Die Jubiläums-Dreifach-CD der King’s Singers mit dem schönen und passenden Titel Gold habe ich schon besprochen: klick. Es ist wirklich eine schöne und umfassende Dokumentation der Kernfähigkeiten der englischen Boy Group, auch nach der jüngsten Besetzungsänderung immer noch mit den alten klanglichen (Gold-)Qualitäten. Es ist ziemlich egal, ob sie Renaissance-Motetten oder raffinierte Arrangements von Pop-Songs singen. Alles, was sie sich vornehmen, machen sie sich unabdingbar zu eigen. Und so klingen dann fünf Jahrhunderte Musik doch ziemlich gleich – wie fünf Jahrzehnte King’s Singers eben.
The King’s Singers: Gold. Signum Records 2017. 67:37 + 61:15 + 65:37 Minuten.
Liebe für den und im Gesang
Ein Nachbar-Projekt sind die “King’s Men”, die am King’s College studieren (im Gegensatz zu den King’s Singers …). Ihr Album ist tatsächlich ganz liebreizend — es trägt ja auch den Titel Love from King’s. Zu den Liebeslied-Klassikern habe ich auch schon etwas (für die Chorzeit) geschrieben: klick. Hier bringen die „King’s Men“ die Musik und den Stimmenklang immer wieder wirklich zum Funkeln und auch fast zum ekstatischen Tanzen – so wie man sich auch die Liebe wünscht. Wie die „King’s Men“ hier mit eher bescheidenen musikalischen Mitteln einen enormen akustischen und emotionalen Raum und eine geradezu überwältigende klangliche Fülle zaubern, das ist einfach wunderbar.
The King’s Men: Love from King’s. The Recordings of King’s College Cambridge 2018. 47:22 Minuten.
Wiederentdeckte Monster
Die Musical Monsters sind eigentlich gar keine neue Musik. Aufgenommen wurde das nämlich schon 1980 bein Jazzfestival Willisau. Dessen Chef Niklaus Troxler hat die Bänder gut aufgehoben. Und Intakt konnte sie jetzt, nach umständlicher Rechteabklärung, endlich veröffentlichen. Zu hören ist ein Quintett mit großen Namen: Don Cherry, Irène Schweizer, Pierre Favre, John Tchicai und Léon Francioli, das es so sonst nicht zu hören gibt. Und tatsächlich merkt man das doch recht deutlich, dass hier große Meister*innen am Werk sind, auch wenn sie sonst nicht zusammen spielten. Aber Musical Monsters ist eine ausgelassene, fröhliche, intensive Musik. Selbst wenn das technisch nicht immer perfekt sein mag: Es ist lebendig. Und das ist dann doch irgendwie die Hauptsache.
Don Cherry, John Tchicai, Irène Schweizer, Léon Francioli, Pierre Favre: Musical Monsters. Intakt Records CD 269, 2016. 59:28 Minuten.
Eine kleine Intakt-Auslese aus dem zweiten Halbjahr — dank des vortrefflichen Abonnements bekomme ich ja immer alle Veröffentlichungen postwendend geliefert:
Musikalische Monster
Die Musical Monsters sind eigentlich gar keine neue Musik. Aufgenommen wurde das nämlich schon 1980 bein Jazzfestival Willisau. Dessen Chef Niklaus Troxler hat die Bänder gut aufgehoben. Und Intakt konnte sie jetzt, nach umständlicher Rechteabklärung, endlich veröffentlichen. Zu hören ist ein Quintett mit großen Namen: Don Cherry, Irène Schweizer, Pierre Favre, John Tchicai und Léon Francioli, das es so sonst nicht zu hören gibt. Am erstaunlichsten fand ich, wie wenig man die 36 Jahre, die die Aufnahme alt ist, der Musik anhört. Die vier großformatigen, größtenteils freien Improvisationen — es gibt ein paar melodisch fixierte Ankerpunkte, die als festgelegte Scharniere zwischen Solo- und Kollektivimprosiationen dienen — klingen erstaunlich frisch, ja fast zeitlos: Die intuitive Spontaneität und Intensität ist ziemlich fesselnd. Vor allem, weil sie von allem etwas bietet — verspielte Faxen, intime Momente, packende Energien … Und weil die fünf ziemlich gleichwertige, gleichermaßen faszinierende Musikerinnen sind, die sich immer wieder zu großen Momenten innerer Stärke aufschwingen, die in erstaunlicher Dichte aufeinander folgen und zuweilen sogar echtes Pathos erzeugen. Besonders faszinierend fand ich das in der zweiten Improvisation, mit über zwanzig Minuten auch die längste, in der sich großartige Soli (vor allem Tchicai sticht hier hervor) und spannende, in ihrer fragenden Offenheit ungemein fesselnde Gruppenimprovisationen ballen.
Don Cherry, John Tchicai, Irène Schweizer, Léon Francioli, Pierre Favre: Musical Monsters. Intakt Records CD 269, 2016. 59:28 Minuten.
Tiefe Gedächtnismusik
Für Deep Memory hat sich Barry Guy, der die CD im Trio mit Marilyn Crispell und Paul Lytton aufnahm, von den Bildern Hughie O’ Donoghues zu Kompositionen anregen lassen. Die sieben Stücke tragen die Titel der Bilder: Sleeper, Dark Days, Fallen Angeld oder Silenced Music heißen sie etwa. Das sind aber keine musikalischen Ekphrasen, sondern eher Kompositionen, die sich von dem Bild — seinen Farben, seiner Gestalt und vor allem vielleicht: seiner Stimmung — zu akustischen Eindrücken inspirieren lassen. Vieles davon lässt sich in weiten Bögen, oft verträumt-versponnen und/oder nachdenklich, tragen und speist sich nicht unwesentlich aus dem intimen Zusammenspiel des Trios, das ja schon seit gefühlten Ewigkeiten immer wieder miteinander musiziert und der Effekthascherei ausgesprochen abhold ist. Und das auch auf Deep Memory vor allem durch seine kammermusikalische Dichte und Intensität der farbenprächtigen, tendenziell melancholischen Klangmalerei gefällt. Die befinden sich, so hört es sich an, eigentlich immer auf der gleichen Wellenlänge, um dieses strapazierte, hier aber sehr passende Bild zu benutzen.
Barry Guy, Marilyn Crispell, Paul Lytton: Deep Memory. Intakt Records CD 273, 2016. 52:07 Minuten.
Am großen Rad drehen
Big Wheel Live ist die zweite CD von Christopher Irniger Pilgrim, wie der spannende Saxofonist, Komponist & Bandleader Irniger sein Quintett mit Stefan Aeby, Davie Gisler, Raffaele Bossard und Michi Stulz nennt. Auch wenn das “Live” wirklich auf Live-Aufnahmen (in Berlin, Ratzeburg und Altenburg) zurückgeht, klingt die CD richtig gut. Und das ist in sofern besonders schön, weil gerade Aeby ein sehr klangsinniger Pianist ist. Die ganze Musik auf Big Wheel Live zeichnet sich meines Erachtens nicht nur durch ihren kraftvollen Sound aus, sondern vor allem durch ihre Räumlichkeit und Tiefe. Oft ist das nur lose verbunden, nur locker gewebt, gibt so den Fünfen aber viel Chancen zum ausgreifenden Erforschen. Und der Freiraum zum Erkunden, die Öffnung in alle Himmelsrichtungen wird weidlich genutzt: Man hört eigentlich immer eine permanente Suchbewegung, die stets fortschreitet, die beim schönen Augenblick verweilt, sondern immer weiter will — wie es gute improvisierte Musik eben (fast) immer tut. Neben Aeby, der sich immer mehr zu einem sehr interessanten Pianist entwickeln zu scheint, hat mir hier vor allem die oft sehr spannende, überraschende Spielweise des Schlagzeugers Michi Stulz gefallen. Gitarrist Dave Gisler und Irnigers Saxophon umspielen sich oft sehr eng. Entscheidend aber in allen sechs Titeln: Das bleibt immer im Fluss, die Ideen versanden eigentlich nie, sondern finden immer neue Pfade und Wege.
Christoph Irniger Pilgrim: Big Wheel Live. Intakt Records CD 271, 2016. 62:44 Minuten.
Das unsterbliche Trio
Vielleicht ist es das europäische Jazztrio schlechthin, sicherlich wohl das am längsten amtierende: Alexander von Schlippenbach, Evan Parker und Paul Lovens sind das Schlippenbach-Trio. Und zwar schon ewig. Und jedes Jahr sind wie wieder unterwegs (die schöne Film-Dokumentation Aber das Wort Hund bellt ja nicht hat die jährliche “Winterreise” des Trios ja sehr anschaulich gemacht), immer wieder in der gleichen Besetzung mit immer anderer Musik — nicht ohne Selbstironie nennt Schlippenbach das im Begleitheft deshalb “das unsterbliche Trio”. Erstaunlich daran ist vor allem, dass es nicht langweilig wird, dass diese große Vertrautheit miteinander nicht in Belanglosigkeiten mündet. Auch das Warsaw Concert ist wieder eine aufnahmetechnisch und musikalisch gut gelungene Live-Aufnahme vom Oktober 2015. Und beim Schlippenbach-Trio heißt das: Eine einzige lange Improvisation ohne Pausen oder Unterbrechungen, ohne Verabredungen und ohne Komposition — knapp 52 Minuten sind das (dazu kommt noch eine kurze, fast humoristische Zugabe). Der erste Eindruck: Nette Musik — das funktioniert einfach, das passt. Und das ist wirklich Musik der Freiheit: Weil sie sich (und dem Publikum) nichts (mehr) beweisen müssen. Und: Weil sie viel können, enorm viel, sowohl alleine mit ihren Instrumenten als auch zusammen als Trio. Deshalb schöpften sie mit lockerer Hand auch in Warschau eine Vielfalt der Stimmungen. Vieles klingt vielleicht etwas altersmilde in der Klarheit und dem lyrischen Ausdruck (wenn man das so deuten möchte), stellenweise aber durchaus auch bohrend und insistierend. Das ist einfach ausgezeichneter, gelungener, “klassischer” Free Jazz, den man gerne wiederholt anhört und versucht nachzuvollziehen.
Schlippenbach Trio: Warsaw Concert. Intakt Records CD 275, 2016. 56:36 Minuten.
Zur Erleuchtung
Stefan Aeby war ja auch schon im Christoph Irniger Pilgrim vertreten, hier ist nun noch einmal als “Chef” mit seinem eigenen Trio zu hören, das aber mit Michi Stulz am Schlagzeug noch eine weitere Person mit dem Pilgrim-Ensemble teilt. To the Light ist eine Musik des Klanges: Ich höre hier nicht so sehr rhythmisch und/oder harmonische Strukturen, sondern vor allem Klänge. Klänge, die sich immer wieder zu kleinen Szenen und imaginären Bildern formen. Das Trio passt da in dieser Hinsicht ausgezeichnet zusammen: Nicht nur Stefan Aeby am Klavier ist ein bisschen ein Klangmagier, auch der Bass von André Pousaz hat erstaunliche Qualitäten (besonders schön im Titelstück wahrzunehmen, das sowieso eine ziemlich großartige Sache ist). Und Michi Stulz, mit halligen Becken und eng klingenden Toms zaubert für einen Schlagzeuger erstaunlich flächige Klänge. Das ist ein poetischer Sound, eine weiche und wandelbare Klanggestalt, die mir ausgezeichnet gefällt. Vieles ist (mindestens tendenziell) leicht verträumt und klingt mit romantisch-impressionistischem Einschlag, ist dabei aber keineswegs schwindsüchtig, sondern durchaus mit gesunder Kraft und Potenz musiziert, die aber nie auftrumpfend ausgespielt wird: So klingen Musiker, die sich nichts beweisen müssen, möchte ich vermuten. Die Musiker muss man sich wohl immer als lauschende Instrumentalisten vorstellen: Vielleicht ist es ja sowieso gerade das (Zu-)Hören, das gute Improvisatorinnen (oder Jazzer) ausmacht. Oder, wie es Florian Keller im Begleittext sehr treffend formuliert: “Eine Musik, die die Figur des Lauschers entstehen lässt. Und diesem viel Raum für seine Fantasie gewährt.”
Stefan Aeby Trio: To the Light. Intakt Records CD 274, 2016. xx:28 Minuten.
Aus irgend einem Grund waren mir die ersten Aufnahmen von Irène Schweizer bei Intakt bisher unbekannt. Das ist eine große Schande, denn das ist großartige Musik. Zum Beispiel die beiden Solo-Alben (mit dem etwas einfallslosen Titel “Piano Solo, Vol. 1” bzw. “… 2”). Da ist auch die wunderbare “Ballad of the sad Cafe” zu finden:
Irène Schweizer & Pierre Favre, Flying over the Limmat:
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(ich höre mich gerade durch einige der älteren Schweizer-Aufnahmen — da sind wirklich tolle Sachen dabei …)
Reinhard Jirgl: Oben das Feuer, unten der Berg. München: Hanser 2016. 288 Seiten.
–Sie wurden geboren, arbeiteten, und sie starben. Wäre Leben so=einfach so=kurz wie dieser Satz, Leben, wäre gewiß glückvoller. Leben aber dauert länger als 1 Satz. (31)
Oben das Feuer, unten der Berg — an dem Buch ist nicht nur der Titel seltsam und rätselhaft. Ich bin ja eigentlich ein großer Bewunderer der Werke Reinhard Jirgls, aber mit diesem Roman kann ich wenig bis gar nichts anfangen. Das, was von einer Geschichte übrig ist, ist rätselhaft, schwankt zwischen Krimi und Verschwörungstheorie, Vergangenheitsbewältigung und Verbitterung. Die auftauchenden Figuren sind eigentlich lauter kaputte Menschen. Oder: Sie werden kaputt gemacht, durch das „System“, die Macht oder ähnliche Instanzen. Die grausame Brutalität der Welt, der Macht und der Mächtigen, die die Moral nur als Deckmantel und Beruhigung fürs Volk (wenn überhaupt) haben, benutzen — den ganzen Text durchdringt eine sehr schwarze, pessimistische Weltsicht. So weit, so gut (oder auch nicht, aber das ist ja erst mal egal). Fragwürdig bleibt mir aber doch einfach vieles. Auf dem Schutzumschlag steht etwa: „Titel, Textvolumen und Reihenfolge der Kapitel im Roman sind von dem altchinesischen Orakel I‑Ging bestimmt.“ — Zum einen: was soll das? Ich habe keine Ahnung … Zum anderen: Ich bezweifle fast, dass das überhaupt stimmt …
In den faszinierenden, genauen, poetischen (d.i. lyrischen) Beschreibungen, ja, der geradezu überbordenden Beschreibungsgenauigkeit liegt vielleicht die größte Stärke des Romans, auch durch die Spezialorthografie, die nämlich Möglichkeiten und Deutungen der Sprache verdeutlichen, vereindeutigen oder überhaupt erst eröffnen kann. Auf der anderen Seite hatte ich oft den Eindruck eines „verwilderten“ Text, der sich von sich selbst treiben lässt und der im Zickzack-Kreis des Erzählens „der“ Geschichte keine wie auch immer geartete Ordnung gelten lässt (zumindest keine, die ich erkennen könnte). Seltsam finde ich auch: Eigentlich passiert das meiste des Romans auf privater, ja intimer Ebene. Aber dann will der Roman doch die ganz großen Themen behandeln (z.B. die Macht und die Moral) — das passiert dann (damit es jeder merkt) v.a./nur durch das neunmalkluge Dozieren der Figuren, in deren Erkenntnissen, in deren Durchschauen der Welt und der Verschwörungen) sich der Erzähler (und vielleicht auch der Autor) zu allem und jedem äußern kann, seine Position als wahre absichern und mitteilen kann.
?Wo in alldieser unermeßlichen=Unendlichkeit blieb eigentlich ?mein Webfaden, ?meine=!ureigene Spur, die mich etwas Unverwechselbares in dieses unerschöpfliche Lebenswischhadergefilz hätte hin1prägen lassen. (230)
Daniela Danz: Lange Fluchten. Göttingen: Wallstein 2016. 146 Seiten.
Wilhelm Lehmann: Ein Lesebuch. Ausgewählte Lyrik und Prosa. Herausgegeben von Uwe Pörksen, Jutta Johannsen und Heinrich Detering. Göttingen: Wallstein 2011. 160 Seiten.
Auf Wilhelm Lehmann bin ich erst durch die zweite Ausgabe des Gelben Akrobaten von Michael Braun und Michael Buselmeier aufmerksam geworden. Lehmann, der von bis vor allem an der Küste lebte, war als Lehrer sowohl ein ausgezeichneter Naturbeobachter als auch ein starker Dichter, wie ich anhand des Lesebuchs leicht feststellen konnte. Dort bieten die drei Herausgeber eine Auswahl aus der mehrbändigen Werkausgabe: (viel) Lyrik, etwas aus den Tagebüchern, einige Auszüge aus theoretischen/poetologischen Essays und ein wenig Prosa. Inwieweit das ein repräsentatives Bild abgibt, kann ich nicht beurteilen. Sagen kann ich nur, dass das, was ich hier gelesen habe, faszinierende Momente hat. Die mich am meisten berührenden Texte und Passagen waren wohl die, wo sich der penible und wissende Naturbeobachter mit dem bildkräftigen Lyriker verbindet.
Aus vielen der Naturbeschreibungen der Gedichte spricht eine leise Wehmut: Die Natur ist für Lehmann ganz offenbar ein Ort, an dem die göttliche/geschöpfte/schöpferische Ordnung noch gilt und dann auch zu beobachten ist; sie bleibt vom Chaos, der Gewalt und dem Schmerz der Menschen (den sich die Menschen gegenseitig (und ihr) zufügen) unberührt. Solche Lyrik ist, wie er es in einem Aufsatz einmal auf den Punkt bringt: „Poesie als Einwilligung in das Sein“.
Gerade in der Zeit des Zweiten Weltkrieges scheint sich das aber zu ändern: Zunehmend werden Natur und Menschenwelt/Zeitgeschichte im Gedicht konfrontiert, meist nebeneinander gestellt (sozusagen ohne tertium comparationis): Hier die gleichförmige (im Sinne von in einem festen Rhythmus sich wiederholende), vertraute (d.h. auch: lesbare, entschlüsselbare, verstehbare) Natur, dort der unerhörte Schrecken, das ungesehene und ungeahnte Grauen des Weltkriegs. Das bleibt aber immer sehr subtil und — gerade in den Beschreibungen und Schilderungen — sehr kunstvoll, in fein austarierten Rhythmen und mit oft sehr harmonisch, fast selbstverständlich wirkenden Reimen ausgearbeitet. Am besten verdeutlicht das vielleicht ein Gedicht wie “Fallende Welt”:
Das Schweigen wurde Sich selbst zu schwer: Als Kuckuck fliegt seine Stimme umher.
Mit bronzenen Füßen Landet er an, Geflecktes Kleid Hat er angetan.
Die lose Welt, Wird sie bald fallen? Da hört sie den Kuckuck Im Grunde schallen.
Mit schnellen Rufen Ruft er sie fest. Nun dauert sie Den Zeitenrest.
Der Verlag nennt die auf der Opernbühne spielende Novelle von Sabine Bergk „Übertreibungsliteratur”. Das stimmt natürlich, trifft den Kern des vor allem phantastischen und absurden Textes aber nur halb. Gilsbrod ist eine Ein-Satz-Novelle mit 130 Seiten ungebrochenem stream of consciousness. Das ist natürlich nicht völlig neu, spontan fällt mir aus letzter Zeit etwa Xaver BayersWenn die Kinder Steine ins Wasser werfen (2011) ein, das ähnlich funktioniert. Hier, also in Gilsbrod, lesen wir das Bewusstsein einer Opernsouffleuse, die im entscheidenden Moment der Theaterdiva nicht aushilft und sie deshalb in eine improvisierte Kadenz auf dem falschen Text treibt. Ein Ende hat der Text nicht, er bricht einfach ab. Bis dahin ist er aber dicht und unterhaltsam, phantastisch und absurd, traurig und komisch zugleich. Oder zumindest abwechselnd. Den natürlich lässt sich so ein Bewusstsein hin und her treiben, das ist eine heftige Mischung von Vergangenheiten und Gegenwarten, Realitäten und Träumen, Wünschen und Ängsten, geschichtet und überlagert, auch mit Versionen der (pseudo-)Erinnerung versehen, der seine Ebenen im kreisenden Wiederholen herauskristallisiert.
Das funktioniert recht gut, weil die Sprecherin aus der Position des unsichtbaren/unscheinbaren Beobachters, der Souffleuse, agiert. In der Privatmythologie wird der dienend-unterstützende Hilfsdienst dieser Funktion für das Theater, genauer: die Oper, zur mystischen Erfahrung hochstilisiert, zum erfüllenden Lebenstraum. Es wird aber durchaus auf geschickte und untergründige, aber erkennbare Weise auch die eigene Position reflektiert, zum Beispiel im Verlust der Rest-Sichtbarkeit durch den mittigen Souffleurkasten und die Verbannung auf die Seitenbühne, die nicht gleichermaßen Teil der Aufführung ist: dort unterhalten sich Techniker und wartende Sänger während der Oper … Zugleich zu dieser wahrgenommenen Marginalisierung — im Kontrast dazu und zu den Erinnerungen der präfigurierenden Demütigungen der Schulzeit (die sehr seltsam als eine Art Kreuzigung am Rutschengerüst erinnert werden, mit Lanze und Essig und allem drumherum …) ist der Bewussstseinsstrom aber auch die Konstruktion einer totalen Machtposition: von ihr ist alles, insbesondere eben die Diva Gilsbrod abhängig — und damit das ganze Theater, die Stadt, das Publikum: „mir gehört der Text“ (39).
Der Text ist aber nicht ohne Dramaturgie gebaut, zum Beispiel verschränken und vermischen sich die diversen Zeiten und Ebenen immer mehr. Auch das „Vordringen“ in die Figur „Gilsbrod“ wird geschickt zeichenhaft genutzt: Es beginnt an der Grenze zwischen außen und innen des Körpers, den Zähnen der Sängerin, und dringt über den Mundraum immer weiter vor/hinein …
Im Grunde ist Gilsbrod eine große Rachephantasie, die ja auch zu keinem Ende kommt: der Bewusstseinsstrom bricht in der großen (falschen!) Kadenz der Gilsbrod ab, das „non so d’amarti“ verdichtet sich, bis zu einer Art Mantra — wenn man das hinzuzieht, könnte es natürlich auch eine (unbewusste) Liebesphantasie sein: „Ich weiß nicht, dass ich dich liebe“ …
[…] und deshalb gehen die Leute ja ins Theater, weil sie nicht alleine lachen wollen und sonst die anderen denken, sie wären verrückt, wie sollen sie auch lachen, wenn sie niemanden zum Lachen haben, und so bleiben sie lieber allein in ihrem Kummer, dabei ist es viel besser, gemeinsam zu weinen und die Leute gehen ja ins Theater, damit sie gemeinsam lachen und auch weinen können, wie auf der Beerdigung, sie beerdigen ihren Kummer im Theater und beerdigen sich selbst, vorzeitig, sie beerdigen sich gegenseitig und beerdigen alles, was ist, sie beerdigen die Langeweile, das Leben und die Hoffnung der Figuren, die Flugversuche und die Wetterwechsel, sie beerdigen das Licht hinter den Vorhangdecken wie zum Schlaf und zum Abschluss gibt es rauschenden Applaus und niemand denkt, dass sie verrückt sind, auch wenn alle nach vorne starren […] (69)
Titus Meyer: Andere DNA. Leipzig: Reinecke & Voß 2016. 56 Seiten. ISBN 978–3‑942901–20‑8.
Ein ganzer Roman als Palindrom, ein Palindrom als Roman – geht das? Ein paar meiner Lektürebeobachtungen zu dieser Frage und anderen, die mich beim Lesen von Meyers Husarenstück bewegten, habe ich schon vor einigen Tagen hier notiert.
Christian Broecking: Dieses unbändige Gefühl der Freiheit. Irène Schweizer — Jazz, Avantgarde, Politik. Die autorisierte Biografie. Berlin: Broecking Verlag 2016. 479 Seiten. ISBN 9783938763438.
Eine große – und außerdem auch noch autorisierte – Biografie der großen Jazzpianistin Irène Schweizer wollte Christian Broecking (den ich vor allem als Autor/Interviewpartner seiner beiden Respect-Bände kenne) hier wohl vorlegen. Rausgekommen ist ein mühsamer Brocken. Den Broecking schreibt auf den immerhin fast 500 Seiten vielleicht (gefühlt zumindest) ein Dutzend Sätze selbst. Diese Biografie ist nämlich gar keine, es gibt keinen Erzähler und eigentlich auch keinen Autor. An deren Stellen treten (fast) nur Quellen, das heißt Zeitzeugen, deren Aussagen zu und über Irène Schweizer aus Interviews hier grob sortiert wurden und höchstens mit einzelnen Sätzen notdürftig zusammengeflickt werden. Der dokumentarische Anspruch – die anderen also einfach erzählen zu lassen (aber auch die Fragen streichen, was manchmal seltsame „Texte“ ergibt) – geht dann auch so weit, dass englischsprachige Antworten nicht übersetzt werden. Viel Material wird also mehr oder weniger sinnvoll gereiht. Nach herkömmlichen Maßstäben ist das eher die Sammlung, die Vorarbeit zu einer eigentlichen Biografie, die das (ein-)ordnend und deutend erzählen würde.
Dadurch ist das vor allem eine Arbeitsbiographie und/oder ein Musiktagebuch: Wer wann mit wem wo gespielt hat, das gibt den Rahmen für die Lebensbeschreibung ab. Aber selbst das geht mit der Zeit und den Seiten der unendlichen Reihen von Konstellationen und Orten zunehmend unter, weil es einfach zu viel ist. Menschen kommen kaum/nicht vor, nur Funktionen: Musiker, Künstler, Organisatoren, Labelchefs und (wenige) Journaliste) – deshalb bietet das Buch auch nur Innensichten aus dem Umfeld Schweizers. Und Broecking hilft durch seine Abwesenheit als Autor eben auch nicht: Einen außenstehenden/neutralen (oder wenigstens pseudo-objektiven) Beobachter kann der Text nicht aufweisen. Ich denke, daraus rühren dann auch andere Schwächen. Vieles bleibt einfach ohne Erklärung. Und wenn ich keine Erklärung bekomme, brauche ich auch keine Biografie …
Zum Beispiel wird die Größe Schweizers zwar immer wieder beschworen, sie bleibt dabei aber ausgesprochen unklar, ohne Konturen und ohne Grund. Das liegt vielleicht auch daran, dass die Musik in den (sowieso äußerst knappen) Beschreibungen (Analysen kommen mit Ausnahme des zehnseitigen Anhangs „Jungle Beats“ von Oliver Senn & Toni Bechtold, der anhand exemplarisch ausgewählter Aufnahmen Schweizers Musik, ihren Personalstil beschreibt, fast überhaupt nicht vor) selbst so generisch bleibt: frei improvisiert, dann wird mal dieser Einfluss (Cecil Taylor etwa) hervorgehoben, dann mal der jener betont (Monk etwa). Und immer wieder wird von den Interviewten darauf hingewiesen, dass sie keine Noten mag. Aber was sie wie spielt, kann man halt nicht so recht lesen, nur in verstreuten Hinweisen und Andeutungen (die auch eher ihre Präsenz und Energie auf der Bühne betreffen). Auch die ausgewählten Zitate aus Kritiken und Presseberichten bleiben erschreckend generisch. Ähnlich ist es um die politische Dimension des Lebens von Irène Schweizer und ihrer Musik bestellt: Beides wird vor allem behauptet („diese Musik ist politisch“), aber wie und warum, das steht nirgends, das wird nicht erklärt (und gerade da würde es (für mich) spannend werden …). Das alles führt dazu, dass mich die Lektüre etwas unbefriedigt zurückgelassen hat: Sicher kommt man um diesen Band kaum herum, wenn man sich mit Schweizer und/oder ihrer Musik befasst. Aber Antworten kann er kaum geben.
Ian Bostridge: Schuberts Winterreise. Lieder von Liebe und Schmerz. München: Beck 2015. 405 Seiten. ISBN 978–3‑406–68248‑3.
Meine Eindrücke von Ian Bostridges großem, umfassenden Buch über die Schubertsche Winterreise haben einen eigenen Eintrag bekommen, und zwar hier: klick.
außerdem gelesen:
Katharina Röggla: Critical Whiteness Studies und ihre politischen Handlungsmölichkeiten für Weiße AntirassistInnen. Wien: mandelbaum kritik & utopie 2012 (Intro. Eine Einführung). 131 Seiten.
Das sind Erfahrungen und Haltungen, die verbinden. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass wir eine Geheimarmee von Improvisatoren waren, verschworen, rebellisch, unbeirrbar. Unsere Mission war der Avantgarde-Jazz und Irène [Schweizer] war an vorderster Front. Keith Tippett, in: Christian Broecking, Dieses unbändige Gefühl der Freiheit, 117
(der kalauer musste sein). es geht natürlich um irène schweizer, eine der besten lebenden pianistinnen der improvisierten musik, um das gleich mal klarzustellen.
beim anhören ihrer allerneuesten cd, einem live-mitschnitt (der leider klanglich nicht ganz top of the line zu sein scheint …) fragte ich mich wieder einmal (und nicht zum ersten mal), was — für mich — eigentlich das große an ihrem spiel ausmacht. ich glaube, es ist ihre mischung aus energie und poesie. das klingt nach allgemeinplatz und ist es wahrscheinlich auch. aber in der kombination dieser beiden pole — nicht so sehr der mischung, als der vereinigung zweier scheinbarer gegensätze — liegt, glaube ich, ihr individueller stil. der macht sich bemerkbar, egal, ob es sich um eigene kompositionen handelt oder um fremdes material (hier zum beispiel von carla bley, thelonious monk oder dollar brand). manfred papst nennt das im booklet übrigens “das Wechselspiel von lyrischer Verschattung und heroischer Gebärde auf kleinstem Raum” — wobei ich mir nicht sicher bin, ob “heroisch” den ausdruck dieser musik wirklich triff. vielleicht, “heroisch” dann im sinne von standfest, auch unbeugsam — individualistisch eben. aber nicht auftrumpfend, besiegend. gewissheiten versagt sie sich allerdings nicht, das ist mehr als reine brechung. vielleicht ist das ja auch etwas, das ihre faszination ausmacht: trotz der vielfalt der ausdrucksformen (schweizer ist in gewissem sinne auch eine “gelehrte” pianistin — und deshalb in so einem klassischen musentempel wieder der züricher tonhalle gar nicht so verkehrt am platz) schimmert immer die position, der ort und die kraft der pianistin als selbstbehauptetem subjekt durch: das gibt sie nicht auf, nie und nirgends.
schon der titel markiert das sehr gut: “to whom it may concern”. das ist selbstgewiss und selbstbewusst. aber eben auch — vermute ich — im vollen bewusstsein der exklusivität (oder limität) der kreise, die das tatsächlich wahrnehmen und die das interessiert: eigentlich müsste & sollte das ja möglichst alle angehen. so gut ist diese welt aber leider nicht … dafür ist die musik dieser welt aber so gut. grandios eigentlich sogar, wenn man sich etwa das “final ending” anhört, das in einem rieseigen rundumschlag noch einmal alles erfasst und umfasst, ohne sein eigenes zu verlieren, das spannend in jedem ton ist, aber doch ganz gelassen und natürlich vor allem ausgesprochen folgerichtig wirkt: vom material könnte man es fast als eine etüde des free jazz ansehen. aber dann höchstens im chopinschen sinn: etüde als konzertstück und so weiter.
das nur schnell beim ersten hören. die cd, aufgenommen übrigens im april 2011 in der züriche tonhalle anlässlich ihres 70. geburtstages (kaum zu glauben!), wird meinen player sicher nochöfter von innen sehen, das ist sicher.
irène schweizer erfährt ja schon länger meine hochachtung — sie ist einfach eine rundum hervorragene musikerin (diaboliques und die vielen duos bezeugen das immer wieder). und sie versorgt mich auch immer wieder mit ganz spannenden klavier-solo erfahrungen, die weit über das hinausgehen, wofür leute wie keith jarrett und konsorten immer noch gefeiert werden. der bezugspunkt ist hier natürlich auch wohl eher cecil taylor — und auf ihre weise darf man irène schweizer durchaus auf taylors stufe stellen.
auch “first choice”, die cd-aufnahme des jubiläumskonzerts im kkl luzern (intakt) besticht durch die typischen schweizer-qualitäten. in erster linie ist da zu nennen: die absolut erstaunliche, verblüffende klarheit der klanggestaltung — hier ist das auch ein verdienst der ausgezeichneten tontechnik. auch die vielseitigkeit ihrer klangfarben ist wieder zu bewundern, v.a. aber — und das macht die cd für mich so besonders reizvoll, weil das meinen momentanten ganz generellen ästhetischen vorlieben ganz besonders gut entspricht — ist es die wahnsinnige luzidität der entwicklung, die mich begeistert: das sind wirkliche akustische lichtblicke, große musik. mehr muss man eigentlich gar nicht sagen. aber man kann. was mit dieser lobhudelei gemeint ist, zeigen schon die umfassende linien der ersten großen improvisation, first choice: zwanzig minuten, die wie im fluge vergehen, ganz ohne großes trara, aber voller ideen und einfälle, diein ihrer gesamtheit einen absoluten flow erzeugen — aber, und das ist eben schweizers genie, man muss nicht aufs ende warten, um die genialität und frische dieser musik zu erfahren — sie steckt nämlich in (fast) jeder note. mit direkter erfahrbarer motivik und stärkeren energetischen impulsen wartet dann “into the hall of fame” auf, immerhin auch noch fast 10 minuten improvisiertes spiel an den tasten. dann kommen noch einige kleinere stücke, mit klassikern — schweizeres eigene komposition “the ballad of the sad café” etwa: sehr zurückgenommen, schlicht und einfach melancholisch schwebend, eben “sad”, aber auch sehr “fein” und kultiviert. wie schweizer überhaupt immer deutlicher auf alles brimborium verzichtet, immer deutlicher den versuch macht, zum kern der ausdrucksgewalt von improvisierter musik vorzudringen, ohne die ganzen überflüssig gewordenen gesten und (revier-)markierungen. beim ersten hören: etwas gemessener, ruhiger im positiven sinne, nämlich poetischer, oft sogar zärtlicher als frühere soli (man denke nur an die “wilde senoritas”!) — dabei nicht verweichlicht, aber doch befreit von der notwendigkeit des revolutionären befreiungsschlages, von der kämpferischen behauptung der freiheit der musik, der improvisation, die sich im kriegerischen tastengewitter entlädt — so etwas findet sich in dieser aufnahme eigentlich gar nicht, zumindest nicht in reinform, nur als bewusstes zitat, motiv, als formbaustein (in “first choice” etwa).
die technischen möglichkeiten, die der freien improvisation am flügel heute, nach jahrzehnten neuer musik und free jazz, zu verfügung stehen, demonstriert sehr schön die fast schon studie oder etüde zu nennende improvisation “scratching at the kkl” — schweizer beschränkt sich dabei in der tat (fast) vollständig auf diese art der tonerzeugung, genauer gesagt, des spiels eines tasteninstrumentes ohne die tasten, nämlich im inneren des flügels, direkt an, auf und neben den saiten. weil schweizer aber eben in erster linie musikerin ist, wird daraus auch wieder echte musik und nicht nur die zum gähnen langweiligen technischen firlefanz-spielereien der huldigungen an den material-fetischismus.
schweizer überführt das eher experimentelle klangstück folgerichtig in “the loneliness of the long distance piano player” — als motto könnte das über große teile ihrer karriere geschrieben werden. erschöpfung, anstrengung der kreativen hervorbringung… das ist offenbar die notwendige kleine atempause, denn mit theolonious monks “oska t.” legt schweizer noch einmal so richtig los, geht sozusagen schon fast in den endspurt: stärker ryhthmisch betont.… dagegen wirkt — für mich — das abschließende “jungle beats ii” doch ein wenig wie ein fremdkörper, etwas leer und ziellos scheint mir das (im vergleich zum anfang der aufnahme vor allem)