Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: roman Seite 2 von 6

Aus-Lese #44

Nora Bossong: 36,9°. Ber­lin, Mün­chen: Han­ser 2015. 318 Sei­ten.

bossong, 36,9°Das ist in mei­nen Augen ein sehr schwa­cher Roman, der mich sehr ent­täuscht hat. Schon Gesell­schaft mit beschränk­ter Haf­tung hat mich zwar auch nicht groß­ar­tig begeis­tert, war aber doch deut­lich bes­ser, was etwa die Kon­struk­ti­on und die sti­lis­ti­sche Aus­ar­bei­tung angeht – bei­de Roma­ne bestär­ken eigent­lich nur mei­nen Wunsch, von Bossong (wie­der) mehr Lyrik zu lesen …

Der Text von 36,9° wirkt merk­wür­dig müde und erschöpft. Viel­leicht ist das ja eine beab­sich­tig­te Par­al­le­le von Inhalt und Form (schließ­lich geht es um das auf­zeh­ren­de, schwie­ri­ge, har­te Leben des Anto­nio Gramcsi), aber mich hat das trotz­dem aus Grün­den, die ich nicht so genau benen­nen kann, eher abge­sto­ßen. Erzählt wird in zwei Per­spek­ti­ven in zwei (gro­ben) Zeit­ebe­nen das Leben Gramcsis und eine Art For­schungs­auf­ent­halt des Gramcsi-Spe­zia­lis­ten Anton Stö­ver, der in Rom nach einem ver­schol­le­nen Manu­skript sucht. Wie­so es die­se Dop­pe­lung von Erzäh­ler und Zei­ten eigent­lich gibt, ist mir nicht so ganz klar gewor­den – nur um die Über­zeit­lich­keit zu beto­nen? Um nicht in den Ver­dacht zu gera­ten, eine Gramcsi-Bio­gra­phie zu schrei­ben? Und wozu ist dann der Man­skript-Kri­mi (der ja als sol­cher über­haupt nicht funk­tio­niert, weil er nicht rich­tig erzählt wird, son­dern nur als Hilfs­mit­tel dient und ab und an her­vor­ge­holt wird …) gut? Oder sol­len die Zeit­ebe­nen nur signa­li­sie­ren, dass dies kein „nor­ma­ler“ his­to­ri­scher Roman ist? (Der in den Gramsci-Kapi­teln als sol­cher auch eher schlecht funk­tio­niert, aber das ja wie­der­um auch gar nicht sein will …)

Zur Poli­tik bleibt der Text dabei merk­wür­dig distan­ziert, die Lei­den­schaft etwa Gramcsi (im wahrs­ten Sin­ne, näm­lich mit all den Lei­den) wird vor allem behaup­tet, aber nicht eigent­lich erzählt. Und das pri­va­te fühlt sich oft auf­dring­lich, etwas schmie­rig an (wie Bou­le­vard­jour­na­lis­mus). Das erschien mir oft als eine Art unge­woll­te Nähe, ein inti­mes Sto­chern, von deren Not­wen­dig­keit die Erzäh­ler selbst nicht so ganz über­zeugt schie­nen. Zumal Stö­ver ist ja auch ein aus­ge­spro­che­ner Unsym­path – und auch Gramcsi bleibt eine selt­sa­me Figur. Bei­de Cha­rak­te­re sind dabei selt­sam rück­sichts­los gegen sich selbst und ihr pri­va­tes Umfeld. Und gera­de das, was ja der Kern des Romans zu sein scheint, bleibt extrem blass, kaum moti­viert – weil die Ideen, die die­se Rück­sichts­lo­sig­keit erfor­dern, höchs­tens ange­ris­sen wer­den.

Wenn die Ver­lags­wer­bung das Ziel des Buches rich­tig beschreibt: „Nora Bossong erzählt vom Kon­flikt zwi­schen den gro­ßen Gefüh­len und dem Kampf für die gan­ze Mensch­heit“, dann funk­tio­niert 36,9° über­haupt nicht. Und das liegt unter ande­rem eben dar­an, dass der „Kampf für die gan­ze Mensch­heit“, die Welt­ver­bes­se­rung eigent­lich gar nicht vor­kommt, der Text bleibt viel zu sehr im indi­vi­du­el­len, bio­gra­phi­schen Klein-klein ste­cken. Dazu kommt dann noch eine für mich unkla­re Struk­tur – die Rei­hen­fol­ge der Kapi­tel mit den Vor- und Rück­blen­den sowie die Erzäh­ler­wech­sel erschlie­ßen sich mir ein­fach nicht. Ab und an fun­kelt mal ein schö­ner Satz, ein gelun­ge­ner Abschnitt. Aber der Rest ist ein grau zer­flie­ßend Text­brei, der mich weder fas­zi­nie­ren noch über­zeu­gen kann.

[…] ich woll­te die Din­ger nicht mehr bis zum Grund durch­schau­en, denn was lag dort? Nur Stei­ne und Kie­sel, nur Fuß­no­ten und Quel­len­an­ga­ben. (25)
Ulf Stol­ter­foht: Wur­lit­zer Juke­box Lyric FL – über Musik, Eupho­rie und schwie­ri­ge Gedich­te. Mün­chen: Stif­tung Lyrik Kabi­nett 2015. 32 Sei­ten.

stolterfoht, wurlitzer jukebox lyric flDer Titel der Münch­ner Rede zur Poe­sie von Ulf Stol­ter­foht, dem Autor so vor­züg­li­cher Zyklen wie den Fach­spra­chen und jetzt Ver­le­ger der Brue­te­rich-Press (der selbst viel zu wenig ver­öf­fent­licht …) sagt eigent­lich schon alles: „Über Musik, Eupho­rie und schwie­ri­ge Gedich­te“ spricht er. Stol­ter­foht, der sich als „Exper­te für Eupho­rie“ (7) vor­stellt und „Ahnung“ von „der“ Lyrik erst ein­mal kate­go­risch ver­neint, führt anhand einer rei­he Gedich­te exem­pla­risch vor, was Lyrik ist und kann, was Spra­che im Gedicht aus­macht und natür­lich auch, was „schwie­ri­ge Lyrik“ (heut­zu­ta­ge ja fast ein Pejo­ra­ti­vum) eigent­lich ist. Und er betont, dass das „Nicht-ver­ste­hen-müs­sen“ die­ser Gedich­te eine groß­ar­ti­ge Erfah­rung ist – für Leser und Schrei­ber. Für bei­de Sei­ten ist das eine Befrei­ung, die einen uner­schöpf­li­chen Rei­gen an Mög­lich­kei­ten eröff­net.

Neben­bei weist er dar­auf hin, dass das – heu­te viel­leicht mehr als je zuvor vor­han­de­ne – Wis­sen und Kön­nen im Umgang mit Spra­che und Gedich­ten noch lan­ge kei­ne Expe­ri­men­tier­freu­dig­keit ist. Stol­ter­foht bedau­ert aus­drück­lich, dass „die Bereit­schaft stark abge­nom­men hat, ein höhe­res ästhe­ti­sches Risi­ko ein­zu­ge­hen“ (29). Auch wenn er dann das Gelin­gen eines Gedich­tes eher tra­di­tio­nell als „Regel“-Erfüllung beschreibt, oder bes­ser als: „dass ein zuvor gefass­ter Plan, sei er for­ma­ler und /​oder inhalt­li­cher Art, glück­haft erfüllt wur­de“ (29), soll­te für Stol­ter­foht, das macht er unter ande­rem mit mehr­fa­chen Bezü­gen auf Died­rich Diede­rich­sen deut­lich, aber zumin­dest ergänzt wer­den um so etwas wie Authen­ti­zi­tät, einen Moment des Kai­ros viel­leicht. Trotz des deut­lich beton­ten Empha­ti­ker-Stand­punk­tes (Lyrik kann alles und ermög­licht Leben erst!) steht dahin­ter aber genau­es­te Lek­tü­re und Ana­ly­se frem­der und eige­ner Gedich­te, ohne die Eupho­rie des erken­nen­den (und iden­ti­fi­zie­ren­den) Lesens dadurch zu ver­nei­nen oder aus­zu­schal­ten, son­dern gera­de­zu zu ver­stär­ken.

Und wie konn­te es sein, dass ich kein Wort, kei­nen Satz ver­stand, und doch genau wuss­te, dass ich genau das immer hat­te lesen wol­len, und dass ich es jetzt gefun­den hat­te, und dass ich nie mehr etwas ande­res wür­de lesen wol­len. Das Gefühl, eine Mau­er durch­bro­chen zu haben, ein­fach so, ganz leicht, ohne jede Anstren­gung, und hin­ter die­ser Mau­er tat sich etwas auf, ein Raum, ein wirk­li­cher Raum, in dem man wür­de leben kön­nen. (11)

Franz Richard Beh­rens: Erschos­se­nes Licht. Her­aus­ge­ge­ben von Micha­el Lentz. Wie­sen­burg: hoch­roth 2015. 36 Sei­ten.

Es ist für mich immer wie­der erstaun­lich, welch gro­ße und groß­ar­ti­ge Gedich­te die Expres­sio­nis­ten in den Jah­re wäh­rend und um den Ers­ten Welt­krieg schrie­ben. Und ich ent­de­cke immer wie­der, dass ich viel zu weni­ge davon ken­ne. Auch Franz Richard Beh­rens gehört zu die­sen Dich­tern. Er war eigent­lich genau nur in die­ser engen Zeit­span­ne über­haupt dich­te­risch tätig: Ein ein­zi­ger Band Lyrik – Blut­blü­te – ist von ihm 1917 erschie­nen. Wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus kann man ihn viel­leicht zur „Inne­ren Emi­gra­ti­on“ zäh­len, 1961 über­sie­del­te er dann nach Ost­ber­lin. Aber die gan­zen Jah­re bis zu sei­nem Tod 1977 blie­ben ohne wei­te­re lite­ra­ri­sche Ver­öf­fent­li­chun­gen. Offen­kun­dig war der Welt­krieg da so eine Art Kata­ly­sa­tor, der die Lyrik­pro­duk­ti­on auslösten/​vorantrieb.

Auf­fäl­lig ist nun, fin­de ich, wie avan­ciert die­se weni­gen Gedich­te waren und sind – und wie zeit­ge­mäß und zeit­ge­nös­sisch sie heu­te noch erschei­nen. Aus allen Gedich­ten, die Micha­el Lentz in die­ser klei­nen Aus­wahl­aus­ga­be für den fei­nen hoch­roth-Ver­lag zusam­men­ge­stellt hat, spricht eine beein­dru­cken­de Inten­si­tät und auch eine gro­ße Frei­heit: Sie sind frei von for­ma­len Zwän­gen und Tra­di­tio­nen, las­sen so ziem­lich alle Kon­ven­tio­nen hin­ter sich. Hier erscheint Spra­che als rei­ner Aus­druck, hier spürt man, wie ein Dich­ter um Aus­drucks­mög­lich­keit für ganz neue und neu­ar­ti­ge Erleb­nis­se – vor allem die Gewalt und Sinn­lo­sig­keit eines mecha­ni­sier­ten Krie­ges – ringt. Und wie er sie auch fin­det und den Voll­zug des Erle­bens am und im Wort fixiert und nach­voll­zieht. Ein Moment der Ser­i­at­li­tät gehört dazu, mit mini­ma­lis­ti­schen Ele­men­ten, etwa in „Preu­ßisch“ oder „Quer durch Ost­preu­ßen“. Aber auch gleich das eröff­nen­de „Expres­sio­nist Artil­le­rist“ zeigt das, mit der Ver­schrän­kung ein­zel­ner Gedicht­zei­len und einem kon­ti­nu­ier­li­chen Zäh­len (ich lese das „Ein-und-zwan­zig“ etc. als das Abzäh­len von Sekun­den, etwa bis zum Ein­schlag der Gra­na­te …), das ganz geschickt ins Hin­ken gerät bzw. ein­zel­ne Zah­len über­springt, wenn die geschil­der­te Wahr­neh­mungs­dich­te sozu­sa­gen steigt und das nicht mehr in einen Vers passt:

[…] Neun-und-zwan­zig
die Luft stinkt Mil­lio­nen Schwe­fel, Koh­le
Blut­ab­sinth
die Luft ist stahl und rein
Ein-und-dreis­sig
die Gra­nat­trich­ter tüp­feln gar­nich har­mo­nisch
Zwei-und-dreis­sig
[…]

Die kunst­voll her­ge­stell­te Unmit­tel­bar­keit die­ser Lyrik ist, den­ke ich, kaum zu über­se­hen. Ein ande­res, von Beh­rens bevor­zug­tes Ele­ment, ist etwa die ver­ba­le Nut­zung von Adjek­ti­ven. Bei aller Direkt­heit und Lebens­nä­he sind die Gedich­te, das zeigt etwa das titel­ge­ben­de „Erschos­se­nes Licht“ oder das wun­der­ba­re „Ita­li­en“, sowohl inhalt­lich als auch sti­lis­tisch und for­mal sehr sorg­sam kon­stru­iert. (Und außer­dem ist das wie­der hoch­roth-typisch ein sehr fein und schön gemach­tes Heft­lein …)

[…] Schnei­den das
Land
in
Strei­fen.
Begrei­fen kann das mal
Die Gene­ral­stabs­kar­te. Vor­marsch im Regen (14)

Geor­gi Gos­po­di­nov: 8 Minu­ten und 19 Sekun­den. Graz, Wien: Dro­schl 2016. 143 Sei­ten.

Hier wäre der Ort, zu sagen, dass ich voll­kom­men nor­mal bin, auch wenn ich Erzäh­lun­gen schrei­be. Ich weiß, dass dies die Din­ge erschwert, aber alles ande­re an mir ist abso­lut in Ord­nung. (78f.)

„Ver­spielt, ele­gant und mit allen Was­sern der Post­mo­der­ne gewa­schen“ behaup­tet der Klap­pen­text – und hat tat­säch­lich mal recht. Denn Gos­po­di­nov ist ein wah­rer Geschich­ten­er­zäh­ler: Es geht ihm wirk­lich dar­um, „Geschich­ten“ zu erzäh­len, nicht Erzäh­lun­gen zu schrei­ben. Der Band ist dann auch rich­tig inter­es­sant und kurz­wei­lig-unter­halt­sam, weil Gos­po­di­nov dabei ein viel­sei­ti­ger und viel­fäl­ti­ger, tech­nisch sehr ver­sier­ter Erzäh­ler ist, was die Figu­ren und die Sto­rys angeht.

gosporidov, 8 minuten und 19 sekundenAbwechs­lungs­reich pen­deln die meist sehr kur­zen Tex­te (auf den 140 Sei­ten fin­den sich immer­hin 19 Erzäh­lun­gen) zwi­schen einer sym­pa­thi­schen Welt­of­fen­heit, die sich aus­drück­lich auch aufs Phan­tas­ti­sche, das eigent­lich sowie­so nor­mal ist, erstreckt, und einer spür­ba­ren Leich­tig­keit – einer Locker­heit des Erzäh­lens, des Lebens, des Wahr­neh­mens. Gos­po­di­nov, der sich bzw. sei­ne Erzäh­ler ger­ne als Geschich­ten­samm­ler bzw. ‑auf­schrei­ber, nicht als Geschich­ten­er­fin­der insze­niert – vom „Anlo­cken von Geschich­ten“ (84) schreibt er an einer Stel­le – schafft es dabei, zugleich kos­mo­po­li­tisch und hei­mat­ver­bun­den zu wir­ken, zugleich wit­zig (im Sin­ne von komisch) und trau­rig (im Sin­ne von tief­ernst) zu sein. Immer wie­der spie­len die letz­ten Tage, die letz­ten Momen­te, das end­gül­ti­ge Ende, die Apo­ka­lyp­se als eigent­lich ganz schel­mi­sches, gewitz­tes Unter­neh­men eine gro­ße Rol­le in sei­nen Erzäh­lun­gen. Das ist schon in der eröff­nen­den (und titel­ge­ben­den) Geschich­te „8 Minu­ten und 19 Sekun­den“ so, die die Zeit, die das Licht von der Son­ne zur Erde braucht beschreibt – also die Zeit, die bleibt, bis die Erde nach dem Ende der Son­ne im Dun­kel ver­sinkt. Immer, wenn das nicht pas­siert, weiß man also, dass noch 8 Minu­ten 19 Sekun­den blei­ben … Die Impli­ka­tio­nen die­ser glei­ten­den Apo­ka­lyp­se spielt die Geschich­te sehr schön und dabei durch­aus knapp durch.

Außer­dem ist auch eine der „schöns­ten“ Geschich­ten zum 11. Sep­tem­ber hier zu fin­den: „Do not dis­turb“. Die erzählt von einem just für die­sen Moment als Sprung aus dem Hoch­haus­fens­ter eines New Yor­ker Hotels geplan­ten Selbst­mord. Und da Gos­po­di­nov ein schwar­zer Erzäh­ler ist, gibt es natür­lich kein Hap­py End – der Selbst­mord fin­det dann zwar nicht statt, wird aber natür­lich spä­ter nach­ge­holt. Das klingt in der knap­pen Nach­er­zäh­lung etwas banal – aber dar­um geht es Gos­po­di­nov ja nicht nur. Zwar sind sei­ne Erzäh­lun­gen ohne ihre Hand­lung nicht zu den­ken, ihre Wir­kung erlan­gen sie aber nicht zuletzt durch die geschick­te und gelas­sen-ver­spiel­te erzäh­le­ri­sche Insze­nie­rung, die das zu einer sehr kurz­wei­li­gen Lek­tü­re wer­den lässt.

Außer­dem kam es mir so vor, als fin­ge Z. an, die Geschich­te zu rui­nie­ren, indem er ihr mehr Pathos und Lite­r­a­ri­zi­tät ver­lieh als not­wen­dig. Und ich war immer­hin der Käu­fer die­ser Erzäh­lung. (54)

außer­dem gele­sen:

  • Judith Zan­der: Manu­al nume­ra­le. Mün­chen: dtv 2014.
  • Micha­el Braun, Micha­el Busel­mei­er: Der gel­be Akro­bat 2. 50 deut­sche Gedich­te der Gegen­wart, kom­men­tiert. Neue Fol­ge (2009−2014). Leip­zig: Poe­ten­la­den 2016. 18 Sei­ten.
  • Roland Bar­thes: Das Neu­trum. Vor­le­sung am Col­lè­ge de France 1977–1978, hrsg. v. Eric Mar­ty, übers. von. Horst Brüh­mann. Frank­furt am Main: Suhr­kamp 2005. 346 Sei­ten.
  • Die­ter Hein: Deut­sche Geschich­te im 19. Jahr­hun­dert. Mün­chen: Beck 2015. 132 Sei­ten.
  • Chris­toph Kleß­mann: Arbei­ter im ‘Arbei­ter­staat’ DDR. Erfurt: Lan­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung Thü­rin­gen 2014. 141 Sei­ten.

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  • Buch­markt : Zwi­schen Müt­ter­as­ke­se und Flat­ter­haf­tig­keit | ZEIT ONLINE – erhard schütz geht der fra­ge nach, war­um sich „wie­der­ent­de­ckun­gen“ und neu­auf­la­gen gera­de von roma­nen aus der wei­ma­rer repu­blik so gro­ßer (und meist sehr kurz­le­bi­ger) beliebt­heit freu­en

    Den­noch sind gera­de klei­ne­re Ver­la­ge uner­müd­lich damit beschäf­tigt, Ver­gan­ge­nes, Ver­dräng­tes, Ver­ges­se­nes aus­zu­gra­ben. Inzwi­schen sind es auch die fünf­zi­ger bis sieb­zi­ger Jah­re des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts, die vor allem auf damals Unver­stan­de­nes, Skan­da­lö­ses oder ver­meint­lich zu Schwie­ri­ges, Anspruchs­vol­les durch­sucht wer­den. Aber noch immer ist es die Wei­ma­rer Repu­blik, die die meis­ten Neu­auf­la­gen lie­fert. Zum einen mag die Fas­zi­na­ti­on an der fre­chen Leich­tig­keit der Lie­bes- und All­tags­ver­hält­nis­se, an der ver­que­ren Lust am Kon­sum und am Unglück­lich­sein der Grund hier­für sein. Häu­fig sind es Roma­ne von Frau­en, in deren Tra­di­ti­on all die heu­ti­gen Stern­schnup­pen ste­hen, die eine Sai­son lang best­sel­lern. Zum ande­ren ist es die schar­fe Kri­tik, die noch immer reizt, sei es in den Anti­kriegs­tex­ten, die aus gege­be­nem Anlass gera­de wie­der neu­auf­ge­legt wer­den – der apo­kry­phe Elek­tri­sche Ver­lag z.B. bie­tet da eine gan­ze Rei­he auf –, sei es in der Kri­tik poli­ti­scher und sozia­ler Ver­hält­nis­se.

  • Armut: „Wer unten ist, bleibt unten“ | ZEIT – inter­view mit dem öko­nom mar­cel fratz­scher über gesell­schaft­li­che & öko­no­mi­sche ungleich­heit, umver­tei­lung und auf­stiegs­mög­lich­kei­ten in deutsch­land
  • Lek­to­ren: Der gute Geist | Tages­spie­gel -

    Der Gärt­ner ist immer der Mör­der, und der Lek­tor ist immer schuld. Ein fal­scher Name, ein schie­fes Bild, his­to­ri­sche Irr­tü­mer, Stil­blü­ten, Lang­at­mig­keit und Recht­schreib­feh­ler – was immer an einem Buch nicht stimmt: Der Lek­tor ist’s gewe­sen. Wird er in Rezen­sio­nen erwähnt, ist „schlam­pig“ das Attri­but, das man ihm am liebs­ten anklebt. Nie wird man in einer Bespre­chung lesen: Das hat er aber fein gemacht. Denn was der Lek­tor getan hat, weiß der Kri­ti­ker nicht.

  • E‑Book-Kolum­ne „E‑Lektüren“: Ein Lyrik-Code als Anreiz | FAZ – elke hei­ne­mann über neue lyrik als/​fürs ebook – offen­bar nicht so wahn­sinng über­zeu­gend, was da bis­her vor­liegt – aller­dings aus ästhe­ti­schen, nicht aus tech­ni­schen grün­den
  • I stay­ed in a hotel with Android lights­wit­ches and it was just as bad as you’d ima­gi­ne – war­um es nicht immer eine gute idee ist, ein­fa­che (mecha­ni­sche) funk­tio­nen durch com­pu­ter­steue­run­gen zu erset­zen – hier am bei­spiel einer hotel­zim­mer­licht­steue­rung ohne zugriffs­si­che­run­gen … – via wirres.net
  • Autor Micha­el Scha­rang lehnt Ehrung des Lan­des Wien ab | DiePresse.com – ein mann mit hal­tung …

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  • Max Reger: Akkord­ar­bei­ter im gif­ti­gen Kli­ma der Moder­ne | Der Stan­dard – roland pohl im stan­dard über max reger, sei­ne rezep­ti­on und war­um er so wenig bekannt und geschätzt wird – immer­hin ist in die­sem jahr sein hun­ders­ter todes­tag zu bege­hen …

    Es fällt nicht leicht, nach den Grün­den zu suchen, war­um der deut­sche Kom­po­nist Max Reger (1873−1916) der­art gründ­lich in Ver­ges­sen­heit gera­ten ist. Den meis­ten sei­ner unzäh­li­gen Wer­ke haf­tet eine gewis­se Sprö­dig­keit an. Reger, im pri­va­ten Umgang ein humo­ri­ger Kauz, hat vor allem auf dem Gebiet der Har­mo­nik Epo­cha­les gelei[s]tet.

    Des Meis­ters viel zu frü­her Tod – er ent­schlief herz­krank in einem Leip­zi­ger Hotel­zim­mer – dürf­te auch hun­dert Jah­re spä­ter kein Reger-Fie­ber aus­lö­sen. Die Klas­sik­bran­che fasst den eigen­bröt­le­ri­schen „Akkord­ar­bei­ter“ nicht mit der Kneif­zan­ge an. Einer grö­ße­ren Ver­brei­tung steht die Kom­ple­xi­tät der intro­ver­tier­ten Reger-Musik im Wege.

  • Sport, über­all nur noch Sport: Die geis­ti­ge Macht unse­rer Epo­che | taz – robert rede­cker hat in der taz eine wun­der­ba­re, ful­mi­nan­te abrech­nung mit dem sport und unse­rer obses­si­ven beschäf­ti­gung damit geschrie­ben:

    Die heu­ti­ge Gesell­schaft hat eine neue Vari­an­te des Tota­li­ta­ris­mus erfun­den: den Sport.[…] Die­se Sport­an­läs­se beset­zen scham­los und rück­sichts­los den gesam­ten Platz in den Medi­en.
    Wie ein Nim­mer­satt mit unstill­ba­rem Hun­ger ver­ein­nahmt der Sport den gan­zen Platz für sich. Nie­mand kann die­ser erdrü­cken­den Inva­si­on der Sport­be­rich­te ent­ge­hen, die alles ande­re ver­drängt. Die­se Über­do­sis an Sport hat eine zer­stö­re­ri­sche Umkeh­rung der Wer­te und der Hier­ar­chie der Infor­ma­ti­on zur Fol­ge. Statt sich auf ein paar Wor­te am Ende der Fern­seh- und Rund­funk­nach­rich­ten zu beschrän­ken, was ange­sichts ihrer Bedeu­tungs­lo­sig­keit nor­mal wäre, ver­weist die Sport­be­richt­erstat­tung alles wirk­lich Wich­ti­ge auf die Rand­plät­ze.

    Was dage­gen für die Zivi­li­sa­ti­on von Bedeu­tung wäre, wor­an man sich noch Jahr­hun­der­te spä­ter erin­nern wird – die her­aus­ra­gen­den Per­sön­lich­kei­ten der Phi­lo­so­phie, der Male­rei, Dich­tung, Cho­reo­gra­fie, Musik oder Archi­tek­tur – fin­det dage­gen kaum Beach­tung in den Medi­en.

  • David Bowie: Schön dick auf­ge­tra­gen | ZEIT ONLINE – died­rich diede­rich­sen über das bowie-album, das black­star-video und bowies auf­trit­te

    Hier, bei einem Album, das die rund­um zu begrü­ßen­de Devi­se sei­ner Eröff­nungs­oper, „Mehr ist mehr“, bis zum Schluss beher­zigt, hat man bei­des ver­sucht: Jazz-Vir­tuo­si­tät und die dunk­le Eksta­se heu­ti­ger Dance- und Gothic-Kul­tu­ren.

  • Isra­el ǀ Kib­bu­zim: Auf der Suche nach der Identität—der Frei­tag – über die ent­wick­lung der kib­bu­zim von sozia­lis­ti­schen gemein­schaf­ten zu markt­kon­for­men wirt­schafts­un­ter­neh­men – sehr inter­es­sant …
  • Online-Fort­set­zungs­ro­man: Lang lebe der Shan­dy­is­mus! | FAZ – jan wie­le in der faz mit einer ers­ten ein­schät­zung von til­man ramm­stedts gera­de enste­hen­dem „mor­gen mehr“ – sei­ne beob­ach­tun­gen tref­fen sich ziem­lich genau mit mei­nen eige­nen …
  • Trai­nings­la­ger in den Golf­staa­ten : „Der Sport ist ein löch­ri­ger Käse“ – taz.de – die taz sprach mit dem „sport­ethi­ker“ elk fran­ke:

    Die Poli­tik nimmt den Sport gern für sich in Anspruch. Umge­kehrt pro­fi­tiert der Sport auch stark davon. Somit wird der Satz „Der Sport ist unpo­li­tisch“ zu einer ideo­lo­gi­schen Aus­sa­ge, die in der All­tags­pra­xis kei­ne Gül­tig­keit hat.
    […] Der Sport ist ein inhalts­frei­es Dra­ma, das eine Iden­ti­fi­ka­ti­on mit allen mög­li­chen Inhal­ten erlaubt. Ein Schwei­zer Käse, in des­sen Löcher aller­hand rein­passt, ohne dass der Geschmack ver­lo­ren geht.

  • Als der Kai­ser muss­te: Eine Unter­strei­chung und die Schuld am Ers­ten Welt­krieg | Akten­kun­de – Als der Kai­ser muss­te: Eine Unter­strei­chung und die Schuld am Ers­ten Welt­krieg – hol­ger ber­win­kel zeigt (mal wie­der) sehr schön, wie wich­tig his­to­ri­sche hilfs­wis­sen­schaft (und genau­ig­keit) ist, auch für „groß­his­to­ri­ker“
  • schle­ef-bil­der – die erben­ge­mein­schaft einar schle­efs hat eini­ge sei­ner bil­der online bereit­ge­stellt

Aus-Lese #41

Wolf­gang Sof­sky: Wei­sen­fels. Ber­lin: Matthes & Seitz Ber­lin 2014. 236 Sei­ten.

sofsky, weisenfels„Unab­ding­ba­re Erschüt­te­rung“, „ver­fal­le­ne Gemäu­er“, „die Begeg­nung zwei­er Men­schen im Zenit des Unter­gangs einer ver­lo­re­nen Welt“ – der Umschlag­text hält sich nicht zurück. Dabei ist Wei­sen­fels eigent­lich ein ziem­lich selt­sa­mer Roman: Zwei (ehe­ma­li­ge) Freun­de tref­fen sich im Fami­li­en­sitz des einen, einem ver­fal­len­den Schloss, dass gefüllt ist mit Arte­fak­ten der abend­län­di­schen Kunst- und Kul­tur­ge­schich­te – aber nicht mit Men­schen. Die bei­den wan­deln durch die Gemäu­er und durch die Samm­lun­gen und durch die Erin­ne­rung an eine Welt oder eine Epo­che, die nicht mehr ver­füg­bar ist – eine Unter­neh­mung, die ganz fol­ge­rich­tig nur mit dem Tod enden kann. Es war nicht so sehr der plot, der mir schwer­fiel, son­dern die sehr selt­sa­me Pro­sa, die Sof­sky hier pflegt. Das ist ein unent­weg­tes Dekla­ri­en, Dozie­ren und Dekla­mie­ren, sowohl der Figu­ren als auch des Erzäh­lers. Über­haupt die Figu­ren, die sind auch sehr selt­sam – näm­lich eigent­lich nur (noch) als Mas­ke, als Rol­le oder als Platz­hal­ter prä­sent und damit unto­te Hül­len, leb­lo­se Über­res­te einer einst leben­di­gen Welt (dem christ­li­chen Abend­land, das mit sei­ner Tra­di­ti­on und Bil­dung so ger­ne beschwo­ren wird, aber schon lan­ge nicht mehr leben­dig ist …). Reli­gi­on und ihre Anzie­hungs­kraft, aber auch ihre Aus­prä­gun­gen, Pra­xen und Theo­lo­gien spie­len eine gro­ße Rol­le, vor allem aber ein ganz wört­lich genom­me­nes Leben „in“ Kul­tu­ren: Wenn hier über­haupt noch Leben ist, dann im Über­rest der Kul­tur, nicht aber in dem, was man Welt nen­nen möch­te.

Der Ver­lust der Bil­dung und der Kul­tur ist sozu­sa­gen die Grund­the­se, von der aus die­ser Text geschrie­ben ist. Der koket­tiert aber zugleich selbst auf allen Ebe­nen und auf­dring­lich per­ma­nent damit, mit dem Bil­dungs­wis­sen sei­ner Prot­ago­nis­ten bzw. deren Erzäh­ler: Tabak, Whis­key, Renais­sance-Male­rei, Kunst­mu­sik des 19. Jahr­hun­derts, Lite­ra­tur, Enzy­klo­pä­dis­tik, Skulp­tu­ren – alles ist hier da, prä­sent und wird erzählt. Man könn­te auch sagen: Das ist lau­ter bedeu­tungs­schwan­ge­res Wis­sen-Geklin­gel … Denn die Idee ist schnell klar, eben­so schnell zei­gen sich Län­gen im Text, der manch­mal recht zäh daher­kommt. Denn auch ihm gelingt natür­lich nicht das, was im und mit dem Schloss ver­sucht wird: Der Ver­such, den ewi­gen Pro­zess des Zer­fal­lens und Ver­falls anzu­hal­ten, den Ver­lust zu ver­mei­den: Des­halb das mani­sche Sam­meln und Rekon­stru­ie­ren ver­lo­re­ner Bil­dungs- und Kul­tur­gü­ter – ein Ver­such, der nahe­zu zwangs­läu­fig mit dem Ver­lust der Erin­ne­run­gen, des Selbst und des Lebens – also dem Tod – enden muss.

Bern­hard Stro­bel: Ein dün­ner Faden. Erzäh­lun­gen. Graz, Wien: Dro­schl 2015. 152 Sei­ten.

bernhard strobel, ein dünner fadenMit dem „dün­nen Faden“ konn­te Stro­bel mich nicht so recht begeis­tern. „Schnör­kel­lo­se Schil­de­run­gen des müh­sam unter­drück­ten Alp­traums im Häus­chen im Grü­nen“ ver­spricht der Schutz­um­schlag. Das trifft die Erzäh­lun­gen auch ziem­lich genau, ver­schweigt aber, dass sie dabei eher fad her­über­kom­men – unter ande­rem, weil das Mus­ter schnell erkannt ist: Es geht um ein­bre­chen­de Gefah­ren, Dro­hung, Andro­hun­gen und Streit. Immer wie­der wird der All­tag durch ein plötz­lich über die Prot­ago­nis­ten her­bre­chen­des Unheil, ein Unglück und Tra­gik, in der Rea­li­tät des Figu­ren­le­bens oder auch nur in Gedan­ken, Träu­men und Ahnun­gen, unter­bro­chen. Das beson­de­re bei Stro­bel ist dabei, dass gera­de die Momen­te der Erwar­tung des Unheils, das spür­ba­re, aber (noch) nicht zu benen­nen­de (und damit auch nicht zu hegen­de) Bro­deln unter der Ober­flä­che des gewön­li­chen All­tags eine gro­ße Rol­le spielt. Vie­les ist und bleibt dabei auf­fal­lend unspe­zi­fisch – nicht nur Ort, Raum und Zeit, son­dern vor allem die Figu­ren selbst. Das kann man natür­lich aus dem erzähl­ten Gesche­hen – etwa dem Neben­ein­an­der­le­ben der Paa­re, der aus­ge­stell­ten Nicht-Kom­mu­ni­ka­ti­on – moti­vie­ren. Das wird auch dem­entspre­chend ganz unauf­fäl­lig erzählt, in unmar­kier­tem Stil und unmar­kier­ter Form. Lau­ter Nor­ma­li­tät – oder eben lei­der oft: Mit­tel­maß – also. Klar, der „müh­sam unter­drück­te Alp­traum“ ist da: unter den Ober­flä­chen bro­delt es gewal­tig. Aber der Text ver­rät das kaum, sei­ne „schnör­kel­lo­se Schil­de­run­gen“ blei­ben selbst schreck­lich ober­fläch­lich und vom Gesche­hen oder des­sen Ahnung und Ankün­di­gung gänz­lich unbe­rührt. Wofür dann die Stil­ver­knap­pung, die künst­li­che Kunst­lo­sig­keit gut ist, erschließt sich mir also nicht wirk­lich. Alles in allem über­zeu­gen mich die­se Erzäh­lun­gen also lei­der über­haupt nicht.

Die Spra­che. Sie ist ein unzu­rei­chen­des Hilfs­mit­tel, und sie ist das ein­zi­ge Hilfs­mit­tel. Ein schö­nes Dilem­ma. (131)

Peter Neu­mann: geheu­er. Dres­den: edi­ti­on azur 2014. 88 Sei­ten.

neumann, geheuerEine mari­ti­me Gedicht­samm­lung. Das Meer mit sei­ner Bewe­gung, der Gren­ze zwi­schen Land und Was­ser, der (mög­li­chen) Frem­de und den unbe­herrsch­ten und unbe­herrsch­ba­ren Gewal­ten spielt hier – der Titel weist dar­auf hin und das Titel„bild“ unter­stützt das noch – eine gro­ße Rol­le. Sind das also Natur­ge­dich­te? Nun­ja, Natur taucht hier eher und vor­ran­gig als Impuls für Wahr­neh­mung des Men­schen und für Poe­sie auf, sie steht nicht für sich selbst und wird auch nicht so wahr­ge­nom­men und beschrie­ben. Neu­manns Gedich­te eröff­nen oft und ger­ne einen gro­ßen Raum (der Ima­gi­na­ti­on), ohne den auch nur annä­he­rungs­wei­se aus­zu­lo­ten und ohne das auch über­haupt zu wol­len. Gewis­ser­ma­ßen wird eine Tür geöff­net, der Blick des Lesers in den Raum gewie­sen – und dann allei­ne gelas­sen. Schön gemacht und deut­lich zeigt das Gedicht „bud­del­schiff“ die­ses Ver­fah­ren:

das gefühl einer lan­gen rei­se
auf­ge­klapp­te mas­ten
und take­la­ge, das eng­li­sche

schiffstau zum rei­ßen gespannt
der wind hum­pelt
auf ein­ge­schla­fe­nen bei­nen

durch die schma­le öff­nung
im fla­schen­hals
flaut ab, ein hel­les pfei­fen (55)

Typisch für Neu­manns Gedich­te ist außer­dem ihre Kür­ze. Immer wie­der sind sie durch das Anrei­ßen von sol­chen Augen­bli­cken der (erkennt­nis­haf­ten) Wahr­neh­mung, die dann aber nicht wei­ter­ge­führt und aus­ge­ar­bei­tet wird, gekenn­zeich­net. Sel­ten sind sie län­ger als 10/​12 Ver­se. For­mal schei­nen sie mir vor allem dem Flie­ßen, dem Flow ver­pflich­tet, ohne erkenn­ba­re Regel­haf­tig­keit. Die Gedich­te ste­hen zwar ger­ne in Grup­pen von drei Ver­sen, aber einen Grund erken­ne ich dafür nicht …

Durch die inhalt­li­che und for­ma­le Kür­ze – wenn man das mal so nen­nen mag – kommt es manch­mal zur Über­fül­le der visu­el­len und sprach­li­chen Bil­der, die ange­häuft, nebein­an­der gesetzt wer­den, aber im Text kaum bezie­hun­gen zuein­an­der haben – außer eben dem vor allem als (aus­ge­spar­ten) aus­lö­sen­den Moment der Erin­ne­rung an ein Gefühl, eine Emp­fin­dung, eine beob­ach­ten­de Wahr­neh­mung. Das (fast) rein bild­li­che Spre­chen wirkt dabei für mich etwas über­sät­ti­gend – man darf wohl nicht zu viel am Stück lesen, dann wird die kunst­vol­le Schön­heit die­ser Gedich­te schnell etwas schal. Aber es lohnt sich, immer wie­der zurück zu kom­men.

Jörg Döring, Felix Römer, Rolf Seu­bert: Alfred Andersch deser­tiert. Fah­nen­flucht und Lite­ra­tur (1944−1952). Ber­lin: Ver­bre­cher 2015. 277 Sei­ten.

drews/römer/seubert, alfred andersch desertiertEine schö­ne Gemein­schafts­ar­beit ist die­ses Buch über Alfred Andersch, sei­ne letz­ten Tage als Sol­dat im Zwei­ten Welt­krieg, sei­ne Gefan­gen­schaft und vor allem die lite­ra­ri­sche – oder eben auto­bio­gra­phi­sche? – Ver­ar­bei­tung des­sen in meh­re­ren Anläu­fen in der Nach­kriegs­zeit, mit der sich Andersch auch und gera­de im öffent­li­chen Dis­kurs sehr ein­deu­tig und nach­hal­tig posi­tio­nier­te. Eine Arbeit des bio­gra­phi­sches For­schens also. Aber nur bedingt bio­gra­phisch, denn die drei Autoren beto­nen wie­der­holt, dass es nicht pri­mär dar­um geht, die bio­gra­phi­sche Dimen­si­on fik­tio­na­ler Tex­te in den Blick zu neh­men (das wäre ja auch unsin­ning und wenig hilf­reich), son­dern dar­um, die spe­zi­fi­sche Situa­ti­on von Deser­ti­on, Kriegs­en­de und Nach­kriegs­zeit bzw. vor allem ihre Deu­tung in der Retro­spek­ti­ve zu unter­su­chen. Da Andersch die auto­bio­gra­phi­sche Dimen­si­on der „Kir­schen der Frei­heit“ stark for­ciert – und damit in der Lek­tü­re und Dis­kus­si­on des Tex­tes auch erfol­reich ist -, lässt sich das ver­tre­ten. Zumal die drei Autoren aus Ger­ma­nis­tik und Geschichts­wis­sen­schaft sich mit weit(er)gehenden Deu­tun­gen und Spe­ku­la­tio­nen zurück­hal­ten, son­dern einen star­ken Fokus auf die Rekon­struk­ti­on der Ereig­nis­se um Alfred Andersch im Krieg in Ita­li­en, um die (Mög­lich­keit der) Nie­der­schrift und lite­ra­ri­schen Bear­bei­tung sol­cher Erleb­nis­se in der Nach­kriegs­zeit rich­ten. Das ist, auch wenn ich mich für Andersch nur am Ran­de inter­es­sie­re, gera­de in der Ver­ei­ni­gung ver­schie­de­ner fach­li­cher Per­spek­ti­ven, sehr inter­es­sant und auf­schluss­reich – und trotz der teil­wei­se sehr akri­bi­schen Auf­ar­bei­tung der mili­tär­his­to­ri­schen und werk­stra­te­gi­schen Zusam­men­hän­ge auch sehr gut – zu lesen.

Jules Renard: Das Leben wird über­schätzt.Ber­lin: Matthes & Seitz 2015. 72 Sei­ten.

renard, das leben wird überschätztDie­se ganz klei­ne – aber auch aus­ge­spro­chen fei­ne – Aus­wahl aus dem „Jour­nal“ Jules Renards hat der inzwi­schen lei­der ver­stor­be­ne Hen­ning Rit­ter besorgt und auch selbst über­setzt, der Ver­lag Matthes & Seitz hat sie in sei­ner über­aus emp­feh­lens­wer­ten Rei­he „Fröh­li­che Wis­sen­schaft“ nun ver­öf­fent­licht. Das hier vor­ge­leg­te ist zwar chro­no­lo­gisch – von 1890 bis 1910 – an- und zuge­ord­net, aber den­noch kein eigent­li­ches Tage­buch, son­dern eher eine Nota­te-Samm­lung (Rit­ter selbst hat sein ähn­li­ches Unter­neh­men „Notiz­hef­te“ genannt). Man könn­te auch sagen: Das sind Extrem-Apho­ris­men. (Zu über­le­gen wäre frei­lich, ob das im Ori­gi­nal auch so ist, oder ob das erst durch die dar­auf abzie­len­de Aus­wahl des Her­aus­ge­bers so erscheint.) Denn was Rit­ter aus­ge­wählt hat und hier ver­öf­fent­licht wird, das sind lau­ter klei­ne und kna­cki­ge, tref­fen­de und tota­le Sät­ze. Das hat natür­lich immer wie­der ein Hang zum Apo­dik­ti­schen, beruht aber ande­rer­seits auf einer genau­en Beob­ach­tung der Welt und ihrer Kunst, die sich mit einer aus­ge­feil­ten Prä­zi­si­on der genau­es­ten For­mu­lie­rung paart.

Ich den­ke nicht nach: Ich schaue hin und las­se die Din­ge mei­ne Augen berüh­ren. (13)

Oft geht es in den Minia­tur-Ein­trä­gen um die Lite­ra­tur, noch mehr um das Schrei­ben an sich, aber auch um die Fel­der der Kri­tik und des Jour­na­lis­mus – lau­ter Zeit­lo­sig­kei­ten also. Das Ich, sein selbst und sei­ne Tugen­den wird dabei genau­so unbarm­her­zig und oft hart beob­ach­tet wie die ande­ren um ihn und um die Jahr­hun­dert­wen­de her­um. Da kann ich sehr viel Zustim­mungs­fä­hi­ges fin­den – man nickt dann beim Lesen immer so schön mit dem Kopf … -, auch poin­tiert Über­ra­schen­des, aber auch Frag­li­ches. Gera­de in sei­ner Hal­tung zur Welt, die vor allem aus sei­ner Abso­lu­tie­rung sei­ner Indi­vi­dua­li­tät resul­tiert, sehe ich nicht nur Vor­bild­haf­tes.

Das Recht eines Kri­ti­kers ist es, sei­ne Grund­sätze einen nach dem ande­ren zu ver­leug­nen, sei­ne Pflicht ist es, kei­ne Über­zeu­gung zu haben. (5)
Was ist das Leben, wenn es nur mit Augen gese­hen wird, die nicht Augen von Dich­tern sind? (22)

außer­dem unter ande­rem gele­sen:

  • Alex­an­der Osang: Im nächs­ten Leben. Repor­ta­gen und Por­träts. Ber­lin: Ch. Links 2010. 254 Sei­ten
  • Hein­rich Dete­ring: Vom Zäh­len der Sil­ben. Über das lyri­sche Hand­werk. Mün­chen: Stif­tung Lyrik Kabi­nett 2009. 28 Sei­ten.
  • Hans-Wer­ner Rich­ter: Die Geschla­ge­nen. Mün­chen: Kurt Desch 1949. 459 Sei­ten.
  • Siri Hust­vedt: The Bla­zing World. Lon­don: Scept­re 2014. 379 Sei­ten.
  • Jür­gen Kau­be: Im Reform­haus. Zur Kri­se des Bil­dungs­sys­tems. Sprin­ge: zu Klam­pen 2015 (Zu Klam­pen Essay). 174 Sei­ten.
  • Isa­bel­la Straub: Das Fest des Wind­rads. Ber­lin: Blu­men­bar 2015. 348 Sei­ten.
  • Dani­el Mar­tin Fei­ge: Phi­lo­so­phie des Jazz. Ber­lin: Suhr­kamp 2014. 142 Sei­ten.
  • Tho­mas Hecken: Avant­gar­de und Ter­ro­ris­mus. Rhe­to­rik der Inten­si­tät und Pro­gram­me der Revol­te von den Futu­ris­ten bis zur RAF. Bie­le­feld: Tran­script 2006. 158 Sei­ten.
  • Harald Wel­zer, Dana Gies­ecke, Lui­se Tre­mel (Hrsg.): FUTURZWEI Zukunfts­al­ma­nach 2015/​16. Geschich­ten vom guten Umgang mit der Welt. Schwer­punkt Mate­ri­al. Frank­furt am Main: Fischer 2014. 544 Sei­ten.
  • Ben­ja­min Stein: Ein ande­res Blau. Pro­sa für 7 Stim­men. Ber­lin: Ver­bre­cher 2015. 107 Sei­ten.

Aus-Lese #40

Klaus Wagen­bach (Hrsg.): Stö­rung im Betriebs­ab­lauf. 77 kur­ze Geschich­ten für den öffen­li­chen Nah­ver­kehr. Ber­lin: Wagen­bach 2014. 143 Sei­ten.

wagenbach, störung im betriebsablaufEine lus­ti­ge Edi­ti­on ist das, die mir zufäl­lig im Buch­la­den in die Augen und Hän­de gefal­len ist: Klaus Wagen­bach hat klei­ne Tex­te gesam­melt, für die Lek­tü­re unter­wegs im ÖPNV. Der Zweck bestimmt auch die Ord­nung der Tex­te nach Anlass und Län­ge: Kurz­stre­cken, Bahn­hof, Zwei Sta­tio­nen etc. sind die Kapi­tel über­schrie­ben. Hin­ter der wit­zi­gen und sym­pa­thi­schen Idee steckt aber vor allem eine schö­ne und viel­fäl­ti­ge Samm­lung größ­ten­teils groß­ar­ti­ger Kurz­pro­sa: Kurz­ge­schich­ten, Para­beln, Anek­do­ten, Fabeln und vie­les mehr. Wagen­bachs Aus­wahl beweist ein sehr hohes Qua­li­täts­ni­veau ohne Aus­rei­ßer: Das ist ein­fach gut aus­ge­sucht. Und vie­les Bekann­tes ist dabei, natür­lich – aber auch eini­ges Über­ra­schen­des, Uner­war­te­tes. Und auch beim Wie­der­le­sen ent­wi­ckelt so man­ches in die­sem Zusam­men­hang neue Aspek­te. Das klei­ne Bänd­chen ist wirk­lich eine vor­treff­li­che Lek­tü­re für die Zeit des Bewegt-Wer­dens – da wünscht man sich manch­mal bei­na­he eine tat­säch­li­che „Stö­rung im Betriebs­ab­lauf“ …

Ulri­ke Almut San­dig: Buch gegen das Ver­schwin­den. Geschich­ten. Frank­furt am Main: Schöff­ling 2015. 207 Sei­ten.

sandig, verschwinden„Es ist so leicht zu ver­schwin­den.“ (35) Das ist das gan­ze Pro­blem. Denn wir Men­schen sind tat­säch­lich kaum mehr als ein Gras im Wind – ein­mal hier, bald wie­der weg. Und dar­um geht es in die­sem Geschich­ten-Band (aus­drück­lich nicht Erzäh­lun­gen!): Um das Ver­schwin­den, um das Ver­ges­sen. Und dar­um, wie sich das (viel­leicht) doch ver­hin­dern oder auf­schie­ben lässt – mit dem Erzäh­len zum Bei­spiel. Aber wer sagt dann, dass das Erzähl­te was mit der vergangenen/​verschwundenen Rea­li­tät zu tun hat? Doch: Das ist kei­ne phi­lo­so­phi­sche Abhand­lung, kein Essay – und will es auch gar nicht sein. Son­dern eine Fei­er des Erzäh­lens. Denn San­dig ist eine groß­ar­ti­ge Erzäh­le­rin, deren brei­tes sti­lis­ti­sches Reper­toire und deren Spra­che ich sehr mag (das war auch schon bei den Fla­min­gos so!). Ich zitie­re aus Faul­heit mal die Ver­lags­web­sei­te:

Ein jun­ger Jour­na­list ver­sucht inmit­ten der Unru­hen um den Istan­bu­ler Gezi-Park die Erwar­tun­gen sei­ner Mut­ter abzu­schüt­teln, die nach dem Mau­er­fall 1989 das Rei­se­fie­ber gepackt hat. Ein Wan­de­rer geht wäh­rend eines Schnee­sturms in den uralten ver­wun­sche­nen Wäl­dern des Enga­din ver­lo­ren. Ein klei­nes Mäd­chen wird zum nächs­ten Venus­durch­gang von der Groß­mutter ans Ende der Welt geflo­gen. Wohin ihre Spu­ren füh­ren, ist eines der vie­len Rät­sel die­ser Geschich­ten.

Rät­sel wei­sen San­digs Geschich­ten immer wie­der auf. Aber kei­ne Span­nungs- oder Kri­mi-Rät­sel, son­dern Rät­sel, die auf die Fra­ge nach der Wahr­heit, der Wirk­lich­keit der Ver­gan­gen­heit und der Erin­ne­rung ver­wei­sen. Mir ist dann die eigent­lich Geschich­te oft gar nicht so wich­tig – ob es nun um einen Wit­wer geht, der sich und sei­ne Ein­sam­keit sowie sei­ne fort­schrei­ten­de Demenz beob­ach­tet, um einen jun­gen Jour­na­lis­ten, die Wan­de­rer im Enga­din, die den mythisch-ver­klär­ten Taman­gur-Wald ent­de­cken wol­len – die Haupt­sa­che ist immer wie­der das Erzäh­len selbst.

Ja, an die­sem Tag und in die­ser Minu­te fin­det sie plötz­lich, dass sie sich die­se Geschich­te immer wie­der anhö­ren könn­te und immer wie­der in der jeweils aktu­el­len Ver­si­on, und jeder Ver­si­on wür­de sie Glau­ben schen­ken, wohl wis­send, dass wir, jede Ein­zel­ne von uns, die Erzäh­le­rin­nen unse­rer eige­nen Geschich­ten sind und dass es nicht dar­auf ankommt, was in Wirk­lich­keit pas­siert ist, solan­ge wir eine Ver­si­on haben, die uns das Leben und alle, die dar­in ver­schwin­den, erträg­li­cher macht. (36f.)

Es gibt auch ein nett gemach­tes „Video zum Buch“ von Harald Opel:

Ulri­ke Almut San­dig – Buch gegen das Ver­schwin­den

Beim Kli­cken auf das und beim Abspie­len des von You­Tube ein­ge­bet­te­ten Vide­os wer­den (u. U. per­so­nen­be­zo­ge­ne) Daten wie die IP-Adres­se an You­Tube über­tra­gen.
Joa­chim Zel­ter: Wie­der­se­hen. Tübin­gen: Klöp­fer und Mey­er 2015. 126 Sei­ten.

zelter, wiedersehenOffi­zi­ell als „Novel­le“ beti­telt – und das haut auch hin. Ein kur­zer Text für zwi­schen­durch (die 126 Sei­ten sind recht groß­zü­gig gesetzt), mit hohem Spaß­fak­tor: Der Lieb­lings­schü­ler Arnold Lit­ten trifft nach zwan­zig Jah­ren wie­der auf sei­nen immer schon etwas kau­zi­gen Lieb­lings­leh­rer Thors­ten Kort­hau­sen, der ihn, der mitt­ler­wei­le zum Ger­ma­nis­tik-Pro­fes­sor (ver­mut­lich …) gewor­den ist, damals im Fach Deutsch unter­rich­tet und für die Lite­ra­tur begeis­tert hat. Im Rück­blick tau­chen die sehr unge­wöhn­li­chen Lehr­me­tho­den Kort­hau­sens noch ein­mal auf (die jeder Ord­nung, Ver­gleich­bar­keit oder Plan­mä­ßig­keit spot­ten, aber natür­lich höchst geni­al waren und alle Schü­le­rin­nen und Schü­ler enorm begeis­ter­ten …). Jetzt also das Wie­der­se­hen, auf einer von Kort­hau­sen extra dafür aus­ge­rich­te­ten Par­ty, bei der Lit­ten auch noch ohne Vor­war­nung einen Vor­trag hal­ten soll. Das alles geht, fast erwar­tungs­ge­mäß, fürch­ter­lich schief und gibt allen, vor allem aber Lit­ten selbst, gründ­lich Gele­gen­heit, sich selbst, ihre Stel­lung und ihrer (Lebens-)Ziele, aber auch die gemein­sa­me Ver­gan­gen­heit, noch ein­mal gründ­lich zu über­den­ken. Das ist alles sehr lie­be­voll geschil­dert, mit wun­der­ba­ren Typen (gera­de die Neben­fi­gu­ren sind herr­lich). Die kon­fron­ta­ti­ve Situa­ti­on stei­gert sich immer mehr, bis das Gan­ze schließ­lich in eine ziem­lich wil­de Gro­tes­ke umkippt. Kurz vor dem Schluss (der noch ein­mal eine abso­lut unnö­ti­ge „über­ra­schen­de Wen­dung“ bie­tet) heißt es dann:

Er hät­te nie­mals hier­her­kom­men dür­fen. […] Dass es ein Feh­ler sei, einen Men­schen wie Kort­hau­sen nach über zwan­zig Jah­ren ein­fach wie­der­zu­se­hen. Dass man dabei nur ver­lie­ren kann, zuers­te einen gelieb­ten Leh­rer udn dann sich selbst. Dass man sich dadurch sei­ner grund­le­gens­ten Ebe­nen beraubt. Und sei­ner schöns­ten Bil­der. (125)

Pau­lus Böh­mer: Werich­bin. Gedich­te. Frank­furt am Main: Edi­ti­on Faust 2014. 56 Sei­ten.

boehmer, wer ich bin„Gedich­te“ stimmt hier gera­de so – es sind näm­lich genau zwei Lang­ge­dich­te, die in die­sem klei­nen Bän­chen zu fin­den sind: „Werich­bin“ (das scheint die bevor­zug­te Schreib­wei­se des Titels zu sein) und „Über das Zusam­men­fü­gen von Tei­len“. Bei­de sind wie­der typi­sche Böh­mer-Schöp­fun­gen: Auf Mit­tel­ach­se ste­hen die­se Text­tür­me, ohne Reim oder fes­tes Metrum, sind sie fort­lau­fen­de Ket­ten von Ein­fäl­len und Asso­zia­tio­nen. Form­ge­bend ist beim Titel­ge­dicht „Wer ich bin“ zum Bei­spiel das „Wie“ – „So“ und „Daß“ am Beginn der ein­zel­nen Vers­grup­pen in den drei Tei­len des Titel­ge­dichts.

Wer die­sen (Vor-)Namen trägt, muss viel­leicht so schrei­ben: vol­ler Bild­ge­walt, vol­ler Wis­sen, immer alles wol­lend und auch alles sagen wol­lend, Tex­te vol­ler Welt­hal­tig­keit (oder viel­leicht auch Welt­all­hal­tig­keit?) und Sprach­be­herr­schung pro­du­zie­rend. Auch „Werich­bin“ über­wäl­tigt mit die­ser Viel­falt, wie immer bei Böh­mer ist das alles kaum fass­bar. Sei­ne Gedich­te hin­ter­las­sen bei mir den Ein­druck von Grö­ße und auch Erha­ben­heit (das mag mit dem hym­ni­schen Ton sei­ner Lyrik zusam­men­hän­gen), von Sprach­ge­walt und wis­sen­der Klug­heit, die den Leser empor­zu­he­ben scheint (auch wenn ich nicht unbe­dingt sagen könn­te, wohin – oder was ich dar­aus „gelernt“ hät­te): Man kann – und das behaup­te ich ja ger­ne von guten Kunst­wer­ken – das nicht lesen (bzw. sehen oder hören), ohne danach ein ande­rer Mensch zu sein. Und hat immer etwas von per­ma­nen­ter Über­for­de­rung: Ich habe beim Lesen immer das Gefühl, dass mir viel ent­geht – zugleich aber auch den Ein­druck, dass ich ganz viel davon habe, das jetzt zu lesen. Micha­el Braun hat in sei­ner Rezen­si­on wohl nicht ganz zu Unrecht dar­auf hin­ge­wie­sen, dass Böh­mers Lyrik als „Über­fluss-Pro­duk­ti­on“ funk­tio­nie­re. Das macht sie aber eben schwie­rig und fas­zi­nie­rend zugleich …
Das klei­ne Bänd­chen – sozu­sa­gen Böh­mer für Ein­stei­ger (Kad­dish ist da allein wegen sei­nes Umfangs ja schon abschre­cken­der …) – ent­hält außer den bei­den Gedich­ten noch ein kur­zes Nach­wort (das mir wenig brach­te) und drei Col­la­gen – eine bun­te vom Autor auf dem Umschlag, eine schwarz-wei­ße von ihm im Vor­satz und eine wei­te­re von Lydia Böh­mer zu Beginn von „Über das Zusam­men­fü­gen von Tei­len“.

Marc Degens: Fuck­in Sushi. Köln: DuMont 2014. 320 Sei­ten.

degens, sushiEin tol­les Buch übers Erwach­sen­wer­den in Bonn, die Musik (und den Alko­hol), das Leben und den gan­zen Rest: intel­li­gent aus­ge­dacht, schnell und flott geschrie­ben und auch zügig gele­sen – und zudem gibt es eine reich­hal­ti­ge cross­me­dia­le Beglei­tung für die, die so etwas mögen – die fängt übri­gens mit Play­lists des Prot­ago­nis­ten (u.a. sein ers­ter Ipod mit „lan­ger“ Musik) schon im Buch selbst an. Mehr zu die­ser Lese­emp­feh­lung gibt es in einem eige­nen Text, näm­lich hier.

Ulrich Lap­pen­kü­per & Ulf Mor­gen­stern (Hrsg.): Dem Otto sein Leben von Bis­marck. Die bes­ten Anek­do­ten über den Eiser­nen Kanz­ler. Mün­chen: Beck 2015. 128 Sei­ten.

lappenküper, bismarckDer Titel ist natür­lich sel­ten däm­lich. Wie­so sich der Beck-Ver­lag zu so einem Unsinn hin­rei­ßen las­sen hat, ver­ste­he ich nicht. Denn das Büch­lein hat ja durch­aus einen hohen Anspruch. Sicher, es geht um Anek­do­ten. Aber die sol­len viel leis­ten, wie die bei­den Her­aus­ge­ber in der Ein­lei­tung beto­nen:

[…] hegen die Her­aus­ge­ber die Hoff­nung, mit­els der hier ver­sam­mel­ten Äuße­run­gen von und über Bis­marck sei­ner Per­sön­lich­keit näher zu kom­men, als es manch tief­grün­di­ge his­to­ri­sche Dar­stel­lung ver­mag. (8)

Ich hal­te das prin­zi­pi­ell für gewagt und im Fal­le die­ser klei­nen Samm­lung auch für nicht erfüllt. So viel also zum Nega­ti­ven. Was bleibt dann? Eine kurio­se Samm­lung von mehr oder min­der amü­san­ten Begeg­nun­gen, Bege­ben­hei­ten und Erin­ne­run­gen Bis­marcks und sei­nes Umfel­des. Die ers­ten Jah­re sind natur­ge­mäß schwach ver­tre­ten und gera­de dort bleibt der Prot­ago­nist auch blass, wenn auch sei­ne Genia­li­tät natür­lich (schließ­lich wur­den die Anek­do­ten alle Jahr­zehn­te spä­ter nie­der­ge­schrie­ben) schon allen Ver­stän­di­gen sicht­bar war. Über­haupt ent­steht hier das Bild eines Bis­marck, der nicht so sehr „Eiser­ner Kanz­ler“ war, son­dern vor allem ein gewitz­ter Drauf­gän­ger. Das liegt natür­lich (auch) in der Natur der hier ver­sam­mel­ten Quel­len begrün­det – wie wahr das ist, kann ich nicht wirk­lich beur­tei­len. Fest­stel­len lässt sich aber auch ohne detail­lier­te Bis­marck-Kennt­nis­se die Nei­gung zur frü­hen und ziem­lich voll­stän­di­gen (Selbst-)Stilisierung.

Dane­ben wer­den aber durch­aus auch schö­ne Bege­ben­hei­ten hier berich­tet. Zum Bei­spiel über die Rol­le des Rau­chens im Frank­fu­ter Bun­des­tag, das schnell als Rang­merk­mal, als Sta­tus­sym­bol ent­deckt wird (wer darf in den Sit­zun­gen rau­chen?) und das fast genau­so schnell sei­ne Untaug­lich­keit dafür erweist, weil schließ­lich (nahe­zu) alle rau­chen, selbst wenn sie, d.h. die Gesand­ten, es nur unter größ­tem per­sön­li­chem Wider­wil­len tun. Auch schön: Bis­marcks etwas däm­li­cher Feld­zug gegen die Anti­qua-Dru­cke und sein Bestehen auf Frak­tur-Schrif­ten für den Dienst­ge­brauch. Und hier darf natür­lich nicht feh­len: Sein Wider­stand gegen die Ein­füh­rung einer neu­en Recht­schrei­bung (1876). Dazu heißt es in die­sem Bänd­chen, das alles in allem doch eine net­te Lek­tü­re für zwi­schen­durch ist:

Er sprach mit wah­rem Ingrimm über die Ver­su­che, eine neue Ortho­gra­phie ein­zu­füh­ren. Er wer­de jeden Diplo­ma­ten in eine Ord­nungs­stra­fe neh­men, wel­cher sich der­sel­ben bedie­ne. Man mute dem Men­schen zu, sich an neue Maße, Gewich­te, Mün­zen zu gewöh­nen, ver­wir­re alle gewohn­ten Begrif­fe, und nun wol­le man auch noch eine Sprach­kon­fu­si­on ein­füh­ren. Das sei uner­träg­lich. Beim Lesen auch noch Zeit zu ver­lie­ren, um sich zu besin­nen, wel­chen Begriff das Zei­chen aus­drü­cke, sei eine uner­hör­te Zumu­tung. Eben­so sei es Unsinn, Deutsch mit latei­ni­schen Let­tern zu schrei­ben und zu dru­cken, was er sich in sei­nen dienst­li­chen Bezie­hun­gen ver­bit­ten wer­de, solan­ge er noch etwas zu sagen habe. (79)

außer­dem gele­sen:

  • Mar­cel Bey­er: XX. Lich­ten­berg-Poe­tik­vor­le­sun­gen. Göt­tin­gen: Wall­stein 2015 (Göt­tin­ger Sudel­blät­ter). 80 Sei­ten.
  • Ber­tolt Brecht: Der gute Mensch von Sezu­an. Para­bel­stück. Frank­furt am Main: Suhr­kamp 1964. 144. Sei­ten.
  • Gott­fried Imma­nu­el Wen­zel: Ver­bre­chen aus Infa­mie. Eine thea­tra­li­sche Men­schen­schil­de­rung für Rich­ter und Psicho­lo­gen in drei Akten. Mit einem Nach­wort her­aus­ge­ge­ben von Alex­an­der Koseni­na. Han­no­ver: Wehr­hahn 2014 [1788] (Thea­ter­tex­te, Bd. 43). 64 Sei­ten.

Musik, Alkohol – und Bonn: „Fuckin Sushi“ von Marc Degens

degens, sushi
Das ist – man muss es so direkt sagen – ein gran­dio­ses Buch. Viel­leicht liegt das gera­de an sei­ner Unschein­bar­keit. Denn eigent­lich erzählt Marc Degens etwas, das man so ähn­lich schon tau­send­mal (und in letz­ter Zeit auch gehäuft) lesen konn­te: Das Erwach­sen­wer­den in der Pro­vinz. Nun gut, Pro­vinz ist für Bonn viel­leicht zu bös­ar­tig, aber es trifft das Gefühl des Prot­ago­nis­ten Niels. Der ist 17 Jah­re alt, gera­de mit sei­nen Eltern (von denen wir sehr wenig erfah­ren) von Gel­sen­kir­chen nach Bonn umge­sie­delt und wid­met sich zuneh­mend der Musik. Zunächst vor allem hörend – und zwar nur lan­ge Lie­der, kei­ne kur­zen (Hit-)Songs -, bald aber auch, zusam­men mit sei­nem Freund René bzw. R@ selbst musi­zie­rend. Die star­ten, das wird nicht so ganz klar, ent­we­der als Genies oder als eine Art „Genia­le Dil­le­tan­ten“ mit einer Mischung aus Kon­zert, Per­for­mance und Hap­pe­ning vor dem Café, das Hei­no gehört. Dar­aus ent­wi­ckelt sich dann schnell gro­ßes, näm­lich „Fuck­in Sushi“, zunächst als Trio, dann als Quar­tett, und am Schluss wie­der als Trio – dann aber ohne Niels. Dazwi­schen steht ein mehr­mo­na­ti­ger Rausch an und mit der Musik (und jede Men­ge Alko­hol und Ziga­ret­ten …). „Fuck­in Sushi“ lan­det mehr oder weni­ger zufäl­lig einen You-Tube-Hit, tin­gelt kurz durch Deutsch­land, zer­strei­tet sich, zer­fällt an Que­re­len und der Unei­nig­keit über die Aus­rich­tung der Band. Niels ver­kraf­tet den Aus­schluss nicht so gut, unter­nimmt auch einen Pseu­do-Selbst­mord­ver­such im Hoch­was­ser des Rheins, gam­melt lan­ge vor sich hin und fin­det sich schließ­lich – wie­der­um mit Hil­fe einer Frau – in New York, wo er sich als Schrift­stel­ler neu erfin­det, der Fuck­in Sushi nie­der­schreibt.

Das klingt, so erzählt, banal und lang­wei­lig. Das Ent­schei­den­de am Roman von Marc Degens ist aber das Wie des Erzäh­lens, vor allem sei­ne Spra­che: Die ist direkt und unver­fälscht – sie lässt den Leser in den Rausch und die Glück­se­lig­keit des Musik­ma­chens sehr unmit­tel­bar ein­tau­chen. Und sie lässt ihn auch die Schwie­rig­kei­ten des Älter- oder Erwach­sen­wer­dens von Niels sozu­sa­gen haut­nah mit­er­le­ben. Dass Fuck­in Sushi neben­bei auch noch eine ziem­lich rea­lis­ti­sche Schil­de­rung der BRD am Anfang des 21. Jahr­hun­derts, ins­be­son­de­re Bonns und Umge­bung, ist, kann man als net­te Zuga­be ver­bu­chen. Wich­ti­ger ist aber das Tem­po, der Dri­ve und der Witz, mit dem Degens erzählt. Der Kri­ti­ker der „taz“, Jens Uthoff, hat das sehr gut auf den Punkt gebracht: „Über wei­te Stre­cken ist Fuck­in Sushi eine span­nend geschrie­be­ne Hom­mage an das Unre­gle­men­tier­te, das Unre­flek­tier­te, das Jung­fräu­li­che der Jugend – wobei auch dies­be­züg­lich die Zwi­schen­tö­ne, ein heu­te anders erleb­tes „No future“, stim­men.“

So laut die Band „Fuck­in Sushi“ ist, so lei­se kommt – und doch ziem­lich erwart­bar – das Ende: Es kommt, wie es kom­men muss, die Band zer­strei­tet sich, Niels wird raus­ge­wor­fen, weil, das klang vor­her schon immer wie­der an, die Band sich stär­ker an Hits und Rezi­pi­en­ten ori­en­tiert und die Begeis­te­rung und das empa­thi­sche Auf­ge­hen im Akt des Musi­zie­rens in den Hin­ter­grund gerät. Damit – und mit den Depres­sio­nen Niels‘ – gerät aller­dings auch das zen­tra­le Prin­zip von „Fuck­in Sushi“ in Bedräng­nis: Mit dem „Abrent­nern“ ist es sowohl bei der Band als auch bei Niels nicht mehr so weit her. Dabei klang das vor­her doch noch nach so einer tol­len Idee: „Welt­frie­den und Abrent­nern sofort“ ist nicht nur der Slo­gan der Band, son­dern auch ein Ide­al ihrer Prot­ago­nis­ten, zumin­dest von Niels. Der for­mu­liert ein­mal sehr tref­fend:

»Abren­tern ist gut«, sag­te ich war­nend. »Aber man darf auf kei­nen Fall vera­de­nau­ern.« (269)

Nach der begeis­ter­ten Begleit­schrei­ben-Rezen­si­on muss­te ich das auch lesen. Und ich kann Gre­gor Keu­sch­nig ziem­lich voll­kom­men zustim­men, des­we­gen brau­che ich das hier nicht noch mal alles aus­zu­brei­ten: Das ist ein guter Roman. Sicher, Degens fokus­siert das sehr stark auf sei­nen Prot­ago­nis­ten Niels. Das hat etwas vom Tun­nel­blick: alles, was nicht mit ihm, R@ und vor allem eben der Musik, also in ers­ter Linie „Fuck­in Sushi“, zu tun hat, wird ziem­lich radi­kal aus­ge­blen­det oder zumin­dest an den Rand gedrängt. Es geht dem Rest der Figu­ren (und auch des Lebens Niels) dabei ein biss­chen so wie den Band-Mit­glie­dern im Müll-Tower, ihrem ziem­lich abge­fuck­ten Pro­be­raum: Nur sie sind zu erken­nen, die Decke – das heißt die Umwelt – bleibt im undurch­dring­li­chen Dun­kel ver­bor­gen. Und im Müll-Tower wird es ja, ganz furcht­bar sym­bo­lisch, auch immer dunk­ler und käl­ter, je wei­ter sich Niels und der Rest der Band von ein­an­der ent­fer­nen (die­se etwas plat­te Sym­bo­lik ist nicht das stärks­te Moment, aber ande­rer­seits auch nicht über­mä­ßig auf­dring­lich) … War­um es aber die­se selt­sa­men, halb­her­zi­gen Ver­su­che gibt, die­ses Dun­kel zu durch­bre­chen, mit ziem­lich auf­wen­di­gen Vor­be­rei­tun­gen und Ein­käu­fen von extrastar­ken Taschen­lam­pen (aber eben immer nur Taschen­lam­pen, nie Schein­wer­fern, obwohl Strom ja da wäre und für die Band-Instru­men­te ja auch nötig ist …) und so wei­ter, und zwar sowohl von Niels als auch von Lloyd, die aber bei­de damit irgend­wie sehr vor­her­seh­bar schei­tern und die­se Aus­leuch­tungs­ver­su­che dann auch nicht wei­ter ver­fol­gen, bleibt mir recht unklar. Doch das nur neben­bei … Denn der Witz von Fuck­in Sushi ist ja eher, dass es sich gar nicht über­mä­ßig um tie­fe­re Bedeu­tung, gro­ße Zusam­men­hän­ge, hohen Sinn bemüht, son­dern genau die Suche eines jun­gen Erwach­se­nen, eines erwach­sen wer­den­den Jugend­li­chen, nach die­sen Zusam­men­hän­gen, nach einem Stand­punkt, einer Deu­tung des Lebens, der Welt und des gan­zen Rests genau und mit­füh­lend beschreibt, ohne sen­ti­men­tal oder flach zu wer­den. Dar­in liegt die gro­ße Stär­ke und nicht zuletzt das gro­ße Ver­gnü­gen von Degens‘ Roman.

Bonn war eine schö­ne, alte Frau, in deren Gesicht an man­chen Stel­len der Schä­del durch­schien. Nicht durch die Pracht­bau­ten wur­de die Stadt ver­edelt, son­dern durch den Schmutz und den Dreck. Die Fixer und Stri­cher am Haupt­bahn­hof waren das Geils­te an Bonn. Sie schür­ten die Angst und die Angst war der Motor unse­rer Musik. Ohne Musik aber gab es nur noch Angst. (292)

Marc Degens: Fuck­in Sushi. Köln: DuMont 2015. 320 Sei­ten. ISBN 9783832197476.[/su_box]

Aus-Lese #39

Lud­wig Wind­er: Der Thron­fol­ger. Ein Franz-Fer­di­nand-Roman. Wien: Zsol­nay 2014. 576 Sei­ten.

winder, thronfolger

Ein schö­ner und guter Roman eines ver­ges­se­nen Autors zu einem bekann­ten The­ma. Lud­wig Wind­er, in der Zwi­schen­kriegs­zeit ein berühm­ter Autor und Jour­na­list, hat mit dem „Franz-Fer­di­nand-Roman“ Der Thron­fol­ger ein rich­tig gutes Buch geschrie­ben, das lei­der lan­ge Zeit ziem­lich ver­ges­sen war. Der Wie­ner Zsol­nay-Ver­lag hat es jetzt (mit einem Nach­wort des Spe­zia­lis­ten Ulrich Wein­zierl) neu auf­ge­legt – und so konn­te ich auch die­sem Roman, der 1937 das ers­te mal erschie­nen ist, ken­nen ler­nen.

Wind­er erzählt das Leben des Erz­her­zogs Franz Fer­di­nand trotz der aus­führ­li­chen Dar­stel­lung in stren­ger Chro­no­lo­gie des Lebens. Und weil er sti­lis­tisch dabei erstaun­lich locker bleibt, lässt sich das trotz der etwas lang­at­mi­gen Anla­ge und Struk­tur sehr gut lesen. Denn im Kern ist es eben ein star­kes, leben­di­ges Por­trät des Erz­her­zo­ges – der war ja, wenn man Wind­er glau­ben mag (und es gibt kei­nen Grund, das nicht zu tun), alles ande­re als ein lei­ben­s­wür­di­ger Cha­rak­ter: Sprö­de, harsch, krank­haft ehr­gei­zig und miss­trau­isch – ein Mis­an­throp reins­ten Geblüts sozu­sa­gen. Die radi­ka­le per­so­na­le Per­spek­ti­ve macht das zu einem dich­ten Por­trät einer his­to­ri­schen Figur, ohne sie vor­zu­füh­ren oder zu ver­ur­tei­len. Inter­es­sant wird das auch dadurch, dass im Hin­ter­grund des Tex­tes immer die Fra­ge mit­schwingt: hät­te die Geschich­te nicht auch ganz anders aus­ge­hen kön­nen? Das „fak­ti­sche“ Ende ist ja bekannt – hier wird aber immer wie­der mit der Mög­lich­keit gespielt, dass die Geschich­te des 20. Jahr­hun­derts in der Figur Franz Fer­di­nands auch ande­re Poten­zen und Poten­zia­le gehabt hät­te – die aber unge­nutzt blei­ben (und viel­leicht auch ein­fach blei­ben müs­sen).

Unter­des­sen wur­den in den Kon­fe­renz­sä­len der Gene­ral­stä­be, Minis­te­ri­en und Bot­schaf­ten, in den Salons der Muni­ti­ons­fa­bri­kan­ten, in den Schlös­sern und auf den Ver­gnü­gungs­yach­ten der Staats­ober­häup­ter, in den Klub­zim­mern der Abge­ord­ne­ten, in den Spiel­zim­mern der Offi­ziers­ka­si­nos, in den armen Man­sar­den­kam­mern jugend­li­cher Ver­schwö­rer die Plä­ne aus­ge­heckt, die zum Krie­ge füh­ren soll­ten. Leicht­fer­ti­ge Diplo­ma­ten, ehr­gei­zi­ge Gene­rä­le, ver­bre­che­ri­sche Geschäf­te­ma­cher und halb­wüch­si­ge Patrio­ten, deren natio­na­lis­ti­scher Rausch sich unver­se­hens in Blut­rau­seh wan­del­te, arbei­te­ten ein­an­der in die Hän­de, ohne es zu wis­sen. Sie jag­ten ein­an­der Angst ein, um die Ver­nunft zu töten. Sie woll­ten die Welt mit Angst erfül­len, um die Ver­bre­chen, die sie plan­ten, zu ent­schul­di­gen. Sie sag­ten den Völ­kern, der Feind gön­ne ihnen das Leben nicht und wol­le ihnen den Lebens­raum ver­kür­zen. Sie for­der­ten den Feind her­aus, den ers­ten Schuss abzu­ge­ben, das Signal zum gro­ßen Mas­sen­mord. Sie hat­ten Angst vor dem ers­ten Schuss, den sie inbrüns­tig ersehn­ten. (454)

Domi­nik Dom­brow­ski: Fremd­be­stäu­bung. Köln: para­si­ten­pres­se 2014. 44 Sei­ten.

dombrowski, fremdbestäubungGute Gedich­te schei­nen mir das zu sein, der „Güte“ schwer zu fas­sen sind: Da sind star­ke, anzie­hen­de Bil­der, die ganz wun­der­bar selbst­ver­ständ­lich wir­ken. Da ist die Bewe­gung der Spra­che, die sich unge­hin­dert und wie von selbst enfal­tet. Und das Fort­schrei­ten im Text und der Welt, auch in der Zeit: immer wei­ter, nicht ras­ten, nicht ruhen … Da ist die sze­ni­sche Nar­ra­ti­on, die immer wie­der auf­taucht. Die Rei­hung von kur­zen Sequen­zen, die geschnit­ten (Cut!) Bil­der, die Rea­li­tät und Spra­che mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­ren las­sen (oder auch nicht), zumin­dest in Bezie­hung set­zen, sie auf­ein­an­der tref­fen las­sen. Scha­de nur, dass der Band von Dom­brow­ski so kurz ist …

Archi­va­re
Schif­fe zu fal­ten den Eis­bä­ren
dort unten
wo ihnen die Schol­len
weg­bre­chen
haben
wir jetzt nicht
das Papier

So fil­men wir
wei­ter ihr
pola­res Trei­ben
vom Hub­schrau­ber aus (30)

Hans Plesch­in­ski: Der Holz­vul­kan. Ein deut­scher Fest­brief. Mit einem Nach­wort von Gus­tav Seibt. Mün­chen: Beck 2014 (tex­tu­ra). 96 Sei­ten.

pleschinski, holzvulkanEine kurio­se Erzäh­lung eines kurio­sen Gesche­hens der an Kurio­si­tä­ten nicht gera­de armen deut­schen Geschich­te: Der Erzäh­ler triff auf die Geschich­te, die sich in Form eines Art Füh­rers und Erzäh­lers sowie der traum­haf­ten Ver­ge­gen­ständ­li­chung der his­to­ri­schen Bau­ten und Ansich­ten dar­stellt und zeigt. Es geht um einen etwas aus­ge­flipp­ten deut­schen Her­zog des 17. Jahr­hun­dert, den Anton Ulrich von Braun­schweig-Wol­fen­büt­tel, der nicht nur (extrem aus­ufern­de) Roma­ne schrieb, son­dern auch als Fes­te-Arran­geur und Mäzen sein klei­nes HZer­zog­tüm­chen zu einem euro­päi­schen Zen­trum der Küns­te und der reprä­sen­ta­ti­ven Dar­stel­lung machen woll­te – und damit so gran­di­os und kra­chend schei­tert, dass es Plesch­in­ski wun­der­ba­ren Stoff zum Erzäh­len gibt. Und auf den weni­gen Sei­ten macht er das aus­ge­spro­chen leben­dig und sym­pa­thisch, mit raf­fi­nier­ten erzäh­le­ri­schen Vol­ten, die dem Gegen­stand des Illu­si­ons­thea­ters wun­der­bar ange­mes­sen sind – und zugleich ein Bei­spiel, wie man kunst­voll Geschich­te (nach-)erzählen kann. Also: eine schö­ne, unter­hal­ten­de und auch beleh­ren­de Lek­tü­re für zwi­schen­durch (zumal das Büch­lein bei Beck auch nett gemacht und um eini­ge Kup­fer­sti­chen ergänzt wur­de).

Deut­sches Barock ist den Deut­schen am frem­des­ten, weil’s dort nicht mal um Gemüt­lich­keit ging (75)

Patrick Mais­a­no: Mez­zo­gior­no. Salz­burg u.a.: müry salz­mann 2014. 152 Sei­ten.

maisano, mezzogiornoEin schö­nes und gelun­ge­nes erzäh­le­ri­sches Expe­ri­ment, die­ses Debüt von Mais­a­no: Zwei Erzäh­ler – auch noch bei­de Archi­tek­ten – strei­ten sich um die Wahr­heit des Erzäh­lens, der Erin­ne­rung und der Deu­tung der Gegen­wart. Zugleich ist das auch ein Streit zwei­er Lebens­ent­wür­fe: Der genia­le, fau­le und orga­ni­sier­te Archi­tekt gegen den ord­nungs­fi­xier­ten, unter­neh­me­ri­schen, aber ideen­lo­sen Bau­in­ge­nieur und Pla­ner.
Die Men­schen blei­ben allein, die Fami­li­en tau­chen als Idee und Erzäh­lung öfter und wirk­li­cher auf als in der „wah­ren“ Rea­li­tät: Patricks tro­cke­nes Berich­ten und Toms unbe­schwer­tes Fabu­lie­ren kon­kur­rie­ren um den Leser – glaub­haft sind natür­lich bei­de nicht, wie sich zuse­hends her­aus­stellt. Dass bei­den Prot­ago­nis­ten und Erzäh­lern am Ende dann ganz sym­bo­lisch und reell der Boden und das Fun­da­ment unter den Füßen weg­rutscht – das Cha­let, in dem sie sich befin­den, fällt einem Berg­rutsch zum Opfer – ist dann fast schon zu offen­sicht­lich. Aber bis dahin hat man beim Lesen an die­sem rasan­ten Text eine Men­ge Ver­gnü­gen gehabt.

Lutz Sei­ler: im fel­der­la­tein. Ber­lin: Suhr­kamp 2010. 102 Sei­ten.

seiler, felderlatein„daheim an den gedich­ten“ ist Lutz Sei­ler: Auch wenn er jetzt für sei­nen Roman „Kru­so“ so sehr gelobt ist: Er ist vor alle­dem ein vor­treff­li­cher und aus­ge­spro­chen klu­ger Lyri­ker. Schon pech & blen­de hat das gezeigt, im fel­der­la­tein gelingt es erneut: Hier ist eine eige­ne Stim­me und ein eige­ner Den­ke. Sei­lers Gedich­te machen immer wie­der die Zeit selbst zum The­ma:

[…] immer

in der schwe­be, die
schät­ze die­ser zeit

- eine Zeit, die sich in der Erin­ne­rung zeigt oder als Gegen­wart der Ver­gan­gen­heit im Augen­blick der Emp­fin­dung und Wahr­neh­mung. Vor allem aber geht es ihm immer wie­der um die Ver­bi­dun­gen und Ver­knüp­fun­gen von Natur, Mensch und eben Zeit. Ein Gedicht wie „im fel­der­la­tein“ macht das beson­ders deut­lich. Schon der Titel ver­knüpft alle drei Berei­che: Den Men­schen mit sei­ner Spra­che – aber einer Spra­che, die „aus­ge­stor­ben“ ist, die Spra­che der Ver­gan­gen­heit ist, aber in unse­rer Gegen­wart immer noch lebt; und die­se Spra­che der Men­schen eben schon im Kom­po­si­tum ver­knüpft mit der Natur der „Fel­der“ – die, sobald sie Fel­der sind, ja auch schon mit dem kul­ti­vie­ren­den und abgren­zen­den Men­schen in Ver­bin­dung ste­hen. Dort, also „im fel­der­la­tein“, heißt es:

im ner­ven­bün­del drei­er bir­ken:
umris­se der exis­tenz & alte for­men
von geäst wie
schwar­zer mann & stum­mer
strom­ab­neh­mer. all

die fal­schen schei­tel, sau­ber
nach­ge­zo­gen im archiv
der glat­ten über­lie­fe­rung. gern

sagst du, es ist die käl­te, wel­che
din­ge hart im auge hält, wenn
gro­ße flä­chen schlaf wie
win­kel­schlei­fer schlei­fen in
den zwei­gen. so

sagt man auch: es ist ein baum
& wo ein baum so frei steht
muß er spre­chen

Und das zeigt sich auch in Vers­grup­pen, die deut­lich machen, dass dem Men­schen (noch) längst nicht Zugriff auf alles eigen ist:

du weißt noch immer
nicht, daß es dich gibt, doch
was geschieht
ist begrif­fen, ins brü­chi­ge dun­kel
ent­leert sich das haus (48)

In sei­nem fla­nie­ren­den Strei­fen durch Land­schaf­ten, Ver­gan­gen­hei­ten und Typen (Rück­kehr ist der ent­schei­den­de Begriff heir, nicht die Ankunft!) gelin­gen Sei­ler jeden­falls immer wie­der groß­ar­ti­ge Gedich­te, die als kon­zen­trier­te, star­ke Schöp­fun­gen der Spra­che und des Den­kens so etwas wie Bestands­auf­nah­men sind (nicht ohne Grund ist „inven­tur“ eines der bes­ten gedich­te in die­sem band):

[…] & unter der erde

lie­gen die toten
& hal­ten die enden wur­zeln im mund (49)

Moni­ka Rinck: I am the zoo. Ost­heim: Peter Engst­ler 2014. 52 Sei­ten.

rinck, zooWie schon bei Hel­le Ver­wir­rung und Hasen­hass belässt es Rinck auch hier nicht bei der Schrift, beim Text allein, son­dern arbei­tet mit Zeich­nun­gen zuam­men. Genau­er gesagt: Sie arbei­te­te mti der Zeich­ne­rin Nele Brön­ner zusam­men. Die leg­te täg­lich eine von 24 Zeich­nun­gen vor, zu der Rinck tex­te­te, was wie­der­um Brön­ner zur nächs­ten Zeich­nung ver­an­lass­te etc: Die gegen­sei­ti­gen Rück­kopp­lun­gen ent­wi­ckeln sich hier Sei­te für Sei­te zu einer Fabel – einer fabel­haf­ten, phan­tas­tisch-spie­le­ri­schen Geschich­te. „Irri­tier­te Ver­hei­ßung“ heißt es ein­mal im Text – und das passt recht gut: Gegen­sei­ti­ge Irri­ta­ti­on beflü­gelt die Phan­ta­sie, die immer neu­es, ande­res, unge­plan­tes ver­heißt. Und das dann nicht unbe­dingt ein­löst: Die­ses Buch (ich scheue mich, nur vom Text zu spre­chen, die Zeich­nun­gen sind schließ­li­che ele­men­ta­rer Teil des Wer­kes) ist nie lang­wei­lig, weil die Ent­wick­lung zwar zu beob­ach­ten ist, aber nie vor­her­seh­bar wird. Und weil dazu noch die Spra­che Moni­ka Rincks zwi­schen Pro­sa und Lyrik schwankt, wenn man das so sagen darf, ihre poe­ti­sche Qual­ti­ät des Klangs und der Nicht-All­täg­lich­keit beson­ders betont, ist das ein Werk ganz nach mei­nem Ver­gnü­gen: Ein Buch, das mit dem Unter­ti­tel Geschich­ten vom inne­ren Biest gar nicht so schlecht umschrie­ben ist.

Sibyl­le Berg: Der Tag, als mei­ne Frau einen Mann fand. Mün­chen: Han­ser 2015. 256 Sei­ten.

berg, tagIn gewis­ser Wei­se ist das wie­der ein typi­scher Sibyl­le-Berg-Roman – und das ist ja schon ein­mal ein guter Start. Der Klap­pen­text des übri­gens sehr schön gemach­ten und in fei­nem Lei­nen gebun­de­nen Buch ver­heißt:

Chloe und Ras­mus sind seit fast zwan­zig Jah­ren ver­hei­ra­tet, und ja, alles bes­tens, man hat sich ent­wi­ckelt, man ist sich ver­traut. Aber dass die­ses Leben nun ein­fach so wei­ter­ge­hen soll, ist auch nicht aus­zu­hal­ten. […] Sibyl­le Berg stellt die Fra­ge, die alle Paa­re irgend­wann ein­mal beschäf­tigt: Ist Sex lebens­not­wen­dig? Oder doch eher die Lie­be?

Und das passt schon ganz gut: Berg erzählt (wie­der ein­mal) aus der Höl­le der Selbst­fin­dung eines ziem­lich frus­trier­ten Paa­res. Es geht in wech­seln­der Per­spek­ti­ve aus der Sicht der bei­den Prot­ago­nis­ten Ras­mus und Chloe um das Abnut­zen der Gefüh­le, um das Lei­den am Leben, um die unend­li­che ernüch­tern­de und nüch­ter­ne Aus­weg­lo­sig­keit des All­tags. In kur­zen Kapi­tel und kla­rer, knap­per und prä­zi­ser Pro­sa beschreibt Berg die auf­däm­mern­de Kata­stro­phe der Paar­be­zie­hung, das Umschla­gen, die völ­li­ge Zer­stö­rung und Neu­schaf­fung. Das ist Lite­ra­tur, die kurz­fris­tig unter­hält und nach­hal­tig ver­stö­ren kann, wie Richard Käm­mer­lings ganz rich­tig beob­ach­tet hat. Und genau die­se Kom­bi­na­ti­on aus Unter­hal­tung und Ver­stö­rungs­po­ten­zi­al, aus Humor und tie­fem, dunk­lem Ernst ist es, was mir an Bergs Büchern immer wie­der zusagt.

Die Auf­re­gung. Hat sich abge­nutzt, wie alle Gefüh­le, ich hat­te jedes schon ein­mal. Es wird kein neu­es dazu­kom­men. Das ist das Grau­en der mitt­le­ren Jah­re. Die Lan­ge­wei­le und die noch all­zu nahe Erin­ne­rung an Zei­ten, in denen alles zum ers­ten Mal pas­sier­te. (50)

außer­dem gele­sen:

  • Hele­ne Hege­mann: Axolotl Road­kill. Ber­lin: Ull­stein 2010. 204 Sei­ten.
  • Ursu­la Kre­chel: Shang­hai fern von wo. 2. Auf­la­ge. Mün­chen: btb 2010. 508 Sei­ten.
  • Ursu­la Kre­chel: Land­ge­richt. 5. Auf­la­ge. Salz­burg, Wien: Jung und Jung 2012. 495 Sei­ten.
  • Rüdi­ger Bitt­ner & Susan­ne Kaul: Mora­li­sche Erzäh­lun­gen. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014 (Klei­ne Schrif­ten zur lite­ra­ri­schen Ästhe­tik und Her­me­neu­tik, Band 5). 74 Sei­ten.
  • Frank R. Ankers­mit: Die his­to­ri­sche Erfah­rung. Ber­lin: Matthes & Seitz 2012. 112 Sei­ten.
  • Mark Row­lands: Der Läu­fer und der Wolf (sie­he neben­an im Lauf­blog)

Ins Netz gegangen (12.10.)

Ins Netz gegan­gen am 12.10.:

  • Lite­ra­tur-Nobel­preis: Georg Diez über Patrick Modia­no und Lutz Sei­ler – SPIEGEL ONLINE – georg diez hadert mit dem „ästhe­ti­schen und stru­ku­rel­len kon­ser­va­tis­mus der buch­bran­che“:

    Das ist der Hin­ter­grund, vor dem der ästhe­ti­sche Kon­ser­va­tis­mus eines Romans wie „Kru­so“ zele­briert wird und erklär­bar wird: der digi­ta­le, wirt­schaft­li­che, mög­li­cher­wei­se auch poli­ti­sche Epo­chen­bruch. Die­ser Roman, der Roman an sich, so wie er gera­de defi­niert wird, ist damit vor allem eine Schutz­be­haup­tung der Erin­ne­rung.

  • Peter Kurz­eck: Der Mann, der immer gear­bei­tet hat – der stroem­feld-ver­lag wird/​will wohl alles, was kurz­eck hin­ter­las­sen hat, zu geld machen. bei einem autor, der der­ma­ßen fast manisch kor­ri­gier­te und ver­bes­ser­te bis zum schluss, hal­te ich frag­ment-aus­ga­ben ja nur für mäßig sinn­voll (und es ist ja nicht so, als gäbe es nicht genug kurz­eck zu lesen …). aber trotz­dem freue ich mich und bin gespannt, was da noch kommt in den nächs­ten jah­ren

    Und dann sind da noch die Notiz­zet­tel, die Kurz­eck zu Mate­ri­al­samm­lun­gen zusam­men­ge­stellt hat, mit Titeln wie „Stau­fen­berg II“ und „Stau­fen­berg III“. Sie dien­ten ihm zur Arbeit an „Kein Früh­ling“ und „Vor­abend“, zei­gen aber auch, dass „Ein Som­mer, der bleibt“, das ers­te der erfolg­rei­chen Erzähl-Hör­bü­cher, die Kurz­eck seit 2007 ein­sprach, schrift­li­che Vor­stu­fen gehabt hat. Mit­ten­drin ein Notiz­zet­tel, der wie der Anfang von allem anmu­tet: „Das Dorf steht auf einem Basalt­fel­sen eh + je. Jetzt soll es das Dorf wer­den (sein) + liegt uner­reich­bar im Jahr 1947, im Abend.“ Uner­reich­bar. Das Ver­gan­ge­ne wie­der erreich­bar zu machen, hat Kurz­eck bis zuletzt ver­sucht. Los­se erin­nert sich an eine Bemer­kung des Autors im Frank­fur­ter Kran­ken­haus: „Wir hät­ten noch mehr arbei­ten müs­sen.“ An der Prä­sen­ta­ti­on des­sen, was fer­tig gewor­den ist, arbei­tet Kurz­ecks Ver­lag.

  • Schat­ten­bi­blio­the­ken: Pira­te­rie oder Not­wen­dig­keit? – sehr span­nend: In gewal­ti­gen, frei zugäng­li­chen Online-Daten­ban­ken ver­brei­ten anony­me Betrei­ber wis­sen­schaft­li­che Lite­ra­tur, ohne Beach­tung des Urhe­ber­rech­tes. Doch die digi­ta­len Samm­lun­gen sind nicht nur Pira­te­rie, sie wei­sen auch auf gro­ße Ver­säum­nis­se der Wis­sen­schafts­ver­la­ge hin – sagt der unga­ri­sche Pira­te­rie-For­scher Balázs Bodó. Im Inter­view mit der Jour­na­lis­tin Miri­am Ruhen­stroth erklärt er, wie­so die Schat­ten­bi­blio­the­ken in Ost- und Mit­tel­uro­pa so gefragt sind und wie das Pro­blem zu lösen wäre.
  • Mari­hua­na: Die selt­sa­me Ver­fol­gung der nüch­ter­nen Kif­fer | ZEIT ONLINE -

    Wer kifft, gefähr­det den Stra­ßen­ver­kehr. Auch ohne Rausch, jeder­zeit. Das glau­ben zumin­dest Behör­den. Sie ent­zie­hen selbst nüch­ter­nen Taxi­kun­den den Füh­rer­schein. […] Behör­den haben anschei­nend Gefal­len dar­an gefun­den, über den Umweg des Ver­wal­tungs­rechts, eigen­mäch­tig ein biss­chen für Ord­nung unter Can­na­bis-Kon­su­men­ten zu sor­gen.

  • xkcd: The Sake of Argu­ment – xkcd über’s Argu­men­tie­ren: The Sake of Argu­ment
  • Ado­be is Spy­ing on Users, Coll­ec­ting Data on Their eBook Libra­ri­es – The Digi­tal Rea­der – ado­be spio­niert mit digi­tal edi­ti­ons 4 die nut­zer aus: im klar­text (!) wer­den nicht nurin de4 geöff­ne­te bücher mit ihren meta­da­ten und denen der lese­rin über­tra­gen, son­dern de4 durch­sucht auch ohne sich das geneh­mi­gen zu las­sen den gesam­ten com­pu­ter nach irgend­wel­chen ebooks (auch sol­chen, die nicht in de4 benutzt wer­den), um deren daten eben­falls an ado­be zu sen­den. grau­sam.
  • Ego­is­ti­sche Zwei­sam­keit: Ersatz­re­li­gi­on Lie­be – Men­schen – FAZ – mar­kus gün­ther über die „ersatz­re­li­gi­on lie­be“, die sich in letz­ter zeit immer mehr aus­brei­tet (und abso­lut setzt):

    Zu den Kol­la­te­ral­schä­den der Ersatz­re­li­gi­on Lie­be gehö­ren aber auch die vie­len Men­schen, die allein sind. Ihr Leben wird als defi­zi­tär wahr­ge­nom­men. Man ver­mu­tet, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Dass jemand frei­wil­lig einen ande­ren als den Weg in die Part­ner­schaft geht, ist schlech­ter­dings unver­ständ­lich. Dass jemand einen geeig­ne­ten Part­ner nicht gefun­den hat, gilt als sein ganz per­sön­li­ches Ver­sa­gen. So oder so, er hat von sei­ner Umwelt bes­ten­falls Mit­leid zu erwar­ten.
    […] Ist der Mythos Lie­be nicht wenigs­tens dafür gut, den Men­schen aus sei­nem Ego­is­mus her­aus­zu­füh­ren? Ist die Sehn­sucht nach Part­ner­schaft nicht immer noch bes­ser als die Selbst­sucht? Die Ant­wort lau­tet: Die­se Art der Lie­be ist nur schein­bar eine Über­win­dung der eige­nen Gren­zen. In Wahr­heit han­delt es sich um eine Fort­set­zung der Ich-Bezo­gen­heit mit ande­ren Mit­teln, denn die Trieb­kraft, die wirkt, ist ja, wenn man ehr­lich ist, gar nicht der Wunsch zu lie­ben, son­dern der, geliebt zu wer­den.

  • Deut­scher His­to­ri­ker­tag: Die The­se vom Son­der­weg war ja selbst einer – jür­gen kau­be berich­tet sehr lau­nig, poin­tiert (und mit gemei­nen, natür­lich abso­lut fehl­ge­lei­te­ten sei­ten­hie­ben gegen die ger­ma­nis­tik …) vom göt­tin­ger his­to­ri­ker­tag:

    Man kann ver­mut­lich lan­ge war­ten, bis zum ers­ten Mal ein Ban­kier, eine Schrift­stel­le­rin oder ein Aus­län­der den His­to­ri­ker­tag eröff­net.

    Wäre es nicht an der Zeit, ein­mal zum The­ma „Ver­gan­gen­heit“ zu tagen?

    Eine sinn­vol­le Ein­heit des­sen, was die His­to­ri­ker tun, die sich durch alle ihre For­schun­gen zöge, gibt es nicht. Und wenn die Göt­tin­ger Stich­pro­be nicht täusch­te, dann gibt es nicht ein­mal Haupt­li­ni­en oder Trends.

  • Wil­der Kai­ser extre­me on Vimeo – wohl das ver­rück­tes­te video, das ich in letz­ter zeit sah (fahr­rad­fah­ren kann man die­sen stunt aller­dings kaum noch nen­nen. und ver­nünf­tig ist natür­lich auch etwas ganz ande­res …)
  • Aus­wüch­se des Regie­thea­ters: Oper der Belie­big­kei­ten – Büh­ne Nach­rich­ten – NZZ.ch – der musik­wis­sen­schaft­ler lau­renz lüt­te­ken rech­net mit dem regie­thea­ter aktu­el­ler prä­gung auf der opern­büh­ne ab:

    Denn die land­läu­fi­ge Behaup­tung, dass man etwas heu­te «so» nicht mehr machen kön­ne, ist nicht nur teleo­lo­gi­scher Unfug, sie ist über­dies unlau­ter. In den Opern­häu­sern regiert näm­lich ein unan­ge­foch­te­ner Kanon, der weit­aus fes­ter zemen­tiert ist als noch vor fünf­zig Jah­ren. So spricht gewiss nichts dage­gen, den Anteil neu­er Wer­ke zu erhö­hen, aber es ist mehr als frag­wür­dig, die alten Wer­ke mit immer neu­en Bil­dern ver­meint­lich «modern» zu machen und sich damit behag­lich im Kanon ein­zu­rich­ten. Zudem hat der Moder­ne-Begriff, der hier bedient wird – das «Ver­stö­ren­de», «Pro­vo­zie­ren­de», «Bestür­zen­de» –, inzwi­schen selbst so viel Pati­na ange­setzt, dass man ihn getrost in die Geschich­te ent­las­sen soll­te.

    ich bin durch­aus geneigt, ihm da zumin­dest in tei­len zuzu­stim­men: die regie hat sich oft genug ver­selb­stän­digt (auch wenn ich eine total­ab­leh­nung, die ich bei ihm zwi­schen den zei­len lese, nicht befür­wor­te). dage­gen führt er an:

    Die his­to­ri­sche Ver­ant­wor­tung im Umgang mit Tex­ten der Ver­gan­gen­heit ist nichts Ent­behr­li­ches, sie ist auch nicht, wie so oft behaup­tet, ein Relikt alt­mo­di­schen Phi­lo­lo­gen­tums, zumal das Argu­ment für die Musik nicht gel­tend gemacht wird. Was aber nützt eine kri­ti­sche Aus­ga­be des «Don Gio­van­ni», wenn die Sze­ne­rie kur­zer­hand (wie in Linz) von Sex and Crime der Pop-Stars erzählt? Tex­te, Par­ti­tu­ren der Ver­gan­gen­heit bedür­fen viel­mehr einer beson­de­ren Sen­si­bi­li­tät, denn erst, wenn es gelingt, im Ver­gan­ge­nen das Gegen­wär­ti­ge auf­zu­spü­ren (statt die Gegen­wart dem His­to­ri­schen ein­fach nur über­zu­stül­pen), kann sich der Rang eines Kunst­werks, auch eines musi­ka­li­schen Büh­nen­kunst­werks, bewäh­ren.

    sein argu­ment übri­gens, statt immer wie­der das sel­be neu auf­zu­fri­schen öfters mal neu­es zu spie­len, wür­de ich unbe­dingt ger­ne ver­wirk­licht sehen – ich ver­ste­he die reper­toire-fixie­rung der oper eh‘ nicht so ganz (die ja auch gewis­ser­ma­ßen unhis­to­risch ist – „die ent­füh­rung aus dem serail“ bei­spiels­wei­se war kaum dazu gedacht, heu­te noch auf­ge­führt zu wer­den …)

Aus-Lese #37

Danie­la Kri­en: Irgend­wann wer­den wir uns alles erzäh­len. Ber­lin: List 2012. 236 Sei­ten

krien, irgendwannNaja, das war kei­ne so loh­nen­de Lek­tü­re … Ich weiß auch nicht mehr, wie ich dar­auf gekom­men bin (wäre ein Grund, dem Rezensenten/​der Rezen­sen­tin Ver­trau­ens­punk­te zu ent­zie­hen …). Die Geschich­te ist schwach und teil­wei­se blöd: Ein jun­ges Mäd­chen zieht kurz vor den Som­mer­fe­ri­en auf dem Bau­ern­hof der Fami­lie ihres älte­ren Freun­des ein, ver­nach­läs­sigt die Schu­le und gibt sich lie­ber einer selt­sa­men geheim gehal­te­nen Bezie­hung zu dem mehr als dop­pelt so alten Nach­bar­bau­ern hin, die vor allem auf ihrer Aus­nut­zung und ihrem Miss­brauch (kör­per­lich, sexu­ell und psy­chisch) beruht und natür­lich tra­gisch enden muss …
Das Set­ting im Som­mer 1990 auf der Noch-DDR-Sei­te der Gren­ze ist auch nicht so span­nend, gibt aber Gele­gen­heit, ein biss­chen (frei­lich nur wenig) Poli­tik und Geschich­te ein­zu­flech­ten – und ist natür­lich ein Spie­gel der Figur Maria: In der Zwi­schen­zeit – nicht mehr Kind, noch nicht Erwach­se­ne – spie­gelt sich das Land zwi­schen DDR und BRD … Aber da die Figu­ren alle reich­lich blass blei­ben, von der Erzäh­le­rin über ihre Rest­fa­mi­lie bis zu Johan­nes und Hen­ner, kann sich da sowie­so kaum etwas ent­fal­ten. Das merkt man sehr deut­lich an der müh­sam insze­nier­ten Inter­tex­tua­li­tät: Maria wird ger­ne als begeis­ter­te Lese­rin por­trä­tiert, liest aber wochen-/mo­na­te­lang an Dos­to­jew­skis Die Brü­der Kara­ma­sow her­um, was natür­lich wenig ergie­big ist (sowie­so ist Lek­tü­re hier immer aus­schließ­lich eine iden­ti­fi­ka­to­ri­sche …). Auch die Kom­po­si­ti­on von Irgend­wann wer­den wir uns alles erzäh­len ist nicht wei­ter bemer­kens­wert, eher klein­tei­lig ange­legt, mit Schwä­chen in der Zeit­ge­stal­tung. Und die so gelob­te Spra­che – wenn man den Blurbs im Taschen­buch (gan­ze zwei Sei­ten vor dem Titel!) glau­ben darf – hat für mich kei­nen Reiz, weil sie eigent­lich doch recht gewöhn­lich ist.

alles in allem die über­stei­ger­ten Gefüh­le einer Sieb­zehn­jäh­ri­gen in den Wir­run­gen einer unru­hi­gen Zeit. (234f. – mehr muss man kaum sagen ;-) …)

Otto Basil: Wenn das der Füh­rer wüß­te. Wien, Mün­chen: Fritz Mol­den 1966. 419 Sei­ten

basil, wenn das der führer wüßte

Eine schö­ne Idee der kon­tra­fak­ti­schen Geschich­te: NS-Deutsch­land hat den Zwei­ten Welt­krieg gewon­nen und sich die hal­be Welt unter­tan gemacht (der Rest gehört zu „Soka Gak­kai“), Juden gibt es (fast) kei­ne mehr. Dann stirbt Hit­ler aber in den 60ern und wird durch Ivo Klöp­fel ersetzt – oder ist das ein Mord und Staats­streich? Die ent­spre­chen­den Ver­mu­tun­gen kur­sie­ren und geben der Hand­lung im gleich­zei­ti­gen Bür­ger­krieg und dem durch die bei­den Groß­mäch­te ent­fes­sel­ten ato­ma­ren Krieg ordent­li­che Ver­wick­lun­gen und Hand­lungs­an­trieb. Dazwi­schen treibt Höll­rie­gel umher, ein „Pendler“/Gyromant, der ver­schwö­rungs­tech­nisch in die gro­ße Poli­tik gerät und sich wie­der raus­wursch­telt (hat etwas vom Schelm, die­se Figur: wenig Ahnung, dafür aber viel Situa­ti­ons­ge­schick) und des­sen Trei­ben noch ver­quickt wird mit sei­ner Lie­be bzw. sei­nem Begeh­ren nach der (schein­bar) idea­len (in ideo­lo­gi­scher, d.h. ras­sen­ty­po­lo­gi­scher Sicht), aber unter nor­ma­len Umstän­den uner­reich­ba­ren Ulla. Das gan­ze Gewu­sel endet dann etwas des­il­lu­sio­nie­rend im Tod – aller­dings nicht durch Ver­strah­lung (das hät­te noch etwas gedau­ert), son­dern im Gefecht.
Schön an Basils Roman ist die kon­se­quen­te Wei­ter­füh­rung, das Zu-Ende-Den­ken der NS-Ideo­lo­gie mit ihren Aus­wü­chen, den Grup­pen, dem Ein­heits­wahn, der uner­schöpf­li­chen Kate­go­ri­sie­rungs­sucht etc. Ins­ge­samt lei­det das Buch aber dar­an, dass es die­se kon­tra­fak­ti­sche Welt zu sehr beschreibt und nicht durch Hand­lun­gen spre­chen lässt. Wun­der­bar spre­chend sind dage­gen die vie­len, vie­len Namen … Jeden­falls eine durch­aus unter­halt­sa­me Lek­tü­re.

Doch Adolf Hit­ler war nicht mehr, Odin hat­te sei­nen Mel­de­gän­ger zum gro­ßen Rap­port nach Wal­hall geru­fen. (50)

Jür­gen Buch­mann: Wahr­haff­ti­ger Bericht über die Spra­che der Elfen des ExterT­hals, nach denen Dia­ri­is Sei­ner Hoch Ehr­wür­den Her­ren Mar­ti­nus Oes­ter­mann, wei­land Pfar­rer an St. Jako­bi zu Alme­na. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2014. 46 Sei­ten

buchmann, bericht

Eine wun­der­ba­re Spie­le­rei ist die­ses klei­ne, fei­ne Büch­lein (schon die ISBN: in römi­schen Zif­fern, eine ech­te Fleiß­ar­beit …), eine net­te Camou­fla­ge, ech­tes Schel­men­stück (der Autor scheint ein in der Wol­le getränk­te Schelm zu sein …). Der Wahr­haff­ti­ge Bericht ist eine Art phi­lo­lo­gi­sche Fan­ta­sy (der Bezug auf Tol­ki­en taucht sogar im Vor­wort auf), nur in die Ver­gan­gen­heit ver­legt: Es han­delt sich um den (fik­ti­ven) Bericht eines gelehr­ten Land­pfar­rers, der von einer Giftmischerin/​Zigeunerin/​Heilkundigen mit den Elfen sei­nes Tales bekannt gemacht wird und Grund­zü­ge (d.h. vor allem Pho­ne­tik und Mor­pho­lo­gie) ihrer Spra­che beschreibt. Das ist ein­ge­bet­tet und kom­bi­niert mit dem Tage­buch der „Ent­de­ckung“ die­ser gehei­men (?) Spra­che bis zum Kri­mi­nal­fall des Ver­schwin­dens sowohl des Pfar­rers als auch sei­ner Infor­man­tin (ein Wech­seln ins Elfen­reich liegt ganz mär­chen­ty­pisch nahe, weil kei­ne Lei­che gefun­den wird …). Lei­der fehlt aus­ge­rech­net die Lexik der Elfen­spra­che in den „Auf­zeich­nun­gen“, so dass die Frag­men­te, die „Oes­ter­mann“ „über­lie­fert“, dum­mer­wei­se unver­ständ­lich blei­ben (aber wer weiß, viel­leicht haben sie ja sogar eine Bedeu­tung? – Das wäre eine schö­ne Auf­ga­be für einen Com­pu­ter mit einem fin­di­gen Pro­gram­mie­rer …). Das gan­ze ist von Buch­mann ver­flixt geschickt vor­ge­täuscht oder gefälscht oder nach­ge­ahmt oder par­odiert wor­den. Von dem Drum­her­um ist aller­dings nicht alles gelo­gen – das „Gelehr­ten-Lexi­con“ von Jöcher z.B., aus dem zitiert wird, gibt es durch­aus – aller­dings ohne den hier abge­druck­ten Ein­trag zu Oes­ter­mann. Und dann ist das Gan­ze – es ist ja nicht viel, kaum mehr als vier­zig Sei­ten bean­spru­chen die „über­lie­fer­ten“ Tex­te samt edi­to­ri­schen Vor­wor­ten und Anhän­gen von dem klei­nen Leip­zi­ger Dich­ter-Ver­lag Rei­ne­cke & Voß sehr schön her­aus­ge­bracht wor­den, mit ange­nehm pas­sen­dem Satz und schö­nen Schrif­ten.

Wir fas­sen die Let­tern und sto­ßen auf | Klän­ge; wir fas­sen die Klän­ge und sto­ßen auf Namen; wir fas­sen die Namen und sto­ßen auf Nichts. (15f.)

Ulf Stol­ter­foht: Das deut­sche Dich­ter­ab­zei­chen. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2012. 49 Sei­ten

stolterfoht, dichterabzeichen

Und gleich noch ein schma­les Bänd­chen von Rei­ne­cke & Voss, den Hör­spiel­text Das deut­sche Dich­ter­ab­zei­chen. des gro­ßen Lyri­kers Ulf Stol­ter­foht. Dich­tung und vor allem die Lyrik wird hier als streng regu­lier­tes, ent­beh­rungs­rei­ches Hand­werk insze­niert (ein biss­chen wie eine moder­ne Vari­an­te der Meis­ter­sin­ger …), das ist ganz nett aus­ge­dacht. Zugleich ist es aber auch noch eine „Sys­te­ma­tik“ der Lyrik mit ver­schie­de­nen „lyri­schen Typen“. Da heißt es zum Bei­spiel:

Wild­tex­te, die noch vor Zei­ten wei­te Tei­le Euro­pas besie­del­ten, haben sich mitt­ler­wei­le den immer spe­zi­el­le­ren Anfor­de­rungs­pro­fi­len unter­wor­fen. (17)

Wei­ter geht es im beleh­ren­den Gespräch über die Dich­ter-Aus­bil­dung, also die hand­werk­li­che Kom­po­nen­te des Dich­tens. Wei­te­res, ganz wich­ti­ges The­ma: Die kom­pe­ti­ti­ve Kom­po­nen­te des Dich­tens, die Lesun­gen und die Wett­be­wer­be. Das führt Stol­ter­foht als Zir­kus vor, als eine Art Dres­sur, in der die Dich­ter die Rol­le der Tier­chen über­neh­men: pos­sier­lich, gut für die Unter­hal­tung, aber nicht ernst zu neh­men … In der Radi­ka­li­tät, in der die­se mes­sen­den und ver­glei­chen­de Kom­po­nen­te der Dich­tung über­ge­stülpt wird, ist das natür­lich – dar­aus macht der Text kein gro­ßes Geheim­nis – eine Para­bel auf den deut­schen Lite­ra­tur­be­trieb der Gegen­wart. Aber eine – ganz wie es das The­ma ver­langt – unter­hal­ten­de, in der sich durch­aus – schließ­lich ist Stol­ter­foht selbst ein intel­li­gen­ter Teil­neh­mer – wah­re und tref­fen­de Beob­ach­tun­gen fin­den:

Im Zeit­al­ter hoch ent­wi­ckel­ter Pro­sa hat das Gedicht an Bedeu­tung ver­lo­ren. in dem Maße aber, in dem es aus sei­ner natür­li­chen Umge­bung ver­schwin­det, wächst sei­ne Beliebt­heit als domes­ti­zier­ter Wett­be­werbs­text. (7)

Schön auch kurz vor Schluss:

Etwas ganz beson­de­res ver­birgt sich hin­ter der Bezeich­nung „Viel­sei­tig­keits­prü­fung“: Der Drei­kampf näm­lich aus Lyrik, lyri­scher Über­set­zung und Poe­to­lo­gie – das alles an drei auf­ein­an­der fol­gen­den Tagen. (40)

Wal­ter Kem­pow­ski: Hamit. Tage­buch 1990. Ber­lin: btb 2010. Sei­ten

kempowski, hamit

Mit die­sem Buch habe ich mir Kem­pow­ski ver­lei­det, das ist zum Abge­wöh­nen …
Hamit – die dia­lek­ta­le Vari­an­te von „Hei­mat“ – ist ein Tage­buch der Zeit direkt wäh­rend bzw. nach der Wen­de. Für Kem­pow­ski heißt das: Er kann wie­der Ros­tock besu­chen, die Stadt, in der er auf­wuchs. Und auch Baut­zen, wo er ein­ge­ker­kert war. Wei­te­re The­men des Tage­buchs: Die Medi­en – wie sie über Poli­tik und über ihn berich­ten -, die Fer­tig­stel­lung von Alkor, Zwis­tig­kei­ten, Besu­che etc. Dazwi­schen taucht noch die Samm­lung von Tage­bü­chern und Erin­ne­run­gen ande­rer Leu­te immer wie­der auf (fürs sein Echo­lot und um’s dem „Ver­ges­sen zu ent­rei­ßen“), auch die Poli­tik der Gegen­wart spielt natür­lich eine Rol­le, gera­de hin­sicht­lich des Ver­ei­ni­gungs­pro­zes­ses. Das ist aber auch der Bereich, wo Kem­pow­ski vor allem sei­nen Ani­mo­si­tä­ten frei­en Lauf lässt: Außer ihm (und weni­gen ande­ren) hat nie­mand je etwas kapiert, sehen alle die Wider­sprü­che und Pro­ble­me nicht. Dabei ist das kein ganz rei­nes Tage­buch, es ist min­des­tens zwei Mal über­ar­bei­tet (und damit end­gül­tig lite­r­a­ri­siert) wor­den. Aber auch die Anmer­kun­gen aus den 2000ern ver­stär­ken die Ten­denz der Bes­ser­wis­se­rei noch las­sen ihn als den ein­zi­gen „Wei­sen“ und das gro­ße Genie erschei­nen, dass die ande­ren ein­fach nicht errei­chen. Dabei ist der gan­ze Text durch­tränkt von Res­sen­ti­ments gegen so ziem­lich alle und jeden (mit Aus­nah­me viel­leicht bestimm­ter Berei­che der Ver­gan­gen­heit). Und eine gro­ße Eitel­keit bricht sich immer wie­der Bahn: Alle, die Leser, der Lite­ra­tur­be­trieb, die Medi­en und die Kri­tik, aber auch sein Ver­lag, alle ver­ken­nen sei­ne Genia­li­tät und sei­ne Leis­tun­gen. Dabei ist er doch uner­setz­lich, wie er ganz typisch beschei­den fest­hält:

Ich gebe der Gesell­schaft ihre Geschich­ten zurück. (284)

Was wür­den wir Armen also nur ohne ihn tun!

Mir war der Kem­pow­ski, der sich hier zeigt, jeden­falls aus­ge­spro­chen unsym­pa­thisch. Lus­tig am Ran­de auch: Bei einem Ver­dienst von 50.000 DM/​Monat bzw. 1200 DM/​Tag (321) beschwert er sich immer wie­der dar­über, dass er Restau­rant­rech­nun­gen bezah­len muss/​soll: total ich­zen­triert eben, der Schrei­ber die­ser Sei­ten, der sich vor allem durch sei­ne Kau­zig­kei­ten – wie die total kon­tin­gent schei­nen­de Ableh­nung der Wor­te „Akzep­tanz“ und „Diri­gat“ (329) – aus­zeich­net.

Wenn nie­mand eine Bio­gra­phie über mich schreibt, tue ich es eben selbst. (177)

Jürg Hal­ter: Wir fürch­ten das Ende der Musik. Gedich­te. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014. 72 Sei­ten

halter, wir fürchten das ende der musik

„Für sich“ steht als Wid­mung in die­sem Gedicht­band. Und das stimmt einer­seits, ande­rer­seits aber auch über­haupt nicht. Zwar ste­hen die Gedich­te erst ein­mal „für sich“ da, geben sich recht offen und direkt dem Leser preis. Aber ande­rer­seits blei­ben sie auch gera­de nicht „für sich“, denn Hal­ter geizt nicht mit inter­tex­tu­el­len Anspie­lun­gen und Ver­wei­sen. Gera­de die Musik spielt da durch­aus eine gro­ße Rol­le. Und den­noch: Man muss die­se Inter­tex­tua­li­tä­ten nicht erken­nen, man muss ihnen schon gar nicht nach­ge­hen (obwohl das durch­aus span­nend sein könn­te, das sys­te­ma­tisch zu tun), um die Lyrik Hal­ters ver­ste­hen zu kön­nen. Oder zumin­dest glau­ben zu kön­nen, etwas ver­stan­den zu haben. Denn sei­ne Gedich­te blei­ben zugäng­lich und wol­len das wohl auch sein. Oft sind sie gera­de­zu erzäh­lend, ihre Meta­phern blei­ben leicht nach­voll­zieh­bar, die Form klar und über­sicht­lich. Manch­mal wirkt das mit dem locke­ren Sprach­duk­tus, dem leich­ten Ton mir aber auch etwas zu plät­schernd, zu pro­sa-nah, zu wenig form­be­stimmt für Lyrik.
Doch gibt es durch­aus schö­ne und span­nen­de Text in die­sem Band. Da zeigt sich nicht nur die Ver­wur­ze­lung Hal­ters und Tra­di­ti­on und Inter­tex­tua­li­tät (sei­ne Gedich­te schöp­fen viel aus oder mit der Kul­tur und ihrer Geschich­te), da ist auch ein anre­gen­des Spiel mit sich selbst immer wie­der zu beob­ach­ten, die Selbst­re­flex­ti­on des Lyri­kers und des Gedich­tes zu erken­nen. Inter­es­sant ist auch das immer wie­der auf­tau­chen­de Zeit­kon­zept – ein sehr vages Kon­zept von Zeit, das nicht auf das Tren­nen­de von Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart abzielt, son­dern auf den Über­gang, die flie­ßen­de Ent­wick­lung: Vom Holo­zän bis zum Jetzt und dem Augen­blick sind ein­zel­nen Momen­te kaum zu fas­sen und zu bestim­men:

Etwas hat begon­nen, dau­ert an oder ist vor­über. (25)

Nicht alles ist sprach­lich oder inhalt­lich sehr stark, gera­de im Abschnitt IV („O, auf­ge­klär­tes Leben, unse­re Dro­ge!“ über­schrie­ben) schei­nen mir eini­ge schwa­che Tex­te den Weg in den Druck gefun­den zu haben. Die Digi­tal-Skep­sis in „Hyp­no­se“ ist zum Bei­spiel ziem­lich ober­fläch­lich und bil­lig. Dazwi­schen gibt es aber immmer wie­der schö­ne Momen­te, die das Lesen den­noch lesens­wert mache, wie etwa die „Eine sich stets wie­der­ho­len­de Sze­ne“:

Die sich lee­ren­den Stra­ßen
an einem Som­mer­abend
in einer klei­nen Stadt.
Das Rück­licht des letz­ten Bus­ses,
ein leich­ter Wind, der geht.
Im Ohr ein Lied über
das Ende einer Freund­schaft.

außer­dem noch:

  • Jost Amman & Hans Sachs: Das Stän­de­buch (1568).
  • Geor­ges Duby: Die Zeit der Kathe­dra­len.

Aus-Lese #36

Nor­bert Scheu­er: Bis ich dies alles lieb­te. Neue Hei­mat­ge­dich­te. Mün­chen: Beck 2011. 101 Sei­ten

scheuer, bisIm Jahr 2011 Hei­mat­ge­dich­te zu schrei­ben, ist natür­lich eine Pro­vo­ka­ti­on – die Gat­tung gilt (genau­so wie „Hei­mat“ über­haupt) als erle­digt und über­holt. Aber immer­hin sind es „Neue Hei­mat­ge­dich­te“, die Nor­bert Scheu­er hier vor­ge­legt hat. Und sie sind lan­ge nicht so pro­vo­zie­rend, wie man erwar­ten mag. Was auch damit zusam­men­hän­gen dürf­te, dass sie schon als Gedich­te – unab­hän­gig von ihrer The­ma­tik – nich so sehr pro­vo­zie­ren kön­nen und wol­len. Eine leich­te Weh­mut lässt sich oft erken­nen, vor allem aber zeich­net die Hei­mat­ge­dich­te Scheu­ers wohl so etwas wie eine Zufrie­den­heit mit der „Hei­mat“ trotz der vorhandenen/​erworbenen Kennt­nis des Ande­ren (als das wären: Welt, Unsterb­lich­keit der Lite­ra­tur und der­glei­chen mehr) aus. „Hei­mat“ selbst ist ja eigent­lich eine sehr unge­naue Spe­zi­fi­zie­rung. Hier trifft sie vor all­me – und das ist tat­säch­lich in der Lyrik der letz­ten Jah­re nicht unbe­dingt gewöhn­lich – auf das Dorf. Man kann gera­de die ers­ten Gedich­te des Ban­des auch als eine klit­ze­klei­ne Geschich­te des Dor­fes im Zeit­raf­fer lesen, mit den Men­schen und den Tätig­kei­ten und der Umge­bung, die dazu gehört. Wo ande­re Lyri­ker Sze­nen der Stadt beschrei­ben, steht hier eben das dörf­li­che oder länd­li­che Leben und Erle­ben im Vor­der­grund. Das war aber auch schon der Unter­schied – na gut, viel­leicht über­haupt die deut­li­che und star­ke Ver­or­tung in bestimmt-unbe­stimm­ten Raum (der „Hei­mat“, auf dem Lan­de …). Die­ser Ort bleibt aber unge­nannt und nicht ganz fass­bar – es ist eine manch­mal idea­le, manch­mal nicht so ehr idea­le Kon­struk­ti­on aus dem Typi­schen.
Ein paar sehr fei­ne, kla­re (spre­chen­de) Gedich­te sind dabei, aber auch eini­ges eher mit­tel­mä­ßi­ge und auch bana­les. For­mal hat sich das lei­der auch eher schnell erschöft, hat man schnell kapiert und ist dann zwar nicht schlech­ter, aber auch nicht mehr beson­ders span­nend oder anre­gend – etwa das Spiel mti der Ober­flä­chen­form der Gedich­te udn ihrer Spra­che. Aber viel­leicht ist das eben ein­fach Lyrik der Nor­ma­li­tät (des Lebens, eben des Lebens in der Hei­mat und auf dem Land).

Juli­en Gracq: Der Ver­su­cher. Graz: Dro­schl 2014. 232 Sei­ten.

gracq, versucher„Ein Buch, das voll­stän­dig aus Ober­tö­nen besteht“ schreibt der Über­set­zer Die­ter Hor­nig im Nach­wort zu einem der Vor­bil­der für Gracq, Cha­teu­ab­ri­ands Vie de Ran­cé. Das gilt aber auch für den Ver­su­cher: Das ist näm­lich ein Roman, der maß­geb­lich von sei­ner Atmo­sphä­re lebt. Es ist fas­zi­nie­rend, wie genau und leicht Gracq die her­auf­be­schwö­ren kann: Sei­ne ele­gan­ten Beschrei­bun­gen der Ele­ganz ver­lo­re­ner Zeit(en) und unter­ge­gang­nen Epo­chen, wie sie sich im Urlaubs­le­ben in einem Strand­ho­tel mani­fes­tie­ren, las­sen eine ent­spann­te, offe­ne, zugleich erwar­ten­de und erwar­tungs­vol­le Stim­mung ent­ste­hen, die wun­der­bar zum som­mer­li­chen Schwe­ben im Urlaub, dem Ent­rückt-Sein aus dem All­tag, pas­sen. In der Land­schaft der bre­to­ni­schen Küs­te, mit ihrer Melan­cho­lie und Ver­gäng­lich­keit, die Gracq bezau­bernd beschreibt, trifft der Erzäh­ler (und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler) Gérard unter ande­rem auf Allan, eine selt­sam chan­gie­ren­de Figur zwi­schen Hoch­stap­ler und tra­gi­schem Schick­sal – und ein wun­der­sa­mes und wun­der­ba­res Kam­mer­spiel ent­fal­tet sich, das man auch ganz und gar genie­ßen kann, ohne die inter­tex­tu­el­len Anspie­lun­gen, die Gracq hier offen­bar (und mehr oder weni­ger offen­sicht­lich) ver­ar­bei­tet hat, zu ver­ste­hen.

Jan Kuhl­brodt: Stöt­zers Lied. Gesang vom Leben danach. Ber­lin: J. Frank 2013 (Quart­heft 40). 180 Sei­ten.

kuhlbrodt, stötzers liedEin selt­sa­mes Buch, das mir eher fremd geblie­ben ist. Der „Gesang“, unter­teilt in diver­se durch „Embo­lien“ getrenn­te Abschnit­te (dar­un­ter „Stöt­zers Gedich­te“, „Para­li­po­me­na zu Stöt­zer“ oder „Deut­scher Platz“) ist eine Art Pro­sa­ge­dicht. For­mal gibt sich das als Lyrik, mit Ver­sen und Stro­phen etc. Sprach­lich bleibt es aber im Gro­ßen und Gan­zen Pro­sa. Und so wie es bei­de Gat­tun­gen glei­cher­ma­ßen bedient, so bedient es sich auch bei den gro­ßen The­ma. Irgend­wie geht es immer um Geschich­te und den Umgang mit ihr, beson­ders im (post)sozialistischen Leip­zig, von Völ­ker­schlacht­denk­mal über Lenin bis zur Ästhe­tik der Plat­ten­bau­ten wird so ziem­lich alles mög­li­che ange­ris­sen und auf­ge­ru­fen. Der Klap­pen­text schreibt da ganz tref­fend:

Stöt­zer [die von Kuhl­brodt ein­ge­setz­te Spre­cher-/Re­flek­tor­fi­gur] ist ein Wahr­neh­mungs­spei­cher, ein Seis­mo­graph. […] Er nimmt das auf, was ihn über­rollt: Poli­tik, Öko­no­mie, Kunst, Geschich­te. Stöt­zer kom­men­tiert aus der Sta­tik her­aus die Bewe­gun­gen, das Aus­klin­gen des Ver­gan­ge­nen und das Her­ein­bre­chen des neu­en Jahr­tau­sends.

Das ist eine Mischung aus Bana­li­tä­ten der Ober­flä­che und tie­fer boh­ren­den Refle­xio­nen gewor­den, die unver­mit­telt neben ein­an­der auf­tau­chen und da auch ste­hen blei­ben, sich dadurch aber recht erfolg­reich gegen­sei­tig befruch­ten und ergän­zen. Dar­über hin­aus ist das aber auch ein sehr schö­nes, gut gemach­tes Buch gewor­den, das mit ver­schie­de­nen Gestal­tungs­ele­men­ten der Typo­gra­phie und der Illus­tra­tio­nen die ver­schie­de­nen Tei­le oder Ebe­nen des Tex­te gut illus­trie­rend ergänzt und ver­deut­licht.

Chris­ta Rei­nig: Feu­er­ge­fähr­lich. Neue und aus­ge­wähl­te Gedich­te. Aus­ge­wählt und mit einem Nach­wort von Klaus Wagen­bach. Ber­lin: Wagen­bach 2010 (Klaus Wagen­bachs Oktav­hef­te). 79 Sei­ten.

reinig, feuergefaerhlichWirk­lich näher gebracht hat mir die­se Aus­wahl Klaus Wagen­bachs die Lyrik von Chris­ta Rei­nig nicht. Der Anfang ist schreck­lich banal, schon die Form – bravs­te Paar- und Kreuz­rei­me in regel­mä­ßi­ger Metrik und Zwölf­zei­lern – ver­hin­dert fast das inter­es­sier­te Lesen. Zum Glück wan­delt sich das mit dem Fort­schrei­ten der Sei­ten, eine zuneh­men­de Kon­zen­tra­ti­on und Ver­dich­tung. Das macht die nun auch mal lako­nisch wir­ken­den Gedich­te bes­ser. Allein schon des­halb, weil sie nicht mehr so geschwät­zig sind. Aller­dings bleibt der Ein­druck, dass hier eine Autorin schreibt, die irgend­wie stän­dig belei­digt von der Welt und ihrer Schlech­tig­keit wirkt. Weil das oft den Bei­klang per­sön­li­chen Belei­digt­seins hat (z.B. bei „Der Ande­re“!), hat mich das etwas genervt. Die Gegen­über­stel­lung der Macht­lo­sig­kei­ten, der Ohn­macht, der rich­ti­gen Spra­che und den offi­zi­el­len Verlautbarungen/​Wörtern, den Herr­schen­den, den Mäch­ti­gen durch­zieht fast alle Tex­te mehr oder weni­ger. Das ist ja eigent­lich eine sym­pa­thi­sche Sache, weil aber vie­les mir eigent­lich zu offen­sicht­lich, zu deut­lich und ein­deu­tig gesagt ist, ver­liert das etwas von sei­ner Wir­kung.

In die Geweh­re ren­nen

mein tiefs­tes herz heißt tod
wenn das die mör­der wüss­ten
wären sie es müde (34)

außer­dem noch:

  • Arno Schmidt, »Na, Sie hät­ten mal in Wei­mar leben sol­len!« Über Wie­land – Her­der – Goe­the. Mit einem Essay von Jan Phil­ipp Reemts­ma, hrsg. von Jan Phil­ipp Reemts­ma. Stutt­gart: Reclam 2013. 234 Sei­ten. (mit dem wun­der­ba­ren Essay „Goe­the und einer sei­ner Bewun­de­rer“)
  • Ein­hard, Vita Karo­li Magni (zur Vor­be­rei­tung auf den Aus­stel­lungs­be­such in Aachen)
  • Stramm, August, Gedich­te Dra­men Pro­sa Brie­fe. Her­aus­ge­ge­ben von Jörg Drews. Stutt­gart: Reclam 1997. 242 Sei­ten.

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