[…]
Ein einziges Mal im Jahre nur, wenige kurze Wochen hindurch, kommen die Menschen da, wo sich noch etwas vorlutherischer Geist erhalten hat, zur Besinnung und Freude. Es ist, als ob im Karneval die Einsicht über sie käme, dass all ihr alltägliches Gehaben grauenvoll alberner Mummenschanz ist, und als ob das verschüttete Gefühl der selbstständigen Wesenheit jedes Einzelnen einmal wenigstens sich emporwühlen müsse, um tief Atem zu holen und dann wieder, am Aschermittwoch, zurückzusinken in den Alpdruckschlaf der unwahrscheinlichen Wirklichkeit.
[…] Erich Mühsam, Fasching (1933) [zitiert nach: Erich Mühsam: Das seid ihr Hunde wert! Ein Lesebuch. Herausgegeben von Markus Liske und Manja Präkels. Berlin: Verbrecher 2014, S. 153f.]
Dieselben Leute, die sonst nicht weit genug abrücken können von denen, die in Kleidung, Haartracht oder Benehmen von den üblichen Konventionen abweichen, oder sich gar zu einer Weltanschauung bekennen, die von den demokratischen Vorschriften im Kern unterschieden ist diese selben Leute kleiden sich plötzlich in bunte Lappen, putzen sich so originell zurecht, wie es ihnen nur möglich ist, und bewegen sich ungezwungen, lebendig, herzlich unter den gleichfalls verkleideten Nebenmenschen. Sie empfinden mit einem Male, dass sie, je singulärer ihre Erscheinung in der Menge wirkt, den übrigen Larven umso enger verbunden sind, und sie finden die ihnen im gewöhnlichen Leben ganz fremde Freiheit, übermütig zu sein, die Zwangsformen der Geschäftlichkeit beiseitezuschieben und öffentlich vor aller Augen menschliche Regungen einzugestehen.
Die Behörden selbst müssen die überall aufgepflanzten Verbotspfähle zurückstecken, um der Ausgelassenheit freiere Bahn zu schaffen, und wo sie es nicht tun, wo verknöcherter Beamteneifer mit Polizeistunden und Sittlichkeitsverordnungen auch noch im Getriebe der Faschingsfröhlichkeit herumfuhrwerkt, da hört man von den bravsten Bürgern kräftige Verwünschungen und erfrischende Bekenntnisse zu anarchischen Lebensformen. Sie vergessen, dass sie das ganze Jahr vor dem Fasching die Beaufsichtigung durch den Schutzmann selbst gewünscht haben, dass sie sie das ganze Jahr nach dem Fasching wieder wünschen werden und dass sie willig Steuern gezahlt haben für die Besoldung der Nüchternheit, die, verkörpert in Paragrafendrechslern, die vielleicht selbst ganz gern mit den andern trinken, tanzen und küssen möchten, auch in dem kurzen Zeitraum der pflichtentbundenen Freude mechanisch weiterfunktioniert.
Es ist verzweifelt schade, dass von dem Geiste des Karnevals, der recht eigentlich der Geist der Rebellion ist, so gar keine Spur über den Faschingsdienstag hinaus gerettet werden kann. Nachher wird die Rechnerei und Schacherei und all das verrückte Getue wieder losgehen.
Schlagwort: gesellschaft Seite 2 von 10

Ins Netz gegangen am 9.12.:
- The Late Medieval Christmas Feast | Doing History in Public → Eleanor Russell über das spätmittelalterliche weihnachtsfest in england:
Like today, the most spectacular and anticipated part of the medieval Christmas was not the Mass, then mandatory, but Christmas feast, an event which offered not only an opportunity to celebrate the birth of Christ, reconnect with family and friends, and eat to bursting, but also the chance to express social hierarchies and identity.
…
To understand the ramifications of the Christmas feast, we should view it as much of a performance as the entertainments which accompanied it. Guests who performed admirably might receive a mark of favour, whilst social solecisms, such as starting to eat before the host did, could mean disgrace.
…
Like today, the medieval Christmas feast was as much about consumption, commensality, and social manoeuvring as it was about religion. - “Diese Summe hat man nicht auf der hohen Kante” | börsenblatt → noch so ein tendenziöser bericht über verlage und die vg wort. ich hab’ immer noch nicht kapiert, warum die verlage die vg-wort-einnahmen so dringend brauchen. wenn sie so kreativ und schöpferisch tätig sind und eigene reihen entwickeln (!) — warum passen sie die autorhonorare bzw. autorinnenbeteiligungen an den buchumsätzen in ihren verträgen nicht entsprechend an? warum müssen sie das illegal über die vg wort finanzieren?
- Intellektuellen-Dämmerung |Tages-Anzeiger → eine ziemlich gute verteidigung (und erklärung) des typus “intellektuelle/r” und seiner notwendigkeit von martin ebel:
Prüfstein intellektuellen Engagements ist allein, ob es über das eigene Interesse hinausgeht, ob es das Wohl des Ganzen im Auge hat. Es geht nicht um eine Charakter- oder Mutprüfung des Intellektuellen, sondern um sein Urteilsvermögen, seine Fantasie, seine Originalität.
…
Intellektuelle sind auch keine Welterklärer noch gar Propheten, denen man blind folgen kann. Sie sind aber dazu da, in einer Welt, in der Gruppenegoismen sich immer stärker artikulieren, daran zu erinnern, dass es Werte und Interessen gibt, die über den Eigennutz hinausgehen – zum Nutzen aller. Frauenrechte und Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz und Rechtssicherheit sind solche zentralen Werte.

Ins Netz gegangen am 23.11.:
- #FakeNews jetzt auch im Feuilleton? | Wolfgang Michal → wolfgang michal hat — ausgelöst von der alarmistischen pressemitteilung des börsenverbandes und der ungeprüften übernahme in qualitätsmedien — mal ein bisschen gerechnet, was die rückzahlung illegal erhaltener vg-wort-gelder für verlage eigentlich wirklich bedeutet:
Doch die notorisch klamme Situation mancher Kleinstverlage wird vom reichen Börsenverein ja nur deshalb ins Feld geführt, weil man damit die Herzen notorisch klammer Autoren erweichen kann. Da traut sich dann keiner mehr zu fragen, warum man ausgerechnet kleine Autoren, deren Existenz mindestens ebenso gefährdet ist wie die Existenz kleiner Verleger, mit kulturellen Untergangsszenarien dazu drängen will, auf ihre schmalen Rückforderungsbeträge (von wenigen hundert Euro im Schnitt) „freiwillig“ zu verzichten? Warum springen nicht die Milliardäre und Multimillionäre Bertelsmann, Springer Science oder Westermann in die Bresche und helfen ihrer angeblich so bedrängten Branche? Allein mit dem Jahresgewinn von Bertelsmann könnten sämtliche Rückforderungen der VG Wort 30 Jahre lang beglichen werden.
- Öffentlicher Verkehr: Es wird eng | NZZ → an den pendler-bahnhöfen der schweiz wird es eng — weil immer mehr menschen zugleich unterwegs sind …
- Wie sich das politische Theater selbst betrügt – Ein Zwischenruf | Nachtkritik → michael wolf hat einwände gegen das ach so tolle, ach so wichtige, ach so gesellschaftlich relevante theater:
In Theatern wird “exemplarisch durchgespielt, was Demokratie ausmacht: das Aufeinanderprallen extrem unterschiedlicher Ansätze auszuhalten – und diskursiv zu kanalisieren”? Nein, einfach nein. Politisches Theater ist nur so weit pluralistisch, bis es unangenehm werden könnte. Es hat kein Interesse daran, die Bandbreite der Haltungen einer Gesellschaft vorkommen zu lassen, die – wie eklig! – eben nicht nur aus den Guten besteht
- Nein, die Transen und die Homos sind nicht schuld an Trump | Bildblog → guter punkt von johannes kram, eigentlich selbstverständlich, aber gerade trotzdem immer wieder auszusprechen:
Es geht nicht um Respekt oder Toleranz der einen für die anderen, um etwas, das Mehrheit einer Minderheit gönnt. Es geht darum, dass sich die Gesamtgesellschaft erst als komplett begreift, wenn alle gleichermaßen dazugehören.
- Politologe über Trumps Populismus: „Er bestimmt, wer das Volk ist“ | taz.de → gutes interview mit jan-werner müller über populismus, nation, volk und den ganzen krams/quatsch …
- Menschenrechte: Reden wir über das Grundgesetz! | Zeit → birte förster ruft dazu auf, das grundgesetz ernst zu nehmen und in die aktuellen diskussionen stärker einzubeziehen
- 100 Jahre russische Revolution: Revolutionsjubiläum ohne Held | NZZ → ulrich m. schmid über die schwierigkeiten der putin-regierung, die revolutionsfeiern des nächsten jahres mit dem nächsten spin zu versehen (spoiler: lenin fällt aus, der russische staat darf in seiner größe und großen geschichte ganz nationalistische wieder auferstehen …)
Ins Netz gegangen am 5.11.:
- Are you man enough for birth control? | NewStatesman → laurie penny stellt in diesem interessanten text die nachricht über den abbruch der test von hormoneller geburtenkontrolle an männern in den größeren zusammenhang:
The story of a male contraceptive jab halted because men were too distressed by the side effects to stay the course is as disappointing as it is familiar. It fits the cultural narrative whereby men can’t possibly be trusted with traditionally female responsibilities — from washing up to changing nappies, if you leave it to the guys, they’ll either flake out, fuck it up or both. We should simply let them off the hook, and let the women get on with it, grit their teeth though they may. That’s nature’s way, or God’s, depending on who you ask. But that’s not what happened here. The real story is more interesting. The real story — of research halted despite most of the men involved being enthusiastic, and a great many people all over the world wondering why the hell male hormonal contraception isn’t a thing yet — is a story of collective cultural resistance to scientific progress. Once again, technological advances that could improve people’s lives are on hold because we’re too socially backward to tell a different story about sex, love and gender.
- 7 Reasons So Many Guys Don’t Understand Sexual Consent | cracked → David Wong über die rolle der durch kinofilme vermittelten männerbilder und dort positiv gezeichneten übergriffigen paarungssituationen für die aktuelle diskussion um zustimmung zum sex

Ins Netz gegangen am 18.10.:
- „Stendhal hätte es mit einem Agenten vermutlich leichter gehabt“ | Volltext → ausführliches interview mit dem ehemaligen lektor und piper-verleger marcel hartges, der jetzt literaturagent ist, über verlage und markt, literatur und autoren (ja, in erster linie die männlichen …)
- How Did Walmart Get Cleaner Stores and Higher Sales? It Paid Its People More | New York Times → lange reportage über walmart und seine versuche, umsätze zu steigern — durch die bessere behandlung & bezahlung seiner mitarbeiter (wer könnte auch darauf kommen …)
But in early 2015, Walmart announced it would actually pay its workers more.
That set in motion the biggest test imaginable of a basic argument that has consumed ivory-tower economists, union-hall organizers and corporate executives for years on end: What if paying workers more, training them better and offering better opportunities for advancement can actually make a company more profitable, rather than less?
und auch wenn das, was walmart macht, sicher nicht das bestmögliche (für die arbeitenden) ist, so scheint es doch in die richtige richtung zu gehen. und sich auch für das unternehmen zu lohnen …
- SPIEGEL-Gespräch: “Mit der Sorge kommt die Blindheit” | Spiegel → carolin emcke im gespräch mit dem spiegel:
Die Aggressivität und Missachtung betreffen nicht nur diejenigen, auf die Brandanschläge verübt werden, vor deren Moscheen oder Synagogen Schweinsköpfe abgelegt werden. Sie betreffen nicht nur Homosexuelle oder Transpersonen, die sich fürchten müssen, auf der Straße angegriffen zu werden. Alle, die in einer liberalen, zivilen Gesellschaft leben wollen, sind betroffen.
…
Ich sehe nicht ein, warum ich mich intellektuell und emotional verstümmeln lassen sollte durch diesen Hass. Ich denke, es braucht Einspruch, Widerspruch, aber einen, der all das mobilisiert, was den Fanatikern der “Reinheit”, den Dogmatikern des Homogenen und angeblich Ursprünglichen abgeht: nämlich die nicht nachlassende Bereitschaft zu differenzieren und das, was Hannah Arendt einmal “lachenden Mut” nannte. Eine gewisse heitere, mutige Freude daran, auch mal Ambivalenzen auszuhalten, Selbstzweifel zuzulassen, auch ein Zutrauen in die Fähigkeit, gemeinsam zu handeln.
…
Wir dürfen uns als Gesellschaft doch nicht zurückziehen, nur weil wir die Aggressiven auf der Straße nicht erreichen. Für die gewaltbereiten Fanatiker sind die Polizei und die Staatsanwaltschaften zuständig. Aber für all die kleinen, schäbigen Gesten und Gewohnheiten des Ausgrenzens sind alle zuständig. Es würde auch schon helfen, wenn manche Parteien sich nicht darin überbieten würden, einer politisch radikalen Minderheit die Arbeit abzunehmen. Durch Anbiederung verschwindet Populismus nicht. - Und ich so: Was habt ihr gegen Obama? | taz → der ganze gegenwärtige us-amerikanische irrsinn in einem satz:
Im Biounterricht schreiben wir eine Arbeit über den Urknall. Als Ashlie alle Fragen durchstreicht und dafür die Schöpfungsgeschichte aus der Bibel hinschreibt, bekommt sie die volle Punktzahl.
auch der rest des textes einer schülerin über ihr austauschjahr in den usa, dass sie in die pampa von minnesoat führte, ist sehr interessant & gut
(via wirres.net)

Ins Netz gegangen am 12.9.:
- Elke Heidenreich im Literaturclub: Die Verluderung der Kritik | NZZ → der literaturkritiker der nzz, roman bucheli, hält wenig von der momentanen fernseh-literatur-kritik:
Dort die Brüll-Kritik, hier die Schleim-Kritik, beides müsste man nicht ernst nehmen, wäre die Wirkung nicht so verheerend, denn die Kritik selbst wird damit beschädigt. Das alles ist umso bedenklicher, als es ausgerechnet öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten sind, die unter dem Vorwand, Literaturkritik zu betreiben, sie korrumpieren und der Verluderung preisgeben. Das ist kein Service public, sondern öffentliche Selbstdemontage.
- Rad fahren in Groningen: Was passiert wenn alle Radfahrer einer Kreuzung gleichzeitig grün haben? | RBNSHT → schöne idee/versuch in groningen: an einer kreuzung gibt es eine phase, in der alle radfahrer aus allen/in alle richtungen gleichzeitig grün haben. und es funktioniert …
- Schuld ist nicht die Digitalisierung — Freitext → ein etwas wehmütiger “nachruf” auf die bibliotheken, der leider in sehr vielen punkten recht hat
„Treffpunkte des Austausches, Orte der Begegnung“ – so, heißt es auf der Website der Zentralbibliothek Berlin, sollen Bibliotheken heute sein. Habe ich irgendwas falsch verstanden? Ich will in der Bibliothek niemandem begegnen. Ich will mich auch nicht austauschen, wenn ich in die Bibliothek gehe. Ich will mich an einen stillen Ort begeben, an dem jemand sich ein kluges System ausgedacht hat, in dem Bücher und andere Medien geordnet beieinander stehen.
- The myth of the well-administered German city – Homo Ludditus → schöner blogpost, der am beispiel der baden-württembergischen stadt leonberg zeigt, wie miserabel es um das öffentliche bauwesen in deutschland steht (vor allem was die aufsicht/kontrolle von baustellen angeht — da muss ich vollends zustimmen), und wie wenig die städtische verwaltung dort (und wieder: das ist ein typisches phänomen) dem ruf der deutschen effizienz und ordnung entspricht
- Auto: Voll outo!? | Zeit → der großartige burkhard straßmann über die mobilität von jungen leuten und ihre (angebliche) abkehr vom auto(besitz)
Der Multimodal-Surfer gleitet in Outdoorhose und Trekkingschuhen durch den urbanen Dschungel, schnell, flexibel und elegant, und ist dabei stets mit Leuten über sein Smartphone vernetzt. Alles, was sich bewegt, kann seinem Fortkommen dienen, U‑Bahn, Taxi, Fahrrad oder Mietfahrrad, Mutters Polo, Mitfahrgelegenheiten, der Flixbus oder das Longboard.
- Wahlplakate in der Weimarer Republik (1919 — 1933) → eine sammlung von wahlplakaten, gut aufbereitet und zugänglich
- „Spitzenmanager sind da nur arme Schlucker“ | der Freitag → gutes interview mit dem elitenforscher=soziologe michael hartmann über eliten, reichtum, macht und aufstiegsmöglichkeiten
- Haenchen: Parsifal „nochmal richtig machen“ | festspieleblog → ein spannendes interview mit hartmut haenchen, dem dirigenten des diesjährigen “parsifal” bei den bayreuther festspielen, unter anderem über textkritische fragen der wagner-partitur und das arbeiten in bayreuth

Ins Netz gegangen am 18.8.:
- Müssen wir Europa ‚anders‘ denken? Eine kulturwissenschaftliche Antwort | Mein Europa → spannende analyse der historischen verknüpfung/verbindung von euopra-idee und geschlechtsidentität und die konsequenzen für die gegenwärtige europa-idee und ‑debatte, z.b.:
Wenn Kultur im gegenwärtigen pluralistischen Gesellschaftsmodell, das in den einzelnen europäischen Ländern unterschiedlich stark oder gering greift, nicht mehr an den Mann als aufgrund einer vermeintlichen Geschlechtsidentität Kulturschaffenden gebunden ist oder gebunden werden kann, ist Europa als Kultur im Singular nicht mehr als Produkt des kulturschaffenden männlichen Geschlechts konzipierbar, sie ist generell nicht mehr im Singular konzipierbar.
„Europa“ nicht im Sinne des essentialistischen Singulars der Aufklärung zu denken, sondern als Vielfalt des Differenten auf der Grundlage von Kohärenz und Kohäsion ist möglich und dies auf eine egalitäre pluralistische Gesellschaft zu beziehen, ist ebenso möglich.
[…] Konsequent wäre es, EU-Europa von der Gesellschaft und der anti-essentialistischen Perspektive her zu denken. Dabei kann nicht mehr auf das Funktionieren eines kollektiven performativen Sprechakts gesetzt werden. Das Erzeugen inhaltlicher Kohärenz in Bezug auf Europa braucht die Europäerinnen und Europäer als Kommunikationsaktive. Die Frage, wie sich das organisieren lässt, ist ebenso zentral wie sie unbeantwortet geblieben ist. Von „europäischer Öffentlichkeit“ bis „soziale Medien“ gibt es viele Praktiken, aber diese weisen keinerlei Kohäsion auf. Unbeantwortet ist auch die Frage, ob Anti-Essentialismus Dezentriertheit erfordert oder zur Folge hat? Dies würde der bisherigen EU-Europaidee umfassend entgegenstehen. - Europäische Union: Anleitung zum Nationalismus | ZEIT ONLINE → einfach wunderbar sarkastisch …
Erwecken Sie den Eindruck, mit dem Nationalstaat könnte man auch den Lebensstil einer untergegangenen Epoche wieder aufleben lassen.
- „Vom Übersetzen“ – Festspielrede von Carolin Emcke | Ruhrtriiiennale → carolin emcke ist ratlos angesichts des entsetzens der gegenwart und versucht, die aufklärung (als prozess) wieder stark zu machen
Es braucht Übersetzungen der Begriffe und Werte, die ausgehöhlt und verstümmelt worden sind, es braucht eine Übersetzung von Normen in Anwendungen, es müssen Begriffe in Erfahrungen übersetzt werden, damit sie vorstellbar werden in ihrer Substanz, damit wieder deutlich und nachvollziehbar wird, woraus sie bestehen, damit erlebbar wird, wann und warum der Rechtsstaat einen schützt, dass subjektive Rechte nicht nur passiv vorhanden, sondern dass sie auch aktiv einklagbar sind, dass eine Demokratie nicht einfach die Diktatur der Mehrheit bedeutet, wie es sich die AfD oder Ukip oder der Front National wünschen, sondern eben auch den Schutz der Minderheit, es braucht eine Übersetzung der Gesetze und Paragraphen, der Expertensprache in demokratische Wirklichkeiten, es braucht Erzählungen davon, wie die Freiheit schmeckt, wie die Gleichheit sich anfühlt, wie die Brüderlichkeit klingt.

Ins Netz gegangen am 2.8.:
- Wir müssen reden … mit Kathrin Röggla | open mike — der Blog → kathrin röggla im gespräch über literatur und ihre politische, gesellschaftlich, moralische relevanz
- Klaus Theweleit über mordende Männer: „Körperliche Lust nur durch Gewalt“ | taz.de → sehr interessantes und zumindest bedenkenswertes interview mit theweleit, der psychoanalytische gründe für das morden durch junge männer darlegt
- Ökologie: Er will die Ökodiktatur! | ZEIT ONLINE → michael kopatz begründet im zeit-interview, warum mehr regeln im sinne des ökologischen handelns gut & nötig sind:
Obwohl 90 Prozent der Menschen mehr tun wollen, passiert einfach nicht genug. Nehmen Sie das Tempolimit als Beispiel: eine ganz einfache, hoch wirksame Maßnahme, lange bekannt – und trotzdem ist sie immer noch nicht eingeführt. Wir Wissenschaftler müssen die Themen also immer wieder aus neuen Perspektiven anschauen und diskutieren. So lange, bis sie wirklich durchdrungen und durchgedrungen sind.
Gerade die Idee der Ökoroutine ist fair und solidarisch.
- Wir müssen die Empirie retten • Konrad Lischka → konrad lischka über die “Krise des Erkenntnisgewinns mit empirischen Methoden” und über mögliche auswege, besserungen
- E‑Reader oder Buch – was ist umweltfreundlicher? | ELECTRORETURN-Blog → wenig überraschend: es kommt darauf an …
aber ab einer gewissen nutzung(sdauer) scheint der e‑reader doch vorteile zu haben … - Markus Söder im Porträt: Hab’ ich euch! | Süddeutsche → grandioses proträt eines politikers, von dem ich nichts halte — ich hab’ es trotzdem gelesen, weil es so gut gemacht — beobachtet und geschrieben ist
- I’m With The Banned | Welcome to the Scream Room → laury penny ist in der hölle: mit einem troll beim parteitag der rebublikaner in den usa

Es klingt viel zynischer, als es gemeint: Aber (inzwischen) habe ich mehr Angst vor den politischen und gesellschaftlichen Diskussionen (und natürlich den entsprechenden Gesetzesänderungen) nach Gewalttaten als vor der Gewalt selbst.
Sozusagen aus psychosozialer Hygiene verordne ich mir inzwischen regelmäßig beim Bekanntwerden von gewalttätigen Ereignissen eine gewisse Medienabstinenz. Sobald klar und absehbar ist, dass es mich nicht unmittelbar betrifft — weil ich zum Beispiel nicht in München bin und auch niemand, der mir nahe steht, gerade dort weilt — meide ich den Blick auf Twitter, Reddit, die Nachrichtenseiten etc. Denn dort wird es gefühlt immer schlimmer und ritualisierter. Noch während sich ein Ereignis entfaltet, noch während Menschen sterben und die meisten ganz und gar keine genauen Informationen haben (und ja auch nicht unmittelbar und sofort benötigen), tauchen die Leute auf, die es schon immer gewusst haben. Und dann auch die Leute, die schon immer wussten, dass jetzt die Leute, dies es schon immer gewusst haben, auftauchen. Und so weiter — das spiralisiert sich ganz schnell und ganz unangenehm.
Und natürlich gibt es immer wieder die gleichen Reflexe: Noch mehr Polizei, noch mehr Überwachung, noch mehr Geheimdienst, jetzt neu: noch mehr bewaffnete Streitkräfte im Inneren (also zwangsläufig, denn dafür sind sie ja da: Noch mehr Tote.). Und die Metadiskussion läuft auch gleich noch mit, ohne wahrnehmbare Zeitverzögerung. Das ganze wirkt auch mich inzwischen regelrecht surreal, weil es von den tatsächlichen Ereignissen (und vor allem: dem Wissen darüber, das in großen Teilen der Diskussion zwangsläufig ein Nichtwissen ist) so abgekoppelt und beinahe unberührt erscheint. Da helfen dann auch die ritualisierten Mitleidsbekundungen nicht mehr. Die werden ja auch immer monumentaler — jetzt leuchtet der Eiffelturm in den Farben der deutschen Flagge (nachdem Hollande sich am Wochenende ja mit seinen abseitigen Spekulationen nicht gerade mit Ruhm bekleckerte …). Aber ist das, was in München passierte, wirklich unbedingt eine nationale Tragödie? Wie viele Menschen müssen gewaltsam sterben, damit die Beleuchtung eingeschaltet wird? Und wo müssen sie sterben? Natürlich ist es traurig und aus der Ferne kaum fassbar, wie viel Leid ein Mensch so schnell anrichten kann. Aber stimmen unsere Mitleidsmaßstäbe? Sind die acht bis zehn Menschen, die Tag für Tag durch den motorisierten Verkehr in Deutschland umgebracht werden, weniger Mitleid wert? Von den Toten in anderen Ländern, anderen Kriegen, anderen Kontinenten gar nicht zu reden (natürlich spielt Nähe immer eine Rolle). Mir geht es nicht darum, die Toten gegeneinander aufzurechnen. Mir geht es darum, Vernunft zu walten lassen — Vernunft und rationale Abwägung bei den Gefahren, denen wir ausgesetzt sind. Und natürlich auch bei den Maßnahmen, die zur Gefahrenabwehr (wie es so schön technokratisch heißt) notwendig oder möglicherweise zu ergreifen sind.
Irgendwie gehen Erregungs- Mitleids- und Vernunftmaßstäbe Stück für Stück, Schritt für Schritt, Interview für Interview immer mehr verloren (und das ist beileibe nicht nur ein Problem der AfD oder anderer rechts(radikaler) Parteien, sondern nahezu des gesamten politischen Systems) und verändern so unsere Gesellschaft mehr und nachhaltiger, als Gewalt und Gewalttäter — seien sie extremistische Terroristen oder psychisch Kranke — es bisher vermögen.
Und es bleibt die Angst, dass diese Gesellschaft vor lauter Hysterie und Sicherheitswahn bald nicht mehr meine ist. Und die Ratlosigkeit, was dagegen zu tun wäre …
Nachtrag: Der kluge Georg Seeßlen hat bei der “Zeit” einige interessante Überlegungen zu Gewalt, Medien und Gesellschaft aufgeschrieben. Er schließt mit dem aufklärerischen Appell:
Es ist nötig, was an aufklärerischer Energie noch vorhanden ist, zu bündeln, um eine offene, an keine Verdrängungsgebote oder soziale Taktiken gebundene Theorie der Subjekte des Terrors zu entwickeln, die nicht anders kann, als auch eine Theorie der Gesellschaft und ihrer Erosion und eine Theorie der Medien und ihrer Entfesselung zu enthalten. Niemand kann eine Katastrophe verhindern, denn es gibt kein System, das immun gegen Angriffe und immun gegen innere Widersprüche sei. Eines der großen Versprechen der Demokratie allerdings war es, dass es nicht nur ein anpassungsfähiges, sondern auch ein lernendes System sei, eines, das immer mehr Bewusstsein von sich und der Welt hat, kurzum, dass es zugleich Garant von Freiheiten und Instrument der Aufklärung sei.
Zum Projekt der Aufklärung zurück zu finden ist eine schwere Aufgabe, umso mehr, als auch sie sich in einer paradoxen Falle befindet: Jeder Terroranschlag und jeder Amoklauf ist auch ein Anschlag auf die Möglichkeit von Aufklärung. Jeder Terroranschlag und jeder Amoklauf ist auch eine Forderung, Aufklärung zu verwirklichen. Insofern wären wir schon einen Schritt weiter, wenn wir nicht länger so gebannt der Dramaturgie von Hysterisierung und Vergessen folgten.
Wir können nicht verhindern, dass soziale, politische und menschliche Katastrophen geschehen. Aber wir können verhindern, dass sie zum unaufgeklärten, unverstandenen, medialisierten, ideologisch manipulierten, politisch und ökonomisch missbrauchten Normalfall werden.
Und auch Mario Sixtus weist auf einen interessanten Punkt hin, der eventuell einen Ausweg aus dem immergleichen Reflex böte:
Wenn man Taten wie die in München verhindern will, muss man den mühsamen Perspektivwechsel nach innen vornehmen, in die eigene Gesellschaft hineinblicken, auf die eigenen Leute, auf die eigenen Werte.

Ins Netz gegangen am 20.7.:
- Terrorismus: “Unsere Welt gerät aus den Fugen” | Zeit → harald welzer hat im interview mit der “zeit” wenig genaues oder originelles zu sagen, aber das sagt er sehr gut
Aber man muss im Auge haben, dass Ängste politisch mobilisierbar sind. Das ist die eigentliche Katastrophe. Eine Politik der Angst führt immer zur Polarisierung der Gesellschaft und damit zu dem, was die Terroristen beabsichtigen.
- Lann Hornscheidt: “Es ist eine Frage der Zeit, bis wir bei der Geburt kein Geschlecht mehr zugewiesen bekommen” | zeit → lann hornscheidt im langen interview mit zeit-wissen, natürlich über sex, gender, geschlecht, sprache, identität und gesellschaft. und hass.(kanada ist übrigens gerade dabei, sich um die im titel angesprochene veränderung zu kümmern …)
(und wie immer: die kommentare sind trotz nicht gerade wenigen löschungen nicht so wirklich erfreulich) - Countertenor über Geschlechterrollen: „Es ist so ein Erfülltsein“ | taz → ein wunderbares interview mit dem großen andreas scholl, der ganz viel richtiges und wichtiges sagt …
Das Konzert, und da kommen wir wieder zurück auf die Religiosität, auf die Spiritualität, hat die Aufgabe, transformierend zu wirken. Das heißt: Das Publikum betritt den Saal. Und wenn das Publikum den Saal verlässt, ist es verändert.
- Das Postpost oder Wege aus dem Ich | Perlentaucher → charlotte kraft beim “perlentaucher” über die gegenwärtige junge literatur und ihre inhalte
Was prägt also diese Zeit und ihre Literatur: Die Angst vor Epigonalität, die Angst vor Meinungen, die Angst vor Entscheidungen, die Angst vor dem unergründbaren Fremden, vor Träumen, Leidenschaft und Naivität, denn all dies bedeutet Ausschluss, gefährliche Eindimensionalität. Leidenschaft für das eine schlösse Leidenschaft für all das andere aus, das Fremde ist nie in seiner Gänze zu begreifen, die ganze Wahrheit bleibt immer unausgesprochen und das Bewusstsein darüber ist unser Drama. Am Ende kann ich mich nie für eines entscheiden. Am Ende bleibt nur die Resignation und das Verlangen, über meine Not zu schreiben, zu reflektieren und diese Reflexion wiederum zu reflektieren und immer so weiter. Die Konzentration auf ein anderes Thema als das Ich, das Zentrum unendlicher Möglichkeiten, scheint unmöglich. Egozentrismus ist keine Entscheidung.
- Der Fall Rockel-Loenhoff: Eine Hebamme und die tödliche Brauchtumspflege (Teil 2: Täterin und Tat) | Psiram → Psiram legt die geschehnisse anhand der urteilsschrift dar — wesentlich nüchterner als etwa die “süddeutsche” in ihrem tendenziösen pro-hebamme-artikel vor einiger zeit
- The Open Letter Denouncing Trump You’re Going to Read on Facebook for the Next Four Months | The New Yorker → der new yorker hat den republikanern mal etwas arbeit abgenommen und einen muster-blogpost (schön generisch) zur individuellen distanzierung und verdammung von donald trump verfasst
- François-Xavier Roth: „Rundfunkorchester sind unglaubliche Maschinen für die Musik, für die Zukunft“ | nmz →
Es wäre natürlich besser gewesen, wenn das Orchester erhalten geblieben wäre, aber diese Entscheidung nehme ich nicht persönlich. Es geht nicht um mich. Aber ich habe viel gelernt darüber, in welcher Zeit wir leben. Dass sich die Tendenzen in Deutschland gerade gegen die Kunst richten. Diese Fusion war ein erstes Kapitel – und ich hoffe, es war auch das letzte. Diese Entscheidung hat sehr viel zu tun mit Populismus. Ich bin sehr enttäuscht darüber, dass sich Vertreter der Rundfunkorchester Deutschlands nicht an einem runden Tisch getroffen haben. Nach unserer Geschichte, die wir erleben mussten, wäre dies wirklich absolut notwendig. Rundfunkorchester sind unglaubliche Maschinen für die Musik, für die Zukunft. Aber man muss dies herausstreichen in der öffentlichen Diskussion. Man muss sehr laut und kreativ sein.