[…]
Ein einziges Mal im Jahre nur, wenige kurze Wochen hindurch, kommen die Menschen da, wo sich noch etwas vorlutherischer Geist erhalten hat, zur Besinnung und Freude. Es ist, als ob im Karneval die Einsicht über sie käme, dass all ihr alltägliches Gehaben grauenvoll alberner Mummenschanz ist, und als ob das verschüttete Gefühl der selbstständigen Wesenheit jedes Einzelnen einmal wenigstens sich emporwühlen müsse, um tief Atem zu holen und dann wieder, am Aschermittwoch, zurückzusinken in den Alpdruckschlaf der unwahrscheinlichen Wirklichkeit.
[…] Erich Mühsam, Fasching (1933) [zitiert nach: Erich Mühsam: Das seid ihr Hunde wert! Ein Lesebuch. Herausgegeben von Markus Liske und Manja Präkels. Berlin: Verbrecher 2014, S. 153f.]
Dieselben Leute, die sonst nicht weit genug abrücken können von denen, die in Kleidung, Haartracht oder Benehmen von den üblichen Konventionen abweichen, oder sich gar zu einer Weltanschauung bekennen, die von den demokratischen Vorschriften im Kern unterschieden ist diese selben Leute kleiden sich plötzlich in bunte Lappen, putzen sich so originell zurecht, wie es ihnen nur möglich ist, und bewegen sich ungezwungen, lebendig, herzlich unter den gleichfalls verkleideten Nebenmenschen. Sie empfinden mit einem Male, dass sie, je singulärer ihre Erscheinung in der Menge wirkt, den übrigen Larven umso enger verbunden sind, und sie finden die ihnen im gewöhnlichen Leben ganz fremde Freiheit, übermütig zu sein, die Zwangsformen der Geschäftlichkeit beiseitezuschieben und öffentlich vor aller Augen menschliche Regungen einzugestehen.
Die Behörden selbst müssen die überall aufgepflanzten Verbotspfähle zurückstecken, um der Ausgelassenheit freiere Bahn zu schaffen, und wo sie es nicht tun, wo verknöcherter Beamteneifer mit Polizeistunden und Sittlichkeitsverordnungen auch noch im Getriebe der Faschingsfröhlichkeit herumfuhrwerkt, da hört man von den bravsten Bürgern kräftige Verwünschungen und erfrischende Bekenntnisse zu anarchischen Lebensformen. Sie vergessen, dass sie das ganze Jahr vor dem Fasching die Beaufsichtigung durch den Schutzmann selbst gewünscht haben, dass sie sie das ganze Jahr nach dem Fasching wieder wünschen werden und dass sie willig Steuern gezahlt haben für die Besoldung der Nüchternheit, die, verkörpert in Paragrafendrechslern, die vielleicht selbst ganz gern mit den andern trinken, tanzen und küssen möchten, auch in dem kurzen Zeitraum der pflichtentbundenen Freude mechanisch weiterfunktioniert.
Es ist verzweifelt schade, dass von dem Geiste des Karnevals, der recht eigentlich der Geist der Rebellion ist, so gar keine Spur über den Faschingsdienstag hinaus gerettet werden kann. Nachher wird die Rechnerei und Schacherei und all das verrückte Getue wieder losgehen.
Schreibe einen Kommentar