Wer immer (noch) Zwei­fel hat, dass Jazz eine Kunst ist, der höre sich mal Simon Naba­tovs neu­es­te Solo-CD an. Da spielt der rus­sisch­stäm­mi­ge Pia­nist – einer der größ­ten Ken­ner und Kön­ner im zeit­ge­nös­si­schen Jazz (und nicht nur unter den Pia­nis­ten, auch wenn er über eine aus­ge­spro­chen for­mi­da­ble Tech­nik ver­fügt), auch wenn er viel­leicht nicht der krea­tivs­te Musi­ker ist. Das merkt man schon an der Viel­falt sei­ne Pro­jek­te – und der FIn­ger­fer­tig­keit, mit der er sich den ver­schie­dens­ten Sti­len und Aus­druck­wei­sen anpasst (allein schon die ver­schie­de­nen Unter­neh­mun­gen in wech­seln­den Kon­stel­la­tio­nen mit Nils Wogram, von sei­nen Solo­pro­jek­ten ganz zu schweigen). 

Jetzt hat er sich die Musik des eher ver­ges­se­nen Pia­nis­ten Her­bie Nichols (hier eine klei­ne Wür­di­gung von Hans-Jür­gen Schaal)vor­ge­nom­men: „Spin­ning Songs“ heißt die bei Leo-Records erschie­ne­ne Auf­nah­me. Und zeigt wie­der ein­drück­lich, was Naba­tov drauf hat: Das ist eine der kunst­volls­ten Pia­no-Jazz-Plat­ten nicht nur der letz­ten Zeit, son­dern über­haupt. Hier tref­fen zwei Grö­ßen auf­ein­an­der: Ein genia­ler Kom­po­nist und ein schöp­fe­ri­scher Pia­nist. Denn Naba­tov führt vor, was in der Musik Her­bie Nichols drin steckt. Und was ihm dazu ein­fällt – die Gren­zen sind sehr, sehr fließend. 

Viel­leicht liegt es an der Ähn­lich­keit der bei­den Musi­ker, dass das hier so toll funk­tio­niert: Bei­des sind Jazz-Musi­ker, die sich stark der „klas­si­schen“ Musik des 20. Jahr­hun­derts öffne(te)n und das auch in ihrer Musik hören las­sen. Das pas­siert bei Naba­tov sowie­so öfters, bei Nichols liegt es nahe, da auch er sich von zeit­ge­nös­si­chen Kom­po­nis­ten wie Bar­tók und Satie beein­flus­sen ließ. Jetzt kom­men noch Debus­sy, Lige­ti und vie­les ande­re hin­zu. Und es bleibt doch Jazz: Ein gar nicht so klei­ner Rest Unfer­tig­keit, eine deut­li­che Pri­se Spon­ta­nei­tät ist immer zu hören. Die­se Offen­heit und Jetz­ge­bun­den­heit bei gleich­zei­ti­ger Dich­te des Kla­vier­sat­zes und Fül­le der Ideen – die­se Kom­bi­na­ti­on ist typisch für Simon Naba­tov (und ziem­lich einzigartig).

Gleich die ers­ten bei­den Stü­cke der CD las­sen das schon sehr deut­lich hören: Die in man­cher Hin­sicht etü­den­haf­te (Lige­ti!) wir­ken­de „2300 Skid­doo“ und vor allem das weit aus­grei­fen­de, sich manch­mal auch etwas ver­lie­ren­de, hin und her wen­den­de Moment des „Spin­ning Song“ zei­gen Naba­tov auf der Höhe sei­ner Kunst, sei­ner pia­ni­sti­chen Fer­tig­keit und sei­nes Ein­falls­reich­tums. Und wie hin­ge­bungs­voll er sich dann „Lady Sings the Blues“, Nicols bekann­tes­ter Kom­po­si­ti­on (weil Bil­lie Holi­day sie sang), wid­met, wie fein und dann auch wie­der kraft­voll er das aus­lo­tet – ein­fach wun­der­bar, ein ech­ter Hör­ge­nuss, der in sei­ner Viel­schich­tig­keit vie­les ent­de­cken lässt.

Immer aber gilt dabei: Naba­tov pflegt einen sehr frei­en Umgang mit der Musik Her­bie Nichols. Er denkt sie wei­ter, enti­ckelt sie spie­lend wei­ter – so dass das am Ende eben durch­aus eine ech­te Naba­tov-CD ist. Er macht das hier auch nicht zum ers­ten Mal, 2009 hat er schon einen Video-Mit­schnitt eines Kon­zer­tes mit die­sem Mate­ri­al ver­öf­fent­licht. Und trotz­dem ist das auch auf die­ser CD noch (wie­der?) frisch, noch sprü­hend vor Ent­de­cker­geist, manch­mal auch so sprü­hend vor Ein­fäl­len und Idee, die alle unter­ge­bracht wer­den (müs­sen), dass es leicht etwas über­la­den wir­ken könn­te. Aber Naba­tov ist dann doch Pia­nist und Musi­ker genug, das gera­de noch zu bän­di­gen – so weit, dass der Über­fluss ganz rich­tig erscheint und die Wild­heit nur so weit gezähmt wird, dass es Ohren­kom­pa­ti­bel wird. Zumin­dest so eini­ger­ma­ßen – aber garan­tiert für offe­ne, spaß­freu­di­ge Ohren.

Simon Naba­tov: Spin­ning Songs of Her­bie Nichols. Leo Records LR 632, 2012.