Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: klavier Seite 4 von 5

Spinning: Simon Nabatov spielt Herbie Nichols

Wer immer (noch) Zwei­fel hat, dass Jazz eine Kunst ist, der höre sich mal Simon Naba­tovs neu­es­te Solo-CD an. Da spielt der rus­sisch­stäm­mi­ge Pia­nist – einer der größ­ten Ken­ner und Kön­ner im zeit­ge­nös­si­schen Jazz (und nicht nur unter den Pia­nis­ten, auch wenn er über eine aus­ge­spro­chen for­mi­da­ble Tech­nik ver­fügt), auch wenn er viel­leicht nicht der krea­tivs­te Musi­ker ist. Das merkt man schon an der Viel­falt sei­ne Pro­jek­te – und der FIn­ger­fer­tig­keit, mit der er sich den ver­schie­dens­ten Sti­len und Aus­druck­wei­sen anpasst (allein schon die ver­schie­de­nen Unter­neh­mun­gen in wech­seln­den Kon­stel­la­tio­nen mit Nils Wogram, von sei­nen Solo­pro­jek­ten ganz zu schwei­gen).

Jetzt hat er sich die Musik des eher ver­ges­se­nen Pia­nis­ten Her­bie Nichols (hier eine klei­ne Wür­di­gung von Hans-Jür­gen Schaal)vor­ge­nom­men: „Spin­ning Songs“ heißt die bei Leo-Records erschie­ne­ne Auf­nah­me. Und zeigt wie­der ein­drück­lich, was Naba­tov drauf hat: Das ist eine der kunst­volls­ten Pia­no-Jazz-Plat­ten nicht nur der letz­ten Zeit, son­dern über­haupt. Hier tref­fen zwei Grö­ßen auf­ein­an­der: Ein genia­ler Kom­po­nist und ein schöp­fe­ri­scher Pia­nist. Denn Naba­tov führt vor, was in der Musik Her­bie Nichols drin steckt. Und was ihm dazu ein­fällt – die Gren­zen sind sehr, sehr flie­ßend.

Viel­leicht liegt es an der Ähn­lich­keit der bei­den Musi­ker, dass das hier so toll funk­tio­niert: Bei­des sind Jazz-Musi­ker, die sich stark der „klas­si­schen“ Musik des 20. Jahr­hun­derts öffne(te)n und das auch in ihrer Musik hören las­sen. Das pas­siert bei Naba­tov sowie­so öfters, bei Nichols liegt es nahe, da auch er sich von zeit­ge­nös­si­chen Kom­po­nis­ten wie Bar­tók und Satie beein­flus­sen ließ. Jetzt kom­men noch Debus­sy, Lige­ti und vie­les ande­re hin­zu. Und es bleibt doch Jazz: Ein gar nicht so klei­ner Rest Unfer­tig­keit, eine deut­li­che Pri­se Spon­ta­nei­tät ist immer zu hören. Die­se Offen­heit und Jetz­ge­bun­den­heit bei gleich­zei­ti­ger Dich­te des Kla­vier­sat­zes und Fül­le der Ideen – die­se Kom­bi­na­ti­on ist typisch für Simon Naba­tov (und ziem­lich ein­zig­ar­tig).

Gleich die ers­ten bei­den Stü­cke der CD las­sen das schon sehr deut­lich hören: Die in man­cher Hin­sicht etü­den­haf­te (Lige­ti!) wir­ken­de „2300 Skid­doo“ und vor allem das weit aus­grei­fen­de, sich manch­mal auch etwas ver­lie­ren­de, hin und her wen­den­de Moment des „Spin­ning Song“ zei­gen Naba­tov auf der Höhe sei­ner Kunst, sei­ner pia­ni­sti­chen Fer­tig­keit und sei­nes Ein­falls­reich­tums. Und wie hin­ge­bungs­voll er sich dann „Lady Sings the Blues“, Nicols bekann­tes­ter Kom­po­si­ti­on (weil Bil­lie Holi­day sie sang), wid­met, wie fein und dann auch wie­der kraft­voll er das aus­lo­tet – ein­fach wun­der­bar, ein ech­ter Hör­ge­nuss, der in sei­ner Viel­schich­tig­keit vie­les ent­de­cken lässt.

Immer aber gilt dabei: Naba­tov pflegt einen sehr frei­en Umgang mit der Musik Her­bie Nichols. Er denkt sie wei­ter, enti­ckelt sie spie­lend wei­ter – so dass das am Ende eben durch­aus eine ech­te Naba­tov-CD ist. Er macht das hier auch nicht zum ers­ten Mal, 2009 hat er schon einen Video-Mit­schnitt eines Kon­zer­tes mit die­sem Mate­ri­al ver­öf­fent­licht. Und trotz­dem ist das auch auf die­ser CD noch (wie­der?) frisch, noch sprü­hend vor Ent­de­cker­geist, manch­mal auch so sprü­hend vor Ein­fäl­len und Idee, die alle unter­ge­bracht wer­den (müs­sen), dass es leicht etwas über­la­den wir­ken könn­te. Aber Naba­tov ist dann doch Pia­nist und Musi­ker genug, das gera­de noch zu bän­di­gen – so weit, dass der Über­fluss ganz rich­tig erscheint und die Wild­heit nur so weit gezähmt wird, dass es Ohren­kom­pa­ti­bel wird. Zumin­dest so eini­ger­ma­ßen – aber garan­tiert für offe­ne, spaß­freu­di­ge Ohren.

Simon Naba­tov: Spin­ning Songs of Her­bie Nichols. Leo Records LR 632, 2012.

Taglied 23.1.2012

Her­bert Henck spielt Stock­hausen, hier das kur­ze Kla­vier­stück VIII:

Karl­heinz Stock­hausen – Kla­vier­stück VIII

Beim Kli­cken auf das und beim Abspie­len des von You­Tube ein­ge­bet­te­ten Vide­os wer­den (u. U. per­so­nen­be­zo­ge­ne) Daten wie die IP-Adres­se an You­Tube über­tra­gen.

/​via atonality.net

Klangmagier

Von den Mazur­ken blieb nicht viel übrig. Das war aber fast zu erwar­ten, nach dem, was Ale­xej Gor­latch in der ers­ten Hälf­te sei­nes Kla­vier­abends im Frank­fur­ter Hof geleis­tet hat­te. Gor­latch, der jun­ge, mit Wett­be­werbs­er­fol­gen reich geseg­ne­te Pia­nist, der die undank­ba­re Auf­ga­be über­nom­men hat­te, bei der Rei­he „Inter­na­tio­na­le Pia­nis­ten“ für die erkrank­te Mihae­la Ursu­lea­sa ein­zu­sprin­gen, spiel­te näm­lich einen im eigent­li­chen Sin­ne roman­ti­schen Kla­vier­abend. Und zwar von Anfang bis Ende, trotz der frü­hen Beet­ho­ven-Sona­te am Beginn. Zunächst, bei Beet­ho­ven und dem ers­ten Her­an­tas­ten an Fré­dé­ric Cho­pin, das Zen­trum des Abends, war das noch eine geklär­te Roman­tik.

Dann aber sieg­te zuneh­mend Gefühl – bis ins Extrem, bis alle Musik nur noch Emo­ti­on war. Vie­les, etwa die etwas ver­lo­ren im Pro­gramm ste­hen­de d‑Moll-Bal­la­de von Johan­nes Brahms, zer­fühl­te er voll­kom­men. Zer­dehnt und zer­fa­sert, auf­ge­löst in bedeu­tungs­lo­se Klän­ge wirk­te die­ses Juwel reich­lich trost­los und arm­se­lig. Aber nicht immer war das so trau­ri­ge Kada­ver­fled­de­rei wie hier. Denn Gor­latch ist ein Klang­ma­gi­er, ihm steht ein beein­dru­cken­der Farb­raum mit uner­schöpf­lich wir­ken­den Nuan­cie­rungs­mög­lich­kei­ten zur Ver­fü­gung. Dabei bevor­zugt er vor allem wei­che Klän­ge, deren Schat­tie­run­gen stän­dig wech­seln, die unauf­hör­lich in zar­ten Über­gän­gen inein­an­der flie­ßen. In die­sen Details ist Gor­latch ein gro­ßer Meis­ter. Er tüf­telt feins­te Klän­ge aus, zau­bert immer neue Momen­te rei­ner Schön­heit und abso­lu­ter Kunst, die alle Bin­dun­gen an die schnö­de Rea­li­tät des All­tags hin­ter sich las­sen.

Nur bleibt oft der Ein­druck, dass er nicht weiß, was er damit machen soll: Das ist rei­ner Selbst­zweck. Schön anzu­hö­ren ist das unbe­dingt, aber auch ermü­dend. Denn Span­nung ent­steht bei ihm nicht durch Struk­tu­ren, son­dern höchs­tens – sel­ten genug – durch die Rei­he der Klang­wech­sel und über­ra­schen­de Tönun­gen. Er spielt vor allem eine Rei­he schö­ne Momen­te. Die acht Mazur­ken aus op. 67 und 68 von Cho­pin sind bei ihm nur noch ein gren­zen- und form­lo­ses Wabern, ein ver­lo­re­nes Umher­ir­ren im Laby­rinth der Klän­ge. Er zer­reißt die Musik, um an den Schnitt­kan­ten beson­de­re Schön­hei­ten zu zei­gen. Nur lässt er die Res­te dann ein­fach lie­gen, er gibt ihnen ihre Form nicht zurück und formt auch selbst nichts neu­es dar­aus. Das ist immer wie­der fas­zi­nie­rend und in der Poe­sie der Klang­au­gen­bli­cke betö­rend schön. Aber den Wer­ken Cho­pins wird es kaum gerecht.

(geschrie­ben für die Main­zer Rhein-Zei­tung.)

schweizer musik

(der kalau­er muss­te sein). es geht natür­lich um irè­ne schwei­zer, eine der bes­ten leben­den pia­nis­tin­nen der impro­vi­sier­ten musik, um das gleich mal klar­zu­stel­len.

beim anhö­ren ihrer aller­neu­es­ten cd, einem live-mit­schnitt (der lei­der klang­lich nicht ganz top of the line zu sein scheint …) frag­te ich mich wie­der ein­mal (und nicht zum ers­ten mal), was – für mich – eigent­lich das gro­ße an ihrem spiel aus­macht. ich glau­be, es ist ihre mischung aus ener­gie und poe­sie. das klingt nach all­ge­mein­platz und ist es wahr­schein­lich auch. aber in der kom­bi­na­ti­on die­ser bei­den pole – nicht so sehr der mischung, als der ver­ei­ni­gung zwei­er schein­ba­rer gegen­sät­ze – liegt, glau­be ich, ihr indi­vi­du­el­ler stil. der macht sich bemerk­bar, egal, ob es sich um eige­ne kom­po­si­tio­nen han­delt oder um frem­des mate­ri­al (hier zum bei­spiel von car­la bley, the­lo­nious monk oder dol­lar brand). man­fred papst nennt das im book­let übri­gens „das Wech­sel­spiel von lyri­scher Ver­schat­tung und heroi­scher Gebär­de auf kleins­tem Raum“ – wobei ich mir nicht sicher bin, ob „hero­isch“ den aus­druck die­ser musik wirk­lich triff. viel­leicht, „hero­isch“ dann im sin­ne von stand­fest, auch unbeug­sam – indi­vi­dua­lis­tisch eben. aber nicht auf­trump­fend, besie­gend. gewiss­hei­ten ver­sagt sie sich aller­dings nicht, das ist mehr als rei­ne bre­chung. viel­leicht ist das ja auch etwas, das ihre fas­zi­na­ti­on aus­macht: trotz der viel­falt der aus­drucks­for­men (schwei­zer ist in gewis­sem sin­ne auch eine „gelehr­te“ pia­nis­tin – und des­halb in so einem klas­si­schen musen­tem­pel wie­der der züri­cher ton­hal­le gar nicht so ver­kehrt am platz) schim­mert immer die posi­ti­on, der ort und die kraft der pia­nis­tin als selbst­be­haup­te­tem sub­jekt durch: das gibt sie nicht auf, nie und nir­gends.

schon der titel mar­kiert das sehr gut: „to whom it may con­cern“. das ist selbst­ge­wiss und selbst­be­wusst. aber eben auch – ver­mu­te ich – im vol­len bewusst­sein der exklu­si­vi­tät (oder limi­tät) der krei­se, die das tat­säch­lich wahr­neh­men und die das inter­es­siert: eigent­lich müss­te & soll­te das ja mög­lichst alle ange­hen. so gut ist die­se welt aber lei­der nicht … dafür ist die musik die­ser welt aber so gut. gran­di­os eigent­lich sogar, wenn man sich etwa das „final ending“ anhört, das in einem ries­ei­gen rund­um­schlag noch ein­mal alles erfasst und umfasst, ohne sein eige­nes zu ver­lie­ren, das span­nend in jedem ton ist, aber doch ganz gelas­sen und natür­lich vor allem aus­ge­spro­chen fol­ge­rich­tig wirkt: vom mate­ri­al könn­te man es fast als eine etü­de des free jazz anse­hen. aber dann höchs­tens im cho­pin­schen sinn: etü­de als kon­zert­stück und so wei­ter.

das nur schnell beim ers­ten hören. die cd, auf­ge­nom­men übri­gens im april 2011 in der züri­che ton­hal­le anläss­lich ihres 70. geburts­ta­ges (kaum zu glau­ben!), wird mei­nen play­er sicher noch­öf­ter von innen sehen, das ist sicher.

Irè­ne Schwei­zer: To Wom It May Con­cern. Pia­no Solo Ton­hal­le Zürich. Intakt CD 200, 2012.

Klassik im Klub

Ein Flü­gel mit­ten im Roxy, zwi­schen den Sofas unter Lüs­tern – das ver­wan­delt den Club fast in einen groß­bür­ger­li­chen Salon des 19. Jahr­hun­derts. Nicht nur der Raum ver­weist auf die­se längst unter­ge­gan­ge­ne Form der gesel­lig-kul­tu­rel­len Unter­hal­tung. Auch die Musik, die der Pia­nist Kai Schu­ma­cher sich aus­ge­sucht hat, passt in die­se Tra­di­ti­on: Vor­wie­gend klei­ne­re, cha­rak­te­ris­ti­sche Stü­cke hat er aufs Pro­gramm gesetzt – kei­ne schwer­ver­dau­li­che klas­si­sche Kost, son­dern char­man­te Musik, die auch Nicht-Exper­ten gou­tie­ren kön­nen.

Auch das Publi­kum ver­hält sich auto­ma­tisch viel locke­rer als im „nor­ma­len“ Kon­zert: Zwang­los im Club ver­teilt, wo sich gera­de ein Plätz­chen zum Sit­zen fin­det. Viel geplau­dert wird auch in die­sem post­mo­der­nen Salon. Und dann doch ganz auf­merk­sam gelauscht. Denn das Ziel des Ver­eins der „Freun­de Jun­ger Musi­ker“, die das Kla­vier­kon­zert im Roxy orga­ni­sier­ten, war nicht, den Salon wie­der zu bele­ben. Son­dern ein neu­es, jün­ge­res Publi­kum für die Kla­vier­mu­sik zu erschlie­ßen und begeis­tern. Halb­wegs könn­te das funk­tio­niert haben, immer­hin waren – neben dem übli­chen Kon­zert­pu­bli­kum – auch eine Men­ge jun­ge Leu­te gekom­men. Ob das dau­er­haft wirkt, wird man sehen müs­sen. Auf jeden Fall ist so ein deut­lich ver­jüng­tes Publi­kum offen­sicht­lich wesent­lich begeis­te­rungs­fä­hi­ger, so offen­si­ve Bei­falls­be­kun­dun­gen sind sonst eher sel­ten.

Nicht ganz zu unrecht aller­dings haben sie im Roxy ihren Platz. Kai Schu­ma­cher hat nicht nur ein her­vor­ra­gen­des Pro­gramm ent­wi­ckelt, son­dern ist auch als Musi­ker so viel­sei­tig, dass er bei­spiels­wei­se pro­blem­los zwi­schen Geor­ge Gershwin und Felix Men­dels­sohn Bar­thol­dy hin und her wech­seln kann: Er begann mit einer klei­nen Aus­wahl der Men­dels­sohn­schen „Lie­der ohne Wor­te“, durch­setzt mit Songs und Pre­ludes von Gershwin. Und streu­te in die­se far­big gespiel­te Mischung dann auch noch ein paar pia­nis­tisch-vir­tuo­se Bear­bei­tun­gen von Rock­songs ein, die sei­ner Vir­tuo­si­tät viel Raum las­sen. Und sein Fai­ble für Rock blitzt immer wie­der auf – bis zuletzt: Als Zuga­ben spielt er Songs von den Foo Figh­ters und von Slay­er. Auch wenn man das fast gesagt bekom­men muss: Das ist ganz stark der Tra­di­ti­on der vir­tuo­sen Kla­vier­be­ar­bei­tung des 19. Jahr­hun­derts ver­pflich­tet, so dass die Schu­ma­cher­schen Adap­tio­nen sich naht­los ins klas­si­sche Rper­toire ein­fü­gen. Auch wenn er sehr kraft­voll don­nern kann, selbst mit dem klei­nen Flü­gel im Roxy. Und damit ist er auch schon wie­der direkt bei Franz Liszt, der auch mehr­mals im Pro­gramm auf­taucht – es hängt eben alles zusam­men.

Aber auch ande­re Pfa­de in die Gegen­wart steu­ert Schu­ma­cher an. Zum Bei­spiel mit einer Mini­mal-Music-Sec­tion, die – wie­der ein­mal – bei Liszt anfängt, den eher unbe­kann­ten medi­ta­tiv-repe­ti­ti­ven „Nuages gris“, und über Erik Satie bis zu Phil­ipp Glass führt, den Schu­ma­cher mit einer sehr leben­dig-sprü­hen­den Inter­pre­ta­ti­on des „Mad Rush“ vor­stellt. Nicht nur hier, immer wie­der merkt man: Nicht allein das Roxy hat sei­nen Spaß, auch Kai Schu­ma­cher freut sich von Her­zen an sei­ner Musik. Und das ist immer ein gutes Zei­chen.

(geschrie­ben für die Main­zer Rhein-Zei­tung.)

Franz Liszt lebt

Jubi­lä­en sind wohl nir­gends so wich­tig wie in der Musik­bran­che. Zu jedem halb­wegs run­den Todes- und Geburts­tag wer­den die Pro­gram­me geän­dert, jeder meint, unbe­dingt etwas pas­sen­des auf­zu­füh­ren (natür­lich aber nur, wenn es um „gro­ße“ Kom­po­nis­ten geht). In die Kate­go­rie „Jubi­lä­ums­hype“ passt auf den ers­ten Blick auch „The Liszt Pro­ject“, wie die Dop­pel-CD, die Pierre-Lau­rent Aimard – immer­hin einer mei­ner all­zeit-Lieb­lings­pia­nis­ten – im Früh­jahr für die Deut­sche Gram­mo­phon auf­ge­nom­men hat.1 Aber die­se zwei CDs erhe­ben sich aus der Mas­se der Pflicht-Erin­nun­gen. Aus einem Grund: Pierre-Lau­rent Aimard. Der hat näm­lich (natür­lich) nicht ein­fach ein paar bekann­te Liszt-Wer­ke zusam­men­ge­sucht und auf­ge­nom­men. Nein, er macht etwas ande­res – etwas bes­se­res: Er kon­fron­tiert eini­ge, weni­ge aus­ge­wähl­te Liszt-Kom­po­si­tio­nen mit ganz viel ande­rer Musik: Mit Wag­ner (Kla­vier­so­na­te As-Dur), mit Scria­bin und Ravel, aber auch mit Bar­tók, Berg, Mes­siaen und dem 1959 gebo­re­nen Mar­co Strop­pa. Und das hat ganz viel Sinn und Bedeu­tung – sonst wür­de er es ja nicht machen. Vor allem aber: Die­se Kon­fron­ta­ti­on stellt Liszt in ganz ver­schie­de­ne Tra­di­ti­ons­zu­sam­men­hän­ge, zeigt – auch uner­war­te­te – Bezie­hun­gen. Und ergibt ein wun­der­ba­res Gan­zes. Das Pro­gramm ist also – schon auf dem Papier – über­zeu­gend. Aber das ist nicht alles.

Ich bin jeden­falls gera­de total begeis­tert und fas­zi­niert von die­ser CD: Wahr­schein­lich ist das in der Sum­me und im Detail eine der bes­ten Kla­vier-CDs, die ich ken­ne (und besit­ze). Allein schon wegen der gran­dio­sen Auf­nah­me­tech­nik, die dem Flü­gel eine unver­gleich­li­che Prä­senz ver­schafft,2 eine gran­dio­se Detail­auf­lö­sung (auch im räum­li­chen – jeder Ton hat sei­nen eige­nen Platz!) hören lässt und ein­fach ver­blüf­fend rea­lis­tisch klingt.

Vor allem ist die CD aber groß­ar­tig, weil sie musi­ka­lisch begeis­tert. Und das liegt, wenn man es auf den Punkt brin­gen will, an der leben­di­gen Genau­ig­keit, mit der Pierre-Lau­rent Aimard arbei­tet (spie­len mag das kaum nen­nen). Gera­de die Ver­nüp­fung von unge­heu­er detail­ver­lieb­ter Genau­ig­keit, die wirk­lich an jedem Ton bis zur Ver­voll­komm­nung arbei­tet, mit der ago­gi­schen und phra­sie­ren­den Leben­dig­keit ist Aimards Mar­ken­zei­chen.3

Immer wie­der fas­zi­niert mich ja sei­ne Fähig­keit, nicht nur die for­ma­le Gestal­tung sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebe­ne voll­ko­men im Blick zu haben, son­dern vor allem sei­ne unmensch­lich genaue klang­li­che Dif­fe­ren­zie­rung (und ihre Dis­zi­pli­nie­rung), mit der er das Ton wer­den lässt.

Ein paar High­lights bis­her: Unbe­dingt die vita­le, fast strah­len­de Sona­te op. 1 von Alban Berg, die trotz ihrer Kon­zen­tra­ti­on ganz unge­zwun­gen und natür­lich wirkt.

Dann selbst­ver­ständ­lich die h‑moll-Sona­te von Liszt selbst:4 Kein pia­nis­ti­sches Bra­vour­stück, kei­ne tro­cke­ne Form­übung und auch kein Kampf musi­ka­li­scher Cha­rak­te­re: Das ist aus­ge­gli­chen, aber nie blass; ver­mit­telnd, aber alle Sei­ten und Aspek­te genau voll­zie­hen. Wahr­schein­lich ist es gera­de die­ser Aspekt, mög­lichst viel­sei­tig zu spie­len, mög­lichst vie­le Facet­ten eines Wer­kes leben­dig wer­den zu las­sen, ohne eini­ge oder weni­ge davon zu abso­lu­tie­ren, der mich hier und bei dem Rest der Auf­nah­me so anzieht. Das ist in der Pra­xis natür­lich nie ein­fach, weil so eine umfas­sen­der Inter­pre­ta­ti­ons­ver­such oft reich­lich blass und lang­wei­lig wirkt und nur den Ein­druck erweckt, der Inter­pre­ta­ti­on wol­le es um jeden Preis ver­mei­den, einen Stand­punkt zu bezie­hen. Davon kann hier aber kei­ne Rede sein.

Auch die/​das (?) „Tan­ga­ta manu“ von Mar­co Strop­pa ist beein­dru­ckend: Die­se Musik passt fast naht­los zwi­schen Liszts Vogel­pr­edikt des Franz von Assi­si aus den „Année de Pélè­ri­na­ge, Band II und den Was­ser­spie­len der Vil­la Este (aus Band III). Das ist auch eine Form, moder­ne und zeit­ge­nös­si­sche Musik dem Hörer nahe­zu­brin­gen – ganz ohne gro­ßes didak­ti­sches Klim­bim, son­dern eben ein­fach als Musik, die man als Wei­ter­ent­wick­lung klassischer/​romantischer Model­le hören kann.5 Über­haupt ist der zwei­te Teil/​die zwei­te CD fast ein ein­zi­ger Klang­rausch, durch­weg auf höchs­tem Niveau. Auch Ravels „Jeux d’eau“ sind schlicht gran­di­os.

Was mich (wie­der ein­mal) aber ziem­lich abschreckt, ist die Gstal­tung der CD. Abge­se­hen davon, dass sie über­säht ist mit Auf­merk­sam­keits­ha­schern, mit meh­rern Auf­kle­bern beklebt, ver­steckt sie gera­de die wich­ti­gen Infor­ma­tio­nen – näm­lich die Spiel­fol­ge – ziem­lich gut. Dafür sind noch ein paar nichts­sa­gen­de Sät­ze und über­schwäng­li­ches Lob drauf­ge­druckt wor­den … Immer­hin, der Kom­po­nis­ten­na­me ist ein biss­chen grö­ßer als der Aimards – auch kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit, bei vie­len CDs scheint der Inter­pret heu­te (zumin­dest typo­gra­fisch) wich­ti­ger zu sein als der Kom­po­nist. Dafür aber in einer reich­lich selt­sa­men, eigent­lich unaps­sen­den Schrift …

Scha­de auch, dass die Deut­sche Gram­mo­phon, die doch so stolz auf ihre Tra­di­ti­on ist, dem kein ver­nünf­ti­ges Bei­heft mehr spen­diert: Ein klit­ze­klei­nes Inter­view mit dem Pia­nis­ten ist da drin – sonst nichts. Kei­ner­lei mehr oder weni­ger ana­ly­ti­schen Anmer­kun­gen, kei­ne (musik-)historischen Ein­ord­nun­gen, nichts. So kann man das Niveau auch immer wie­der unter­bie­ten …

Davon mal abge­se­hen (und das merkt man beim Hören ja glück­li­cher­wei­se nicht): Eine CD zum glück­lich Wer­den. Ein­deu­tig.

The Liszt Pro­ject. Pierre-Lau­rent Aimard spielt Bar­tók, Berg, Mes­siaen, Ravel, Scria­bin, Strop­pa, Wag­ner und Liszt. Deut­sche Gram­mo­phon 2011.

Show 5 foot­no­tes

  1. War­um das als „Pro­jekt“ ver­kauft wird, ist mir voll­kom­men unklar – abge­se­hen davon, dass „Pro­jekt“ irgend­wie modern und hip klingt (klin­gen soll). Schließ­lich ist das nichts ande­res als die Stu­dio­ver­si­on eines erprob­ten Kon­zert­pro­gramms.
  2. Das ist – obwohl das Kla­vier ja sozu­sa­gen ein Stan­dard­in­stru­ment ist – alles ande­re als die Regel!
  3. Sei­ne Auf­nah­me der Bach­schen „Kunst der Fuge“ weist – in ganz ande­rem Zusam­men­hang – eben­falls genau die­se Qualität(en) auf.
  4. Sehr sinn­voll übri­gens auch, die h‑moll-Sona­te an den Schluss des ers­ten Teils zu stel­len – das Ende, die letz­ten Töne, mit denen auch die ers­te CD aus­kling, wir­ken so ein­fach gran­di­os …
  5. Wobei der Umstand, dass Liszt (nicht nur) hier als fast pro­to-moder­ner Kom­po­nist gezeigt wird, sozu­sa­gen die ande­re Sei­te die­ser Medail­le ist.

Der Mann mit der Schmetterlingshand

Er hat Hän­de wie ein Schmet­ter­ling: Nicht nur auf den Tas­ten schwe­ben sie, in jeder Pau­se, vor jedem Ein­satz set­zen sie zu einem klei­nen Flug durch die Luft an. In jede Pau­se schwebt die Hand von den Tas­ten in den Luft, die Fin­ger flat­tern und schwin­gen wie ein Schmet­ter­ling von Blü­te zu Blü­te, bevor sie wie­der ein – vor­über­ge­hen­des – Ziel fin­den und sich auf den Tas­ten nie­der­las­sen. Olli Mus­to­nen ist ein fas­zi­nie­ren­der Pia­nist. Und nicht nur wegen sei­ner Fin­ger­tän­ze.

Alles kommt aus ihm. Nicht, weil er die Musik für sei­nen Auf­tritt im Schloss Waldt­hau­sen umformt. Son­dern weil er sie sich voll­kom­men zu eigen macht. Ob Robert Schu­mann, Alex­an­der Skrja­bin, Rodi­on Scht­sche­drin oder Bohus­lav Mar­tinů: Jede Musik, die er in Angriff nimmt, zeich­net sich schließ­lich durch unge­heu­re Dring­lich­keit aus. Das muss er jetzt spie­len, genau so, genau in die­sem Moment, es drängt gera­de­zu aus ihm her­aus. Obwohl natür­lich auch Mus­to­nen schon vor Mona­ten genau fest­ge­legt hat, was er im Schloss Waldt­hau­sen, an die­sem spe­zi­el­len Abend, beim Main­zer Musik­som­mer, spie­len wird. Und doch ist in sei­nem Spiel eben immer wie­der die Fri­sche, die neu­gie­ri­ge Begeis­te­rung des Ent­de­ckers zu hören: Alle sei­ne Töne atmen Unmit­tel­bar­keit. Ob das die Frucht eines Mönchs oder eines Magi­ers ist, bleibt unent­schie­den.

Wie ein Schmet­ter­ling plötz­lich auf­taucht, so unmit­tel­bar wech­selt er die Klang­far­be, wenn es nötig ist. Das heißt aber nicht, dass er aus­schließ­lich sanft und zurück­hal­tend vor­sich­tig spie­len wür­de: Sobald es nötig wird – und es erscheint ihm öfter nötig, als man glau­ben möch­te – wird aus der Schmet­ter­lings­hand ein jagen­der Adler: Der kreist noch kurz über der Tas­ta­tur, stürzt dann im tod­si­che­ren Sturz­flug rapi­de hin­ab, trifft natür­lich unwei­ger­lich die rich­ti­ge Tas­te. Aber auch den rich­ti­gen Ton: Mus­to­nen ist genau, was sei­ne Klang­ge­stal­tung angeht, über­aus genau.

Und immer wie­der fliegt der Schmet­ter­ling dazwi­schen – Mus­to­nen lockert die Hand und die Fin­ger für neue Aben­teu­er. Ob das in den satt­sam bekann­ten Kin­der­sze­nen Schu­manns ist oder den nur sel­ten gespiel­ten Prä­lu­di­en & Fugen von Scht­sche­drin: Klang­kom­bi­na­ti­on ist sein gro­ße The­ma, am bes­ten zu erfah­ren in den zart abge­tön­ten Akkor­den. Kein Wun­der: Im Zen­trum des Abends steht schließ­lich Skrja­bin, der gro­ße Klang­künst­ler. Mus­to­nen beweist das zunächst mit den Pré­ludes op. 13 und 16, und dann vor allem mit dem spä­ten „Poè­me“, „Vers la flam­me“. Wirk­lich als ein sprach­lo­ses Gedicht erklingt das, unver­gleich schön und berau­schend. Wie ein Schmet­ter­ling eben: Der Flug sieht wie ein Tau­meln aus, ist aber schön und ziel­ge­rich­tet. Und so spielt auch Mus­to­nen: Die Form der Musik ist oft kaum erkenn­bar, aber das Erleb­nis der Rein­heit und Frei­heit des Klangs über­deckt alle Män­gel.

(geschrie­ben für die Main­zer Rhein-Zei­tung.)

An den Grenzen des Klangs

Die Ener­gie im Roten Saal der Musik­hoch­schu­le ist fast mit den Hän­den zu grei­fen. Dabei sind es bloß die Fin­ger der kana­di­schen Pia­nis­tin Cathe­ri­ne Vickers, die die­se Ener­gie frei­set­zen. Und eigent­lich war es ganz harm­los als „Kla­vier­abend“ ange­kün­digt, in der Mit­te des dies­jäh­ri­gen Mainz­Mu­sik-Fes­ti­vals, das die Musik­hoch­schu­le mit Unter­stüt­zung der Stre­cker-Dae­len-Stif­tung aus­rich­tet. Aber es ist viel mehr als ein „nor­ma­les“ Kon­zert gewor­den: Vickers unter­nimmt – mit gera­de einemal drei Kom­po­si­tio­nen – eine Welt­rei­se, eine Expe­di­ti­on in die unzähl­ba­ren Mög­lich­kei­ten des Kla­vier­klangs und sei­ner kom­po­si­to­ri­schen Gestal­tung im 20. Jahr­hun­dert. Sie ist mehr als gut vor­be­rei­tet für die­se Ent­de­ckungs­fahrt. Mit makel­lo­ser Prä­zi­si­on und unnach­gie­bi­ger Aus­dau­er, unbe­ding­ter Kon­zen­tra­ti­on und höchs­ter Sorg­falt macht sie sich auf den Weg. Aus­gangs­punkt ist das Ame­ri­ka kurz nach 1900, in der Sona­ta No. 1 von Charles Ives, dem fast hun­dert Jah­re alte Klas­si­ker der moder­nen Kla­vier­mu­sik. Für die­sen Abend bleibt das noch die „tra­di­tio­nells­te“ Form – aber auch die ist bei Ives nur noch in Res­ten, in Bruch­stü­cken erkenn­bar. Ein gro­ßes Pan­ora­ma vol­ler Dring­lich­kei­ten, gespickt mit rhyth­mi­schen und melo­di­schen Ver­satz­stü­cken sowie Anklän­gen macht Vickers dar­aus. Schon vom ers­ten Beginn an war dabei vor allem die Prä­zi­si­on – und die Begeis­te­rung der Pia­nis­tin für die­se Musik – zu spü­ren. Und sie soll­te bis in den Schluss der Zuga­be, dem Wal­zer aus Schön­bergs op. 23, zu hören sein.

Auch bei Lui­gi Nonos „… sof­fer­te onde ser­e­ne …“ bleibt sie ein wesent­li­ches Moment von Vickers Inter­pre­ta­ti­on. 1976 für Kla­vier und Ton­band mit im Ton­stu­dio bear­bei­te­ten Kla­vier­klän­gen kom­poi­n­ert, führt Nonos Kla­vier­stück die Klang­for­schung am Flü­gel mit enor­men Erre­gungs­po­ten­zi­al in die Wei­te des Raums.

Die­sen Weg schlägt auch Nico­laus A. Hubers „Dis­ap­pearan­ces“ ein: Eine Stu­die, die das Ver­schwin­den unter­sucht, die Auf­lö­sung der Klän­ge in den Blick nimmt – und das auch tran­szen­diert. Ein fei­ner, hauch­zart ver­hal­len­der Beginn, in den ein­zel­ne Töne explo­die­ren, die sich zu Hau­fen ver­dich­ten, zuneh­mend mani­pu­lier­te Klän­ge, von insis­tie­rend häm­mern­den Repe­ti­tio­nen unter­bro­chen – damit lässt Cathe­ri­ne Vickers mit bren­nen­der Klar­heit eine ganz unmit­tel­bar auf­wüh­len­de und ver­schre­cken­de Musik ent­ste­hen. Bei all dem ver­bis­se­nen Boh­ren in Details und Klang­nu­an­cen schafft sie es aber tat­säch­lic auch noch, die­ser Musik Offen­heit und vor­sich­ti­ge Unbe­stimmt­heit mit­zu­ge­ben: Eine wun­der­bar ener­gie­rei­che, kom­ple­xe Viel­falt – und alles mit ledig­lich zehn Fin­gern aus dem Flü­gel ent­lockt.

(geschrie­ben für die Main­zer Rhein-Zei­tung.)

Liszt zum Zweihundertsten

2011 als Jubi­lä­ums­jahr – sein Geburts­tag jährt sich zum 200. Mal – war der offen­sicht­li­che Anlass für die­se Buch: Wolf­gang Döm­lings klei­ne Bio­gra­phie „Franz Liszt“. Erschie­nen ist das in der von mir grund­sätz­lich sehr geschät­zen Rei­he „Wis­sen“ des Beck-Ver­lags. Aber da passt die­ses Buch kaum rein – im Gegen­satz zu ande­ren dort erschie­nen Bänd­chen hat es mich sehr ent­täuscht, obwohl es in der Taschen­buch­ko­lum­ne der Süd­deut­schen Zei­tung sehr direkt emp­foh­len wur­de. Und zwar war ich sowohl inhalt­lich als auch for­mal und sprach­lich ziem­lich ent­täuscht.

Fan­gen wir mit dem pin­ge­ligs­ten an, den For­ma­la­li­tä­ten: Ent­ge­gen der Rei­hen-Gepflo­gen­hei­ten gibt es hier über­haupt kei­ne ver­nünf­ti­gen Lite­ra­tur­hin­wei­se: Döm­ling erwähnt den MGG-Arti­kel – und genau ein Buch.1 Das war’s auch schon – sehr ent­täu­schend. Und auch wenig hilf­reich. Es gibt doch bestimmt auch gute musik­wis­sen­schaft­li­che, werk­ana­ly­ti­sche Lite­ra­tur zu Liszt, die dem Leser etwas wei­ter­hel­fen könn­te.2 Damit hängt viel­leicht auch das inhalt­li­che Pro­blem zusam­men … – aber dazu spä­ter noch etwas.

Sprach­lich fal­len sofort die Satz-Unge­tü­me oder ‑Unge­heu­er auf: Döm­ling häuft näm­lich ger­ne in einem Satz alles an, was ihm so an Infor­ma­ti­on über den Weg läuft – mit unzäh­li­gen Ein­schü­ben, Appo­si­tio­nen, Rela­tiv­sät­zen und so wei­ter. Und irgend­wann, das ist bei ihm gar nicht sel­ten, ist der ursprüng­li­che Satz gar nicht mehr zu erken­nen. Ob der tro­cke­ne, sprö­de Stil (der nur auf den letz­ten Sei­ten, wo es um Liszts Spät­werk geht, eini­ge Fun­ken schlägt) als Plus- oder Minus­punkt zu wer­ten ist, bleibt sicher Geschmack­sa­che. Ich fand es oft arg dürr.

Und inhalt­lich? Das hängt durch­aus wie­der mit der sprach­li­chen Gestal­tung zusam­men. Döm­ling gibt sich ger­ne etwas bes­ser­wis­se­risch, etwas pater­na­lis­tisch beleh­rend erzählt er den Lebens­weg in gro­ben (oft nur sehr bruch­stück­haf­ten) Umris­sen, greift ger­ne mal auf das „wie bekannt“ zurück. Dabei hat er offen­bar durch­aus den Lai­en im Blick, vie­les musik­fach­li­ches wird von ihm näm­lich gut und knapp erklärt, die fach­li­chen Vor­aus­set­zun­gen hält er aus­ge­spro­chen nied­rig: Selbst eigent­lich bana­le Din­ge wie das Trans­po­nie­ren oder vom-Blatt-Spie­len erklärt er mehr­fach (aber wer eine Vir­tuo­sen- & Kom­po­nis­ten­bio­gra­phie liest, wird solch ele­men­ta­re Sach­ver­hal­ten doch wohl unge­fähr parat haben …). Das sieht dann z.B. mal so aus:

1834 begeg­ne­te Liszt der Schrift­stel­le­rin Geor­ge Sand (nom de plu­me für Auro­re Dude­vant), einer Frau, deren Kli­schee­bild in der Nach­welt, beson­ders der deut­schen, recht unfreund­lich ist: als hosen­tra­gen­de, zigar­ren- und män­ner­ver­schlín­gen­de Eman­ze, die vie­le schlech­te Roma­ne geschrie­ben hat und nur als Pfle­ge­rin-Muse des unglück­li­chen Cho­pin in Erin­ne­rung bleibt. (Eine der mit ste­ter Regel­mä­ßig­keit auf­tau­chen­den Kul­tur­ver­an­stal­tun­gen in deut­schen Städ­ten heißt „Ein Win­ter auf Mal­lor­ca“, mul­ti­me­di­al gestal­tet mit einer Lesung aus Sands gleich­na­mi­gem Buch, mit Licht­bil­dern und mit Cho­pins Musik – dar­un­ter natür­lich das „Regen­trop­fen-Pré­lude“, das frei­lich als sol­ches nur in der popu­lä­ren Über­lie­fe­rung iden­tifi­zier­bar scheint …) Sand und Cho­pin lern­ten sich übri­gens bei Liszt ken­nen. Der Win­ter auf Mal­lor­ca 1838/​1859, wor­un­ter man sich heu­te viel­leicht etwas „Rornan­ti­sches“ vor­stellt, war vol­ler mehr oder weni­ger schreck­li­cher Erleb­nis­se. (Welch selt­sa­me Idee ja auch, mit zwei Kin­dern und einem Pia­nis­ten und Kom­po­nis­ten, Groß­stadt­mensch und krank dazu, sich im Win­ter auf eine unwirt­li­che und ungast­li­che Insel zurück­zu­zie­hen!) 3

Gut gelingt Döm­ling aber auch man­ches, vor allem die (musik-)historische Situ­ie­rung und Ein­ord­nung Liszts, sei­ner Kon­zert­pra­xis und sei­ner Kom­po­si­tio­nen. Das nimmt zar nur sehr wenig Raum ein, aber immer­hin nimmt er sich die Zeit und den Platz – ger­ne auch mit ent­spre­chen­den Rück­bli­cken, zu klar soll es ja nicht wer­den – zu schil­dern, was an Listzs Trei­ben Beson­der­heit oder Nor­ma­li­tät im 19. Jahr­hun­dert war – das ist ein sehr guter Zug.

Im gan­zen wirkt das aber auf mich noch arg unfer­tig, wie eine Vor­stu­die für ein „rich­ti­ges“ Buch: Döm­ling springt flei­ßig hin und her, ohne das immer aus­rei­chend deut­lich zu machen, beginnt irgend­wie immer wie­der neu. Deut­lich wird das vor allem in sei­ner Dar­stel­lung der 1830er: Liszts Kon­zert­kar­rie­re darf hier unzäh­li­ge Male neu begin­nen – aber über das wie, das was und vor allem das war­um erfährt man dann doch herz­lich wenig. Über­haupt, der Kon­zert­künst­ler Liszt ist hier total unter­be­lich­tet, gera­de was die zeit­ge­nös­si­sche Rezep­ti­on angeht, aber auch, was sei­ne eigent­li­chen Unter­neh­mun­gen betrifft.
Dazwi­schen, in die­ser Mate­ri­al­samm­lung oder die­sem Stein­bruch, ste­hen dann doch immer wie­der klu­ge Sät­ze, die Ein­sicht und Ein­füh­lungs­ver­mö­gen ver­ra­ten und den Leser wie­der ver­söh­nen.4 Scha­de nur, dass es so weni­ge blei­ben und dass sie so ver­streut sind. Sei­ne Andeu­tun­gen haben aber irgend­wie Metho­de: Das geschieht immer auf ähn­li­che Wei­se, wie z.B. Liszts Bezie­hung zu Wag­ner:

Cosi­mas detail­lier­te Tage­buch­no­ta­te sagen dazu mehr als genug.5

Toll, dass Döm­ling das weiß. Ich hät­te es auch ger­ne erfah­ren …

Mein Haupt-„Problem“ bei der Lek­tü­re des bio­gra­phi­schen Abris­ses aber: Mir scheint, er hat kei­ne wirk­li­che Deu­tung des Lebens, kei­ne Inter­pre­ta­ti­on des Lebens­we­ges – des­we­gen wirkt das so aka­de­misch, weil er über gro­ße Tei­le des Tex­tes nur die äuße­ren Sta­tio­nen abhan­delt, die Psy­cho­lo­gie des Kom­po­nis­ten aber kei­ne (bzw. nur eine klei­ne) Rol­le spielt. Dazu kommt dann noch eine eher ver­wun­der­li­che Zurück­hal­tung, was die Beschrei­bung und/​oder Ana­ly­se der Musik Liszts angeht – das ist oft erschre­ckend und ärger­lich kurz, ober­fläch­lich und nichts­sa­gend. Von einem Musik­wis­sen­schaft­ler, der sich schon län­ger mit Liszt beschäf­tigt, hät­te ich gera­de in die­sem Punkt deut­lich mehr erwar­tet.

Also, in mei­nen Augen kei­ne emp­feh­lens­wer­te Bio­gra­phie, auch im Jubi­lä­ums­jahr nicht: Wer noch kei­ne Kennt­nis­se der Bio­gra­phie Liszts hat, wird sich hier­mit wohl schwer­tun. Und war­um die Süd­deut­sche das emp­feh­lens­wert fand, erschloss sich mir über­haupt nicht.

Wolf­gang Döm­ling: Franz Liszt. Mün­chen: Beck 2011 (Wis­sen). ISBN 978−3−406−61195−7. 112 Sei­ten.

Show 5 foot­no­tes

  1. Der MGG-Arti­kel von Det­lef Alten­burg ist durch­aus zu recht erwähnt, der ist schon sehr gut. Und dass Döm­ling sich bei Bur­gers Bild- und Doku­ment­band flei­ßig bedient hat (natür­lich nur, was die Tex­te angeht, Bil­der gibt es in die­ser Rei­he ja nicht), merkt man im Text deut­lich.
  2. Ich ken­ne mich da nicht wirk­lich aus – aber Döm­ling ist ja mit Werk­ana­ly­sen oder wenigs­tens ‑beschrei­bun­gen auch ärger­lich extrem zurück­hal­tend.
  3. S. 34f. – so steht das wirk­lich mit­ten in einer Liszt-Bio­gra­phie. Und das ist nicht die ein­zi­ge der­ar­ti­ge Stel­le, sol­che und ähn­li­che Sei­ten­hie­be gibt es unzäh­li­ge …
  4. Zum Bei­spiel die weni­gen, knap­pen, aber m. E. sehr genau tref­fen­den Sät­ze zur Hei­mat-Idee Liszts, zu sei­ner Bezie­hung zu Ungarn – das hät­te durch­aus Poten­zi­al zur Aus­ar­bei­tung gehabt …
  5. Und damit ist Döm­ling auch fast am Ende sei­ner knap­pe Schil­de­rung der Begeg­nung Wag­ner-Liszt im Win­ter 1882/​83, S. 100.

Routine und lichte Momente: Ein Klavierabend alter Schule

Man merkt es an jeder Bewe­gung, vom ers­ten Auf­tre­ten über das Platz­neh­men bis zum letz­ten Dank: Ivan Mora­vec ist schon lan­ge im Geschäft. Über fünf­zig Jah­re ist der tsche­schi­che Pia­nist schon unter­wegs – immer am Kla­vier. Auch in Mainz, der SWR hat ihn für das Febru­ar-Kon­zert der Rei­he „Inter­na­tio­na­le Pia­nis­ten“ ver­pflich­tet. Und so sehr man ihm die Rou­ti­ne des Auf­tre­tens auch anmerkt, die Musik kann er davon frei­hal­ten. Zumin­dest teil­wei­se.

Denn sein wei­te Tei­le der Musik­ge­schich­te umfas­sen­des Pro­gramm – von Bach bis Debus­sy reicht der Bogen – prä­sen­tiert er mit sehr unter­schied­li­chem Geschick und sehr unter­schied­li­chem Gelin­gens­gra­den. Johann Sebas­ti­an Bachs Chro­ma­ti­sche Phan­ta­sie und Fuge ist ohne Zwei­fel ein eher sprö­des, abs­trak­tes Stück. Aber so lang­wei­lig wie hier muss es nicht unbe­dingt sein. Doch auch Debus­sys klei­ne Suite „Pour le pia­no“ ver­rät im Frank­fur­ter Hof kein ein­zi­ges Geheim­nis, zeigt nichts, was nicht schon der Blick auf die Noten klar machen wür­de, und ist – trotz der geschwin­den Tem­pi und der siche­ren Nuan­cie­rung – ein­fach nur lang­wei­lig.

Aber dann, nach der frü­hen Pau­se, ist alles anders. Dabei sitzt genau der sel­be Pia­nist am Flü­gel, dabei sind es die sel­ben Spiel­wei­sen und Inter­pre­ta­ti­ons­tech­ni­ken, die Mora­vec benutzt. Nur hier, bei den Kla­vier­wer­ken Cho­pins, ist das pas­send und vor allem inspie­riert. Gut, das zwei­te Scher­zo spie­len jün­ge­re Pia­nis­ten dras­ti­scher, tra­gi­scher und stär­ker kon­tu­riert. Aber zu wirk­li­chen Groß­ta­ten ist Mora­vec eben durch­aus auch fähig. Die As-Dur-Polo­nai­se beweist das. Wor­an es liegt, ist unklar – aber irgend etwas an die­ser Musik befä­higt Mora­vec nun doch zu mehr als Rou­ti­ne: Jetzt auf ein­mal tas­tet er sich wirk­lich vor ins Inne­re der Musik, in ihrem Ideen- und Gefühls­kos­mos – auch wenn da vie­le dunk­le Stel­len lau­ern. Kein Wun­der, dass das Fun­da­ment die­ser so harm­los Polo­nai­se-Fan­tai­sie beti­tel­ten Musik unsi­cher abbrö­ckelt – der Zusatz „Fan­tai­sie“ weist ja schon dar­auf hin: Mit über­lie­fer­ten Mus­tern und kla­ren Vor­ga­ben ist es in die­ser unbe­dingt sub­jek­tiv und indi­vi­du­el­len Schöp­fung nicht mehr weit her. Aber ihre inne­re Span­nung und den dra­ma­ti­schen Sinn, ihr eige­ner Klang und bestän­di­ge Unbe­stän­dig­keit – Mora­vec ver­wirk­licht alles, was zu einer voll­ende­ten Inter­pre­ta­ti­on not­wen­dig ist.

Wie er die­se Polo­nai­se hier zau­ber­haft deut­lich und genau dar­stellt, wie er mit traum­wand­le­ri­scher Sicher­heit ihren ganz eige­nen Gehalt für sich erfasst und in die­sem Moment zu Klang wer­den lässt: Das ist ein­fach groß­ar­tig, span­nend und inspi­rie­rend – und alles ander als Rou­ti­ne. Auch nach über fünf­zig Jah­ren Kon­zert­da­sein.

(geschrie­ben für die Main­zer Rhein-Zei­tung)

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