verschwenderischen Blutopfern, an denen vor allem auch die deutsche Geschichte so reich ist. In dieser Hinsicht ist manche aus den unmittelbar folgenden Jahren erhaltene Äußerung aufschlußreich. Das ideal Bild der Schlacht aber, die noch überall, in den Galeeren im Hafen, in den Waffen und Narben gegenwärtig war, löste sich rasch aus dem Gefüge menschlicher Planungen; es war ganz in sich abgeschlossen, man konnte keinerlei Abwandlungen und Fortsetzungen ersinnen. (237)
außerdem gelesen:
Axel Matthes: Georges Bataille nach Allem. Berlin: blauwerke 2016 (splitter 07). 66 Seiten. ISBN 978–3‑945002–07‑0.
Günter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie. Überarbeitete und vermehrte Neufassung. Frankfurt: Fischer 2013. 350 Seiten. ISBN 9783100096449.
Hans Jürgen von der Wense: Das Nordlicht. Herausgegeben von Valeska Bertoncini und Reiner Niehoff. Mit einem Beiwort von Valeska Bertoncini. Berlin: blauwerke 2016 (splitter 11). 58 Seiten. ISBN 9783945002117.
Hans Jürgen von der Wense: Das lose Werk. Mappe Nr. 01: Wolken. Berlin: blauewerke 2016. ISBN 978–3‑945002–02‑5.
Ruth Klüger: Marie von Ebner-Eschenbach. Anwältin der Unterdrückten. Wien: Mandelbaum 2016 (Autorinnen feiern Autorinnen). 56 Seiten. ISBN 9783854765219.
Marlene Streeruwitz: Marlene Streeruwitz über Bertha von Suttner. Wien: Mandelbaum 2014 (Autorinnen feiern Autorinnen). 61 Seiten. ISBN 9783854764564.
Gerhard Falkner: Romeo oder Julia. München: Berlin 2017. 269 Seiten. ISBN 978–3‑8270–1358‑3.
Ich kann nicht sagen, dass ich von Romeo oder Julia wirklich begeistert gewesen wäre. Das liegt vor allem daran, dass ich nicht so recht kapiert habe, was der Text eigentlich (sein) möchte. Dabei hat er unbestreitbar ausgezeichnete Momente und Seiten, neben einigen Längen. Einige der ausgezeichneten Momente finden auf der Ebene der Sprache statt: Es gibt funkelnde einzelne Sätze in einem Meer von stilistischem und gedanklichem Chaos. So habe ich mir das zunächst notiert — aber das stimmt so nicht ganz: chaotisch (also realistisch) erscheint der Text zunächst nur, er entwickelt dann aber schon seine Form. Die zumindest stellenweise hypertrophe Stilistik in der Übersteigerung auf allen Ebenen ist dann auch tatsächlich lustig.
Unermüdlich arbeiteten hinter den Dingen, an denen ich vorbeikam, die Grundmaschinen der Existenz, die seit Jahrtausenden mit Menschenleben gefüttert werden, und die Stadt stützte ihre taube und ornamentale Masse auf dieses unterirdische Magma von Lebensgier, Kampf, Wille, Lust und Bewegung. 227
Was wird in Romeo oder Julia erzählt? Das ist eben die Frage. Irgendwie geht es um einen Schriftsteller, Kurt Prinzhorn (über dessen literarische Werke nichts zu erfahren ist), der bei einem Hotelaufenthalt in Innsbruck von einer benutzten Badewanne und verschwundenen Schlüsseln etwas erschreckt wird. Ratlos bleibt er zurück und denkt immer wieder über die Rätselhaftigkeit des Geschehens nach, während das Autorenleben mit Stationen in Moskau und Madrid weitergeht. Dort nähert sich dann auch die antiklimaktische Auflösung, die in einem Nachspiel in Berlin noch einmal ausgebreitet wird: Der Erzähler wird von einer sehr viel früheren kurzzeitigen Freundin verfolgt und bedroht, die dann beim Versuch, zu ihm zu gelangen (um ihn zu töten), selbst stirbt … Trotz des Plots, der nach Krimi oder Thriller klingt, bleibt Romeo oder Julia bei einer unbeschwerten Rätselhaftigkeit, ein Spiel mit Spannungselementen, sexistischem und völkerpsychologischem Unsinn und anderen Peinlichkeiten. Immerhin sind der knappe Umfang und die eher kurzen Kapitel (übrigens genau 42 — wobei ich bei Falkner in diesem Fall keine Absicht unterstelle) sehr leserfreundlich. Durch die zumindest eingestreuten stilistischen Höhenflüge war das für mich eine durchaus unterhaltsame Lektüre, bei der ich keine Ahnung habe, was das eigentlich sein soll, was der Text eigentlich will. Weder die Krimi-Elemente noch die Popliteraturkomponente oder die massiven Intertextualitätssignale (die ich nicht alle in vernünftige Beziehung zum Text bringe, aber sicherlich habe ich auch eine Menge schlicht übersehen) formen sich bei meiner Lektüre zu einem Konzept: Ein schlüssiges Sinnkonstrukt kann ich nicht so recht erkennen, nicht lesen und leider auch nicht basteln.
Es war Sonntagvormittag, und es gab kaum Leute auf der Straße. Straßen auf den Leuten gab es erst recht nicht. es gab auch keine Busse, die man sich auf der Zunge hätte zergehen lassen können, oder Friseure, die aufgrund einer ungestümen Blümeranz der Ohnmacht nahe gewesen wären. Auch nicht die Heldenfriedhöfe, die in wilden und ausufernden Vorfrühlingsnächten von den Suchmaschinen auf die Bildschirme gezaubert werden, um mit ihren schneeweißen und christuslosen Kreuzen die Surfer in ihre leere Erde zu locken. Es gab nicht einmal die feuchte, warme Hand der katholischen Kirche oder das tröstliche Röcheln des Drachens, dem sein beliebtester Gegner, der heilige Georg, gerade die eiserne Lanze in den Rachen gestoßen hat. Es gab einfach wirklich nur das, was da war, was wir unmittelbar vor Augen hatten, und die Tatsache, dass ich in Kürze losmusste. 78
Alina Herbing: Niemand ist bei den Kälbern. Zürich, Hamburg: Arche 2017. 256 Seiten. ISBN 9783716027622.
Das ist mal ein ziemlich trostloses Buch über eine junge Bäuerin aus Alternativlosigkeit, die auch in den angeblich so festen Werten und sozialen Netzen des Landlebens (der „Heimat“) keinen Halt findet, keinen Sinn für ihr Leben. Stattdessen herrscht überall Gewalt — gegen Dinge, Tiere und Menschen. Einerseits ist da also die Banalität des Landlebens, der Ödnis, der „Normalität“, dem nicht-besonderen, nicht-individuellen Leben. Andererseits brodelt es darunter so stark, dass auch die Oberfläche in Bewegung gerät und Risse bekommt. Natürlich gibt es die Schönheit des Landes, auch in der beschreibenden Sprache (die freilich nicht so recht zur eigentlichen Erzählhaltung passt und mit ihren angedeuteten pseudo-umgangssprachlichen Wendunge („nich“, “glaub ich”) auch viele schwache Seiten hat und nerven kann). Aber genauso natürlich gibt es auch die Verletzungen, die die Menschen sich gegenseitig und der “natürlichen” Umwelt gleichermaßen zufügen.
Die Absicht von Niemand ist bei den Kälbern ist schnell klar (schon mit dem Umschlag, sonst spätestens auf der ersten Seite, wenn das Rehkitz beim Mähen getötet wird): Heimat, v.a. aber das Landleben entzaubern — denn es ist auch nur eine Reihe von Banalitäten und Einsamkeiten (auch & gerade zu zweit) und suche nach Liebe, Nähe, Emotionen. Die Natur bleibt von all dem unbeteiligt und eigentlich unberührt. Mich nerven aber so Hauptfiguren wie diese Christin, die — obwohl vielleicht nicht direkt defätistisch — alles (!) einfach so hinnehmen, ohne Gefühlsregung, ohne Gestaltungswillen, ja fast ohne Willen überhaupt, denen alles nur passiert, die alles mit sich geschehen lassen. Dass da dann kein erfüllter Lebensentwurf herauskommt, ist abzusehen. Mir war das unter anderem deshalb zu einseitig, zu eindimensional.
Manchmal glaub ich, jedes Flugzeug, das ich sehe, existiert überhaupt nur, um mich daran zu erinnern, dass ich einer der unbedeutendsten Menschen der Welt bin. Wieso sollte ich sonst in diesem Moment auf einem halb abgemähten Feld stehen? Nicht mal in einer Nazi-Hochburg, nicht mal an der Ostsee oder auf der Seenplatte, nicht mal auf dem Todesstreifen, sondern kurz davor, daneben, irgendwo zwischen alldem. Genau da, wo es eigentlich nichts gibt außer Gras und Lehmboden und ein paar Plätze, die gut genug sind, um da Windräder hinzustellen. 11
Laurent Binet: Die siebte Sprachfunktion. Reinbek: Rowohlt 2017. 524 Seiten. ISBN 9783498006761.
Das ist tatsächlich ein ziemlich lustiger Roman über Roland Barthes, die postmoderne Philosophie, Sprachwissenschaft und Psychologie in Frankreich, auch wenn der Text einige Längen hat. Vielleicht ist das aber wirklich nur für Leser lustig, die sich zumindest ein bisschen in der Geschichte der französischen Postmoderne, ihrem Personal und ihren Ideen (und deren Rezeption in den USA und Europa) auskennen. Und es ist auch ein etwas grotesker Humor, der so ziemlich alle Geistesheroen des 20. Jahrhunderts körperlich und seelisch beschädigt zurücklässt.
Ausgangspunkt der mehr als 500 Seiten, die aber schnell gelesen sind, ist der Tod des Strukturalisten und Semiotikers Roland Barthes, der im Februar 1980 bei einen Unfall überfahren wurde. Für die Ermittlungen, die schnell einerseits in das philosophisch geprägte Milieu der Postmoderne führen, andererseits voller Absurditäten und grotesker Geschehnisse sind, verpflichtet der etwas hemdsärmelige Kommissar einen Doktorand, der sich in diesem Gebiet gut auszukennen scheint. Ihre Ermittlungen führt das Duo dann in fünf Stationen von Paris über Bologna nach Ithaca/USA und zurück zu Umberto Eco (der einzige, der einigermaßen unversehrt davonkommt), womit die Reise, die Ermittlung und der Text das Netzwerk europäischen Denkens (mit seinen amerikanischen Satelliten der Ostküste) in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts nachzeichnen. Das ist so etwas wie ein Pop-Philosophie-Thriller, der für mich doch recht zügig seinen Reiz verlor, weil das als Romantext eher banal und konventionell bleibt. Interessant sind höchstens die Metaebenen der Erzählung (die es reichlich gibt) und die Anachronismen (die auch gerne und mit Absicht verwendet werden), zumal die Theorie und ihr Personal immer mehr aus dem Blick geraten
Die im Titel verhießene siebte Sprachfunktion bleibt natürlich Leerstelle und wird nur in Andeutungen — als unwiderstehliche, politisch nutzbare Überzeugungskraft der Rede — konturiert. Dafür gibt es genügend andere Stationen, bei denen Binet sein Wissen der europäischen und amerikanischen Postmoderne großzügig ausbreiten kann.
Während er rückwärtsgeht, überlegt Simon: Angenommen, er wäre wirklich eine Romangestalt (eine Annahme, die weitere Nahrung erhält durch das Setting, die Masken, die mächtigen malerischen Gegenstände: in einem Roman, der sich nicht zu gut dafür wäre, alle Klischees zu bedienen, denkt er), welcher Gefahr wäre er im Ernst ausgesetzt? Ein Roman ist kein Traum: In einem Roman kann man umkommen. Hinwiederum kommt normalerweise die Hauptfigur nicht ums Leben, außer vielleicht gegen Ende der Handlung. / Aber wenn es das Ende der Handlung wäre, wie würde er das erfahren? Wie erfährt man, wann man auf der letzten Seite angekommen ist? / Und wenn er gar nicht die Hauptfigur wäre? Hält sich nicht jeder für den Helden seiner eigenen Existenz? 420
Dieter Grimm: “Ich bin ein Freund der Verfassung”. Wissenschaftsbiographisches Interview von Oliver Lepsius, Christian Waldhoff(span> und Matthias Roßbach mit Dieter Grimm. Tübingen: Mohr Siebeck 2017. 325 Seiten. ISBN 9783161554490.
Ein feines, kleines Büchlein. Mit “Interview” ist es viel zu prosaisch umschrieben, denn einerseits ist das ein vernünftiges Gespräch, andererseits aber auch so etwas wie ein Auskunftsbuch: Dieter Grimm gibt Auskunft über sich, sein Leben und sein Werk. Dabei lernt man auch als Nicht-Jurist eine Menge — zumindest ging es mir so: Viel spannendes zur Entwicklung von recht und Verfassung konnte ich hier lesen — spannend vor allem durch das Interesse Grimms an Nachbardisziplinen des Rechts, insbesondere der Soziologie. Deshalb tauchen dann auch ein paar nette Luhmann-Anekdoten auf. Außerdem gewinnt man als Leser auch ein bisschen Einblick in Verfahren, Organisation und Beratung am Bundesverfassungsgericht, an dem Grimm für 12 Jahre als Richter tätig war. Schön ist schon die nüchterne Schilderung der der nüchternen Wahl zum Richter — ein politischer Auswahlprozess, den Grimm für “erfreulich unprofessionell” (126) hält. Natürlich gewinnt das Buch nicht nur durch Grimms Einblick in grundlegende Wesensmerkmale des Rechts und der Jurisprudenz, sondern auch durch seine durchaus spannende Biographie mit ihren vielen Stationen — von Kassel über Frankfurt und Freiburg nach Paris und Harvard wieder zurück nach Frankfurt und Bielefeld, dann natürlich Karlsruhe und zum Schluss noch Berlin — also quasi die gesamte Geschichte der Bundesrepublik Deutschland — Grimm ist 1937 geboren — in einem Leben kondensiert.
Das Buch hat immerhin auch seine Seltsamkeiten — in einem solchen Text in zwei Stichwörtern in der Fußnote zu erklären, wer Konrad Adenauer war, hat schon seine komische Seite. Bei so manch anderem Namen war ich aber froh über zumindest die grobe Aufklärung, um wen es sich handelt. Die andere Seltsamkeit betrifft den Satz. Dabei hat jemand nämlich geschlampt, es kommen immer wieder Passagen vor, die ein Schriftgrad kleiner gesetzt wurden, ohne dass das inhaltlich motiviert zu sein scheint — offensichtlich ein unschöner Fehler, der bei einem renommierten und traditionsreichen Verlag wie Mohr Siebeck ziemlich peinlich ist.
Adorno verstand ich nicht. Streckenweise unterhielt ich mich einfach damit zu prüfen, ober er seine Schachtelsätze korrekt zu Ende brachte. Er tat es. 41
Constantijn Huygens: Euphrasia. Augentrost. Übersetzt und herausgegeben von Ard Posthuma. Leipzig: Reinecke & Voß 2016. [ohne Seitenzählung]. ISBN 9783942901222.
Zu diesem schönen, wenn auch recht kurzen Vergnügen habe ich vor einiger Zeit schon etwas gesondert geschrieben: klick.
außerdem gelesen:
Dirk von Petersdorff: In der Bar zum Krokodil. Lieder und Songs als Gedichte. Göttingen: Wallstein 2017 (Kleine Schriften zur literarischen Ästhetik und Hermeneutik, 9). 113 Seiten. ISBN 978–3‑8353–3022‑1.
Hans-Rudolf Vaget: “Wehvolles Erbe”. Richard Wagner in Deutschland. Hitler, Knappertsbusch, Mann. Frankfurt am Main: Fischer 2017. 560 Seiten. ISBN 9783103972443.
Die ungewollte Patientin | taz → die taz zeigt in einer eindrücklichen reportage, wie schwierig abtreibungen auch im angeblich so liberalen deutschland in manchen gegenden sind und wie sich die lage für die frauen eher verschlechtert
House of Jazz: Der Leuchtturm und sein Wärter| Tagesspiegel → guter überblick über die diskussion um till brönners berliner “house of jazz”, der beiden seiten — der eher kuschelig-wohlfühl-traditionalistischen von brönner und der eher fortschrittlich-avantgardistisch orientieren der berliner szene — raum und verständnis gibt
Vernetztes Radeln, oder Smart ist doof | … ach, nichts. → bringt meinen standpunkt zum ziemlich zwanghaften “vernetzen” des fahrrads ziemlich gut auf den punkt: das wesentlich — die (unbeschwerte) einfachheit — geht dadurch verloren, der gewinn ist (bislang zumindest) eher marginal …
Revolution in Sicht | Zeit → die “zeit” berichtet von einem vorsichtigen umdenken in teilen der konventionellen landwirtschaft, der dlg, was fruchtfolge, chemieeinsatz und nachhaltigkeit sowie artenschutz angeht.
enn man irgendetwas aus den Debatten über realistisches Erzählen der letzten Jahrzehnte mitgenommen hätte, müsste man eigentlich misstrauisch werden angesichts einer solchen Scheinwirklichkeitsprosa, die so tut, also könne man einfach „erzählen, wie es gewesen ist“ — und das gilt eben nicht nur für Knausgård, sondern allgemein. […] Es wirkt — nicht nur aus einer historisch-kritischen Haltung heraus, sondern auch für das persönliche Empfinden von literarischen Texten — befremdlich, wenn nun hinter all die ästhetischen Überlegungen zum realistischen Erzählen, vor allem aber hinter die Werke, die aus ihnen heraus entstanden sind, wieder zurückgegangen werden soll und man so tut, als gäbe es irgendein unschuldiges, authentisch-nichtfiktionales Erzählen.
Gemeinnützigkeit als Türöffner | BildungsRadar → der “bildungsradar” versucht herauszubekommen, wie das ganze projekt “calliope” funktioniert bzw. funktionieren soll — und stößt auf viele mauern und einige seltsame mauscheleien …
Gegen ein Bündnis aus mehr oder weniger authentisch Rechtsextremen, Neo-Nationalisten und Exzeptionalisten, fundamentalistischen Markt-Anarchisten, mafiös vernetzten Kleptokraten und einem Mittelstand in realer und manipulierter Abstiegsangst kann eine demokratische Zivilgesellschaft nur bestehen, wenn sie neue Ideen und neuen Zusammenhalt findet. Der Zusammenschluss der postdemokratischen Kräfte hingegen findet seine Schubkraft dagegen vor allem im Opportunismus und in der politischen und medialen Korruption. […] Schon jetzt gibt es irreversible Folgen des Trumpismus, eben jene Vermischung von politischem Amt und ökonomischen Interessen, die einst den Berlusconismus prägte, den Wandel der politischen Sprache, eine Spaltung der Gesellschaft, die über alle gewöhnlichen “politischen Meinungsverschiedenheiten” hinaus geht, eine Patronage, Clanwirtschaft, Abhängigkeitsnetze: Wir sehen einem Machtsystem bei der Entstehung zu, das viel tiefer geht als die Besetzung eines Amtes. Und wie bei Berlusconi lässt sich nach dem Ende der Amtszeit nur ein Teil davon demokratisch rückgewinnen.
Beobachtend und erklärend geht es in Wir sind die Stadt! um den neuen Umgang mit der Stadt und ihren Räumen, um eine Art Re-Urbanisierung in der digitalen Moderne. Das ist ein bewusstes Lob der Stadt der Vielfalt, der vielfältigen (wechselnden, spontanen, instabilen) Koalitionen, die aber auch über sich selbst, über die Stadt hinaus reichen, denn: “In der Stadt gedeiht, wenn es gut geht, der Sinn für Staatlichkeit.” (149). Rauterberg hat, das gibt er auch zu, vor allem die neuen positiven Seiten der Stadt im Blick — die Möglichkeiten, die die digitale Moderne (also vor allem die Vernetzung im Netz und die Kommunikation mit Smartphones etc.) für eine Art Wiederbelebung städtischer Räume eröffnet. Er sieht und beschreibt eher die positiven Seiten der Veränderung der Stadt und des Lebens in der Stadt durch die digitale Moderne, ohne den Schatten aber ganz auszublenden. Sein Begriff der “Stadterquicker” (56) bringt es vielleicht am besten auf den Punkt: Er beobachtet eine neue Aneignung der Stadt, der urbanen Räume individuell im Kollektiv: “Die Stadt wird zum Raum für ein Ich, das sich ohne Wir nicht denken möchte.” (75) Und genau das geschieht nicht (mehr) vorwiegend planerisch gesteuert und auch nicht in erster Linie (wenn überhaupt) in institutionalisierten Formen (wie etwa Vereinen), sondern wesentlich fluider, schneller, spontaner, aber auch kurzlebiger. Die Offenheit des Raumes der Stadt und der Stadt ist dafür Voraussetzung und wird durch diese permanente Umwidmung, Aneignung, Inanspruch- und Inbesitznahme aber auch überhaupt erst konstituiert. Deshalb sieht Rauterberg in den aktuellen Tendenzen und Möglichkeiten eine neue, aktive und positive Chance für Urbanität: “Eine Stadt ist Stadt, wenn sie mit sich selber uneins bleibt.” (129)
Bei dieser Art der Raumergreifung handelt es sich um weit mehr als eine Modeerscheinung oder das Freizeitvergnügen einiger Jungerwachsener der Mittelschicht. Es gäbe keine Wiederbelebung des öffentlichen Raums, würde sie nicht von einem breiten gesellschaftlichen Wandel der Idealbilder und Leitvorstellungen getragen. Wie weit dieser Wandel reicht, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass auch viele Stadtplaner ihr Verhältnis zum Raum neu bestimmen, auf eine Weise, die abermals an manche der Künstler und Architekten denken lässt. Das Prinzip der Offenheit und freien Aneignung, unvorhersehbar und ungehindert von äußeren Zwängen, ist mancherorts sogar zum neuen Leitbild der Planung avanciert. (37) Die Stadt ist nicht länger Zone, sie darf wieder Raum sein, undefiniert. (39)
Saša Stanišić: Vor dem Fest. RM Buch und Medien 2014. 316 Seiten.
Jetzt habe ich endlich auch mal ein Buch von Saša Stanišić. Vor dem Fest ist ein ganz interessanter und schöner Roman über Fürstenfelde, die Uckermarck, Deutschland und auch ein bisschen über die Welt. In kleinen, leicht auch zwischendurch und mit jederzeitigen Unterbrechungen konsumierbaren Häppchen-Kapiteln erzählt Stanišić ein Dorf und seine Bewohner in der ostdeutschen Provinz. Äußerer Anlass ist die Nacht vor dem großen Anna-Fest, in der die meisten noch eine oder andere Vorbereitungen für den nächsten Tag treffen. Zugleich weist der Text mit Quellenabschnitten weit in die Dorfgeschichte bis zum 16. Jahrhundert zurück — wobei ich mir nicht sicher bin, ob das ernst gemeint ist: Die Sprache dieser (Pseudo-)Quellen scheint mir zu oft nicht ganz zeitgemäß, immer ein bisschen daneben, so dass ich das eigentlich als Fälschungen aus der Hand der “Archivarin” lese — dazu passt ja auch das große geheimnisvolle Getue, das um die Dorfchronik gemacht wird. Und dass es sie nicht geben kann, weil sie eigentlich dem Dorfbrand von 1742 zum Opfer gefallen ist. Egal: Das ist alles recht unterhaltsam und durchaus erhellend in seinen vielen Perspektiven, Stilen und Zeitebenen. Auch wenn ich manchmal den Eindruck hatte, die Idee — mit der Nacht vor dem “Fest” das Dorf, seine Gemeinschaft, seine Geschichte und auch noch die Weltzusammenhänge darzustellen — wird etwas überreizt. Unklar blieb mir zum Beispiel die Notwendigkeit, das auch noch auf die Tierwelt auszudehnen …
Sehr gut gefallen hat mir aber der spielerische Umgang des Erzählers mit seinem Text: Zum einen produziert das Fabulieren hier selbst Fragen an den eigenen Text, die auch Teil des Textes werden und bleiben. Zum anderen ist da dieses inklusives “Wir” des Erzählers als dem Vertreter der Dorfbevölkerung, das also den Erzähler zu einem Teil seiner Geschichte macht und zumindest behauptet, dass hier nicht von einer Außenposition erzählt wird (auch wenn es einige wenige Hinweise auf eine Differenz gibt …). Aber, das ist interessant, dieses “wir” gilt nicht nur der derzeitigen Dorfgemeinschaft, sondern der aller Zeiten. Überhaupt ist Vor dem Fest mit seiner erzählerischen Lust und Begeisterung ein etwas kapriziöser Text, der sich selbst nicht übermäßig ernst nimmt, sondern Spaß am eigenen Erzählen und Erfinden hat und auch gerne das eigene Erzählen einfach miterzählt.
Der Fährmann hat einmal erzählt, es gebe im Dorf jemanden, der mehr Erinnerungen von anderen Leuten besitze als Erinnerungen, die seine eigenen sind. Das Dorf hat sofort geglaubt, er meint Ditzsche. Könnten aber andere gemeint gewesen sein, meinen wir. (233)
Olga Martynova: Mörikes Schlüsselbein. Graz, Wien: Droschl 2013. 320 Seiten. ISBN 9783854208419.
Mörikes Schlüsselbein ist so etwas sieein Wundertüten-Text: Der ganze Roman quillt über. Das fängt schon “vor” dem Roman an, mit der Überfülle an Paratexten, vor allem den extrem vielen Motti auf verschiedenen Ebenen des Textes, die oft auch noch nicht allein, sondern gleich zu mehreren auftreten. Und es geht im Text weiter, mit seiner etwas hypertrophen Fülle an Stilmitteln und auch an Themen. Insgesamt präsentierte Mörikes Schlüsselbein sich mir als ein ziemlich umher irrender Roman. Ich hatte immer wieder den Eindruck, der Text sucht seine/eine Stimme, da wird ausprobiert und verworfen, dass es eine Freude ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass sich Martynovas Erzählerin sehr von ihren Figuren (und davon gibt es eine ganze Menge) und ihrem Eigenleben treiben lässt — so war zumindest mein Eindruck.
Auf jeden Fall ist das virtuos erzählt — aber was wird eigentlich erzählt und warum? Die Frage stellt sich schon früh beim Lesen, bis zum Ende habe ich keine richtige Antwort gefunden (auch in den Rezensionen übrigens nicht …). Das hängt natürlich damit zusammen, das Mörikes Schlüsselbein ein Episodennetz ohne Zentrum und ohne Rand ist, dessen Zusammenhänge teilweise bewusst unklar bleiben. Da fühlt man sich manchmal etwas verloren im Text — was, um es noch einmal zu sagen, nicht heißt, es wäre ein schlechter Text: vieles gefällt (mir), vieles ist gut, geschickt und sehr überlegt gemacht. Nur sehe ich kein Ziel außer dem Zeigen der Ziellosigkeit, dem Vorführen des Fehlens von (verbindlichen) Zielen und Zusammenhängen. Vielleicht habe ich auch schlecht gelesen, nämlich mit mehreren (ungeplanten) Unterbrechungen, die mich zu viel verlieren ließen?
So lese ich Mörikes Schlüsselbein als ein Spiel mit den Grenzen von Realitäten und Wahrscheinlichkeiten (die seltsamen Zeitreisen- bzw. Zeitvektoren-Episoden, die so irrlichternd in den Text hineingeschichtet sind, verdeutlichen das vielleicht am besten). Überhaupt spielt der Roman auf allen Ebenen, vom Zeichen (bzw. seiner typographischen Repräsentation, etwa mit unterschiedlichen Schwarzsättigungen …) bis zur Makroform (deren Struktur ich überhaupt nicht verstanden habe …). Und die Motti nicht zu vergessen, die auf verschiedenen Ebenen den Text sehr reichhaltig zieren. Und irgendwie, das macht Mörikes Schlüsselbein doch immer wieder interessant, gelingt es Martynova, damit (fast) das ganze 20. Jahrhundert zu erzählen, mit der Geschichte Deutschlands, dem Zweitem Weltkrieg, USA, UdSSR bzw. Russland und dem Kalten Krieg etc. pp. Und noch die abenteuerlichsten Kuriositäten werden von Martynova erzählt, als seien sie das normalste auf der Welt: Klar, das zeigt (wieder mal) den Verlust (allgemeingültiger) Maßstäbe: alles gilt (gleich viel) — aber war es das schon? Oder will der Text noch mehr? — Da bin ich ratlos. Ratlos übrigens auch beim Klappentext — ob der absichtlich so blödsinnig-nichtssagend ist? Eigentlich habe ich vom Droschl-Verlag eine bessere Meinung. Aber diesen Text als einen „Roman über Familie und Freundschaft: liebevoll, weiblich, scharfsichtig und humorvoll“ zu charakterisieren kann ja nicht wirklich ernst gemeint sein. Sicher, humorvoll ist der Text, das Lesen macht immer wieder große Freude. Aber was ist daran bitteschön weiblich?
Wenn man Wolkenkratzer mit Kathedralen vergleicht, meint man irrtümlicherweise in erster Linie ihre gesellschaftliche Bedeutung: Macht und Reichtum, die über das Leben der gemeinen Menschen emporragen. Aber sie haben eine architektonische Funktion: die Menschen dazu zu bringen, den Blick zum Himmel zu erheben. Dazu nützt irgendeine schöpferische Kraft die Macht, den Reichtum und die wandernden Bauleute, dachte Marina und hörte die Fetzen einer (oder mehrerer) osteuropäischer Sprache(n), bedrohliche Zartheit in den gedehnten Lauten. (165)
Dietmar Dath: Leider bin ich tot. Berlin: Suhrkamp 2016. 463 Seiten. ISBN 9783518466544.
Dietmar Daths Schaffen kann ich in seinen Verästelungen – ich kenne weder einen anderen Autor, der so vielfältige Themenfelder beackert noch bei so vielen unterschiedlichen Verlagen veröffentlicht – kaum noch nachvollziehen. Aber wenn ich dann ab und an wieder etwas aus seiner schwer beschäftigten Feder lese, ist es immer wieder überraschend und erquickend. Das gilt auch für Leider bin ich tot. Der Text hängt irgendwo zwischen Science-Fiction, Wissenschaftsthriller, politischem Roman, Krimi und was weiß ich noch alles. Genauso “wild” ist auch die erzählte Geschichte, die sich kaum vernünftig zusammenfassen lässt (und ohne wesentliche Plottwists zu verraten schon gar nicht …, ziemlich gut macht das Sonja Grebe auf satt.org). Es geht um höhere Intelligenzen, um Religionen und Götter, auch um Terror und Gewalt in allen möglichen Formen. Und ganz wesentlich auch um Zeit, um die Zeit — es zeigt sich nämlich, dass manche Figuren in Leider bin tot die Zeit aus ihrem Strahlendasein befreien können und eine Zeitschleife in Form eines Möbiusbandes schaffen. Das bringt nicht nur so einige neue Möglichkeiten, auch der Manipulation, ins Spiel, sondern sorgt auch für reichhaltige Verwirrungen und Irrlichtereien.
Außerdem steckt in Leider bin ich tot – und darin ist es ein typischer Dath-Roman – ganz viel Gegenwartsbeschreibung und ‑diagnose. Der Autor hat einen scharfen Blick, er sieht und erkennt unheimlich viel und kann es in seinen Roman – mal eleganter, mal etwas plumper – alles hineinpacken. Der Verlag behauptet im Klappentext zwar, das sei eine “Meditation”, aber das halte ich für Unsinn. Dafür ist das Buch schon viel zu actiongeladen. Sicher, es wird viel gedacht und viel über philosophische, theologische, erkenntnistheoretische Probleme geredet. Aber das ist nur eine Ebene des vielfältigen Textes. Die Vielfalt ist eh Dath-typisch. Genau wie das zunächst ganz realistisch erscheinende Erzählen, das sich dann nach und nach leicht verschiebt, immer verschrobener wird und immer etwas verrückter, grausamer und berechnender (im technischen Sinn). Und Bücher, die ihren Autor selbst so wunderbar unernst-selbstironisch auftreten lassen, sind sowieso meistens ein großes Vergnügen. Und das gilt für Leider bin ich tot auf jeden Fall.
»Krieger. Leute im Krieg. Die nur verkleidet sind als Künstler oder Intellektuelle. Nicht? Wir sind … wir müssen immer die Besten sein. Die Schönsten, die Unwiderstehlichsten. Wir sind Klugscheißer und Zauberer und Träumer. Wir sind Rechthaber, weil wir …« »Verletzte sind.« (63)
Noch ein erstaunlich spannender und interessanter Zufallsfund. Ich muss gestehen, dass mir Urs Jaeggi, der als Soziologe auch immer wieder belletristisch tätig war, bis dato unbekannt war. Das ist schade, denn Brandeis ist nicht nur ein faszinierender Zeitroman, sondern auch ein ausgesprochen guter Roman. Brandeis, die Hauptfigur und Erzählerstimme, aus deren personaler Perspektive alle drei Teile erzählt werden, ist sozusagen das alter ego des Autors: Soziologie, der zu Beginn noch in der Schweiz (in Bern) lehrt, dann an die neugegründete, noch zu bauende bzw. im Aufbau begriffene Universität in Bochum berufen wird, einige Zeit als Gastdozent in New York weilt und zum Schluss (“Berlin 1977”) in Berlin einen Soziologie-Lehrstuhl innehat — die äußeren Stationen entsprechen Jaeggis Karriere genau. Das aber nur nebenbei.
Interessant ist anderes. Brandeis ist ein politisch aktiver, empirisch arbeitender Soziologe, der sich aus einer dezidiert linken (marxistischen) Position auch und vor allem sehr intensiv mit seinen Studierenden und ihrem Blick auf die Welt und Gesellschaft auseinandersetzt. Das ermöglicht zum einen eine spannende Darstellung der Konflikte am Ende der 1960er Jahre an den Hochschulen (aber auch einen Blick auf die Differenz der dortigen Diskussionen und Situationen zu den Gegebenheiten der Arbeiterschaft, etwa bei den Bochumer Opel-Werken) über die Entwicklung zum linksradikalen Terrorismus und den Vietnamkrieg bzw. dem Kampf gegen den Krieb bis zu den amerikanischen Bewegungen Anfang der 1970er Jahre wie Black power und Feminismus. Und es gibt dem Autor einen sehr klugen, analytischen Erzähler, der bei seinem Blick auf die Welt auch die eigenen Position und deren theoretische Voraussetzungen immer wieder mitbe- und überdenkt. Äußerlich passiert dann gar nicht so sehr viel, es wird vor allem geredet und diskutiert, gestritten und demonstriert, analysiert und erklärt.
Der zweite, sehr interessante Punkt ist die Form von Brandeis. Die ist nämlich für die Entstehungszeit — der Roman ist immerhin schon 1978 erschienen — erstaunlich avanciert und auf der Höhe der Zeit. Und es zeigt sich auch, dass sich in den Jahrzehnten seither bei den zur Verfügung stehenden Mitteln für Prosatexte erstaunlich wenig getan hat. Brandeis ist genauso fragmentiert wie ein ordentlicher postmoderne Roman der Gegenwart, er nutzt viele Errungenschaften des modernen Romans, auch sein Erzähler spricht in zwei Perspektiven und reflektiert das auch gerne selbst:
Oh, ja. Ich weiß, Freund, hier geht es kreuz und quer: ich und er. Er Brandeis und ich Brandeis. Ich habe es sowieso probiert: »Ich« in die Gegenwart zu setzen, »Er« in die Vergangenheit. Ganz logisch. Logisch: und doch ging es dann gleich wieder durcheinander, obwohl ich weiß: Ordnung muß sein, wie bei den Fußnoten, was die Deutschen so gut können und die Franzosen nie lernen, nicht lernen wollen. Also gut. (97)
Überhaupt ist der ganze Roman erstaunlich selbstbewusst und reflektierend. Und Jaeggi gelingt es ausgesprochen gut, die Vielfalt der formalen Gestaltungselemente zu nutzen und recht harmonisch miteinander zu verbinden (auch wenn sich an einigen Stellen vielleicht manche Länge eingeschlichten hat).
Das so ein großartiger Text nicht zum Kanon deutschsprachiger Literatur gehört (selbst der Luchterhand-Verlag, bei dem seine Romane erschienen, kennt ihn nicht mehr …), ist eigentlich erstaunlich. Aber andererseits vielleicht auch symptomatisch: Längst nämlich scheint mir die Literatur zunehmend ihre eigene Geschichte (und damit auch ihre eigenen Voraussetzungen und (schon ganz banal handwerklichen) Errungenschaften) zu vergessen – es bleiben letztlich einfach nur ein paar wenige Texte und Autoren dauerhaft im kollektiven Gedächtnis. Stattdessen tut man – und das schließt sowohl die Produzentinnen als auch die Rezipienten (wie etwa die Literaturkritik) ein – gerne so, als würde jede Saison, spätestens aber jede Generation die Literatur neu erfunden. Die Lektüre von Texten wie dem Brandeis würde da mehr helfen als die “Wiederentdeckung” einst populärer Romane von von Fallada, Keun etc.
Die Geschichte tut nichts, sagt Brandeis, sie kämpft keine Kämpfe. Es ist der Mensch, der wirkliche, lebendige, Mensch, der alles tut, besitzt oder erkämpft. Es ist nicht die Geschichte, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre Zwecke durchzuarbeiten, als ob sie eine aparte Person wäre; die Geschichte ist nichts als die Tätigkeit der ihre Zwecke verfolgenden Menschen. (21)
außerdem gelesen:
Hans Jürgen von der Wense: documentaWanderungen. Herausgegeben & mit einem Nachwort von Harald Kimpel. Berlin: blauwerke 2015 (splitter 03). 74 Seiten.
Kann man einen Roman als Palindrom schreiben? Oder ein Palindrom als Roman schreiben und lesen? Titus Meyer versucht es zumindest. Andere DNA heißt das Ergebnis (natürlich selbst eines der vielen Palindrome in diesem Palindrom), das – wie schon sein Band mit Palindrom-Gedichten – bei Reinecke & Voß erschienen ist. Ich habe jetzt nicht kontrolliert, ob das wirklich ein Palindrom ist. 56 Seiten sind zwar für einen Roman erst einmal nicht viel Text, aber sehr, sehr, sehr viel, um ein Palindrom zu überblicken. Ich vertraue da also mal Autor und Verlag …
Gegliedert ist Andere DNA als lose Folge von kurzen Abschnitten (meist 1–2 Seiten, manchmal auch mehr) mit so schönen Titeln wie „Sinnetennis“, „Banale Magd“ oder „Einsiedelei“, aber auch eher generisch („Tod“, „Zeit“, „Moral“ zum Beispiel). Hier gibt es tatsächlich so etwas wie thematische Zusammenhänge der wilden syntaktischen Konstruktionen Meyers. Als ganzes konnte ich dem Buch aber weder einen kohärenten Inhalt noch ein wirkliches Thema entnehmen. Darum geht es wohl auch gar nicht. Denn mit Erzählen hat das hier natürlich nichts zu tun. Es ist ja schon die Frage, ob man so etwas überhaupt Schreiben nennen kann. Und wer schreibt dann hier? Der Autor oder die Regel?
Aber wahrnehmen lässt sich trotzdem etwas. Die Sprache selbst, aber auch die bereits erwähnten Sinnzusammenhänge oder Sinnkonstrukte, die lassen sich also beobachten. Aber meist nur granular: Ein paar Sätze, viel mehr sind das selten („Einsiedelei“ ist so ein Fall, wo das auch mal über längere Strecke gelingt) – dann stolpert der Text wieder, der Sinn löst sich in alle Richtungen auf. Ich konnte das nur in kleineren Dosen lesen, nach ein paar wenigen Sätzen schon fängt der Kopf an zu schwirren.
Es gibt dabei durchaus schöne Stellen, wo auf einmal neue, gewagte, schöne Formulierungen aufblitzen. Auf irgendwelche Zusammenhänge darf man aber wirklich nicht zu sehr hoffen. Vor allem aber stellte sich mir immer wieder die Frage: Kann man das lesen? Und: Wie liest man so etwas eigentlich? Klassisches hermeneutisches Lesen funktioniert jedenfalls überhaupt nicht, das wird ganz schnell klar. Ich habe mich dann oft beim Lesen quasi selbst beobachtet und gemerkt, wie man aus kleinsten Hinweisen Zusammenhänge, ja sogar „Geschichten“ konstruieren will. Bis man – oder eben der Text – sich wieder bremst und sich irgendwann einfach der Sprache ausliefert, auch wenn das trocken und wüst scheint.
Und natürlich hat Andere DNA auch Momente einer Leistungsschau nach dem Motto: Seht her, auch das kann „Sprache“, das kann Literatur (und so etwas vertracktes bekomme ich als Autor hin …): Die Technologizität der Sprache pur sozusagen als literarischen Text verkörpern und aufzeigen. Ob das aber mehr ist? Ich bin mir nicht so sicher. Etwas anderes ist es auf jeden Fall. Und dann schwingt natürlich auch noch ein gewisses kompetitives Moment – ein so langes Palindrom gab es noch nie! – immer etwas mit. Insgesamt aber habe ich das dann doch eher als proof of concept denn als mögliche (Weiter)Entwicklung einer zeitgemäßen, zeitgenössischen Literatur gelesen. Aber vielleicht habe ich dabei auch zu sehr von der Oberfläche ablenken lassen, wer weiß …
Titus Meyer: Andere DNA. Leipzig: Reinecke & Voß 2016. 56 Seiten. ISBN 9783942901208.
Ein unfertiger Rohbau irgendwo in der deutschen Provinz, die Musterfamilie — Vater, Mutter, zwei Kinder — wohnt provisorisch in Containern auf dem Grundstück. Das Setting von Daniela Danz Roman Lange Fluchten klingt ziemlich einfach und banal. Und doch ist an dem kurzen Text — gerade einmal 146 Seiten, das ist heute nicht viel für einen Roman — nichts banal. Und nichts ist einfach, weder für den Leser noch für die Figuren des Textes.
Gut, das ist kein übermäßig schwieriger Text, so scheint es zunächst. Aber entwickelt doch seine Widerständigkeiten. Denn worum geht es eigentlich? Cons (eine etwas seltsame Kurzform für Constantin, in der das „Dagegen“ offenbar wird) ist ein ehemaliger Berufssoldat mit Frau und Kindern und Geliebter und einem todkranken Freund. Er lebt nach einem „Vorfall“ in seiner Zeit als Zeitsoldat in diesem provisorisch eingerichteten Leben, das seines nicht so ganz zu sein scheint. Er lebt in merkwürdiger Nähe und Trennung von Frau und Familie, er verschwindet für Tage, geht auf die Jagd, fährt ziellos herum, bringt nach zwei Tagen die versprochene Milch nach Hause — und scheint generell recht wenig auf die Reihe zu bekommen. Irgendwie hängt das mit dem nicht näher erläuterten, nur nach und nach in Schemen erkennbaren Vorfall bei einem Gefechtsmanöver zusammen, dass Constantin offenbar psychisch geschädigt hat — die Frage einer Entschädigung steht im Raum, verlangt aber mehr Aktivität, als er aufbringen kann — und ihn in diesem persepktiv- und ziellosen Leben zurücklässt.
Die Jagd bleibt da als einziger Rest von Aktivität — nicht zufällig ist das ein dem Militär ähnliche Zeitvertreib (und nicht zufällig sind die betreffenden Passagen dann auch vorsichtig fachsprachlich getönt). Aber für Constantin geht es dabei wohl auch um den Moment der totalen Kontrolle, des (mehr oder weniger willkürlichen) Entscheidens über Leben und Tod einer anderen Kreatur — woran er selbst tragischerweise wiederum scheitert. Eine gewissermaßen ähnliche Ebene bringt der Selbstmord seines einzigen Freundes, Henning, in die Handlung. Der kann nur gelingen, weil Cons mit einer Bohrmaschine (um das Seil zum Erhängen zu befestigen) aushilft — wie unbewusst und ungewusst das wirklich war, ist nicht so ganz deutlich.
Lange Fluchten ist bei all dem immer fast quälend nahe an der Hauptfigur. Der Text im permanenten Präsens ist ein sehr gelungenes Abbild der Leere, der Ziellosigkeit von Cons: Alles bleibt ohne Antrieb, aber irgendwie auch ohne Grund:
Was soll man auch aufschreiben, was ist für einen anderen am eigenen Leben interessant? Was geht es irgendjemanden an? (81)
Dabei hat der Roman eine quasi-natürliche, harmonische Form, zum Beispiel quasi sich selbst ergebende Kapitelzusammenhänge. Überhaupt ist der ganze Text ein sehr behutsamer Text: nie verräterisch, aber auch nie „verständnisvoll“, ein vorgegebenes Verstehen erheischend. Daniela Danz gelingt nämlich eine eindrückliche Mischung aus zwingenden Schilderungen und geheimnisvoller Komposition: Vieles bleibt — ganz natürlich in der Erzählung — ohne Grund, ohne Erklärung oder Demonstration von Kausalitäten.
Erst kurz vor dem Ende geschieht etwas im und vor allem mit dem Text. Auf der inhaltlichen Ebene wird das doppelt vorbereitet: Cons kommt über Zufälle zu einem Art Militaristentreffen und hat dort, im Waldgewitter und der Konfrontation mit einem Hirsch, eine Art Epiphanie. Dem schließt sich dann ein spontaner Familienurlaub am Meer an. Und nach der Rückkehr von einer Schiffsrundfahrt auf der „Alten Liebe“ bricht der Text dann, zunächst mit dem Verschwinden der Ehefrau Anna (später folgen die beiden Kinder ins Nichts): Das Erzähltempus wechselt ins Imperfekt, die Oberfläche wird ebenfalls als different markiert durch die kursive Type — beides bis zum bald folgenden Schluss durchgehalten.
Und das macht aus Lange Fluchten eigentlich noch einmal einen neuen, einen anderen Text. Der Wirklichkeitsstatus von Text und berichtetem Geschehen wird nun endgültig fraglich und unsicher. Unklar wird auch die Gattungszuordnung: Ist das jetzt ein Roman? Oder — darauf weist der Schlussteil hin — eine Legende? Auch das bleibt am Ende dunkel, eine Auflösung bietet der Text selbst nicht mehr. Die Versuchsanordnung wird der Leserin einfach präsentiert, ohne Erklärung.
Es bleibt einfach ein ziemlich radikaler Bruch ins Mythische, Irreale — aber was bedeutet das? Man kann dann den Text als Legende lesen, d.h. als exemplarischen Text. Dann wäre der Schlussteil sozusagen eine Art Kommentar zum Text im Text selbst, eine Rezeptionssteuerung — damit der „Haupttext“ nicht (bloß) als Schildeurng eines individuellen Schicksals gelesen werden kann, wird das und sein Text am Schluss transformiert (im Sinne von „aufgehoben“). Immerhin beginnt das im Kapitel XXVI mit dem bezeichnenden Satz:
Lass mich noch einmal erzählen. Jetzt ist alles ganz klar und voller Zusammenhänge.(137)
Was dann folgt, ist zwar überhaupt nicht klar, aber: Erst jetzt, mit diesem Satz, beginnt das Erzählen … (und ist damit aber auch schon wieder am Ende angelangt).
Diese Rätselhaftigkeit — ohne Auflösung — ist die große Stärke des Textes. Auch die Deutung als Legende hilft ja nur wenig — denn was heißt das denn nun für den Text und seine Figuren, wenn er kein Roman, sondern eine Legende ist? Dass Constantin ein Heiliger ist? Aber warum und wofür? Fragen bleiben nach dem Lesen, aber auch die offene Faszination des Buches, das man zwar beiseite legen kann, aber nicht so einfach beendigen. Je länger ich drüber nachdenke, desto faszinierender werden die Langen Fluchten …
Er geht auf das Haus zu, ein Verwaltungsmonster aus Backstein und Glas. Männer in Anzügen, Leistungsträger, gehen schnell an ihm vorbei, begegnen anderen Männern, Frauen, man grüßt. Mahlzeit ist das Passwort, mit dem man dazugehört. Er merkt, wie sein Gang sich von dem der anderen unterscheidet. Er versucht, ihrem Gehen, so nennt er es abschätzig, seinen Gang entgegenzusetzen, seinen stolzen Gang, aber es gelingt ihm nicht. Die gläserne Eingangstür öffnet sich, nirgends ein Widerstand. Nein, er fragt nicht den Pförtner, er sucht den Raum mit der Nummer 423 selbst. ‚Alexander Steger‘ steht auf dem Schild neben der Tür. drei leere Stühle davor. Er setzt sich. Er hat einmal gelernt, eine Strategie zu entwickeln, ‚Führen mit Auftrag‘, er muss das Heft in die Hand kriegen jetzt. Er sitzt hier, weil Anne gesagt hat, er solle hingehen zu dem Termin. (37)
Daniela Danz: Lange Fluchten. Göttingen: Wallstein 2016. 146 Seiten. ISBN 9783835318410.