Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: roman Seite 2 von 6

Aus-Lese #44

Nora Bossong: 36,9°. Berlin, München: Hanser 2015. 318 Seit­en.

bossong, 36,9°Das ist in meinen Augen ein sehr schwach­er Roman, der mich sehr ent­täuscht hat. Schon Gesellschaft mit beschränk­ter Haf­tung hat mich zwar auch nicht großar­tig begeis­tert, war aber doch deut­lich bess­er, was etwa die Kon­struk­tion und die stilis­tis­che Ausar­beitung ange­ht — bei­de Romane bestärken eigentlich nur meinen Wun­sch, von Bossong (wieder) mehr Lyrik zu lesen …

Der Text von 36,9° wirkt merk­würdig müde und erschöpft. Vielle­icht ist das ja eine beab­sichtigte Par­al­lele von Inhalt und Form (schließlich geht es um das aufzehrende, schwierige, harte Leben des Anto­nio Gram­c­si), aber mich hat das trotz­dem aus Grün­den, die ich nicht so genau benen­nen kann, eher abgestoßen. Erzählt wird in zwei Per­spek­tiv­en in zwei (groben) Zeit­ebe­nen das Leben Gram­c­sis und eine Art Forschungsaufen­thalt des Gram­c­si-Spezial­is­ten Anton Stöver, der in Rom nach einem ver­schol­lenen Manuskript sucht. Wieso es diese Dop­pelung von Erzäh­ler und Zeit­en eigentlich gibt, ist mir nicht so ganz klar gewor­den — nur um die Überzeitlichkeit zu beto­nen? Um nicht in den Ver­dacht zu ger­at­en, eine Gram­c­si-Biogra­phie zu schreiben? Und wozu ist dann der Man­skript-Kri­mi (der ja als solch­er über­haupt nicht funk­tion­iert, weil er nicht richtig erzählt wird, son­dern nur als Hil­f­s­mit­tel dient und ab und an her­vorge­holt wird …) gut? Oder sollen die Zeit­ebe­nen nur sig­nal­isieren, dass dies kein „nor­maler“ his­torisch­er Roman ist? (Der in den Gram­sci-Kapiteln als solch­er auch eher schlecht funk­tion­iert, aber das ja wiederum auch gar nicht sein will …)

Zur Poli­tik bleibt der Text dabei merk­würdig dis­tanziert, die Lei­den­schaft etwa Gram­c­si (im wahrsten Sinne, näm­lich mit all den Lei­den) wird vor allem behauptet, aber nicht eigentlich erzählt. Und das pri­vate fühlt sich oft auf­dringlich, etwas schmierig an (wie Boule­vard­jour­nal­is­mus). Das erschien mir oft als eine Art unge­wollte Nähe, ein intimes Stochern, von deren Notwendigkeit die Erzäh­ler selb­st nicht so ganz überzeugt schienen. Zumal Stöver ist ja auch ein aus­ge­sproch­en­er Unsym­pa­th — und auch Gram­c­si bleibt eine selt­same Fig­ur. Bei­de Charak­tere sind dabei selt­sam rück­sicht­s­los gegen sich selb­st und ihr pri­vates Umfeld. Und ger­ade das, was ja der Kern des Romans zu sein scheint, bleibt extrem blass, kaum motiviert — weil die Ideen, die diese Rück­sicht­slosigkeit erfordern, höch­stens angeris­sen wer­den.

Wenn die Ver­lagswer­bung das Ziel des Buch­es richtig beschreibt: „Nora Bossong erzählt vom Kon­flikt zwis­chen den großen Gefühlen und dem Kampf für die ganze Men­schheit“, dann funk­tion­iert 36,9° über­haupt nicht. Und das liegt unter anderem eben daran, dass der “Kampf für die ganze Men­schheit”, die Weltverbesserung eigentlich gar nicht vorkommt, der Text bleibt viel zu sehr im indi­vidu­ellen, biographis­chen Klein-klein steck­en. Dazu kommt dann noch eine für mich unklare Struk­tur — die Rei­hen­folge der Kapi­tel mit den Vor- und Rück­blenden sowie die Erzäh­ler­wech­sel erschließen sich mir ein­fach nicht. Ab und an funkelt mal ein schön­er Satz, ein gelun­gener Abschnitt. Aber der Rest ist ein grau zer­fließend Textbrei, der mich wed­er faszinieren noch überzeu­gen kann.

[…] ich wollte die Dinger nicht mehr bis zum Grund durch­schauen, denn was lag dort? Nur Steine und Kiesel, nur Fußnoten und Quel­lenangaben. (25)
Ulf Stolter­fo­ht: Wurl­itzer Juke­box Lyric FL — über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte. München: Stiftung Lyrik Kabi­nett 2015. 32 Seit­en.

stolterfoht, wurlitzer jukebox lyric flDer Titel der Münch­n­er Rede zur Poe­sie von Ulf Stolter­fo­ht, dem Autor so vorzüglich­er Zyklen wie den Fach­sprachen und jet­zt Ver­leger der Brue­terich-Press (der selb­st viel zu wenig veröf­fentlicht …) sagt eigentlich schon alles: „Über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte“ spricht er. Stolter­fo­ht, der sich als „Experte für Euphorie“ (7) vorstellt und „Ahnung“ von „der“ Lyrik erst ein­mal kat­e­gorisch verneint, führt anhand ein­er rei­he Gedichte exem­plar­isch vor, was Lyrik ist und kann, was Sprache im Gedicht aus­macht und natür­lich auch, was „schwierige Lyrik“ (heutzu­tage ja fast ein Pejo­ra­tivum) eigentlich ist. Und er betont, dass das „Nicht-ver­ste­hen-müssen“ dieser Gedichte eine großar­tige Erfahrung ist — für Leser und Schreiber. Für bei­de Seit­en ist das eine Befreiung, die einen uner­schöpflichen Reigen an Möglichkeit­en eröffnet.

Neben­bei weist er darauf hin, dass das — heute vielle­icht mehr als je zuvor vorhan­dene — Wis­sen und Kön­nen im Umgang mit Sprache und Gedicht­en noch lange keine Exper­i­men­tier­freudigkeit ist. Stolter­fo­ht bedauert aus­drück­lich, dass „die Bere­itschaft stark abgenom­men hat, ein höheres ästhetis­ches Risiko einzuge­hen“ (29). Auch wenn er dann das Gelin­gen eines Gedicht­es eher tra­di­tionell als „Regel“-Erfüllung beschreibt, oder bess­er als: „dass ein zuvor gefasster Plan, sei er for­maler und / oder inhaltlich­er Art, glück­haft erfüllt wurde“ (29), sollte für Stolter­fo­ht, das macht er unter anderem mit mehrfachen Bezü­gen auf Diedrich Diederich­sen deut­lich, aber zumin­d­est ergänzt wer­den um so etwas wie Authen­tiz­ität, einen Moment des Kairos vielle­icht. Trotz des deut­lich beton­ten Emphatik­er-Stand­punk­tes (Lyrik kann alles und ermöglicht Leben erst!) ste­ht dahin­ter aber genaueste Lek­türe und Analyse fremder und eigen­er Gedichte, ohne die Euphorie des erken­nen­den (und iden­ti­fizieren­den) Lesens dadurch zu verneinen oder auszuschal­ten, son­dern ger­adezu zu ver­stärken.

Und wie kon­nte es sein, dass ich kein Wort, keinen Satz ver­stand, und doch genau wusste, dass ich genau das immer hat­te lesen wollen, und dass ich es jet­zt gefun­den hat­te, und dass ich nie mehr etwas anderes würde lesen wollen. Das Gefühl, eine Mauer durch­brochen zu haben, ein­fach so, ganz leicht, ohne jede Anstren­gung, und hin­ter dieser Mauer tat sich etwas auf, ein Raum, ein wirk­lich­er Raum, in dem man würde leben kön­nen. (11)

Franz Richard Behrens: Erschossenes Licht. Her­aus­gegeben von Michael Lentz. Wiesen­burg: hochroth 2015. 36 Seit­en.

Es ist für mich immer wieder erstaunlich, welch große und großar­tige Gedichte die Expres­sion­is­ten in den Jahre während und um den Ersten Weltkrieg schrieben. Und ich ent­decke immer wieder, dass ich viel zu wenige davon kenne. Auch Franz Richard Behrens gehört zu diesen Dichtern. Er war eigentlich genau nur in dieser engen Zeitspanne über­haupt dich­ter­isch tätig: Ein einziger Band Lyrik — Blut­blüte — ist von ihm 1917 erschienen. Während des Nation­al­sozial­is­mus kann man ihn vielle­icht zur „Inneren Emi­gra­tion“ zählen, 1961 über­siedelte er dann nach Ost­ber­lin. Aber die ganzen Jahre bis zu seinem Tod 1977 blieben ohne weit­ere lit­er­arische Veröf­fentlichun­gen. Offenkundig war der Weltkrieg da so eine Art Katalysator, der die Lyrikpro­duk­tion auslösten/vorantrieb.

Auf­fäl­lig ist nun, finde ich, wie avanciert diese weni­gen Gedichte waren und sind — und wie zeit­gemäß und zeit­genös­sisch sie heute noch erscheinen. Aus allen Gedicht­en, die Michael Lentz in dieser kleinen Auswahlaus­gabe für den feinen hochroth-Ver­lag zusam­mengestellt hat, spricht eine beein­druck­ende Inten­sität und auch eine große Frei­heit: Sie sind frei von for­malen Zwän­gen und Tra­di­tio­nen, lassen so ziem­lich alle Kon­ven­tio­nen hin­ter sich. Hier erscheint Sprache als rein­er Aus­druck, hier spürt man, wie ein Dichter um Aus­drucksmöglichkeit für ganz neue und neuar­tige Erleb­nisse — vor allem die Gewalt und Sinnlosigkeit eines mech­a­nisierten Krieges — ringt. Und wie er sie auch find­et und den Vol­lzug des Erlebens am und im Wort fix­iert und nachvol­lzieht. Ein Moment der Seri­atl­ität gehört dazu, mit min­i­mal­is­tis­chen Ele­menten, etwa in „Preußisch“ oder „Quer durch Ost­preußen“. Aber auch gle­ich das eröff­nende „Expres­sion­ist Artillerist“ zeigt das, mit der Ver­schränkung einzel­ner Gedichtzeilen und einem kon­tinuier­lichen Zählen (ich lese das “Ein-und-zwanzig” etc. als das Abzählen von Sekun­den, etwa bis zum Ein­schlag der Granate …), das ganz geschickt ins Hinken gerät bzw. einzelne Zahlen über­springt, wenn die geschilderte Wahrnehmungs­dichte sozusagen steigt und das nicht mehr in einen Vers passt:

[…] Neun-und-zwanzig
die Luft stinkt Mil­lio­nen Schwe­fel, Kohle
Blutab­sinth
die Luft ist stahl und rein
Ein-und-dreis­sig
die Granat­trichter tüpfeln gar­nich har­monisch
Zwei-und-dreis­sig
[…]

Die kun­stvoll hergestellte Unmit­tel­barkeit dieser Lyrik ist, denke ich, kaum zu überse­hen. Ein anderes, von Behrens bevorzugtes Ele­ment, ist etwa die ver­bale Nutzung von Adjek­tiv­en. Bei aller Direk­theit und Leben­snähe sind die Gedichte, das zeigt etwa das titel­gebende „Erschossenes Licht“ oder das wun­der­bare „Ital­ien“, sowohl inhaltlich als auch stilis­tisch und for­mal sehr sorgsam kon­stru­iert. (Und außer­dem ist das wieder hochroth-typ­isch ein sehr fein und schön gemacht­es Heftlein …)

[…] Schnei­den das
Land
in
Streifen.
Begreifen kann das mal
Die Gen­er­al­stab­skarte. Vor­marsch im Regen (14)

Geor­gi Gospodi­nov: 8 Minuten und 19 Sekun­den. Graz, Wien: Droschl 2016. 143 Seit­en.

Hier wäre der Ort, zu sagen, dass ich vol­lkom­men nor­mal bin, auch wenn ich Erzäh­lun­gen schreibe. Ich weiß, dass dies die Dinge erschw­ert, aber alles andere an mir ist abso­lut in Ord­nung. (78f.)

„Ver­spielt, ele­gant und mit allen Wassern der Post­mod­erne gewaschen“ behauptet der Klap­pen­text — und hat tat­säch­lich mal recht. Denn Gospodi­nov ist ein wahrer Geschicht­en­erzäh­ler: Es geht ihm wirk­lich darum, „Geschicht­en“ zu erzählen, nicht Erzäh­lun­gen zu schreiben. Der Band ist dann auch richtig inter­es­sant und kurzweilig-unter­halt­sam, weil Gospodi­nov dabei ein viel­seit­iger und vielfältiger, tech­nisch sehr ver­siert­er Erzäh­ler ist, was die Fig­uren und die Sto­rys ange­ht.

gosporidov, 8 minuten und 19 sekundenAbwech­slungsre­ich pen­deln die meist sehr kurzen Texte (auf den 140 Seit­en find­en sich immer­hin 19 Erzäh­lun­gen) zwis­chen ein­er sym­pa­this­chen Weltof­fen­heit, die sich aus­drück­lich auch aufs Phan­tastis­che, das eigentlich sowieso nor­mal ist, erstreckt, und ein­er spür­baren Leichtigkeit — ein­er Lock­er­heit des Erzäh­lens, des Lebens, des Wahrnehmens. Gospodi­nov, der sich bzw. seine Erzäh­ler gerne als Geschicht­en­samm­ler bzw. ‑auf­schreiber, nicht als Geschicht­en­erfind­er insze­niert — vom „Anlock­en von Geschicht­en“ (84) schreibt er an ein­er Stelle — schafft es dabei, zugle­ich kos­mopoli­tisch und heimatver­bun­den zu wirken, zugle­ich witzig (im Sinne von komisch) und trau­rig (im Sinne von tiefernst) zu sein. Immer wieder spie­len die let­zten Tage, die let­zten Momente, das endgültige Ende, die Apoka­lypse als eigentlich ganz schelmis­ches, gewitztes Unternehmen eine große Rolle in seinen Erzäh­lun­gen. Das ist schon in der eröff­nen­den (und titel­geben­den) Geschichte „8 Minuten und 19 Sekun­den“ so, die die Zeit, die das Licht von der Sonne zur Erde braucht beschreibt — also die Zeit, die bleibt, bis die Erde nach dem Ende der Sonne im Dunkel versinkt. Immer, wenn das nicht passiert, weiß man also, dass noch 8 Minuten 19 Sekun­den bleiben … Die Imp­lika­tio­nen dieser glei­t­en­den Apoka­lypse spielt die Geschichte sehr schön und dabei dur­chaus knapp durch.

Außer­dem ist auch eine der „schön­sten“ Geschicht­en zum 11. Sep­tem­ber hier zu find­en: „Do not dis­turb“. Die erzählt von einem just für diesen Moment als Sprung aus dem Hochhaus­fen­ster eines New York­er Hotels geplanten Selb­st­mord. Und da Gospodi­nov ein schwarz­er Erzäh­ler ist, gibt es natür­lich kein Hap­py End — der Selb­st­mord find­et dann zwar nicht statt, wird aber natür­lich später nachge­holt. Das klingt in der knap­pen Nacherzäh­lung etwas banal — aber darum geht es Gospodi­nov ja nicht nur. Zwar sind seine Erzäh­lun­gen ohne ihre Hand­lung nicht zu denken, ihre Wirkung erlan­gen sie aber nicht zulet­zt durch die geschick­te und gelassen-ver­spielte erzäh­lerische Insze­nierung, die das zu ein­er sehr kurzweili­gen Lek­türe wer­den lässt.

Außer­dem kam es mir so vor, als fin­ge Z. an, die Geschichte zu ruinieren, indem er ihr mehr Pathos und Lit­er­ariz­ität ver­lieh als notwendig. Und ich war immer­hin der Käufer dieser Erzäh­lung. (54)

außer­dem gele­sen:

  • Judith Zan­der: Man­u­al numerale. München: dtv 2014.
  • Michael Braun, Michael Buselmeier: Der gelbe Akro­bat 2. 50 deutsche Gedichte der Gegen­wart, kom­men­tiert. Neue Folge (2009–2014). Leipzig: Poet­en­laden 2016. 18 Seit­en.
  • Roland Barthes: Das Neu­trum. Vor­lesung am Col­lège de France 1977–1978, hrsg. v. Eric Mar­ty, übers. von. Horst Brüh­mann. Frank­furt am Main: Suhrkamp 2005. 346 Seit­en.
  • Dieter Hein: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhun­dert. München: Beck 2015. 132 Seit­en.
  • Christoph Kleß­mann: Arbeit­er im ‘Arbeit­er­staat’ DDR. Erfurt: Lan­deszen­trale für poli­tis­che Bil­dung Thürin­gen 2014. 141 Seit­en.

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  • Buch­markt : Zwis­chen Müt­teraskese und Flat­ter­haftigkeit | ZEIT ONLINE — erhard schütz geht der frage nach, warum sich “wieder­ent­deck­un­gen” und neuau­fla­gen ger­ade von roma­nen aus der weimar­er repub­lik so großer (und meist sehr kur­zlebiger) beliebtheit freuen

    Den­noch sind ger­ade kleinere Ver­lage uner­müdlich damit beschäftigt, Ver­gan­ge­nes, Ver­drängtes, Vergessenes auszu­graben. Inzwis­chen sind es auch die fün­fziger bis siebziger Jahre des ver­gan­genen Jahrhun­derts, die vor allem auf damals Unver­standenes, Skan­dalös­es oder ver­meintlich zu Schwieriges, Anspruchsvolles durch­sucht wer­den. Aber noch immer ist es die Weimar­er Repub­lik, die die meis­ten Neuau­fla­gen liefert. Zum einen mag die Fasz­i­na­tion an der frechen Leichtigkeit der Liebes- und All­t­agsver­hält­nisse, an der ver­queren Lust am Kon­sum und am Unglück­lich­sein der Grund hier­für sein. Häu­fig sind es Romane von Frauen, in deren Tra­di­tion all die heuti­gen Stern­schnup­pen ste­hen, die eine Sai­son lang best­sellern. Zum anderen ist es die scharfe Kri­tik, die noch immer reizt, sei es in den Antikrieg­s­tex­ten, die aus gegeben­em Anlass ger­ade wieder neuaufgelegt wer­den – der apokryphe Elek­trische Ver­lag z.B. bietet da eine ganze Rei­he auf –, sei es in der Kri­tik poli­tis­ch­er und sozialer Ver­hält­nisse.

  • Armut: “Wer unten ist, bleibt unten” | ZEIT — inter­view mit dem ökonom mar­cel fratzsch­er über gesellschaftliche & ökonomis­che ungle­ich­heit, umverteilung und auf­stiegsmöglichkeit­en in deutsch­land
  • Lek­toren: Der gute Geist | Tagesspiegel -

    Der Gärt­ner ist immer der Mörder, und der Lek­tor ist immer schuld. Ein falsch­er Name, ein schiefes Bild, his­torische Irrtümer, Stil­blüten, Lan­gat­migkeit und Rechtschreibfehler – was immer an einem Buch nicht stimmt: Der Lek­tor ist’s gewe­sen. Wird er in Rezen­sio­nen erwäh­nt, ist „schlampig“ das Attrib­ut, das man ihm am lieb­sten anklebt. Nie wird man in ein­er Besprechung lesen: Das hat er aber fein gemacht. Denn was der Lek­tor getan hat, weiß der Kri­tik­er nicht.

  • E‑Book-Kolumne „E‑Lektüren“: Ein Lyrik-Code als Anreiz | FAZ — elke heine­mann über neue lyrik als/fürs ebook — offen­bar nicht so wahnsin­ng überzeu­gend, was da bish­er vor­liegt — allerd­ings aus ästhetis­chen, nicht aus tech­nis­chen grün­den
  • I stayed in a hotel with Android lightswitch­es and it was just as bad as you’d imag­ine — warum es nicht immer eine gute idee ist, ein­fache (mech­a­nis­che) funk­tio­nen durch com­put­er­s­teuerun­gen zu erset­zen — hier am beispiel ein­er hotelz­im­mer­licht­s­teuerung ohne zugriff­s­sicherun­gen … – via wirres.net
  • Autor Michael Scha­rang lehnt Ehrung des Lan­des Wien ab | DiePresse.com — ein mann mit hal­tung …

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  • Max Reger: Akko­r­dar­beit­er im gifti­gen Kli­ma der Mod­erne | Der Stan­dard — roland pohl im stan­dard über max reger, seine rezep­tion und warum er so wenig bekan­nt und geschätzt wird — immer­hin ist in diesem jahr sein hun­der­ster todestag zu bege­hen …

    Es fällt nicht leicht, nach den Grün­den zu suchen, warum der deutsche Kom­pon­ist Max Reger (1873–1916) der­art gründlich in Vergessen­heit ger­at­en ist. Den meis­ten sein­er unzäh­li­gen Werke haftet eine gewisse Sprödigkeit an. Reger, im pri­vat­en Umgang ein humoriger Kauz, hat vor allem auf dem Gebi­et der Har­monik Epochales gelei[s]tet.

    Des Meis­ters viel zu früher Tod – er entschlief herzkrank in einem Leipziger Hotelz­im­mer – dürfte auch hun­dert Jahre später kein Reger-Fieber aus­lösen. Die Klas­sik­branche fasst den eigen­bröt­lerischen “Akko­r­dar­beit­er” nicht mit der Kneifzange an. Ein­er größeren Ver­bre­itung ste­ht die Kom­plex­ität der intro­vertierten Reger-Musik im Wege.

  • Sport, über­all nur noch Sport: Die geistige Macht unser­er Epoche | taz — robert redeck­er hat in der taz eine wun­der­bare, ful­mi­nante abrech­nung mit dem sport und unser­er obses­siv­en beschäf­ti­gung damit geschrieben:

    Die heutige Gesellschaft hat eine neue Vari­ante des Total­i­taris­mus erfun­den: den Sport.[…] Diese Sportan­lässe beset­zen scham­los und rück­sicht­s­los den gesamten Platz in den Medi­en.
    Wie ein Nim­m­er­satt mit unstill­barem Hunger vere­in­nahmt der Sport den ganzen Platz für sich. Nie­mand kann dieser erdrück­enden Inva­sion der Sport­berichte ent­ge­hen, die alles andere ver­drängt. Diese Über­do­sis an Sport hat eine zer­störerische Umkehrung der Werte und der Hier­ar­chie der Infor­ma­tion zur Folge. Statt sich auf ein paar Worte am Ende der Fernseh- und Rund­funknachricht­en zu beschränken, was angesichts ihrer Bedeu­tungslosigkeit nor­mal wäre, ver­weist die Sport­berichter­stat­tung alles wirk­lich Wichtige auf die Rand­plätze.

    Was dage­gen für die Zivil­i­sa­tion von Bedeu­tung wäre, woran man sich noch Jahrhun­derte später erin­nern wird – die her­aus­ra­gen­den Per­sön­lichkeit­en der Philoso­phie, der Malerei, Dich­tung, Chore­ografie, Musik oder Architek­tur – find­et dage­gen kaum Beach­tung in den Medi­en.

  • David Bowie: Schön dick aufge­tra­gen | ZEIT ONLINE — diedrich diederich­sen über das bowie-album, das black­star-video und bowies auftritte

    Hier, bei einem Album, das die run­dum zu begrüßende Devise sein­er Eröff­nung­sop­er, “Mehr ist mehr”, bis zum Schluss beherzigt, hat man bei­des ver­sucht: Jazz-Vir­tu­osität und die dun­kle Ekstase heutiger Dance- und Goth­ic-Kul­turen.

  • Israel ǀ Kib­buz­im: Auf der Suche nach der Iden­tität — der Fre­itag — über die entwick­lung der kib­buz­im von sozial­is­tis­chen gemein­schaften zu mark­tkon­for­men wirtschaft­sun­ternehmen — sehr inter­es­sant …
  • Online-Fort­set­zungsro­man: Lang lebe der Shandy­is­mus! | FAZ — jan wiele in der faz mit ein­er ersten ein­schätzung von tilman ramm­st­edts ger­ade enste­hen­dem “mor­gen mehr” — seine beobach­tun­gen tre­f­fen sich ziem­lich genau mit meinen eige­nen …
  • Train­ingslager in den Golf­s­taat­en : „Der Sport ist ein löchriger Käse“ — taz.de — die taz sprach mit dem “sportethik­er” elk franke:

    Die Poli­tik nimmt den Sport gern für sich in Anspruch. Umgekehrt prof­i­tiert der Sport auch stark davon. Somit wird der Satz „Der Sport ist unpoli­tisch“ zu ein­er ide­ol­o­gis­chen Aus­sage, die in der All­t­agsprax­is keine Gültigkeit hat.
    […] Der Sport ist ein inhalts­freies Dra­ma, das eine Iden­ti­fika­tion mit allen möglichen Inhal­ten erlaubt. Ein Schweiz­er Käse, in dessen Löch­er aller­hand rein­passt, ohne dass der Geschmack ver­loren geht.

  • Als der Kaiser musste: Eine Unter­stre­ichung und die Schuld am Ersten Weltkrieg | Aktenkunde — Als der Kaiser musste: Eine Unter­stre­ichung und die Schuld am Ersten Weltkrieg — hol­ger berwinkel zeigt (mal wieder) sehr schön, wie wichtig his­torische hil­f­swis­senschaft (und genauigkeit) ist, auch für “großhis­torik­er”
  • schleef-bilder — die erbenge­mein­schaft einar schleefs hat einige sein­er bilder online bere­it­gestellt

Aus-Lese #41

Wolf­gang Sof­sky: Weisen­fels. Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2014. 236 Seit­en.

sofsky, weisenfels“Unab­d­ing­bare Erschüt­terung”, “ver­fal­l­ene Gemäuer”, “die Begeg­nung zweier Men­schen im Zen­it des Unter­gangs ein­er ver­lore­nen Welt” — der Umschlag­text hält sich nicht zurück. Dabei ist Weisen­fels eigentlich ein ziem­lich selt­samer Roman: Zwei (ehe­ma­lige) Fre­unde tre­f­fen sich im Fam­i­lien­sitz des einen, einem ver­fal­l­en­den Schloss, dass gefüllt ist mit Arte­fak­ten der abendländis­chen Kun­st- und Kul­turgeschichte — aber nicht mit Men­schen. Die bei­den wan­deln durch die Gemäuer und durch die Samm­lun­gen und durch die Erin­nerung an eine Welt oder eine Epoche, die nicht mehr ver­füg­bar ist — eine Unternehmung, die ganz fol­gerichtig nur mit dem Tod enden kann. Es war nicht so sehr der plot, der mir schw­er­fiel, son­dern die sehr selt­same Prosa, die Sof­sky hier pflegt. Das ist ein unen­twegtes Deklar­ien, Dozieren und Deklamieren, sowohl der Fig­uren als auch des Erzäh­lers. Über­haupt die Fig­uren, die sind auch sehr selt­sam — näm­lich eigentlich nur (noch) als Maske, als Rolle oder als Platzhal­ter präsent und damit untote Hüllen, leblose Über­reste ein­er einst lebendi­gen Welt (dem christlichen Abend­land, das mit sein­er Tra­di­tion und Bil­dung so gerne beschworen wird, aber schon lange nicht mehr lebendig ist …). Reli­gion und ihre Anziehungskraft, aber auch ihre Aus­prä­gun­gen, Prax­en und The­olo­gien spie­len eine große Rolle, vor allem aber ein ganz wörtlich genommenes Leben „in“ Kul­turen: Wenn hier über­haupt noch Leben ist, dann im Über­rest der Kul­tur, nicht aber in dem, was man Welt nen­nen möchte.

Der Ver­lust der Bil­dung und der Kul­tur ist sozusagen die Grundthese, von der aus dieser Text geschrieben ist. Der koket­tiert aber zugle­ich selb­st auf allen Ebe­nen und auf­dringlich per­ma­nent damit, mit dem Bil­dungswis­sen sein­er Pro­tag­o­nis­ten bzw. deren Erzäh­ler: Tabak, Whiskey, Renais­sance-Malerei, Kun­st­musik des 19. Jahrhun­derts, Lit­er­atur, Enzyk­lopädis­tik, Skulp­turen — alles ist hier da, präsent und wird erzählt. Man kön­nte auch sagen: Das ist lauter bedeu­tungss­chwan­geres Wis­sen-Gek­lin­gel … Denn die Idee ist schnell klar, eben­so schnell zeigen sich Län­gen im Text, der manch­mal recht zäh daherkommt. Denn auch ihm gelingt natür­lich nicht das, was im und mit dem Schloss ver­sucht wird: Der Ver­such, den ewigen Prozess des Zer­fal­l­ens und Ver­falls anzuhal­ten, den Ver­lust zu ver­mei­den: Deshalb das man­is­che Sam­meln und Rekon­stru­ieren ver­loren­er Bil­dungs- und Kul­turgüter — ein Ver­such, der nahezu zwangsläu­fig mit dem Ver­lust der Erin­nerun­gen, des Selb­st und des Lebens — also dem Tod — enden muss.

Bern­hard Stro­bel: Ein dün­ner Faden. Erzäh­lun­gen. Graz, Wien: Droschl 2015. 152 Seit­en.

bernhard strobel, ein dünner fadenMit dem “dün­nen Faden” kon­nte Stro­bel mich nicht so recht begeis­tern. “Schnörkel­lose Schilderun­gen des müh­sam unter­drück­ten Alp­traums im Häuschen im Grü­nen” ver­spricht der Schutzum­schlag. Das trifft die Erzäh­lun­gen auch ziem­lich genau, ver­schweigt aber, dass sie dabei eher fad herüberkom­men — unter anderem, weil das Muster schnell erkan­nt ist: Es geht um ein­brechende Gefahren, Dro­hung, Andro­hun­gen und Stre­it. Immer wieder wird der All­t­ag durch ein plöt­zlich über die Pro­tag­o­nis­ten her­brechen­des Unheil, ein Unglück und Tragik, in der Real­ität des Fig­uren­lebens oder auch nur in Gedanken, Träu­men und Ahnun­gen, unter­brochen. Das beson­dere bei Stro­bel ist dabei, dass ger­ade die Momente der Erwartung des Unheils, das spür­bare, aber (noch) nicht zu benen­nende (und damit auch nicht zu hegende) Brodeln unter der Ober­fläche des gewön­lichen All­t­ags eine große Rolle spielt. Vieles ist und bleibt dabei auf­fal­l­end unspez­i­fisch — nicht nur Ort, Raum und Zeit, son­dern vor allem die Fig­uren selb­st. Das kann man natür­lich aus dem erzählten Geschehen — etwa dem Nebeneinan­der­leben der Paare, der aus­gestell­ten Nicht-Kom­mu­nika­tion — motivieren. Das wird auch dementsprechend ganz unauf­fäl­lig erzählt, in unmarkiertem Stil und unmarkiert­er Form. Lauter Nor­mal­ität — oder eben lei­der oft: Mit­tel­maß — also. Klar, der “müh­sam unter­drück­te Alp­traum” ist da: unter den Ober­flächen brodelt es gewaltig. Aber der Text ver­rät das kaum, seine „schnörkel­lose Schilderun­gen“ bleiben selb­st schreck­lich ober­fläch­lich und vom Geschehen oder dessen Ahnung und Ankündi­gung gän­zlich unberührt. Wofür dann die Stil­verk­nap­pung, die kün­stliche Kun­st­losigkeit gut ist, erschließt sich mir also nicht wirk­lich. Alles in allem überzeu­gen mich diese Erzäh­lun­gen also lei­der über­haupt nicht.

Die Sprache. Sie ist ein unzure­ichen­des Hil­f­s­mit­tel, und sie ist das einzige Hil­f­s­mit­tel. Ein schönes Dilem­ma. (131)

Peter Neu­mann: geheuer. Dres­den: edi­tion azur 2014. 88 Seit­en.

neumann, geheuerEine mar­itime Gedicht­samm­lung. Das Meer mit sein­er Bewe­gung, der Gren­ze zwis­chen Land und Wass­er, der (möglichen) Fremde und den unbe­herrscht­en und unbe­herrschbaren Gewal­ten spielt hier — der Titel weist darauf hin und das Titel“bild” unter­stützt das noch — eine große Rolle. Sind das also Naturgedichte? Nun­ja, Natur taucht hier eher und vor­rangig als Impuls für Wahrnehmung des Men­schen und für Poe­sie auf, sie ste­ht nicht für sich selb­st und wird auch nicht so wahrgenom­men und beschrieben. Neu­manns Gedichte eröff­nen oft und gerne einen großen Raum (der Imag­i­na­tion), ohne den auch nur annäherungsweise auszu­loten und ohne das auch über­haupt zu wollen. Gewis­ser­maßen wird eine Tür geöffnet, der Blick des Lesers in den Raum gewiesen — und dann alleine gelassen. Schön gemacht und deut­lich zeigt das Gedicht “bud­delschiff” dieses Ver­fahren:

das gefühl ein­er lan­gen reise
aufgeklappte mas­ten
und take­lage, das englis­che

schiff­s­tau zum reißen ges­pan­nt
der wind humpelt
auf eingeschlafe­nen beinen

durch die schmale öff­nung
im flaschen­hals
flaut ab, ein helles pfeifen (55)

Typ­isch für Neu­manns Gedichte ist außer­dem ihre Kürze. Immer wieder sind sie durch das Anreißen von solchen Augen­blick­en der (erken­nt­nishaften) Wahrnehmung, die dann aber nicht weit­erge­führt und aus­gear­beit­et wird, gekennze­ich­net. Sel­ten sind sie länger als 10/12 Verse. For­mal scheinen sie mir vor allem dem Fließen, dem Flow verpflichtet, ohne erkennbare Regel­haftigkeit. Die Gedichte ste­hen zwar gerne in Grup­pen von drei Versen, aber einen Grund erkenne ich dafür nicht …

Durch die inhaltliche und for­male Kürze — wenn man das mal so nen­nen mag — kommt es manch­mal zur Über­fülle der visuellen und sprach­lichen Bilder, die ange­häuft, nebeinan­der geset­zt wer­den, aber im Text kaum beziehun­gen zueinan­der haben — außer eben dem vor allem als (aus­ges­parten) aus­lösenden Moment der Erin­nerung an ein Gefühl, eine Empfind­ung, eine beobach­t­ende Wahrnehmung. Das (fast) rein bildliche Sprechen wirkt dabei für mich etwas über­sät­ti­gend — man darf wohl nicht zu viel am Stück lesen, dann wird die kun­stvolle Schön­heit dieser Gedichte schnell etwas schal. Aber es lohnt sich, immer wieder zurück zu kom­men.

Jörg Döring, Felix Römer, Rolf Seu­bert: Alfred Ander­sch desertiert. Fah­nen­flucht und Lit­er­atur (1944–1952). Berlin: Ver­brech­er 2015. 277 Seit­en.

drews/römer/seubert, alfred andersch desertiertEine schöne Gemein­schaft­sar­beit ist dieses Buch über Alfred Ander­sch, seine let­zten Tage als Sol­dat im Zweit­en Weltkrieg, seine Gefan­gen­schaft und vor allem die lit­er­arische — oder eben auto­bi­ographis­che? — Ver­ar­beitung dessen in mehreren Anläufen in der Nachkriegszeit, mit der sich Ander­sch auch und ger­ade im öffentlichen Diskurs sehr ein­deutig und nach­haltig posi­tion­ierte. Eine Arbeit des biographis­ches Forschens also. Aber nur bed­ingt biographisch, denn die drei Autoren beto­nen wieder­holt, dass es nicht primär darum geht, die biographis­che Dimen­sion fik­tionaler Texte in den Blick zu nehmen (das wäre ja auch unsin­ning und wenig hil­fre­ich), son­dern darum, die spez­i­fis­che Sit­u­a­tion von Deser­tion, Kriegsende und Nachkriegszeit bzw. vor allem ihre Deu­tung in der Ret­ro­spek­tive zu unter­suchen. Da Ander­sch die auto­bi­ographis­che Dimen­sion der “Kirschen der Frei­heit” stark forciert — und damit in der Lek­türe und Diskus­sion des Textes auch erfol­re­ich ist -, lässt sich das vertreten. Zumal die drei Autoren aus Ger­man­is­tik und Geschichtswis­senschaft sich mit weit(er)gehenden Deu­tun­gen und Speku­la­tio­nen zurück­hal­ten, son­dern einen starken Fokus auf die Rekon­struk­tion der Ereignisse um Alfred Ander­sch im Krieg in Ital­ien, um die (Möglichkeit der) Nieder­schrift und lit­er­arischen Bear­beitung solch­er Erleb­nisse in der Nachkriegszeit richt­en. Das ist, auch wenn ich mich für Ander­sch nur am Rande inter­essiere, ger­ade in der Vere­ini­gung ver­schieden­er fach­lich­er Per­spek­tiv­en, sehr inter­es­sant und auf­schlussre­ich — und trotz der teil­weise sehr akribis­chen Aufar­beitung der mil­itärhis­torischen und werk­strate­gis­chen Zusam­men­hänge auch sehr gut — zu lesen.

Jules Renard: Das Leben wird über­schätzt.Berlin: Matthes & Seitz 2015. 72 Seit­en.

renard, das leben wird überschätztDiese ganz kleine — aber auch aus­ge­sprochen feine — Auswahl aus dem “Jour­nal” Jules Renards hat der inzwis­chen lei­der ver­stor­bene Hen­ning Rit­ter besorgt und auch selb­st über­set­zt, der Ver­lag Matthes & Seitz hat sie in sein­er über­aus empfehlenswerten Rei­he “Fröh­liche Wis­senschaft” nun veröf­fentlicht. Das hier vorgelegte ist zwar chro­nol­o­gisch — von 1890 bis 1910 — an- und zuge­ord­net, aber den­noch kein eigentlich­es Tage­buch, son­dern eher eine Notate-Samm­lung (Rit­ter selb­st hat sein ähn­lich­es Unternehmen “Notizhefte” genan­nt). Man kön­nte auch sagen: Das sind Extrem-Apho­ris­men. (Zu über­legen wäre freilich, ob das im Orig­i­nal auch so ist, oder ob das erst durch die darauf abzie­lende Auswahl des Her­aus­ge­bers so erscheint.) Denn was Rit­ter aus­gewählt hat und hier veröf­fentlicht wird, das sind lauter kleine und knack­ige, tre­f­fende und totale Sätze. Das hat natür­lich immer wieder ein Hang zum Apodik­tis­chen, beruht aber ander­er­seits auf ein­er genauen Beobach­tung der Welt und ihrer Kun­st, die sich mit ein­er aus­ge­feil­ten Präzi­sion der genauesten For­mulierung paart.

Ich denke nicht nach: Ich schaue hin und lasse die Dinge meine Augen berühren. (13)

Oft geht es in den Miniatur-Ein­trä­gen um die Lit­er­atur, noch mehr um das Schreiben an sich, aber auch um die Felder der Kri­tik und des Jour­nal­is­mus — lauter Zeit­losigkeit­en also. Das Ich, sein selb­st und seine Tugen­den wird dabei genau­so unbarmherzig und oft hart beobachtet wie die anderen um ihn und um die Jahrhun­der­twende herum. Da kann ich sehr viel Zus­tim­mungs­fähiges find­en — man nickt dann beim Lesen immer so schön mit dem Kopf … -, auch pointiert Über­raschen­des, aber auch Fraglich­es. Ger­ade in sein­er Hal­tung zur Welt, die vor allem aus sein­er Abso­lu­tierung sein­er Indi­vid­u­al­ität resul­tiert, sehe ich nicht nur Vor­bild­haftes.

Das Recht eines Kri­ti­kers ist es, seine Grund­sätze einen nach dem ande­ren zu ver­leug­nen, seine Pflicht ist es, keine Über­zeu­gung zu haben. (5)
Was ist das Leben, wenn es nur mit Augen gese­hen wird, die nicht Augen von Dichtern sind? (22)

außer­dem unter anderem gele­sen:

  • Alexan­der Osang: Im näch­sten Leben. Reporta­gen und Porträts. Berlin: Ch. Links 2010. 254 Seit­en
  • Hein­rich Deter­ing: Vom Zählen der Sil­ben. Über das lyrische Handw­erk. München: Stiftung Lyrik Kabi­nett 2009. 28 Seit­en.
  • Hans-Wern­er Richter: Die Geschla­ge­nen. München: Kurt Desch 1949. 459 Seit­en.
  • Siri Hustvedt: The Blaz­ing World. Lon­don: Scep­tre 2014. 379 Seit­en.
  • Jür­gen Kaube: Im Reformhaus. Zur Krise des Bil­dungssys­tems. Springe: zu Klam­p­en 2015 (Zu Klam­p­en Essay). 174 Seit­en.
  • Isabel­la Straub: Das Fest des Win­drads. Berlin: Blu­men­bar 2015. 348 Seit­en.
  • Daniel Mar­tin Feige: Philoso­phie des Jazz. Berlin: Suhrkamp 2014. 142 Seit­en.
  • Thomas Heck­en: Avant­garde und Ter­ror­is­mus. Rhetorik der Inten­sität und Pro­gramme der Revolte von den Futur­is­ten bis zur RAF. Biele­feld: Tran­script 2006. 158 Seit­en.
  • Har­ald Welz­er, Dana Giesecke, Luise Tremel (Hrsg.): FUTURZWEI Zukun­ft­salmanach 2015/16. Geschicht­en vom guten Umgang mit der Welt. Schw­er­punkt Mate­r­i­al. Frank­furt am Main: Fis­ch­er 2014. 544 Seit­en.
  • Ben­jamin Stein: Ein anderes Blau. Prosa für 7 Stim­men. Berlin: Ver­brech­er 2015. 107 Seit­en.

Aus-Lese #40

Klaus Wagen­bach (Hrsg.): Störung im Betrieb­sablauf. 77 kurze Geschicht­en für den öffen­lichen Nahverkehr. Berlin: Wagen­bach 2014. 143 Seit­en.

wagenbach, störung im betriebsablaufEine lustige Edi­tion ist das, die mir zufäl­lig im Buch­laden in die Augen und Hände gefall­en ist: Klaus Wagen­bach hat kleine Texte gesam­melt, für die Lek­türe unter­wegs im ÖPNV. Der Zweck bes­timmt auch die Ord­nung der Texte nach Anlass und Länge: Kurzstreck­en, Bahn­hof, Zwei Sta­tio­nen etc. sind die Kapi­tel über­schrieben. Hin­ter der witzi­gen und sym­pa­this­chen Idee steckt aber vor allem eine schöne und vielfältige Samm­lung größ­ten­teils großar­tiger Kurzprosa: Kurzgeschicht­en, Para­beln, Anek­doten, Fabeln und vieles mehr. Wagen­bachs Auswahl beweist ein sehr hohes Qual­ität­sniveau ohne Aus­reißer: Das ist ein­fach gut aus­ge­sucht. Und vieles Bekan­ntes ist dabei, natür­lich — aber auch einiges Über­raschen­des, Uner­wartetes. Und auch beim Wieder­lesen entwick­elt so manch­es in diesem Zusam­men­hang neue Aspek­te. Das kleine Bänd­chen ist wirk­lich eine vortr­e­f­fliche Lek­türe für die Zeit des Bewegt-Wer­dens — da wün­scht man sich manch­mal beina­he eine tat­säch­liche “Störung im Betrieb­sablauf” …

Ulrike Almut Sandig: Buch gegen das Ver­schwinden. Geschicht­en. Frank­furt am Main: Schöf­fling 2015. 207 Seit­en.

sandig, verschwinden “Es ist so leicht zu ver­schwinden.” (35) Das ist das ganze Prob­lem. Denn wir Men­schen sind tat­säch­lich kaum mehr als ein Gras im Wind — ein­mal hier, bald wieder weg. Und darum geht es in diesem Geschicht­en-Band (aus­drück­lich nicht Erzäh­lun­gen!): Um das Ver­schwinden, um das Vergessen. Und darum, wie sich das (vielle­icht) doch ver­hin­dern oder auf­schieben lässt — mit dem Erzählen zum Beispiel. Aber wer sagt dann, dass das Erzählte was mit der vergangenen/verschwundenen Real­ität zu tun hat? Doch: Das ist keine philosophis­che Abhand­lung, kein Essay — und will es auch gar nicht sein. Son­dern eine Feier des Erzäh­lens. Denn Sandig ist eine großar­tige Erzäh­lerin, deren bre­ites stilis­tis­ches Reper­toire und deren Sprache ich sehr mag (das war auch schon bei den Flamin­gos so!). Ich zitiere aus Faul­heit mal die Ver­lagsweb­seite:

Ein junger Jour­nal­ist ver­sucht inmit­ten der Unruhen um den Istan­buler Gezi-Park die Erwartun­gen sein­er Mut­ter abzuschüt­teln, die nach dem Mauer­fall 1989 das Reise­fieber gepackt hat. Ein Wan­der­er geht während eines Schneesturms in den ural­ten ver­wun­sch­enen Wäldern des Engadin ver­loren. Ein kleines Mäd­chen wird zum näch­sten Venus­durch­gang von der Groß­mut­ter ans Ende der Welt geflo­gen. Wohin ihre Spuren führen, ist eines der vie­len Rät­sel dieser Geschicht­en.

Rät­sel weisen Sandigs Geschicht­en immer wieder auf. Aber keine Span­nungs- oder Kri­mi-Rät­sel, son­dern Rät­sel, die auf die Frage nach der Wahrheit, der Wirk­lichkeit der Ver­gan­gen­heit und der Erin­nerung ver­weisen. Mir ist dann die eigentlich Geschichte oft gar nicht so wichtig — ob es nun um einen Witwer geht, der sich und seine Ein­samkeit sowie seine fortschre­i­t­ende Demenz beobachtet, um einen jun­gen Jour­nal­is­ten, die Wan­der­er im Engadin, die den mythisch-verk­lärten Taman­gur-Wald ent­deck­en wollen — die Haupt­sache ist immer wieder das Erzählen selb­st.

Ja, an diesem Tag und in dieser Minute find­et sie plöt­zlich, dass sie sich diese Geschichte immer wieder anhören kön­nte und immer wieder in der jew­eils aktuellen Ver­sion, und jed­er Ver­sion würde sie Glauben schenken, wohl wis­send, dass wir, jede Einzelne von uns, die Erzäh­lerin­nen unser­er eige­nen Geschicht­en sind und dass es nicht darauf ankommt, was in Wirk­lichkeit passiert ist, solange wir eine Ver­sion haben, die uns das Leben und alle, die darin ver­schwinden, erträglich­er macht. (36f.)

Es gibt auch ein nett gemacht­es “Video zum Buch” von Har­ald Opel:

Ulrike Almut Sandig — Buch gegen das Ver­schwinden

Beim Klick­en auf das und beim Abspie­len des von YouTube einge­bet­teten Videos wer­den (u. U. per­so­n­en­be­zo­gene) Dat­en wie die IP-Adresse an YouTube über­tra­gen.
Joachim Zel­ter: Wieder­se­hen. Tübin­gen: Klöpfer und Mey­er 2015. 126 Seit­en.

zelter, wiedersehenOffiziell als “Nov­el­le” betitelt — und das haut auch hin. Ein kurz­er Text für zwis­chen­durch (die 126 Seit­en sind recht großzügig geset­zt), mit hohem Spaß­fak­tor: Der Lieblingss­chüler Arnold Lit­ten trifft nach zwanzig Jahren wieder auf seinen immer schon etwas kauzi­gen Lieblingslehrer Thorsten Korthausen, der ihn, der mit­tler­weile zum Ger­man­is­tik-Pro­fes­sor (ver­mut­lich …) gewor­den ist, damals im Fach Deutsch unter­richtet und für die Lit­er­atur begeis­tert hat. Im Rück­blick tauchen die sehr ungewöhn­lichen Lehrmeth­o­d­en Korthausens noch ein­mal auf (die jed­er Ord­nung, Ver­gle­ich­barkeit oder Plan­mäßigkeit spot­ten, aber natür­lich höchst genial waren und alle Schü­lerin­nen und Schüler enorm begeis­terten …). Jet­zt also das Wieder­se­hen, auf ein­er von Korthausen extra dafür aus­gerichteten Par­ty, bei der Lit­ten auch noch ohne Vor­war­nung einen Vor­trag hal­ten soll. Das alles geht, fast erwartungs­gemäß, fürchter­lich schief und gibt allen, vor allem aber Lit­ten selb­st, gründlich Gele­gen­heit, sich selb­st, ihre Stel­lung und ihrer (Lebens-)Ziele, aber auch die gemein­same Ver­gan­gen­heit, noch ein­mal gründlich zu über­denken. Das ist alles sehr liebevoll geschildert, mit wun­der­baren Typen (ger­ade die Neben­fig­uren sind her­rlich). Die kon­fronta­tive Sit­u­a­tion steigert sich immer mehr, bis das Ganze schließlich in eine ziem­lich wilde Groteske umkippt. Kurz vor dem Schluss (der noch ein­mal eine abso­lut unnötige “über­raschende Wen­dung” bietet) heißt es dann:

Er hätte niemals hier­herkom­men dür­fen. […] Dass es ein Fehler sei, einen Men­schen wie Korthausen nach über zwanzig Jahren ein­fach wiederzuse­hen. Dass man dabei nur ver­lieren kann, zuer­ste einen geliebten Lehrer udn dann sich selb­st. Dass man sich dadurch sein­er grundle­gen­sten Ebe­nen beraubt. Und sein­er schön­sten Bilder. (125)

Paulus Böh­mer: Werich­bin. Gedichte. Frank­furt am Main: Edi­tion Faust 2014. 56 Seit­en.

boehmer, wer ich bin“Gedichte” stimmt hier ger­ade so — es sind näm­lich genau zwei Langgedichte, die in diesem kleinen Bänchen zu find­en sind: “Werich­bin” (das scheint die bevorzugte Schreib­weise des Titels zu sein) und “Über das Zusam­men­fü­gen von Teilen”. Bei­de sind wieder typ­is­che Böh­mer-Schöp­fun­gen: Auf Mit­telachse ste­hen diese Text­türme, ohne Reim oder festes Metrum, sind sie fort­laufende Ket­ten von Ein­fällen und Assozi­a­tio­nen. For­mgebend ist beim Titelgedicht “Wer ich bin” zum Beispiel das “Wie” — “So” und “Daß” am Beginn der einzel­nen Vers­grup­pen in den drei Teilen des Titelgedichts.

Wer diesen (Vor-)Namen trägt, muss vielle­icht so schreiben: voller Bildge­walt, voller Wis­sen, immer alles wol­lend und auch alles sagen wol­lend, Texte voller Welthaltigkeit (oder vielle­icht auch Weltall­haltigkeit?) und Sprach­be­herrschung pro­duzierend. Auch “Werich­bin” über­wältigt mit dieser Vielfalt, wie immer bei Böh­mer ist das alles kaum fass­bar. Seine Gedichte hin­ter­lassen bei mir den Ein­druck von Größe und auch Erhaben­heit (das mag mit dem hym­nis­chen Ton sein­er Lyrik zusam­men­hän­gen), von Sprachge­walt und wis­sender Klugheit, die den Leser emporzuheben scheint (auch wenn ich nicht unbe­d­ingt sagen kön­nte, wohin — oder was ich daraus “gel­ernt” hätte): Man kann — und das behaupte ich ja gerne von guten Kunst­werken — das nicht lesen (bzw. sehen oder hören), ohne danach ein ander­er Men­sch zu sein. Und hat immer etwas von per­ma­nen­ter Über­forderung: Ich habe beim Lesen immer das Gefühl, dass mir viel ent­ge­ht — zugle­ich aber auch den Ein­druck, dass ich ganz viel davon habe, das jet­zt zu lesen. Michael Braun hat in sein­er Rezen­sion wohl nicht ganz zu Unrecht darauf hingewiesen, dass Böh­mers Lyrik als “Über­fluss-Pro­duk­tion” funk­tion­iere. Das macht sie aber eben schwierig und faszinierend zugle­ich …
Das kleine Bänd­chen — sozusagen Böh­mer für Ein­steiger (Kad­dish ist da allein wegen seines Umfangs ja schon abschreck­ender …) — enthält außer den bei­den Gedicht­en noch ein kurzes Nach­wort (das mir wenig brachte) und drei Col­la­gen — eine bunte vom Autor auf dem Umschlag, eine schwarz-weiße von ihm im Vor­satz und eine weit­ere von Lydia Böh­mer zu Beginn von “Über das Zusam­men­fü­gen von Teilen”.

Marc Degens: Fuckin Sushi. Köln: DuMont 2014. 320 Seit­en.

degens, sushiEin tolles Buch übers Erwach­sen­wer­den in Bonn, die Musik (und den Alko­hol), das Leben und den ganzen Rest: intel­li­gent aus­gedacht, schnell und flott geschrieben und auch zügig gele­sen — und zudem gibt es eine reich­haltige cross­me­di­ale Begleitung für die, die so etwas mögen — die fängt übri­gens mit Playlists des Pro­tag­o­nis­ten (u.a. sein erster Ipod mit “langer” Musik) schon im Buch selb­st an. Mehr zu dieser Leseempfehlung gibt es in einem eige­nen Text, näm­lich hier.

Ulrich Lap­penküper & Ulf Mor­gen­stern (Hrsg.): Dem Otto sein Leben von Bis­mar­ck. Die besten Anek­doten über den Eis­er­nen Kan­zler. München: Beck 2015. 128 Seit­en.

lappenküper, bismarckDer Titel ist natür­lich sel­ten däm­lich. Wieso sich der Beck-Ver­lag zu so einem Unsinn hin­reißen lassen hat, ver­ste­he ich nicht. Denn das Büch­lein hat ja dur­chaus einen hohen Anspruch. Sich­er, es geht um Anek­doten. Aber die sollen viel leis­ten, wie die bei­den Her­aus­ge­ber in der Ein­leitung beto­nen:

[…] hegen die Her­aus­ge­ber die Hoff­nung, mitels der hier ver­sam­melten Äußerun­gen von und über Bis­mar­ck sein­er Per­sön­lichkeit näher zu kom­men, als es manch tief­gründi­ge his­torische Darstel­lung ver­mag. (8)

Ich halte das prinzip­iell für gewagt und im Falle dieser kleinen Samm­lung auch für nicht erfüllt. So viel also zum Neg­a­tiv­en. Was bleibt dann? Eine kuriose Samm­lung von mehr oder min­der amüsan­ten Begeg­nun­gen, Begeben­heit­en und Erin­nerun­gen Bis­mar­cks und seines Umfeldes. Die ersten Jahre sind naturgemäß schwach vertreten und ger­ade dort bleibt der Pro­tag­o­nist auch blass, wenn auch seine Genial­ität natür­lich (schließlich wur­den die Anek­doten alle Jahrzehnte später niedergeschrieben) schon allen Ver­ständi­gen sicht­bar war. Über­haupt entste­ht hier das Bild eines Bis­mar­ck, der nicht so sehr “Eis­ern­er Kan­zler” war, son­dern vor allem ein gewitzter Draufgänger. Das liegt natür­lich (auch) in der Natur der hier ver­sam­melten Quellen begrün­det — wie wahr das ist, kann ich nicht wirk­lich beurteilen. Fest­stellen lässt sich aber auch ohne detail­lierte Bis­mar­ck-Ken­nt­nisse die Nei­gung zur frühen und ziem­lich voll­ständi­gen (Selbst-)Stilisierung.

Daneben wer­den aber dur­chaus auch schöne Begeben­heit­en hier berichtet. Zum Beispiel über die Rolle des Rauchens im Frank­futer Bun­destag, das schnell als Rang­merk­mal, als Sta­tussym­bol ent­deckt wird (wer darf in den Sitzun­gen rauchen?) und das fast genau­so schnell seine Untauglichkeit dafür erweist, weil schließlich (nahezu) alle rauchen, selb­st wenn sie, d.h. die Gesandten, es nur unter größtem per­sön­lichem Wider­willen tun. Auch schön: Bis­mar­cks etwas däm­lich­er Feldzug gegen die Anti­qua-Drucke und sein Beste­hen auf Frak­tur-Schriften für den Dien­st­ge­brauch. Und hier darf natür­lich nicht fehlen: Sein Wider­stand gegen die Ein­führung ein­er neuen Rechtschrei­bung (1876). Dazu heißt es in diesem Bänd­chen, das alles in allem doch eine nette Lek­türe für zwis­chen­durch ist:

Er sprach mit wahrem Ingrimm über die Ver­suche, eine neue Orthogra­phie einzuführen. Er werde jeden Diplo­mat­en in eine Ord­nungsstrafe nehmen, welch­er sich der­sel­ben bedi­ene. Man mute dem Men­schen zu, sich an neue Maße, Gewichte, Münzen zu gewöh­nen, ver­wirre alle gewohn­ten Begriffe, und nun wolle man auch noch eine Sprachkon­fu­sion ein­führen. Das sei unerträglich. Beim Lesen auch noch Zeit zu ver­lieren, um sich zu besin­nen, welchen Begriff das Zeichen aus­drücke, sei eine uner­hörte Zumu­tung. Eben­so sei es Unsinn, Deutsch mit lateinis­chen Let­tern zu schreiben und zu druck­en, was er sich in seinen dien­stlichen Beziehun­gen ver­bit­ten werde, solange er noch etwas zu sagen habe. (79)

außer­dem gele­sen:

  • Mar­cel Bey­er: XX. Licht­en­berg-Poet­ikvor­lesun­gen. Göt­tin­gen: Wall­stein 2015 (Göt­tinger Sudel­blät­ter). 80 Seit­en.
  • Bertolt Brecht: Der gute Men­sch von Sezuan. Para­bel­stück. Frank­furt am Main: Suhrkamp 1964. 144. Seit­en.
  • Got­tfried Immanuel Wen­zel: Ver­brechen aus Infamie. Eine the­atralis­che Men­schen­schilderung für Richter und Psi­cholo­gen in drei Akten. Mit einem Nach­wort her­aus­gegeben von Alexan­der Kos­en­i­na. Han­nover: Wehrhahn 2014 [1788] (The­ater­texte, Bd. 43). 64 Seit­en.

Musik, Alkohol — und Bonn: “Fuckin Sushi” von Marc Degens

degens, sushi
Das ist — man muss es so direkt sagen — ein grandios­es Buch. Vielle­icht liegt das ger­ade an sein­er Unschein­barkeit. Denn eigentlich erzählt Marc Degens etwas, das man so ähn­lich schon tausend­mal (und in let­zter Zeit auch gehäuft) lesen kon­nte: Das Erwach­sen­wer­den in der Prov­inz. Nun gut, Prov­inz ist für Bonn vielle­icht zu bösar­tig, aber es trifft das Gefühl des Pro­tag­o­nis­ten Niels. Der ist 17 Jahre alt, ger­ade mit seinen Eltern (von denen wir sehr wenig erfahren) von Gelsenkirchen nach Bonn umge­siedelt und wid­met sich zunehmend der Musik. Zunächst vor allem hörend — und zwar nur lange Lieder, keine kurzen (Hit-)Songs -, bald aber auch, zusam­men mit seinem Fre­und René bzw. R@ selb­st musizierend. Die starten, das wird nicht so ganz klar, entwed­er als Genies oder als eine Art “Geniale Dil­letan­ten” mit ein­er Mis­chung aus Konz­ert, Per­for­mance und Hap­pen­ing vor dem Café, das Heino gehört. Daraus entwick­elt sich dann schnell großes, näm­lich “Fuckin Sushi”, zunächst als Trio, dann als Quar­tett, und am Schluss wieder als Trio — dann aber ohne Niels. Dazwis­chen ste­ht ein mehrmonatiger Rausch an und mit der Musik (und jede Menge Alko­hol und Zigaret­ten …). “Fuckin Sushi” lan­det mehr oder weniger zufäl­lig einen You-Tube-Hit, tin­gelt kurz durch Deutsch­land, zer­stre­it­et sich, zer­fällt an Quere­len und der Uneinigkeit über die Aus­rich­tung der Band. Niels verkraftet den Auss­chluss nicht so gut, untern­immt auch einen Pseu­do-Selb­st­mord­ver­such im Hochwass­er des Rheins, gam­melt lange vor sich hin und find­et sich schließlich — wiederum mit Hil­fe ein­er Frau — in New York, wo er sich als Schrift­steller neu erfind­et, der Fuckin Sushi nieder­schreibt.

Das klingt, so erzählt, banal und lang­weilig. Das Entschei­dende am Roman von Marc Degens ist aber das Wie des Erzäh­lens, vor allem seine Sprache: Die ist direkt und unver­fälscht — sie lässt den Leser in den Rausch und die Glück­seligkeit des Musik­machens sehr unmit­tel­bar ein­tauchen. Und sie lässt ihn auch die Schwierigkeit­en des Älter- oder Erwach­sen­wer­dens von Niels sozusagen haut­nah miter­leben. Dass Fuckin Sushi neben­bei auch noch eine ziem­lich real­is­tis­che Schilderung der BRD am Anfang des 21. Jahrhun­derts, ins­beson­dere Bonns und Umge­bung, ist, kann man als nette Zugabe ver­buchen. Wichtiger ist aber das Tem­po, der Dri­ve und der Witz, mit dem Degens erzählt. Der Kri­tik­er der “taz”, Jens Uthoff, hat das sehr gut auf den Punkt gebracht: “Über weite Streck­en ist Fuckin Sushi eine span­nend geschriebene Hom­mage an das Unre­gle­men­tierte, das Unre­flek­tierte, das Jungfräuliche der Jugend — wobei auch dies­bezüglich die Zwis­chen­töne, ein heute anders erlebtes „No future“, stim­men.”

So laut die Band “Fuckin Sushi” ist, so leise kommt — und doch ziem­lich erwart­bar — das Ende: Es kommt, wie es kom­men muss, die Band zer­stre­it­et sich, Niels wird raus­ge­wor­fen, weil, das klang vorher schon immer wieder an, die Band sich stärk­er an Hits und Rezip­i­en­ten ori­en­tiert und die Begeis­terung und das empathis­che Aufge­hen im Akt des Musizierens in den Hin­ter­grund gerät. Damit — und mit den Depres­sio­nen Niels’ — gerät allerd­ings auch das zen­trale Prinzip von “Fuckin Sushi” in Bedräng­nis: Mit dem “Abrent­nern” ist es sowohl bei der Band als auch bei Niels nicht mehr so weit her. Dabei klang das vorher doch noch nach so ein­er tollen Idee: “Welt­frieden und Abrent­nern sofort” ist nicht nur der Slo­gan der Band, son­dern auch ein Ide­al ihrer Pro­tag­o­nis­ten, zumin­d­est von Niels. Der for­muliert ein­mal sehr tre­f­fend:

»Abrentern ist gut«, sagte ich war­nend. »Aber man darf auf keinen Fall ver­ade­nauern.« (269)

Nach der begeis­terten Begleitschreiben-Rezen­sion musste ich das auch lesen. Und ich kann Gre­gor Keuschnig ziem­lich vol­lkom­men zus­tim­men, deswe­gen brauche ich das hier nicht noch mal alles auszubre­it­en: Das ist ein guter Roman. Sich­er, Degens fokussiert das sehr stark auf seinen Pro­tag­o­nis­ten Niels. Das hat etwas vom Tun­nel­blick: alles, was nicht mit ihm, R@ und vor allem eben der Musik, also in erster Lin­ie “Fuckin Sushi”, zu tun hat, wird ziem­lich radikal aus­ge­blendet oder zumin­d­est an den Rand gedrängt. Es geht dem Rest der Fig­uren (und auch des Lebens Niels) dabei ein biss­chen so wie den Band-Mit­gliedern im Müll-Tow­er, ihrem ziem­lich abge­fuck­ten Prober­aum: Nur sie sind zu erken­nen, die Decke — das heißt die Umwelt — bleibt im undurch­dringlichen Dunkel ver­bor­gen. Und im Müll-Tow­er wird es ja, ganz furcht­bar sym­bol­isch, auch immer dun­kler und käl­ter, je weit­er sich Niels und der Rest der Band von einan­der ent­fer­nen (diese etwas plat­te Sym­bo­l­ik ist nicht das stärk­ste Moment, aber ander­er­seits auch nicht über­mäßig auf­dringlich) … Warum es aber diese selt­samen, halb­herzi­gen Ver­suche gibt, dieses Dunkel zu durch­brechen, mit ziem­lich aufwendi­gen Vor­bere­itun­gen und Einkäufen von extrastarken Taschen­lam­p­en (aber eben immer nur Taschen­lam­p­en, nie Schein­wer­fern, obwohl Strom ja da wäre und für die Band-Instru­mente ja auch nötig ist …) und so weit­er, und zwar sowohl von Niels als auch von Lloyd, die aber bei­de damit irgend­wie sehr vorherse­hbar scheit­ern und diese Ausleuch­tungsver­suche dann auch nicht weit­er ver­fol­gen, bleibt mir recht unklar. Doch das nur neben­bei … Denn der Witz von Fuckin Sushi ist ja eher, dass es sich gar nicht über­mäßig um tief­ere Bedeu­tung, große Zusam­men­hänge, hohen Sinn bemüht, son­dern genau die Suche eines jun­gen Erwach­se­nen, eines erwach­sen wer­den­den Jugendlichen, nach diesen Zusam­men­hän­gen, nach einem Stand­punkt, ein­er Deu­tung des Lebens, der Welt und des ganzen Rests genau und mit­füh­lend beschreibt, ohne sen­ti­men­tal oder flach zu wer­den. Darin liegt die große Stärke und nicht zulet­zt das große Vergnü­gen von Degens’ Roman.

Bonn war eine schöne, alte Frau, in deren Gesicht an manchen Stellen der Schädel durch­schien. Nicht durch die Pracht­baut­en wurde die Stadt vere­delt, son­dern durch den Schmutz und den Dreck. Die Fix­er und Strich­er am Haupt­bahn­hof waren das Geil­ste an Bonn. Sie schürten die Angst und die Angst war der Motor unser­er Musik. Ohne Musik aber gab es nur noch Angst. (292)

Marc Degens: Fuckin Sushi. Köln: DuMont 2015. 320 Seit­en. ISBN 9783832197476.[/su_box]

Aus-Lese #39

Lud­wig Winder: Der Thron­fol­ger. Ein Franz-Fer­di­nand-Roman. Wien: Zsol­nay 2014. 576 Seit­en.

winder, thronfolger

Ein schön­er und guter Roman eines vergesse­nen Autors zu einem bekan­nten The­ma. Lud­wig Winder, in der Zwis­chenkriegszeit ein berühmter Autor und Jour­nal­ist, hat mit dem “Franz-Fer­di­nand-Roman” Der Thron­fol­ger ein richtig gutes Buch geschrieben, das lei­der lange Zeit ziem­lich vergessen war. Der Wiener Zsol­nay-Ver­lag hat es jet­zt (mit einem Nach­wort des Spezial­is­ten Ulrich Weinzierl) neu aufgelegt — und so kon­nte ich auch diesem Roman, der 1937 das erste mal erschienen ist, ken­nen ler­nen.

Winder erzählt das Leben des Erzher­zogs Franz Fer­di­nand trotz der aus­führlichen Darstel­lung in strenger Chronolo­gie des Lebens. Und weil er stilis­tisch dabei erstaunlich lock­er bleibt, lässt sich das trotz der etwas lan­gat­mi­gen Anlage und Struk­tur sehr gut lesen. Denn im Kern ist es eben ein starkes, lebendi­ges Porträt des Erzher­zo­ges — der war ja, wenn man Winder glauben mag (und es gibt keinen Grund, das nicht zu tun), alles andere als ein leibenswürdi­ger Charak­ter: Spröde, harsch, krankhaft ehrgeizig und mis­strauisch — ein Mis­an­throp rein­sten Geblüts sozusagen. Die radikale per­son­ale Per­spek­tive macht das zu einem dicht­en Porträt ein­er his­torischen Fig­ur, ohne sie vorzuführen oder zu verurteilen. Inter­es­sant wird das auch dadurch, dass im Hin­ter­grund des Textes immer die Frage mitschwingt: hätte die Geschichte nicht auch ganz anders aus­ge­hen kön­nen? Das “fak­tis­che” Ende ist ja bekan­nt — hier wird aber immer wieder mit der Möglichkeit gespielt, dass die Geschichte des 20. Jahrhun­derts in der Fig­ur Franz Fer­di­nands auch andere Poten­zen und Poten­ziale gehabt hätte — die aber ungenutzt bleiben (und vielle­icht auch ein­fach bleiben müssen).

Unter­dessen wur­den in den Kon­feren­zsälen der Gen­er­al­stäbe, Min­is­te­rien und Botschaften, in den Salons der Muni­tions­fab­rikan­ten, in den Schlössern und auf den Vergnü­gungsy­acht­en der Staat­sober­häupter, in den Klubz­im­mern der Abge­ord­neten, in den Spielz­im­mern der Offizier­skasi­nos, in den armen Mansar­denkam­mern jugendlich­er Ver­schwör­er die Pläne aus­ge­heckt, die zum Kriege führen soll­ten. Leicht­fer­tige Diplo­mat­en, ehrgeizige Gen­eräle, ver­brecherische Geschäftemach­er und halb­wüch­sige Patri­oten, deren nation­al­is­tis­ch­er Rausch sich unverse­hens in Blu­trauseh wan­delte, arbeit­eten einan­der in die Hände, ohne es zu wis­sen. Sie jagten einan­der Angst ein, um die Ver­nun­ft zu töten. Sie woll­ten die Welt mit Angst erfüllen, um die Ver­brechen, die sie planten, zu entschuldigen. Sie sagten den Völk­ern, der Feind gönne ihnen das Leben nicht und wolle ihnen den Leben­sraum verkürzen. Sie forderten den Feind her­aus, den ersten Schuss abzugeben, das Sig­nal zum großen Massen­mord. Sie hat­ten Angst vor dem ersten Schuss, den sie inbrün­stig ersehn­ten. (454)

Dominik Dom­brows­ki: Fremdbestäubung. Köln: par­a­siten­presse 2014. 44 Seit­en.

dombrowski, fremdbestäubungGute Gedichte scheinen mir das zu sein, der “Güte” schw­er zu fassen sind: Da sind starke, anziehende Bilder, die ganz wun­der­bar selb­stver­ständlich wirken. Da ist die Bewe­gung der Sprache, die sich unge­hin­dert und wie von selb­st enfal­tet. Und das Fortschre­it­en im Text und der Welt, auch in der Zeit: immer weit­er, nicht ras­ten, nicht ruhen … Da ist die szenis­che Nar­ra­tion, die immer wieder auf­taucht. Die Rei­hung von kurzen Sequen­zen, die geschnit­ten (Cut!) Bilder, die Real­ität und Sprache miteinan­der kom­mu­nizieren lassen (oder auch nicht), zumin­d­est in Beziehung set­zen, sie aufeinan­der tre­f­fen lassen. Schade nur, dass der Band von Dom­brows­ki so kurz ist …

Archivare
Schiffe zu fal­ten den Eis­bären
dort unten
wo ihnen die Schollen
weg­brechen
haben
wir jet­zt nicht
das Papi­er

So fil­men wir
weit­er ihr
polares Treiben
vom Hub­schrauber aus (30)

Hans Pleschin­s­ki: Der Holzvulkan. Ein deutsch­er Fes­t­brief. Mit einem Nach­wort von Gus­tav Seibt. München: Beck 2014 (tex­tu­ra). 96 Seit­en.

pleschinski, holzvulkanEine kuriose Erzäh­lung eines kuriosen Geschehens der an Kuriositäten nicht ger­ade armen deutschen Geschichte: Der Erzäh­ler triff auf die Geschichte, die sich in Form eines Art Führers und Erzäh­lers sowie der traumhaften Verge­gen­ständlichung der his­torischen Baut­en und Ansicht­en darstellt und zeigt. Es geht um einen etwas aus­ge­flippten deutschen Her­zog des 17. Jahrhun­dert, den Anton Ulrich von Braun­schweig-Wolfen­büt­tel, der nicht nur (extrem ausufer­nde) Romane schrieb, son­dern auch als Feste-Arrangeur und Mäzen sein kleines HZer­zogtüm­chen zu einem europäis­chen Zen­trum der Kün­ste und der repräsen­ta­tiv­en Darstel­lung machen wollte — und damit so grandios und krachend scheit­ert, dass es Pleschin­s­ki wun­der­baren Stoff zum Erzählen gibt. Und auf den weni­gen Seit­en macht er das aus­ge­sprochen lebendig und sym­pa­thisch, mit raf­finierten erzäh­lerischen Volten, die dem Gegen­stand des Illu­sion­sthe­aters wun­der­bar angemessen sind — und zugle­ich ein Beispiel, wie man kun­stvoll Geschichte (nach-)erzählen kann. Also: eine schöne, unter­hal­tende und auch belehrende Lek­türe für zwis­chen­durch (zumal das Büch­lein bei Beck auch nett gemacht und um einige Kupfer­stichen ergänzt wurde).

Deutsches Barock ist den Deutschen am fremdesten, weil’s dort nicht mal um Gemütlichkeit ging (75)

Patrick Maisano: Mez­zo­giorno. Salzburg u.a.: müry salz­mann 2014. 152 Seit­en.

maisano, mezzogiornoEin schönes und gelun­ge­nes erzäh­lerisches Exper­i­ment, dieses Debüt von Maisano: Zwei Erzäh­ler — auch noch bei­de Architek­ten — stre­it­en sich um die Wahrheit des Erzäh­lens, der Erin­nerung und der Deu­tung der Gegen­wart. Zugle­ich ist das auch ein Stre­it zweier Lebensen­twürfe: Der geniale, faule und organ­isierte Architekt gegen den ord­nungs­fix­ierten, unternehmerischen, aber ideen­losen Bauin­ge­nieur und Plan­er.
Die Men­schen bleiben allein, die Fam­i­lien tauchen als Idee und Erzäh­lung öfter und wirk­lich­er auf als in der “wahren” Real­ität: Patricks trock­enes Bericht­en und Toms unbeschw­ertes Fab­u­lieren konkur­ri­eren um den Leser — glaub­haft sind natür­lich bei­de nicht, wie sich zuse­hends her­ausstellt. Dass bei­den Pro­tag­o­nis­ten und Erzäh­lern am Ende dann ganz sym­bol­isch und reell der Boden und das Fun­da­ment unter den Füßen wegrutscht — das Chalet, in dem sie sich befind­en, fällt einem Bergrutsch zum Opfer — ist dann fast schon zu offen­sichtlich. Aber bis dahin hat man beim Lesen an diesem ras­an­ten Text eine Menge Vergnü­gen gehabt.

Lutz Seil­er: im felder­latein. Berlin: Suhrkamp 2010. 102 Seit­en.

seiler, felderlatein“daheim an den gedicht­en” ist Lutz Seil­er: Auch wenn er jet­zt für seinen Roman “Kru­so” so sehr gelobt ist: Er ist vor alle­dem ein vortr­e­f­flich­er und aus­ge­sprochen kluger Lyrik­er. Schon pech & blende hat das gezeigt, im felder­latein gelingt es erneut: Hier ist eine eigene Stimme und ein eigen­er Denke. Seil­ers Gedichte machen immer wieder die Zeit selb­st zum The­ma:

[…] immer

in der schwebe, die
schätze dieser zeit

- eine Zeit, die sich in der Erin­nerung zeigt oder als Gegen­wart der Ver­gan­gen­heit im Augen­blick der Empfind­ung und Wahrnehmung. Vor allem aber geht es ihm immer wieder um die Ver­bidun­gen und Verknüp­fun­gen von Natur, Men­sch und eben Zeit. Ein Gedicht wie “im felder­latein” macht das beson­ders deut­lich. Schon der Titel verknüpft alle drei Bere­iche: Den Men­schen mit sein­er Sprache — aber ein­er Sprache, die “aus­gestor­ben” ist, die Sprache der Ver­gan­gen­heit ist, aber in unser­er Gegen­wart immer noch lebt; und diese Sprache der Men­schen eben schon im Kom­posi­tum verknüpft mit der Natur der “Felder” — die, sobald sie Felder sind, ja auch schon mit dem kul­tivieren­den und abgren­zen­den Men­schen in Verbindung ste­hen. Dort, also “im felder­latein”, heißt es:

im ner­ven­bün­del dreier birken:
umrisse der exis­tenz & alte for­men
von geäst wie
schwarz­er mann & stum­mer
stromab­nehmer. all

die falschen schei­t­el, sauber
nachge­zo­gen im archiv
der glat­ten über­liefer­ung. gern

sagst du, es ist die kälte, welche
dinge hart im auge hält, wenn
große flächen schlaf wie
winkelschleifer schleifen in
den zweigen. so

sagt man auch: es ist ein baum
& wo ein baum so frei ste­ht
muß er sprechen

Und das zeigt sich auch in Vers­grup­pen, die deut­lich machen, dass dem Men­schen (noch) längst nicht Zugriff auf alles eigen ist:

du weißt noch immer
nicht, daß es dich gibt, doch
was geschieht
ist begrif­f­en, ins brüchige dunkel
entleert sich das haus (48)

In seinem flanieren­den Streifen durch Land­schaften, Ver­gan­gen­heit­en und Typen (Rück­kehr ist der entschei­dende Begriff heir, nicht die Ankun­ft!) gelin­gen Seil­er jeden­falls immer wieder großar­tige Gedichte, die als konzen­tri­erte, starke Schöp­fun­gen der Sprache und des Denkens so etwas wie Bestand­sauf­nah­men sind (nicht ohne Grund ist “inven­tur” eines der besten gedichte in diesem band):

[…] & unter der erde

liegen die toten
& hal­ten die enden wurzeln im mund (49)

Moni­ka Rinck: I am the zoo. Ostheim: Peter Engstler 2014. 52 Seit­en.

rinck, zooWie schon bei Helle Ver­wirrung und Hasen­hass belässt es Rinck auch hier nicht bei der Schrift, beim Text allein, son­dern arbeit­et mit Zeich­nun­gen zuam­men. Genauer gesagt: Sie arbeit­ete mti der Zeich­ner­in Nele Brön­ner zusam­men. Die legte täglich eine von 24 Zeich­nun­gen vor, zu der Rinck tex­tete, was wiederum Brön­ner zur näch­sten Zeich­nung ver­an­lasste etc: Die gegen­seit­i­gen Rück­kop­plun­gen entwick­eln sich hier Seite für Seite zu ein­er Fabel — ein­er fabel­haften, phan­tastisch-spielerischen Geschichte. “Irri­tierte Ver­heißung” heißt es ein­mal im Text — und das passt recht gut: Gegen­seit­ige Irri­ta­tion beflügelt die Phan­tasie, die immer neues, anderes, unge­plantes ver­heißt. Und das dann nicht unbe­d­ingt ein­löst: Dieses Buch (ich scheue mich, nur vom Text zu sprechen, die Zeich­nun­gen sind schließliche ele­mentar­er Teil des Werkes) ist nie lang­weilig, weil die Entwick­lung zwar zu beobacht­en ist, aber nie vorherse­hbar wird. Und weil dazu noch die Sprache Moni­ka Rincks zwis­chen Prosa und Lyrik schwankt, wenn man das so sagen darf, ihre poet­is­che Qualtiät des Klangs und der Nicht-Alltäglichkeit beson­ders betont, ist das ein Werk ganz nach meinem Vergnü­gen: Ein Buch, das mit dem Unter­ti­tel Geschicht­en vom inneren Biest gar nicht so schlecht umschrieben ist.

Sibylle Berg: Der Tag, als meine Frau einen Mann fand. München: Hanser 2015. 256 Seit­en.

berg, tagIn gewiss­er Weise ist das wieder ein typ­is­ch­er Sibylle-Berg-Roman — und das ist ja schon ein­mal ein guter Start. Der Klap­pen­text des übri­gens sehr schön gemacht­en und in feinem Leinen gebun­de­nen Buch ver­heißt:

Chloe und Ras­mus sind seit fast zwanzig Jahren ver­heiratet, und ja, alles bestens, man hat sich entwick­elt, man ist sich ver­traut. Aber dass dieses Leben nun ein­fach so weit­erge­hen soll, ist auch nicht auszuhal­ten. […] Sibylle Berg stellt die Frage, die alle Paare irgend­wann ein­mal beschäftigt: Ist Sex leben­snotwendig? Oder doch eher die Liebe?

Und das passt schon ganz gut: Berg erzählt (wieder ein­mal) aus der Hölle der Selb­stfind­ung eines ziem­lich frus­tri­erten Paares. Es geht in wech­sel­nder Per­spek­tive aus der Sicht der bei­den Pro­tag­o­nis­ten Ras­mus und Chloe um das Abnutzen der Gefüh­le, um das Lei­den am Leben, um die unendliche ernüchternde und nüchterne Auswe­glosigkeit des All­t­ags. In kurzen Kapi­tel und klar­er, knap­per und präzis­er Prosa beschreibt Berg die aufdäm­mernde Katas­tro­phe der Paar­beziehung, das Umschla­gen, die völ­lige Zer­störung und Neuschaf­fung. Das ist Lit­er­atur, die kurzfristig unter­hält und nach­haltig ver­stören kann, wie Richard Käm­mer­lings ganz richtig beobachtet hat. Und genau diese Kom­bi­na­tion aus Unter­hal­tung und Ver­störungspoten­zial, aus Humor und tiefem, dun­klem Ernst ist es, was mir an Bergs Büch­ern immer wieder zusagt.

Die Aufre­gung. Hat sich abgenutzt, wie alle Gefüh­le, ich hat­te jedes schon ein­mal. Es wird kein neues dazukom­men. Das ist das Grauen der mit­tleren Jahre. Die Langeweile und die noch allzu nahe Erin­nerung an Zeit­en, in denen alles zum ersten Mal passierte. (50)

außer­dem gele­sen:

  • Helene Hege­mann: Axolotl Road­kill. Berlin: Ull­stein 2010. 204 Seit­en.
  • Ursu­la Krechel: Shang­hai fern von wo. 2. Auflage. München: btb 2010. 508 Seit­en.
  • Ursu­la Krechel: Landgericht. 5. Auflage. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2012. 495 Seit­en.
  • Rüdi­ger Bit­tner & Susanne Kaul: Moralis­che Erzäh­lun­gen. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014 (Kleine Schriften zur lit­er­arischen Ästhetik und Hermeneu­tik, Band 5). 74 Seit­en.
  • Frank R. Ankersmit: Die his­torische Erfahrung. Berlin: Matthes & Seitz 2012. 112 Seit­en.
  • Mark Row­lands: Der Läufer und der Wolf (siehe nebe­nan im Lauf­blog)

Ins Netz gegangen (12.10.)

Ins Netz gegan­gen am 12.10.:

  • Lit­er­atur-Nobel­preis: Georg Diez über Patrick Modi­ano und Lutz Seil­er — SPIEGEL ONLINE — georg diez hadert mit dem “ästhetis­chen und strukurellen kon­ser­vatismus der buch­branche”:

    Das ist der Hin­ter­grund, vor dem der ästhetis­che Kon­ser­vatismus eines Romans wie “Kru­so” zele­bri­ert wird und erk­lär­bar wird: der dig­i­tale, wirtschaftliche, möglicher­weise auch poli­tis­che Epochen­bruch. Dieser Roman, der Roman an sich, so wie er ger­ade definiert wird, ist damit vor allem eine Schutzbe­haup­tung der Erin­nerung.

  • Peter Kurzeck: Der Mann, der immer gear­beit­et hat — der stroem­feld-ver­lag wird/will wohl alles, was kurzeck hin­ter­lassen hat, zu geld machen. bei einem autor, der der­maßen fast man­isch kor­rigierte und verbesserte bis zum schluss, halte ich frag­ment-aus­gaben ja nur für mäßig sin­nvoll (und es ist ja nicht so, als gäbe es nicht genug kurzeck zu lesen …). aber trotz­dem freue ich mich und bin ges­pan­nt, was da noch kommt in den näch­sten jahren

    Und dann sind da noch die Notizzettel, die Kurzeck zu Mate­ri­al­samm­lun­gen zusam­mengestellt hat, mit Titeln wie „Staufen­berg II“ und „Staufen­berg III“. Sie dien­ten ihm zur Arbeit an „Kein Früh­ling“ und „Vor­abend“, zeigen aber auch, dass „Ein Som­mer, der bleibt“, das erste der erfol­gre­ichen Erzähl-Hör­büch­er, die Kurzeck seit 2007 ein­sprach, schriftliche Vorstufen gehabt hat. Mit­ten­drin ein Notizzettel, der wie der Anfang von allem anmutet: „Das Dorf ste­ht auf einem Basalt­felsen eh + je. Jet­zt soll es das Dorf wer­den (sein) + liegt unerr­e­ich­bar im Jahr 1947, im Abend.“ Unerr­e­ich­bar. Das Ver­gan­gene wieder erre­ich­bar zu machen, hat Kurzeck bis zulet­zt ver­sucht. Losse erin­nert sich an eine Bemerkung des Autors im Frank­furter Kranken­haus: „Wir hät­ten noch mehr arbeit­en müssen.“ An der Präsen­ta­tion dessen, was fer­tig gewor­den ist, arbeit­et Kurzecks Ver­lag.

  • Schat­ten­bib­lio­theken: Pira­terie oder Notwendigkeit? — sehr span­nend: In gewalti­gen, frei zugänglichen Online-Daten­banken ver­bre­it­en anonyme Betreiber wis­senschaftliche Lit­er­atur, ohne Beach­tung des Urhe­ber­recht­es. Doch die dig­i­tal­en Samm­lun­gen sind nicht nur Pira­terie, sie weisen auch auf große Ver­säum­nisse der Wis­senschaftsver­lage hin – sagt der ungarische Pira­terie-Forsch­er Balázs Bodó. Im Inter­view mit der Jour­nal­istin Miri­am Ruhen­stroth erk­lärt er, wieso die Schat­ten­bib­lio­theken in Ost- und Mit­teluropa so gefragt sind und wie das Prob­lem zu lösen wäre.
  • Mar­i­hua­na: Die selt­same Ver­fol­gung der nüchter­nen Kif­fer | ZEIT ONLINE -

    Wer kifft, gefährdet den Straßen­verkehr. Auch ohne Rausch, jed­erzeit. Das glauben zumin­d­est Behör­den. Sie entziehen selb­st nüchter­nen Taxikun­den den Führerschein. […] Behör­den haben anscheinend Gefall­en daran gefun­den, über den Umweg des Ver­wal­tungsrechts, eigen­mächtig ein biss­chen für Ord­nung unter Cannabis-Kon­sumenten zu sor­gen.

  • xkcd: The Sake of Argu­ment — xkcd über’s Argu­men­tieren: The Sake of Argu­ment
  • Adobe is Spy­ing on Users, Col­lect­ing Data on Their eBook Libraries — The Dig­i­tal Read­er — adobe spi­oniert mit dig­i­tal edi­tions 4 die nutzer aus: im klar­text (!) wer­den nicht nurin de4 geöffnete büch­er mit ihren meta­dat­en und denen der leserin über­tra­gen, son­dern de4 durch­sucht auch ohne sich das genehmi­gen zu lassen den gesamten com­put­er nach irgendwelchen ebooks (auch solchen, die nicht in de4 benutzt wer­den), um deren dat­en eben­falls an adobe zu senden. grausam.
  • Ego­is­tis­che Zweisamkeit: Ersatzre­li­gion Liebe — Men­schen — FAZ — markus gün­ther über die “ersatzre­li­gion liebe”, die sich in let­zter zeit immer mehr aus­bre­it­et (und abso­lut set­zt):

    Zu den Kol­lat­er­alschä­den der Ersatzre­li­gion Liebe gehören aber auch die vie­len Men­schen, die allein sind. Ihr Leben wird als defiz­itär wahrgenom­men. Man ver­mutet, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Dass jemand frei­willig einen anderen als den Weg in die Part­ner­schaft geht, ist schlech­ter­d­ings unver­ständlich. Dass jemand einen geeigneten Part­ner nicht gefun­den hat, gilt als sein ganz per­sön­lich­es Ver­sagen. So oder so, er hat von sein­er Umwelt besten­falls Mitleid zu erwarten.
    […] Ist der Mythos Liebe nicht wenig­stens dafür gut, den Men­schen aus seinem Ego­is­mus her­auszuführen? Ist die Sehn­sucht nach Part­ner­schaft nicht immer noch bess­er als die Selb­st­sucht? Die Antwort lautet: Diese Art der Liebe ist nur schein­bar eine Über­win­dung der eige­nen Gren­zen. In Wahrheit han­delt es sich um eine Fort­set­zung der Ich-Bezo­gen­heit mit anderen Mit­teln, denn die Triebkraft, die wirkt, ist ja, wenn man ehrlich ist, gar nicht der Wun­sch zu lieben, son­dern der, geliebt zu wer­den.

  • Deutsch­er His­torik­ertag: Die These vom Son­der­weg war ja selb­st ein­er — jür­gen kaube berichtet sehr lau­nig, pointiert (und mit gemeinen, natür­lich abso­lut fehlgeleit­eten seit­en­hieben gegen die ger­man­is­tik …) vom göt­tinger his­torik­ertag:

    Man kann ver­mut­lich lange warten, bis zum ersten Mal ein Banki­er, eine Schrift­stel­lerin oder ein Aus­län­der den His­torik­ertag eröffnet.

    Wäre es nicht an der Zeit, ein­mal zum The­ma „Ver­gan­gen­heit“ zu tagen?

    Eine sin­nvolle Ein­heit dessen, was die His­torik­er tun, die sich durch alle ihre Forschun­gen zöge, gibt es nicht. Und wenn die Göt­tinger Stich­probe nicht täuschte, dann gibt es nicht ein­mal Hauptlin­ien oder Trends.

  • Wilder Kaiser extreme on Vimeo — wohl das ver­rück­teste video, das ich in let­zter zeit sah (fahrrad­fahren kann man diesen stunt allerd­ings kaum noch nen­nen. und vernün­ftig ist natür­lich auch etwas ganz anderes …)
  • Auswüchse des Regi­ethe­aters: Oper der Beliebigkeit­en — Bühne Nachricht­en — NZZ.ch — der musik­wis­senschaftler lau­renz lüt­teken rech­net mit dem regi­ethe­ater aktueller prä­gung auf der opern­bühne ab:

    Denn die landläu­fige Behaup­tung, dass man etwas heute «so» nicht mehr machen könne, ist nicht nur tele­ol­o­gis­ch­er Unfug, sie ist überdies unlauter. In den Opern­häusern regiert näm­lich ein unange­focht­en­er Kanon, der weitaus fes­ter zemen­tiert ist als noch vor fün­fzig Jahren. So spricht gewiss nichts dage­gen, den Anteil neuer Werke zu erhöhen, aber es ist mehr als frag­würdig, die alten Werke mit immer neuen Bildern ver­meintlich «mod­ern» zu machen und sich damit behaglich im Kanon einzuricht­en. Zudem hat der Mod­erne-Begriff, der hier bedi­ent wird – das «Ver­störende», «Provozierende», «Bestürzende» –, inzwis­chen selb­st so viel Pati­na ange­set­zt, dass man ihn get­rost in die Geschichte ent­lassen sollte.

    ich bin dur­chaus geneigt, ihm da zumin­d­est in teilen zuzus­tim­men: die regie hat sich oft genug verselb­ständigt (auch wenn ich eine tota­l­ablehnung, die ich bei ihm zwis­chen den zeilen lese, nicht befür­worte). dage­gen führt er an:

    Die his­torische Ver­ant­wor­tung im Umgang mit Tex­ten der Ver­gan­gen­heit ist nichts Ent­behrlich­es, sie ist auch nicht, wie so oft behauptet, ein Relikt alt­modis­chen Philolo­gen­tums, zumal das Argu­ment für die Musik nicht gel­tend gemacht wird. Was aber nützt eine kri­tis­che Aus­gabe des «Don Gio­van­ni», wenn die Szener­ie kurz­er­hand (wie in Linz) von Sex and Crime der Pop-Stars erzählt? Texte, Par­ti­turen der Ver­gan­gen­heit bedür­fen vielmehr ein­er beson­deren Sen­si­bil­ität, denn erst, wenn es gelingt, im Ver­gan­genen das Gegen­wär­tige aufzus­püren (statt die Gegen­wart dem His­torischen ein­fach nur überzustülpen), kann sich der Rang eines Kunst­werks, auch eines musikalis­chen Büh­nenkunst­werks, bewähren.

    sein argu­ment übri­gens, statt immer wieder das selbe neu aufzufrischen öfters mal neues zu spie­len, würde ich unbe­d­ingt gerne ver­wirk­licht sehen — ich ver­ste­he die reper­toire-fix­ierung der oper eh’ nicht so ganz (die ja auch gewis­ser­maßen unhis­torisch ist — “die ent­führung aus dem serail” beispiel­sweise war kaum dazu gedacht, heute noch aufge­führt zu wer­den …)

Aus-Lese #37

Daniela Krien: Irgend­wann wer­den wir uns alles erzählen. Berlin: List 2012. 236 Seit­en

krien, irgendwannNaja, das war keine so lohnende Lek­türe … Ich weiß auch nicht mehr, wie ich darauf gekom­men bin (wäre ein Grund, dem Rezensenten/der Rezensentin Ver­trauen­spunk­te zu entziehen …). Die Geschichte ist schwach und teil­weise blöd: Ein junges Mäd­chen zieht kurz vor den Som­mer­fe­rien auf dem Bauern­hof der Fam­i­lie ihres älteren Fre­un­des ein, ver­nach­läs­sigt die Schule und gibt sich lieber ein­er selt­samen geheim gehal­te­nen Beziehung zu dem mehr als dop­pelt so alten Nach­bar­bauern hin, die vor allem auf ihrer Aus­nutzung und ihrem Miss­brauch (kör­per­lich, sex­uell und psy­chisch) beruht und natür­lich tragisch enden muss …
Das Set­ting im Som­mer 1990 auf der Noch-DDR-Seite der Gren­ze ist auch nicht so span­nend, gibt aber Gele­gen­heit, ein biss­chen (freilich nur wenig) Poli­tik und Geschichte einzu­flecht­en — und ist natür­lich ein Spiegel der Fig­ur Maria: In der Zwis­chen­zeit — nicht mehr Kind, noch nicht Erwach­sene — spiegelt sich das Land zwis­chen DDR und BRD … Aber da die Fig­uren alle reich­lich blass bleiben, von der Erzäh­lerin über ihre Rest­fam­i­lie bis zu Johannes und Hen­ner, kann sich da sowieso kaum etwas ent­fal­ten. Das merkt man sehr deut­lich an der müh­sam insze­nierten Inter­tex­tu­al­ität: Maria wird gerne als begeis­terte Leserin porträtiert, liest aber wochen-/monate­lang an Dos­to­jew­skis Die Brüder Kara­ma­sow herum, was natür­lich wenig ergiebig ist (sowieso ist Lek­türe hier immer auss­chließlich eine iden­ti­fika­torische …). Auch die Kom­po­si­tion von Irgend­wann wer­den wir uns alles erzählen ist nicht weit­er bemerkenswert, eher klein­teilig angelegt, mit Schwächen in der Zeit­gestal­tung. Und die so gelobte Sprache — wenn man den Blurbs im Taschen­buch (ganze zwei Seit­en vor dem Titel!) glauben darf — hat für mich keinen Reiz, weil sie eigentlich doch recht gewöhn­lich ist.

alles in allem die über­steigerten Gefüh­le ein­er Siebzehn­jähri­gen in den Wirrun­gen ein­er unruhi­gen Zeit. (234f. — mehr muss man kaum sagen ;-) …)

Otto Basil: Wenn das der Führer wüßte. Wien, München: Fritz Mold­en 1966. 419 Seit­en

basil, wenn das der führer wüßte

Eine schöne Idee der kon­trafak­tis­chen Geschichte: NS-Deutsch­land hat den Zweit­en Weltkrieg gewon­nen und sich die halbe Welt unter­tan gemacht (der Rest gehört zu „Soka Gakkai“), Juden gibt es (fast) keine mehr. Dann stirbt Hitler aber in den 60ern und wird durch Ivo Klöpfel erset­zt — oder ist das ein Mord und Staatsstre­ich? Die entsprechen­den Ver­mu­tun­gen kur­sieren und geben der Hand­lung im gle­ichzeit­i­gen Bürg­erkrieg und dem durch die bei­den Großmächte ent­fes­sel­ten atom­aren Krieg ordentliche Ver­wick­lun­gen und Hand­lungsantrieb. Dazwis­chen treibt Höll­riegel umher, ein „Pendler“/Gyromant, der ver­schwörung­stech­nisch in die große Poli­tik gerät und sich wieder rauswurschtelt (hat etwas vom Schelm, diese Fig­ur: wenig Ahnung, dafür aber viel Sit­u­a­tion­s­geschick) und dessen Treiben noch verquickt wird mit sein­er Liebe bzw. seinem Begehren nach der (schein­bar) ide­alen (in ide­ol­o­gis­ch­er, d.h. rassen­ty­pol­o­gis­ch­er Sicht), aber unter nor­malen Umstän­den unerr­e­ich­baren Ulla. Das ganze Gewusel endet dann etwas desil­lu­sion­ierend im Tod — allerd­ings nicht durch Ver­strahlung (das hätte noch etwas gedauert), son­dern im Gefecht.
Schön an Basils Roman ist die kon­se­quente Weit­er­führung, das Zu-Ende-Denken der NS-Ide­olo­gie mit ihren Auswüchen, den Grup­pen, dem Ein­heitswahn, der uner­schöpflichen Kat­e­gorisierungssucht etc. Ins­ge­samt lei­det das Buch aber daran, dass es diese kon­trafak­tis­che Welt zu sehr beschreibt und nicht durch Hand­lun­gen sprechen lässt. Wun­der­bar sprechend sind dage­gen die vie­len, vie­len Namen … Jeden­falls eine dur­chaus unter­halt­same Lek­türe.

Doch Adolf Hitler war nicht mehr, Odin hat­te seinen Meldegänger zum großen Rap­port nach Wal­hall gerufen. (50)

Jür­gen Buch­mann: Wahrhafftiger Bericht über die Sprache der Elfen des ExterThals, nach denen Diari­is Sein­er Hoch Ehrwür­den Her­ren Mar­t­i­nus Oester­mann, wei­land Pfar­rer an St. Jako­bi zu Alme­na. Leipzig: Rei­necke & Voß 2014. 46 Seit­en

buchmann, bericht

Eine wun­der­bare Spiel­erei ist dieses kleine, feine Büch­lein (schon die ISBN: in römis­chen Zif­fern, eine echte Fleißar­beit …), eine nette Cam­ou­flage, echt­es Schel­men­stück (der Autor scheint ein in der Wolle getränk­te Schelm zu sein …). Der Wahrhafftige Bericht ist eine Art philol­o­gis­che Fan­ta­sy (der Bezug auf Tolkien taucht sog­ar im Vor­wort auf), nur in die Ver­gan­gen­heit ver­legt: Es han­delt sich um den (fik­tiv­en) Bericht eines gelehrten Landp­far­rers, der von ein­er Giftmischerin/Zigeunerin/Heilkundigen mit den Elfen seines Tales bekan­nt gemacht wird und Grundzüge (d.h. vor allem Phonetik und Mor­pholo­gie) ihrer Sprache beschreibt. Das ist einge­bet­tet und kom­biniert mit dem Tage­buch der „Ent­deck­ung“ dieser geheimen (?) Sprache bis zum Krim­i­nal­fall des Ver­schwindens sowohl des Pfar­rers als auch sein­er Infor­man­tin (ein Wech­seln ins Elfen­re­ich liegt ganz märchen­typ­isch nahe, weil keine Leiche gefun­den wird …). Lei­der fehlt aus­gerech­net die Lexik der Elfen­sprache in den “Aufze­ich­nun­gen”, so dass die Frag­mente, die „Oester­mann“ „über­liefert“, dum­mer­weise unver­ständlich bleiben (aber wer weiß, vielle­icht haben sie ja sog­ar eine Bedeu­tung? — Das wäre eine schöne Auf­gabe für einen Com­put­er mit einem find­i­gen Pro­gram­mier­er …). Das ganze ist von Buch­mann ver­flixt geschickt vor­getäuscht oder gefälscht oder nachgeahmt oder par­o­diert wor­den. Von dem Drumherum ist allerd­ings nicht alles gel­o­gen — das „Gelehrten-Lex­i­con“ von Jöch­er z.B., aus dem zitiert wird, gibt es dur­chaus — allerd­ings ohne den hier abge­druck­ten Ein­trag zu Oester­mann. Und dann ist das Ganze — es ist ja nicht viel, kaum mehr als vierzig Seit­en beanspruchen die “über­liefer­ten” Texte samt edi­torischen Vor­worten und Anhän­gen von dem kleinen Leipziger Dichter-Ver­lag Rei­necke & Voß sehr schön her­aus­ge­bracht wor­den, mit angenehm passen­dem Satz und schö­nen Schriften.

Wir fassen die Let­tern und stoßen auf | Klänge; wir fassen die Klänge und stoßen auf Namen; wir fassen die Namen und stoßen auf Nichts. (15f.)

Ulf Stolter­fo­ht: Das deutsche Dichter­abze­ichen. Leipzig: Rei­necke & Voß 2012. 49 Seit­en

stolterfoht, dichterabzeichen

Und gle­ich noch ein schmales Bänd­chen von Rei­necke & Voss, den Hör­spiel­text Das deutsche Dichter­abze­ichen. des großen Lyrik­ers Ulf Stolter­fo­ht. Dich­tung und vor allem die Lyrik wird hier als streng reg­uliertes, ent­behrungsre­ich­es Handw­erk insze­niert (ein biss­chen wie eine mod­erne Vari­ante der Meis­tersinger …), das ist ganz nett aus­gedacht. Zugle­ich ist es aber auch noch eine “Sys­tem­atik“ der Lyrik mit ver­schiede­nen „lyrischen Typen”. Da heißt es zum Beispiel:

Wild­texte, die noch vor Zeit­en weite Teile Europas besiedel­ten, haben sich mit­tler­weile den immer spezielleren Anforderung­spro­filen unter­wor­fen. (17)

Weit­er geht es im belehren­den Gespräch über die Dichter-Aus­bil­dung, also die handw­erk­liche Kom­po­nente des Dicht­ens. Weit­eres, ganz wichtiges The­ma: Die kom­pet­i­tive Kom­po­nente des Dicht­ens, die Lesun­gen und die Wet­tbe­werbe. Das führt Stolter­fo­ht als Zirkus vor, als eine Art Dres­sur, in der die Dichter die Rolle der Tierchen übernehmen: possier­lich, gut für die Unter­hal­tung, aber nicht ernst zu nehmen … In der Radikalität, in der diese messenden und ver­gle­ichende Kom­po­nente der Dich­tung übergestülpt wird, ist das natür­lich — daraus macht der Text kein großes Geheim­nis — eine Para­bel auf den deutschen Lit­er­aturbe­trieb der Gegen­wart. Aber eine — ganz wie es das The­ma ver­langt — unter­hal­tende, in der sich dur­chaus — schließlich ist Stolter­fo­ht selb­st ein intel­li­gen­ter Teil­nehmer — wahre und tre­f­fende Beobach­tun­gen find­en:

Im Zeital­ter hoch entwick­el­ter Prosa hat das Gedicht an Bedeu­tung ver­loren. in dem Maße aber, in dem es aus sein­er natür­lichen Umge­bung ver­schwindet, wächst seine Beliebtheit als domes­tiziert­er Wet­tbe­werb­s­text. (7)

Schön auch kurz vor Schluss:

Etwas ganz beson­deres ver­birgt sich hin­ter der Beze­ich­nung „Viel­seit­igkeit­sprü­fung“: Der Dreikampf näm­lich aus Lyrik, lyrisch­er Über­set­zung und Poe­t­olo­gie — das alles an drei aufeinan­der fol­gen­den Tagen. (40)

Wal­ter Kem­pows­ki: Hamit. Tage­buch 1990. Berlin: btb 2010. Seit­en

kempowski, hamit

Mit diesem Buch habe ich mir Kem­pows­ki ver­lei­det, das ist zum Abgewöh­nen …
Hamit — die dialek­tale Vari­ante von “Heimat” — ist ein Tage­buch der Zeit direkt während bzw. nach der Wende. Für Kem­pows­ki heißt das: Er kann wieder Ros­tock besuchen, die Stadt, in der er aufwuchs. Und auch Bautzen, wo er eingek­erk­ert war. Weit­ere The­men des Tage­buchs: Die Medi­en — wie sie über Poli­tik und über ihn bericht­en -, die Fer­tig­stel­lung von Alkor, Zwistigkeit­en, Besuche etc. Dazwis­chen taucht noch die Samm­lung von Tage­büch­ern und Erin­nerun­gen ander­er Leute immer wieder auf (fürs sein Echolot und um’s dem „Vergessen zu entreißen“), auch die Poli­tik der Gegen­wart spielt natür­lich eine Rolle, ger­ade hin­sichtlich des Vere­ini­gung­sprozess­es. Das ist aber auch der Bere­ich, wo Kem­pows­ki vor allem seinen Ani­mositäten freien Lauf lässt: Außer ihm (und weni­gen anderen) hat nie­mand je etwas kapiert, sehen alle die Wider­sprüche und Prob­leme nicht. Dabei ist das kein ganz reines Tage­buch, es ist min­destens zwei Mal über­ar­beit­et (und damit endgültig lit­er­arisiert) wor­den. Aber auch die Anmerkun­gen aus den 2000ern ver­stärken die Ten­denz der Besser­wis­serei noch lassen ihn als den einzi­gen „Weisen“ und das große Genie erscheinen, dass die anderen ein­fach nicht erre­ichen. Dabei ist der ganze Text durchtränkt von Ressen­ti­ments gegen so ziem­lich alle und jeden (mit Aus­nahme vielle­icht bes­timmter Bere­iche der Ver­gan­gen­heit). Und eine große Eit­elkeit bricht sich immer wieder Bahn: Alle, die Leser, der Lit­er­aturbe­trieb, die Medi­en und die Kri­tik, aber auch sein Ver­lag, alle verken­nen seine Genial­ität und seine Leis­tun­gen. Dabei ist er doch uner­set­zlich, wie er ganz typ­isch beschei­den fes­thält:

Ich gebe der Gesellschaft ihre Geschicht­en zurück. (284)

Was wür­den wir Armen also nur ohne ihn tun!

Mir war der Kem­pows­ki, der sich hier zeigt, jeden­falls aus­ge­sprochen unsym­pa­thisch. Lustig am Rande auch: Bei einem Ver­di­enst von 50.000 DM/Monat bzw. 1200 DM/Tag (321) beschw­ert er sich immer wieder darüber, dass er Restau­rantrech­nun­gen bezahlen muss/soll: total ichzen­tri­ert eben, der Schreiber dieser Seit­en, der sich vor allem durch seine Kauzigkeit­en — wie die total kontin­gent scheinende Ablehnung der Worte „Akzep­tanz“ und „Diri­gat“ (329) — ausze­ich­net.

Wenn nie­mand eine Biogra­phie über mich schreibt, tue ich es eben selb­st. (177)

Jürg Hal­ter: Wir fürcht­en das Ende der Musik. Gedichte. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014. 72 Seit­en

halter, wir fürchten das ende der musik

“Für sich” ste­ht als Wid­mung in diesem Gedicht­band. Und das stimmt ein­er­seits, ander­er­seits aber auch über­haupt nicht. Zwar ste­hen die Gedichte erst ein­mal “für sich” da, geben sich recht offen und direkt dem Leser preis. Aber ander­er­seits bleiben sie auch ger­ade nicht “für sich”, denn Hal­ter geizt nicht mit inter­textuellen Anspielun­gen und Ver­weisen. Ger­ade die Musik spielt da dur­chaus eine große Rolle. Und den­noch: Man muss diese Inter­tex­tu­al­itäten nicht erken­nen, man muss ihnen schon gar nicht nachge­hen (obwohl das dur­chaus span­nend sein kön­nte, das sys­tem­a­tisch zu tun), um die Lyrik Hal­ters ver­ste­hen zu kön­nen. Oder zumin­d­est glauben zu kön­nen, etwas ver­standen zu haben. Denn seine Gedichte bleiben zugänglich und wollen das wohl auch sein. Oft sind sie ger­adezu erzäh­lend, ihre Meta­phern bleiben leicht nachvol­lziehbar, die Form klar und über­sichtlich. Manch­mal wirkt das mit dem lock­eren Sprach­duk­tus, dem leicht­en Ton mir aber auch etwas zu plätsch­ernd, zu prosa-nah, zu wenig formbes­timmt für Lyrik.
Doch gibt es dur­chaus schöne und span­nende Text in diesem Band. Da zeigt sich nicht nur die Ver­wurzelung Hal­ters und Tra­di­tion und Inter­tex­tu­al­ität (seine Gedichte schöpfen viel aus oder mit der Kul­tur und ihrer Geschichte), da ist auch ein anre­gen­des Spiel mit sich selb­st immer wieder zu beobacht­en, die Selb­stre­flex­tion des Lyrik­ers und des Gedicht­es zu erken­nen. Inter­es­sant ist auch das immer wieder auf­tauchende Zeitkonzept — ein sehr vages Konzept von Zeit, das nicht auf das Tren­nende von Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart abzielt, son­dern auf den Über­gang, die fließende Entwick­lung: Vom Holozän bis zum Jet­zt und dem Augen­blick sind einzel­nen Momente kaum zu fassen und zu bes­tim­men:

Etwas hat begonnen, dauert an oder ist vorüber. (25)

Nicht alles ist sprach­lich oder inhaltlich sehr stark, ger­ade im Abschnitt IV („O, aufgek­lärtes Leben, unsere Droge!“ über­schrieben) scheinen mir einige schwache Texte den Weg in den Druck gefun­den zu haben. Die Dig­i­tal-Skep­sis in „Hyp­nose“ ist zum Beispiel ziem­lich ober­fläch­lich und bil­lig. Dazwis­chen gibt es aber imm­mer wieder schöne Momente, die das Lesen den­noch lesenswert mache, wie etwa die „Eine sich stets wieder­holende Szene“:

Die sich leeren­den Straßen
an einem Som­mer­abend
in ein­er kleinen Stadt.
Das Rück­licht des let­zten Busses,
ein leichter Wind, der geht.
Im Ohr ein Lied über
das Ende ein­er Fre­und­schaft.

außer­dem noch:

  • Jost Amman & Hans Sachs: Das Stän­de­buch (1568).
  • Georges Duby: Die Zeit der Kathe­dralen.

Aus-Lese #36

Nor­bert Scheuer: Bis ich dies alles liebte. Neue Heimatgedichte. München: Beck 2011. 101 Seit­en

scheuer, bisIm Jahr 2011 Heimatgedichte zu schreiben, ist natür­lich eine Pro­voka­tion — die Gat­tung gilt (genau­so wie “Heimat” über­haupt) als erledigt und über­holt. Aber immer­hin sind es “Neue Heimatgedichte”, die Nor­bert Scheuer hier vorgelegt hat. Und sie sind lange nicht so provozierend, wie man erwarten mag. Was auch damit zusam­men­hän­gen dürfte, dass sie schon als Gedichte — unab­hängig von ihrer The­matik — nich so sehr provozieren kön­nen und wollen. Eine leichte Wehmut lässt sich oft erken­nen, vor allem aber zeich­net die Heimatgedichte Scheuers wohl so etwas wie eine Zufrieden­heit mit der „Heimat“ trotz der vorhandenen/erworbenen Ken­nt­nis des Anderen (als das wären: Welt, Unsterblichkeit der Lit­er­atur und der­gle­ichen mehr) aus. “Heimat” selb­st ist ja eigentlich eine sehr unge­naue Spez­i­fizierung. Hier trifft sie vor allme — und das ist tat­säch­lich in der Lyrik der let­zten Jahre nicht unbe­d­ingt gewöhn­lich — auf das Dorf. Man kann ger­ade die ersten Gedichte des Ban­des auch als eine klitzek­leine Geschichte des Dor­fes im Zeitraf­fer lesen, mit den Men­schen und den Tätigkeit­en und der Umge­bung, die dazu gehört. Wo andere Lyrik­er Szenen der Stadt beschreiben, ste­ht hier eben das dör­fliche oder ländliche Leben und Erleben im Vorder­grund. Das war aber auch schon der Unter­schied — na gut, vielle­icht über­haupt die deut­liche und starke Veror­tung in bes­timmt-unbes­timmten Raum (der „Heimat“, auf dem Lande …). Dieser Ort bleibt aber unge­nan­nt und nicht ganz fass­bar — es ist eine manch­mal ide­ale, manch­mal nicht so ehr ide­ale Kon­struk­tion aus dem Typ­is­chen.
Ein paar sehr feine, klare (sprechende) Gedichte sind dabei, aber auch einiges eher mit­telmäßige und auch banales. For­mal hat sich das lei­der auch eher schnell erschöft, hat man schnell kapiert und ist dann zwar nicht schlechter, aber auch nicht mehr beson­ders span­nend oder anre­gend — etwa das Spiel mti der Ober­flächen­form der Gedichte udn ihrer Sprache. Aber vielle­icht ist das eben ein­fach Lyrik der Nor­mal­ität (des Lebens, eben des Lebens in der Heimat und auf dem Land).

Julien Gracq: Der Ver­such­er. Graz: Droschl 2014. 232 Seit­en.

gracq, versucher„Ein Buch, das voll­ständig aus Obertö­nen beste­ht” schreibt der Über­set­zer Dieter Hornig im Nach­wort zu einem der Vor­bilder für Gracq, Cha­teuabriands Vie de Rancé. Das gilt aber auch für den Ver­such­er: Das ist näm­lich ein Roman, der maßge­blich von sein­er Atmo­sphäre lebt. Es ist faszinierend, wie genau und leicht Gracq die her­auf­beschwören kann: Seine ele­gan­ten Beschrei­bun­gen der Ele­ganz ver­loren­er Zeit(en) und unterge­gang­nen Epochen, wie sie sich im Urlaub­sleben in einem Strand­ho­tel man­i­festieren, lassen eine entspan­nte, offene, zugle­ich erwartende und erwartungsvolle Stim­mung entste­hen, die wun­der­bar zum som­mer­lichen Schweben im Urlaub, dem Entrückt-Sein aus dem All­t­ag, passen. In der Land­schaft der bre­tonis­chen Küste, mit ihrer Melan­cholie und Vergänglichkeit, die Gracq beza­ubernd beschreibt, trifft der Erzäh­ler (und Lit­er­atur­wis­senschaftler) Gérard unter anderem auf Allan, eine selt­sam chang­ierende Fig­ur zwis­chen Hochsta­pler und tragis­chem Schick­sal — und ein wun­der­sames und wun­der­bares Kam­mer­spiel ent­fal­tet sich, das man auch ganz und gar genießen kann, ohne die inter­textuellen Anspielun­gen, die Gracq hier offen­bar (und mehr oder weniger offen­sichtlich) ver­ar­beit­et hat, zu ver­ste­hen.

Jan Kuhlbrodt: Stötzers Lied. Gesang vom Leben danach. Berlin: J. Frank 2013 (Quar­theft 40). 180 Seit­en.

kuhlbrodt, stötzers liedEin selt­sames Buch, das mir eher fremd geblieben ist. Der “Gesang”, unterteilt in diverse durch “Embolien” getren­nte Abschnitte (darunter “Stötzers Gedichte”, “Par­alipom­e­na zu Stötzer” oder “Deutsch­er Platz”) ist eine Art Prosagedicht. For­mal gibt sich das als Lyrik, mit Versen und Stro­phen etc. Sprach­lich bleibt es aber im Großen und Ganzen Prosa. Und so wie es bei­de Gat­tun­gen gle­icher­maßen bedi­ent, so bedi­ent es sich auch bei den großen The­ma. Irgend­wie geht es immer um Geschichte und den Umgang mit ihr, beson­ders im (post)sozialistischen Leipzig, von Völk­er­schlacht­denkmal über Lenin bis zur Ästhetik der Plat­ten­baut­en wird so ziem­lich alles mögliche angeris­sen und aufgerufen. Der Klap­pen­text schreibt da ganz tre­f­fend:

Stötzer [die von Kuhlbrodt einge­set­zte Sprech­er-/Re­flek­tor­fig­ur] ist ein Wahrnehmungsspe­ich­er, ein Seis­mo­graph. […] Er nimmt das auf, was ihn über­rollt: Poli­tik, Ökonomie, Kun­st, Geschichte. Stötzer kom­men­tiert aus der Sta­tik her­aus die Bewe­gun­gen, das Ausklin­gen des Ver­gan­genen und das Here­in­brechen des neuen Jahrtausends.

Das ist eine Mis­chung aus Banal­itäten der Ober­fläche und tiefer bohren­den Reflex­io­nen gewor­den, die unver­mit­telt neben einan­der auf­tauchen und da auch ste­hen bleiben, sich dadurch aber recht erfol­gre­ich gegen­seit­ig befrucht­en und ergänzen. Darüber hin­aus ist das aber auch ein sehr schönes, gut gemacht­es Buch gewor­den, das mit ver­schiede­nen Gestal­tungse­le­menten der Typogra­phie und der Illus­tra­tio­nen die ver­schiede­nen Teile oder Ebe­nen des Texte gut illus­tri­erend ergänzt und verdeut­licht.

Christa Reinig: Feuerge­fährlich. Neue und aus­gewählte Gedichte. Aus­gewählt und mit einem Nach­wort von Klaus Wagen­bach. Berlin: Wagen­bach 2010 (Klaus Wagen­bachs Oktavhefte). 79 Seit­en.

reinig, feuergefaerhlichWirk­lich näher gebracht hat mir diese Auswahl Klaus Wagen­bachs die Lyrik von Christa Reinig nicht. Der Anfang ist schreck­lich banal, schon die Form — bravste Paar- und Kreuzreime in regelmäßiger Metrik und Zwölfzeil­ern — ver­hin­dert fast das inter­essierte Lesen. Zum Glück wan­delt sich das mit dem Fortschre­it­en der Seit­en, eine zunehmende Konzen­tra­tion und Verdich­tung. Das macht die nun auch mal lakonisch wirk­enden Gedichte bess­er. Allein schon deshalb, weil sie nicht mehr so geschwätzig sind. Allerd­ings bleibt der Ein­druck, dass hier eine Autorin schreibt, die irgend­wie ständig belei­digt von der Welt und ihrer Schlechtigkeit wirkt. Weil das oft den Beik­lang per­sön­lichen Belei­digt­seins hat (z.B. bei “Der Andere”!), hat mich das etwas gen­ervt. Die Gegenüber­stel­lung der Macht­losigkeit­en, der Ohn­macht, der richti­gen Sprache und den offiziellen Verlautbarungen/Wörtern, den Herrschen­den, den Mächti­gen durchzieht fast alle Texte mehr oder weniger. Das ist ja eigentlich eine sym­pa­this­che Sache, weil aber vieles mir eigentlich zu offen­sichtlich, zu deut­lich und ein­deutig gesagt ist, ver­liert das etwas von sein­er Wirkung.

In die Gewehre ren­nen

mein tief­stes herz heißt tod
wenn das die mörder wüssten
wären sie es müde (34)

außer­dem noch:

  • Arno Schmidt, »Na, Sie hät­ten mal in Weimar leben sollen!« Über Wieland — Herder — Goethe. Mit einem Essay von Jan Philipp Reemts­ma, hrsg. von Jan Philipp Reemts­ma. Stuttgart: Reclam 2013. 234 Seit­en. (mit dem wun­der­baren Essay “Goethe und ein­er sein­er Bewun­der­er”)
  • Ein­hard, Vita Karoli Mag­ni (zur Vor­bere­itung auf den Ausstel­lungs­be­such in Aachen)
  • Stramm, August, Gedichte Dra­men Prosa Briefe. Her­aus­gegeben von Jörg Drews. Stuttgart: Reclam 1997. 242 Seit­en.

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