Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: klavier Seite 4 von 5

Spinning: Simon Nabatov spielt Herbie Nichols

Wer immer (noch) Zweifel hat, dass Jazz eine Kun­st ist, der höre sich mal Simon Naba­tovs neueste Solo-CD an. Da spielt der rus­sis­chstäm­mige Pianist — ein­er der größten Ken­ner und Kön­ner im zeit­genös­sis­chen Jazz (und nicht nur unter den Pianis­ten, auch wenn er über eine aus­ge­sprochen for­mi­da­ble Tech­nik ver­fügt), auch wenn er vielle­icht nicht der kreativste Musik­er ist. Das merkt man schon an der Vielfalt seine Pro­jek­te — und der FIn­ger­fer­tigkeit, mit der er sich den ver­schieden­sten Stilen und Aus­druck­weisen anpasst (allein schon die ver­schiede­nen Unternehmungen in wech­sel­nden Kon­stel­la­tio­nen mit Nils Wogram, von seinen Solo­pro­jek­ten ganz zu schweigen).

Jet­zt hat er sich die Musik des eher vergesse­nen Pianis­ten Her­bie Nichols (hier eine kleine Würdi­gung von Hans-Jür­gen Schaal)vorgenom­men: “Spin­ning Songs” heißt die bei Leo-Records erschienene Auf­nahme. Und zeigt wieder ein­drück­lich, was Naba­tov drauf hat: Das ist eine der kun­stvoll­sten Piano-Jazz-Plat­ten nicht nur der let­zten Zeit, son­dern über­haupt. Hier tre­f­fen zwei Größen aufeinan­der: Ein genialer Kom­pon­ist und ein schöpferisch­er Pianist. Denn Naba­tov führt vor, was in der Musik Her­bie Nichols drin steckt. Und was ihm dazu ein­fällt — die Gren­zen sind sehr, sehr fließend.

Vielle­icht liegt es an der Ähn­lichkeit der bei­den Musik­er, dass das hier so toll funk­tion­iert: Bei­des sind Jazz-Musik­er, die sich stark der “klas­sis­chen” Musik des 20. Jahrhun­derts öffne(te)n und das auch in ihrer Musik hören lassen. Das passiert bei Naba­tov sowieso öfters, bei Nichols liegt es nahe, da auch er sich von zeit­genös­sichen Kom­pon­is­ten wie Bartók und Satie bee­in­flussen ließ. Jet­zt kom­men noch Debussy, Ligeti und vieles andere hinzu. Und es bleibt doch Jazz: Ein gar nicht so klein­er Rest Unfer­tigkeit, eine deut­liche Prise Spon­taneität ist immer zu hören. Diese Offen­heit und Jet­zge­bun­den­heit bei gle­ichzeit­iger Dichte des Klavier­satzes und Fülle der Ideen — diese Kom­bi­na­tion ist typ­isch für Simon Naba­tov (und ziem­lich einzi­gar­tig).

Gle­ich die ersten bei­den Stücke der CD lassen das schon sehr deut­lich hören: Die in manch­er Hin­sicht etü­den­hafte (Ligeti!) wirk­ende “2300 Skid­doo” und vor allem das weit aus­greifende, sich manch­mal auch etwas ver­lierende, hin und her wen­dende Moment des “Spin­ning Song” zeigen Naba­tov auf der Höhe sein­er Kun­st, sein­er pianis­tichen Fer­tigkeit und seines Ein­fall­sre­ich­tums. Und wie hinge­bungsvoll er sich dann “Lady Sings the Blues”, Nicols bekan­ntester Kom­po­si­tion (weil Bil­lie Hol­i­day sie sang), wid­met, wie fein und dann auch wieder kraftvoll er das aus­lotet — ein­fach wun­der­bar, ein echter Hör­genuss, der in sein­er Vielschichtigkeit vieles ent­deck­en lässt.

Immer aber gilt dabei: Naba­tov pflegt einen sehr freien Umgang mit der Musik Her­bie Nichols. Er denkt sie weit­er, entick­elt sie spie­lend weit­er — so dass das am Ende eben dur­chaus eine echte Naba­tov-CD ist. Er macht das hier auch nicht zum ersten Mal, 2009 hat er schon einen Video-Mitschnitt eines Konz­ertes mit diesem Mate­r­i­al veröf­fentlicht. Und trotz­dem ist das auch auf dieser CD noch (wieder?) frisch, noch sprühend vor Ent­deck­ergeist, manch­mal auch so sprühend vor Ein­fällen und Idee, die alle unterge­bracht wer­den (müssen), dass es leicht etwas über­laden wirken kön­nte. Aber Naba­tov ist dann doch Pianist und Musik­er genug, das ger­ade noch zu bändi­gen — so weit, dass der Über­fluss ganz richtig erscheint und die Wild­heit nur so weit gezähmt wird, dass es Ohrenkom­pat­i­bel wird. Zumin­d­est so einiger­maßen — aber garantiert für offene, spaßfreudi­ge Ohren.

Simon Naba­tov: Spin­ning Songs of Her­bie Nichols. Leo Records LR 632, 2012.

Taglied 23.1.2012

Her­bert Henck spielt Stock­hausen, hier das kurze Klavier­stück VIII:

Karl­heinz Stock­hausen — Klavier­stück VIII

Beim Klick­en auf das und beim Abspie­len des von YouTube einge­bet­teten Videos wer­den (u. U. per­so­n­en­be­zo­gene) Dat­en wie die IP-Adresse an YouTube über­tra­gen.

/via atonality.net

Klangmagier

Von den Mazurken blieb nicht viel übrig. Das war aber fast zu erwarten, nach dem, was Alex­ej Gor­latch in der ersten Hälfte seines Klavier­abends im Frank­furter Hof geleis­tet hat­te. Gor­latch, der junge, mit Wet­tbe­werb­ser­fol­gen reich geseg­nete Pianist, der die undankbare Auf­gabe über­nom­men hat­te, bei der Rei­he „Inter­na­tionale Pianis­ten“ für die erkrank­te Mihaela Ursuleasa einzus­prin­gen, spielte näm­lich einen im eigentlichen Sinne roman­tis­chen Klavier­abend. Und zwar von Anfang bis Ende, trotz der frühen Beethoven-Sonate am Beginn. Zunächst, bei Beethoven und dem ersten Her­an­tas­ten an Frédéric Chopin, das Zen­trum des Abends, war das noch eine gek­lärte Roman­tik.

Dann aber siegte zunehmend Gefühl – bis ins Extrem, bis alle Musik nur noch Emo­tion war. Vieles, etwa die etwas ver­loren im Pro­gramm ste­hende d‑Moll-Bal­lade von Johannes Brahms, zer­fühlte er vol­lkom­men. Zerdehnt und zer­fasert, aufgelöst in bedeu­tungslose Klänge wirk­te dieses Juwel reich­lich trost­los und arm­selig. Aber nicht immer war das so trau­rige Kadav­er­fled­derei wie hier. Denn Gor­latch ist ein Klang­magi­er, ihm ste­ht ein beein­druck­ender Far­braum mit uner­schöpflich wirk­enden Nuancierungsmöglichkeit­en zur Ver­fü­gung. Dabei bevorzugt er vor allem weiche Klänge, deren Schat­tierun­gen ständig wech­seln, die unaufhör­lich in zarten Übergän­gen ineinan­der fließen. In diesen Details ist Gor­latch ein großer Meis­ter. Er tüftelt fein­ste Klänge aus, zaubert immer neue Momente rein­er Schön­heit und absoluter Kun­st, die alle Bindun­gen an die schnöde Real­ität des All­t­ags hin­ter sich lassen.

Nur bleibt oft der Ein­druck, dass er nicht weiß, was er damit machen soll: Das ist rein­er Selb­stzweck. Schön anzuhören ist das unbe­d­ingt, aber auch ermü­dend. Denn Span­nung entste­ht bei ihm nicht durch Struk­turen, son­dern höch­stens – sel­ten genug — durch die Rei­he der Klang­wech­sel und über­raschende Tönun­gen. Er spielt vor allem eine Rei­he schöne Momente. Die acht Mazurken aus op. 67 und 68 von Chopin sind bei ihm nur noch ein gren­zen- und form­los­es Wabern, ein ver­lorenes Umherir­ren im Labyrinth der Klänge. Er zer­reißt die Musik, um an den Schnit­tkan­ten beson­dere Schön­heit­en zu zeigen. Nur lässt er die Reste dann ein­fach liegen, er gibt ihnen ihre Form nicht zurück und formt auch selb­st nichts neues daraus. Das ist immer wieder faszinierend und in der Poe­sie der Klan­gau­gen­blicke betörend schön. Aber den Werken Chopins wird es kaum gerecht.

(geschrieben für die Mainz­er Rhein-Zeitung.)

schweizer musik

(der kalauer musste sein). es geht natür­lich um irène schweiz­er, eine der besten leben­den pianistin­nen der impro­visierten musik, um das gle­ich mal klarzustellen.

beim anhören ihrer allerneuesten cd, einem live-mitschnitt (der lei­der klan­glich nicht ganz top of the line zu sein scheint …) fragte ich mich wieder ein­mal (und nicht zum ersten mal), was — für mich — eigentlich das große an ihrem spiel aus­macht. ich glaube, es ist ihre mis­chung aus energie und poe­sie. das klingt nach all­ge­mein­platz und ist es wahrschein­lich auch. aber in der kom­bi­na­tion dieser bei­den pole — nicht so sehr der mis­chung, als der vere­ini­gung zweier schein­bar­er gegen­sätze — liegt, glaube ich, ihr indi­vidu­eller stil. der macht sich bemerk­bar, egal, ob es sich um eigene kom­po­si­tio­nen han­delt oder um fremdes mate­r­i­al (hier zum beispiel von car­la bley, thelo­nious monk oder dol­lar brand). man­fred papst nen­nt das im book­let übri­gens “das Wech­sel­spiel von lyrisch­er Ver­schat­tung und hero­is­ch­er Gebärde auf kle­in­stem Raum” — wobei ich mir nicht sich­er bin, ob “hero­isch” den aus­druck dieser musik wirk­lich triff. vielle­icht, “hero­isch” dann im sinne von stand­fest, auch unbeugsam — indi­vid­u­al­is­tisch eben. aber nicht auftrumpfend, besiegend. gewis­sheit­en ver­sagt sie sich allerd­ings nicht, das ist mehr als reine brechung. vielle­icht ist das ja auch etwas, das ihre fasz­i­na­tion aus­macht: trotz der vielfalt der aus­drucks­for­men (schweiz­er ist in gewis­sem sinne auch eine “gelehrte” pianistin — und deshalb in so einem klas­sis­chen musen­tem­pel wieder der zürich­er ton­halle gar nicht so verkehrt am platz) schim­mert immer die posi­tion, der ort und die kraft der pianistin als selb­st­be­hauptetem sub­jekt durch: das gibt sie nicht auf, nie und nir­gends.

schon der titel markiert das sehr gut: “to whom it may con­cern”. das ist selb­st­gewiss und selb­st­be­wusst. aber eben auch — ver­mute ich — im vollen bewusst­sein der exk­lu­siv­ität (oder lim­ität) der kreise, die das tat­säch­lich wahrnehmen und die das inter­essiert: eigentlich müsste & sollte das ja möglichst alle ange­hen. so gut ist diese welt aber lei­der nicht … dafür ist die musik dieser welt aber so gut. grandios eigentlich sog­ar, wenn man sich etwa das “final end­ing” anhört, das in einem rie­seigen run­dum­schlag noch ein­mal alles erfasst und umfasst, ohne sein eigenes zu ver­lieren, das span­nend in jedem ton ist, aber doch ganz gelassen und natür­lich vor allem aus­ge­sprochen fol­gerichtig wirkt: vom mate­r­i­al kön­nte man es fast als eine etüde des free jazz anse­hen. aber dann höch­stens im chopin­schen sinn: etüde als konz­ert­stück und so weit­er.

das nur schnell beim ersten hören. die cd, aufgenom­men übri­gens im april 2011 in der züriche ton­halle anlässlich ihres 70. geburt­stages (kaum zu glauben!), wird meinen play­er sich­er nochöfter von innen sehen, das ist sich­er.

Irène Schweiz­er: To Wom It May Con­cern. Piano Solo Ton­halle Zürich. Intakt CD 200, 2012.

 

Klassik im Klub

Ein Flügel mit­ten im Roxy, zwis­chen den Sofas unter Lüstern – das ver­wan­delt den Club fast in einen großbürg­er­lichen Salon des 19. Jahrhun­derts. Nicht nur der Raum ver­weist auf diese längst unterge­gan­gene Form der gesel­lig-kul­turellen Unter­hal­tung. Auch die Musik, die der Pianist Kai Schu­mach­er sich aus­ge­sucht hat, passt in diese Tra­di­tion: Vor­wiegend kleinere, charak­ter­is­tis­che Stücke hat er aufs Pro­gramm geset­zt – keine schw­erver­dauliche klas­sis­che Kost, son­dern char­mante Musik, die auch Nicht-Experten goutieren kön­nen.

Auch das Pub­likum ver­hält sich automa­tisch viel lock­er­er als im „nor­malen“ Konz­ert: Zwan­g­los im Club verteilt, wo sich ger­ade ein Plätzchen zum Sitzen find­et. Viel geplaud­ert wird auch in diesem post­mod­er­nen Salon. Und dann doch ganz aufmerk­sam gelauscht. Denn das Ziel des Vere­ins der „Fre­unde Junger Musik­er“, die das Klavierkonz­ert im Roxy organ­isierten, war nicht, den Salon wieder zu beleben. Son­dern ein neues, jün­geres Pub­likum für die Klavier­musik zu erschließen und begeis­tern. Halb­wegs kön­nte das funk­tion­iert haben, immer­hin waren – neben dem üblichen Konz­ert­pub­likum — auch eine Menge junge Leute gekom­men. Ob das dauer­haft wirkt, wird man sehen müssen. Auf jeden Fall ist so ein deut­lich ver­jüngtes Pub­likum offen­sichtlich wesentlich begeis­terungs­fähiger, so offen­sive Beifalls­bekun­dun­gen sind son­st eher sel­ten.

Nicht ganz zu unrecht allerd­ings haben sie im Roxy ihren Platz. Kai Schu­mach­er hat nicht nur ein her­vor­ra­gen­des Pro­gramm entwick­elt, son­dern ist auch als Musik­er so viel­seit­ig, dass er beispiel­sweise prob­lem­los zwis­chen George Gersh­win und Felix Mendelssohn Bartholdy hin und her wech­seln kann: Er begann mit ein­er kleinen Auswahl der Mendelssohn­schen „Lieder ohne Worte“, durch­set­zt mit Songs und Pre­ludes von Gersh­win. Und streute in diese far­big gespielte Mis­chung dann auch noch ein paar pianis­tisch-vir­tu­ose Bear­beitun­gen von Rock­songs ein, die sein­er Vir­tu­osität viel Raum lassen. Und sein Faible für Rock blitzt immer wieder auf – bis zulet­zt: Als Zugaben spielt er Songs von den Foo Fight­ers und von Slay­er. Auch wenn man das fast gesagt bekom­men muss: Das ist ganz stark der Tra­di­tion der vir­tu­osen Klavier­bear­beitung des 19. Jahrhun­derts verpflichtet, so dass die Schu­mach­er­schen Adap­tio­nen sich naht­los ins klas­sis­che Rper­toire ein­fü­gen. Auch wenn er sehr kraftvoll don­nern kann, selb­st mit dem kleinen Flügel im Roxy. Und damit ist er auch schon wieder direkt bei Franz Liszt, der auch mehrmals im Pro­gramm auf­taucht – es hängt eben alles zusam­men.

Aber auch andere Pfade in die Gegen­wart steuert Schu­mach­er an. Zum Beispiel mit ein­er Min­i­mal-Music-Sec­tion, die – wieder ein­mal – bei Liszt anfängt, den eher unbekan­nten med­i­ta­tiv-repet­i­tiv­en „Nuages gris“, und über Erik Satie bis zu Philipp Glass führt, den Schu­mach­er mit ein­er sehr lebendig-sprühen­den Inter­pre­ta­tion des „Mad Rush“ vorstellt. Nicht nur hier, immer wieder merkt man: Nicht allein das Roxy hat seinen Spaß, auch Kai Schu­mach­er freut sich von Herzen an sein­er Musik. Und das ist immer ein gutes Zeichen.

(geschrieben für die Mainz­er Rhein-Zeitung.)

Franz Liszt lebt

Jubiläen sind wohl nir­gends so wichtig wie in der Musik­branche. Zu jedem halb­wegs run­den Todes- und Geburt­stag wer­den die Pro­gramme geän­dert, jed­er meint, unbe­d­ingt etwas passendes aufzuführen (natür­lich aber nur, wenn es um “große” Kom­pon­is­ten geht). In die Kat­e­gorie “Jubiläumshype” passt auf den ersten Blick auch “The Liszt Project”, wie die Dop­pel-CD, die Pierre-Lau­rent Aimard — immer­hin ein­er mein­er allzeit-Lieblingspi­anis­ten — im Früh­jahr für die Deutsche Gram­mophon aufgenom­men hat.1 Aber diese zwei CDs erheben sich aus der Masse der Pflicht-Erin­nun­gen. Aus einem Grund: Pierre-Lau­rent Aimard. Der hat näm­lich (natür­lich) nicht ein­fach ein paar bekan­nte Liszt-Werke zusam­menge­sucht und aufgenom­men. Nein, er macht etwas anderes — etwas besseres: Er kon­fron­tiert einige, wenige aus­gewählte Liszt-Kom­po­si­tio­nen mit ganz viel ander­er Musik: Mit Wag­n­er (Klavier­son­ate As-Dur), mit Scri­abin und Rav­el, aber auch mit Bartók, Berg, Mes­si­aen und dem 1959 gebore­nen Mar­co Strop­pa. Und das hat ganz viel Sinn und Bedeu­tung — son­st würde er es ja nicht machen. Vor allem aber: Diese Kon­fronta­tion stellt Liszt in ganz ver­schiedene Tra­di­tion­szusam­men­hänge, zeigt — auch uner­wartete — Beziehun­gen. Und ergibt ein wun­der­bares Ganzes. Das Pro­gramm ist also — schon auf dem Papi­er — überzeu­gend. Aber das ist nicht alles.

Ich bin jeden­falls ger­ade total begeis­tert und fasziniert von dieser CD: Wahrschein­lich ist das in der Summe und im Detail eine der besten Klavier-CDs, die ich kenne (und besitze). Allein schon wegen der grandiosen Auf­nah­me­tech­nik, die dem Flügel eine unver­gle­ich­liche Präsenz ver­schafft,2 eine grandiose Detailau­flö­sung (auch im räum­lichen — jed­er Ton hat seinen eige­nen Platz!) hören lässt und ein­fach verblüf­fend real­is­tisch klingt.

Vor allem ist die CD aber großar­tig, weil sie musikalisch begeis­tert. Und das liegt, wenn man es auf den Punkt brin­gen will, an der lebendi­gen Genauigkeit, mit der Pierre-Lau­rent Aimard arbeit­et (spie­len mag das kaum nen­nen). Ger­ade die Vernüp­fung von unge­heuer detail­ver­liebter Genauigkeit, die wirk­lich an jedem Ton bis zur Ver­vol­lkomm­nung arbeit­et, mit der agogis­chen und phrasieren­den Lebendigkeit ist Aimards Marken­ze­ichen.3

Immer wieder fasziniert mich ja seine Fähigkeit, nicht nur die for­male Gestal­tung sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene vol­lkomen im Blick zu haben, son­dern vor allem seine unmen­schlich genaue klan­gliche Dif­feren­zierung (und ihre Diszi­plin­ierung), mit der er das Ton wer­den lässt.

Ein paar High­lights bish­er: Unbe­d­ingt die vitale, fast strahlende Sonate op. 1 von Alban Berg, die trotz ihrer Konzen­tra­tion ganz ungezwun­gen und natür­lich wirkt.

Dann selb­stver­ständlich die h‑moll-Sonate von Liszt selb­st:4 Kein pianis­tis­ches Bravourstück, keine trock­ene For­mübung und auch kein Kampf musikalis­ch­er Charak­tere: Das ist aus­geglichen, aber nie blass; ver­mit­tel­nd, aber alle Seit­en und Aspek­te genau vol­lziehen. Wahrschein­lich ist es ger­ade dieser Aspekt, möglichst viel­seit­ig zu spie­len, möglichst viele Facetten eines Werkes lebendig wer­den zu lassen, ohne einige oder wenige davon zu abso­lu­tieren, der mich hier und bei dem Rest der Auf­nahme so anzieht. Das ist in der Prax­is natür­lich nie ein­fach, weil so eine umfassender Inter­pre­ta­tionsver­such oft reich­lich blass und lang­weilig wirkt und nur den Ein­druck erweckt, der Inter­pre­ta­tion wolle es um jeden Preis ver­mei­den, einen Stand­punkt zu beziehen. Davon kann hier aber keine Rede sein.

Auch die/das (?) “Tan­ga­ta manu” von Mar­co Strop­pa ist beein­druck­end: Diese Musik passt fast naht­los zwis­chen Liszts Vogel­predikt des Franz von Assisi aus den “Année de Pélèri­nage, Band II und den Wasser­spie­len der Vil­la Este (aus Band III). Das ist auch eine Form, mod­erne und zeit­genös­sis­che Musik dem Hör­er nahezubrin­gen — ganz ohne großes didak­tis­ches Klim­bim, son­dern eben ein­fach als Musik, die man als Weit­er­en­twick­lung klassischer/romantischer Mod­elle hören kann.5 Über­haupt ist der zweite Teil/die zweite CD fast ein einziger Klan­grausch, durch­weg auf höch­stem Niveau. Auch Rav­els “Jeux d’eau” sind schlicht grandios.

Was mich (wieder ein­mal) aber ziem­lich abschreckt, ist die Gstal­tung der CD. Abge­se­hen davon, dass sie über­säht ist mit Aufmerk­samkeit­shasch­ern, mit mehrern Aufk­le­bern bek­lebt, ver­steckt sie ger­ade die wichti­gen Infor­ma­tio­nen — näm­lich die Spielfolge — ziem­lich gut. Dafür sind noch ein paar nichtssagende Sätze und über­schwänglich­es Lob draufge­druckt wor­den … Immer­hin, der Kom­pon­is­ten­name ist ein biss­chen größer als der Aimards — auch keine Selb­stver­ständlichkeit, bei vie­len CDs scheint der Inter­pret heute (zumin­d­est typografisch) wichtiger zu sein als der Kom­pon­ist. Dafür aber in ein­er reich­lich selt­samen, eigentlich unapssenden Schrift …

Schade auch, dass die Deutsche Gram­mophon, die doch so stolz auf ihre Tra­di­tion ist, dem kein vernün­ftiges Bei­heft mehr spendiert: Ein klitzek­leines Inter­view mit dem Pianis­ten ist da drin — son­st nichts. Kein­er­lei mehr oder weniger ana­lytis­chen Anmerkun­gen, keine (musik-)historischen Einord­nun­gen, nichts. So kann man das Niveau auch immer wieder unter­bi­eten …

Davon mal abge­se­hen (und das merkt man beim Hören ja glück­licher­weise nicht): Eine CD zum glück­lich Wer­den. Ein­deutig.

The Liszt Project. Pierre-Lau­rent Aimard spielt Bartók, Berg, Mes­si­aen, Rav­el, Scri­abin, Strop­pa, Wag­n­er und Liszt. Deutsche Gram­mophon 2011.

Show 5 foot­notes

  1. Warum das als “Pro­jekt” verkauft wird, ist mir vol­lkom­men unklar — abge­se­hen davon, dass “Pro­jekt” irgend­wie mod­ern und hip klingt (klin­gen soll). Schließlich ist das nichts anderes als die Stu­diover­sion eines erprobten Konz­ert­pro­gramms.
  2. Das ist — obwohl das Klavier ja sozusagen ein Stan­dard­instru­ment ist — alles andere als die Regel!
  3. Seine Auf­nahme der Bach­schen “Kun­st der Fuge” weist — in ganz anderem Zusam­men­hang — eben­falls genau diese Qualität(en) auf.
  4. Sehr sin­nvoll übri­gens auch, die h‑moll-Sonate an den Schluss des ersten Teils zu stellen — das Ende, die let­zten Töne, mit denen auch die erste CD auskling, wirken so ein­fach grandios …
  5. Wobei der Umstand, dass Liszt (nicht nur) hier als fast pro­to-mod­ern­er Kom­pon­ist gezeigt wird, sozusagen die andere Seite dieser Medaille ist.

Der Mann mit der Schmetterlingshand

Er hat Hände wie ein Schmetter­ling: Nicht nur auf den Tas­ten schweben sie, in jed­er Pause, vor jedem Ein­satz set­zen sie zu einem kleinen Flug durch die Luft an. In jede Pause schwebt die Hand von den Tas­ten in den Luft, die Fin­ger flat­tern und schwin­gen wie ein Schmetter­ling von Blüte zu Blüte, bevor sie wieder ein – vorüberge­hen­des – Ziel find­en und sich auf den Tas­ten nieder­lassen. Olli Mus­to­nen ist ein faszinieren­der Pianist. Und nicht nur wegen sein­er Fin­gertänze.

Alles kommt aus ihm. Nicht, weil er die Musik für seinen Auftritt im Schloss Waldthausen umformt. Son­dern weil er sie sich vol­lkom­men zu eigen macht. Ob Robert Schu­mann, Alexan­der Skr­jabin, Rodi­on Schtschedrin oder Bohuslav Mar­t­inů: Jede Musik, die er in Angriff nimmt, zeich­net sich schließlich durch unge­heure Dringlichkeit aus. Das muss er jet­zt spie­len, genau so, genau in diesem Moment, es drängt ger­adezu aus ihm her­aus. Obwohl natür­lich auch Mus­to­nen schon vor Monat­en genau fest­gelegt hat, was er im Schloss Waldthausen, an diesem speziellen Abend, beim Mainz­er Musik­som­mer, spie­len wird. Und doch ist in seinem Spiel eben immer wieder die Frische, die neugierige Begeis­terung des Ent­deck­ers zu hören: Alle seine Töne atmen Unmit­tel­barkeit. Ob das die Frucht eines Mönchs oder eines Magiers ist, bleibt unentsch­ieden.

Wie ein Schmetter­ling plöt­zlich auf­taucht, so unmit­tel­bar wech­selt er die Klang­farbe, wenn es nötig ist. Das heißt aber nicht, dass er auss­chließlich san­ft und zurück­hal­tend vor­sichtig spie­len würde: Sobald es nötig wird – und es erscheint ihm öfter nötig, als man glauben möchte – wird aus der Schmetter­ling­s­hand ein jagen­der Adler: Der kreist noch kurz über der Tas­tatur, stürzt dann im tod­sicheren Sturzflug rapi­de hinab, trifft natür­lich unweiger­lich die richtige Taste. Aber auch den richti­gen Ton: Mus­to­nen ist genau, was seine Klanggestal­tung ange­ht, über­aus genau.

Und immer wieder fliegt der Schmetter­ling dazwis­chen – Mus­to­nen lock­ert die Hand und die Fin­ger für neue Aben­teuer. Ob das in den sattsam bekan­nten Kinder­szenen Schu­manns ist oder den nur sel­ten gespiel­ten Prälu­di­en & Fugen von Schtschedrin: Klangkom­bi­na­tion ist sein große The­ma, am besten zu erfahren in den zart abgetön­ten Akko­r­den. Kein Wun­der: Im Zen­trum des Abends ste­ht schließlich Skr­jabin, der große Klangkün­stler. Mus­to­nen beweist das zunächst mit den Préludes op. 13 und 16, und dann vor allem mit dem späten „Poème“, „Vers la flamme“. Wirk­lich als ein sprachlos­es Gedicht erklingt das, unver­gle­ich schön und berauschend. Wie ein Schmetter­ling eben: Der Flug sieht wie ein Taumeln aus, ist aber schön und ziel­gerichtet. Und so spielt auch Mus­to­nen: Die Form der Musik ist oft kaum erkennbar, aber das Erleb­nis der Rein­heit und Frei­heit des Klangs überdeckt alle Män­gel.

(geschrieben für die Mainz­er Rhein-Zeitung.)

An den Grenzen des Klangs

Die Energie im Roten Saal der Musikhochschule ist fast mit den Hän­den zu greifen. Dabei sind es bloß die Fin­ger der kanadis­chen Pianistin Cather­ine Vick­ers, die diese Energie freiset­zen. Und eigentlich war es ganz harm­los als „Klavier­abend“ angekündigt, in der Mitte des diesjähri­gen Mainz­Musik-Fes­ti­vals, das die Musikhochschule mit Unter­stützung der Streck­er-Dae­len-Stiftung aus­richtet. Aber es ist viel mehr als ein „nor­males“ Konz­ert gewor­den: Vick­ers untern­immt – mit ger­ade eine­mal drei Kom­po­si­tio­nen — eine Wel­treise, eine Expe­di­tion in die unzählbaren Möglichkeit­en des Klavierk­langs und sein­er kom­pos­i­torischen Gestal­tung im 20. Jahrhun­dert. Sie ist mehr als gut vor­bere­it­et für diese Ent­deck­ungs­fahrt. Mit makel­los­er Präzi­sion und unnachgiebiger Aus­dauer, unbe­d­ingter Konzen­tra­tion und höch­ster Sorgfalt macht sie sich auf den Weg. Aus­gangspunkt ist das Ameri­ka kurz nach 1900, in der Sonata No. 1 von Charles Ives, dem fast hun­dert Jahre alte Klas­sik­er der mod­er­nen Klavier­musik. Für diesen Abend bleibt das noch die „tra­di­tionell­ste“ Form – aber auch die ist bei Ives nur noch in Resten, in Bruch­stück­en erkennbar. Ein großes Panora­ma voller Dringlichkeit­en, gespickt mit rhyth­mis­chen und melodis­chen Ver­satzstück­en sowie Anklän­gen macht Vick­ers daraus. Schon vom ersten Beginn an war dabei vor allem die Präzi­sion – und die Begeis­terung der Pianistin für diese Musik — zu spüren. Und sie sollte bis in den Schluss der Zugabe, dem Walz­er aus Schön­bergs op. 23, zu hören sein.

Auch bei Lui­gi Nonos „… sof­ferte onde serene …“ bleibt sie ein wesentlich­es Moment von Vick­ers Inter­pre­ta­tion. 1976 für Klavier und Ton­band mit im Ton­stu­dio bear­beit­eten Klavierk­län­gen kom­poinert, führt Nonos Klavier­stück die Klang­forschung am Flügel mit enor­men Erre­gungspoten­zial in die Weite des Raums.

Diesen Weg schlägt auch Nico­laus A. Hubers „Dis­ap­pear­ances“ ein: Eine Studie, die das Ver­schwinden unter­sucht, die Auflö­sung der Klänge in den Blick nimmt – und das auch tran­szendiert. Ein fein­er, hauchzart ver­hal­len­der Beginn, in den einzelne Töne explodieren, die sich zu Haufen verdicht­en, zunehmend manip­ulierte Klänge, von insistierend häm­mern­den Rep­e­ti­tio­nen unter­brochen – damit lässt Cather­ine Vick­ers mit bren­nen­der Klarheit eine ganz unmit­tel­bar aufwüh­lende und ver­schreck­ende Musik entste­hen. Bei all dem ver­bis­se­nen Bohren in Details und Klangnu­an­cen schafft sie es aber tat­säch­lic auch noch, dieser Musik Offen­heit und vor­sichtige Unbes­timmtheit mitzugeben: Eine wun­der­bar energiere­iche, kom­plexe Vielfalt – und alles mit lediglich zehn Fin­gern aus dem Flügel ent­lockt.

(geschrieben für die Mainz­er Rhein-Zeitung.)

Liszt zum Zweihundertsten

2011 als Jubiläum­s­jahr — sein Geburt­stag jährt sich zum 200. Mal — war der offen­sichtliche Anlass für diese Buch: Wolf­gang Döm­lings kleine Biogra­phie “Franz Liszt”. Erschienen ist das in der von mir grund­sät­zlich sehr geschätzen Rei­he “Wis­sen” des Beck-Ver­lags. Aber da passt dieses Buch kaum rein — im Gegen­satz zu anderen dort erschienen Bänd­chen hat es mich sehr ent­täuscht, obwohl es in der Taschen­buchkolumne der Süd­deutschen Zeitung sehr direkt emp­fohlen wurde. Und zwar war ich sowohl inhaltlich als auch for­mal und sprach­lich ziem­lich ent­täuscht.

Fan­gen wir mit dem pin­gelig­sten an, den For­malal­itäten: Ent­ge­gen der Rei­hen-Gepflo­gen­heit­en gibt es hier über­haupt keine vernün­fti­gen Lit­er­aturhin­weise: Döm­ling erwäh­nt den MGG-Artikel — und genau ein Buch.1 Das war’s auch schon — sehr ent­täuschend. Und auch wenig hil­fre­ich. Es gibt doch bes­timmt auch gute musik­wis­senschaftliche, werk­an­a­lytis­che Lit­er­atur zu Liszt, die dem Leser etwas weit­er­helfen kön­nte.2 Damit hängt vielle­icht auch das inhaltliche Prob­lem zusam­men … — aber dazu später noch etwas.

Sprach­lich fall­en sofort die Satz-Ungetüme oder ‑Unge­heuer auf: Döm­ling häuft näm­lich gerne in einem Satz alles an, was ihm so an Infor­ma­tion über den Weg läuft — mit unzäh­li­gen Ein­schüben, Appo­si­tio­nen, Rel­a­tivsätzen und so weit­er. Und irgend­wann, das ist bei ihm gar nicht sel­ten, ist der ursprüngliche Satz gar nicht mehr zu erken­nen. Ob der trock­ene, spröde Stil (der nur auf den let­zten Seit­en, wo es um Liszts Spätwerk geht, einige Funken schlägt) als Plus- oder Minus­punkt zu werten ist, bleibt sich­er Geschmack­sache. Ich fand es oft arg dürr.

Und inhaltlich? Das hängt dur­chaus wieder mit der sprach­lichen Gestal­tung zusam­men. Döm­ling gibt sich gerne etwas besser­wis­serisch, etwas pater­nal­is­tisch belehrend erzählt er den Lebensweg in groben (oft nur sehr bruch­stück­haften) Umris­sen, greift gerne mal auf das “wie bekan­nt” zurück. Dabei hat er offen­bar dur­chaus den Laien im Blick, vieles musik­fach­lich­es wird von ihm näm­lich gut und knapp erk­lärt, die fach­lichen Voraus­set­zun­gen hält er aus­ge­sprochen niedrig: Selb­st eigentlich banale Dinge wie das Transponieren oder vom-Blatt-Spie­len erk­lärt er mehrfach (aber wer eine Vir­tu­osen- & Kom­pon­is­ten­bi­ogra­phie liest, wird solch ele­mentare Sachver­hal­ten doch wohl unge­fähr parat haben …). Das sieht dann z.B. mal so aus:

 

1834 begeg­nete Liszt der Schrift­stel­lerin George Sand (nom de plume für Aurore Dude­vant), ein­er Frau, deren Klis­chee­bild in der Nach­welt, beson­ders der deutschen, recht unfre­undlich ist: als hosen­tra­gende, zigar­ren- und män­nerver­schlín­gende Emanze, die viele schlechte Romane geschrieben hat und nur als Pflegerin-Muse des unglück­lichen Chopin in Erin­nerung bleibt. (Eine der mit steter Regelmäßigkeit auf­tauchen­den Kul­turver­anstal­tun­gen in deutschen Städten heißt “Ein Win­ter auf Mal­lor­ca”, mul­ti­me­di­al gestal­tet mit ein­er Lesung aus Sands gle­ich­namigem Buch, mit Licht­bildern und mit Chopins Musik — darunter natür­lich das “Regen­tropfen-Prélude”, das freilich als solch­es nur in der pop­ulären Über­liefer­ung iden­tifizier­bar scheint …) Sand und Chopin lern­ten sich übri­gens bei Liszt ken­nen. Der Win­ter auf Mal­lor­ca 1838/1859, worunter man sich heute vielle­icht etwas “Ror­nan­tis­ches” vorstellt, war voller mehr oder weniger schreck­lich­er Erleb­nisse. (Welch selt­same Idee ja auch, mit zwei Kindern und einem Pianis­ten und Kom­pon­is­ten, Großs­tadt­men­sch und krank dazu, sich im Win­ter auf eine unwirtliche und ungastliche Insel zurück­zuziehen!) 3

 

Gut gelingt Döm­ling aber auch manch­es, vor allem die (musik-)historische Situ­ierung und Einord­nung Liszts, sein­er Konz­ert­prax­is und sein­er Kom­po­si­tio­nen. Das nimmt zar nur sehr wenig Raum ein, aber immer­hin nimmt er sich die Zeit und den Platz — gerne auch mit entsprechen­den Rück­blick­en, zu klar soll es ja nicht wer­den — zu schildern, was an Listzs Treiben Beson­der­heit oder Nor­mal­ität im 19. Jahrhun­dert war — das ist ein sehr guter Zug.

Im ganzen wirkt das aber auf mich noch arg unfer­tig, wie eine Vorstudie für ein “richtiges” Buch: Döm­ling springt fleißig hin und her, ohne das immer aus­re­ichend deut­lich zu machen, begin­nt irgend­wie immer wieder neu. Deut­lich wird das vor allem in sein­er Darstel­lung der 1830er: Liszts Konz­ertkar­riere darf hier unzäh­lige Male neu begin­nen — aber über das wie, das was und vor allem das warum erfährt man dann doch her­zlich wenig. Über­haupt, der Konz­ertkün­stler Liszt ist hier total unter­be­lichtet, ger­ade was die zeit­genös­sis­che Rezep­tion ange­ht, aber auch, was seine eigentlichen Unternehmungen bet­rifft.
Dazwis­chen, in dieser Mate­ri­al­samm­lung oder diesem Stein­bruch, ste­hen dann doch immer wieder kluge Sätze, die Ein­sicht und Ein­füh­lungsver­mö­gen ver­rat­en und den Leser wieder ver­söh­nen.4 Schade nur, dass es so wenige bleiben und dass sie so ver­streut sind. Seine Andeu­tun­gen haben aber irgend­wie Meth­ode: Das geschieht immer auf ähn­liche Weise, wie z.B. Liszts Beziehung zu Wag­n­er:

Cosi­mas detail­lierte Tage­buch­no­tate sagen dazu mehr als genug.5

Toll, dass Döm­ling das weiß. Ich hätte es auch gerne erfahren …

Mein Haupt-“Problem” bei der Lek­türe des biographis­chen Abriss­es aber: Mir scheint, er hat keine wirk­liche Deu­tung des Lebens, keine Inter­pre­ta­tion des Lebensweges — deswe­gen wirkt das so akademisch, weil er über große Teile des Textes nur die äußeren Sta­tio­nen abhan­delt, die Psy­cholo­gie des Kom­pon­is­ten aber keine (bzw. nur eine kleine) Rolle spielt. Dazu kommt dann noch eine eher ver­wun­der­liche Zurück­hal­tung, was die Beschrei­bung und/oder Analyse der Musik Liszts ange­ht — das ist oft erschreck­end und ärg­er­lich kurz, ober­fläch­lich und nichtssagend. Von einem Musik­wis­senschaftler, der sich schon länger mit Liszt beschäftigt, hätte ich ger­ade in diesem Punkt deut­lich mehr erwartet.

Also, in meinen Augen keine empfehlenswerte Biogra­phie, auch im Jubiläum­s­jahr nicht: Wer noch keine Ken­nt­nisse der Biogra­phie Liszts hat, wird sich hier­mit wohl schw­er­tun. Und warum die Süd­deutsche das empfehlenswert fand, erschloss sich mir über­haupt nicht.

Wolf­gang Döm­ling: Franz Liszt. München: Beck 2011 (Wis­sen). ISBN 978–3‑406–61195‑7. 112 Seit­en.

Show 5 foot­notes

  1. Der MGG-Artikel von Detlef Altenburg ist dur­chaus zu recht erwäh­nt, der ist schon sehr gut. Und dass Döm­ling sich bei Burg­ers Bild- und Doku­ment­band fleißig bedi­ent hat (natür­lich nur, was die Texte ange­ht, Bilder gibt es in dieser Rei­he ja nicht), merkt man im Text deut­lich.
  2. Ich kenne mich da nicht wirk­lich aus — aber Döm­ling ist ja mit Werk­analy­sen oder wenig­stens ‑beschrei­bun­gen auch ärg­er­lich extrem zurück­hal­tend.
  3. S. 34f. — so ste­ht das wirk­lich mit­ten in ein­er Liszt-Biogra­phie. Und das ist nicht die einzige der­ar­tige Stelle, solche und ähn­liche Seit­en­hiebe gibt es unzäh­lige …
  4. Zum Beispiel die weni­gen, knap­pen, aber m. E. sehr genau tre­f­fend­en Sätze zur Heimat-Idee Liszts, zu sein­er Beziehung zu Ungarn — das hätte dur­chaus Poten­zial zur Ausar­beitung gehabt …
  5. Und damit ist Döm­ling auch fast am Ende sein­er knappe Schilderung der Begeg­nung Wag­n­er-Liszt im Win­ter 1882/83, S. 100.

Routine und lichte Momente: Ein Klavierabend alter Schule

Man merkt es an jed­er Bewe­gung, vom ersten Auftreten über das Platznehmen bis zum let­zten Dank: Ivan Moravec ist schon lange im Geschäft. Über fün­fzig Jahre ist der tscheschiche Pianist schon unter­wegs – immer am Klavier. Auch in Mainz, der SWR hat ihn für das Feb­ru­ar-Konz­ert der Rei­he „Inter­na­tionale Pianis­ten“ verpflichtet. Und so sehr man ihm die Rou­tine des Auftretens auch anmerkt, die Musik kann er davon frei­hal­ten. Zumin­d­est teil­weise.

Denn sein weite Teile der Musikgeschichte umfassendes Pro­gramm – von Bach bis Debussy reicht der Bogen – präsen­tiert er mit sehr unter­schiedlichem Geschick und sehr unter­schiedlichem Gelin­gens­graden. Johann Sebas­t­ian Bachs Chro­ma­tis­che Phan­tasie und Fuge ist ohne Zweifel ein eher sprödes, abstrak­tes Stück. Aber so lang­weilig wie hier muss es nicht unbe­d­ingt sein. Doch auch Debussys kleine Suite „Pour le piano“ ver­rät im Frank­furter Hof kein einziges Geheim­nis, zeigt nichts, was nicht schon der Blick auf die Noten klar machen würde, und ist – trotz der geschwinden Tem­pi und der sicheren Nuancierung – ein­fach nur lang­weilig.

Aber dann, nach der frühen Pause, ist alles anders. Dabei sitzt genau der selbe Pianist am Flügel, dabei sind es die sel­ben Spiel­weisen und Inter­pre­ta­tion­stech­niken, die Moravec benutzt. Nur hier, bei den Klavier­w­erken Chopins, ist das passend und vor allem inspieriert. Gut, das zweite Scher­zo spie­len jün­gere Pianis­ten drastis­ch­er, tragis­ch­er und stärk­er kon­turi­ert. Aber zu wirk­lichen Groß­tat­en ist Moravec eben dur­chaus auch fähig. Die As-Dur-Polon­aise beweist das. Woran es liegt, ist unklar – aber irgend etwas an dieser Musik befähigt Moravec nun doch zu mehr als Rou­tine: Jet­zt auf ein­mal tastet er sich wirk­lich vor ins Innere der Musik, in ihrem Ideen- und Gefühlskos­mos – auch wenn da viele dun­kle Stellen lauern. Kein Wun­der, dass das Fun­da­ment dieser so harm­los Polon­aise-Fan­taisie betitel­ten Musik unsich­er abbröck­elt – der Zusatz „Fan­taisie“ weist ja schon darauf hin: Mit über­liefer­ten Mustern und klaren Vor­gaben ist es in dieser unbe­d­ingt sub­jek­tiv und indi­vidu­ellen Schöp­fung nicht mehr weit her. Aber ihre innere Span­nung und den drama­tis­chen Sinn, ihr eigen­er Klang und beständi­ge Unbeständigkeit – Moravec ver­wirk­licht alles, was zu ein­er vol­len­de­ten Inter­pre­ta­tion notwendig ist.

Wie er diese Polon­aise hier zauber­haft deut­lich und genau darstellt, wie er mit traumwan­d­lerisch­er Sicher­heit ihren ganz eige­nen Gehalt für sich erfasst und in diesem Moment zu Klang wer­den lässt: Das ist ein­fach großar­tig, span­nend und inspiri­erend – und alles ander als Rou­tine. Auch nach über fün­fzig Jahren Konz­ert­da­sein.

(geschrieben für die Mainz­er Rhein-Zeitung)

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