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Ein einziges Mal im Jahre nur, wenige kurze Wochen hin­durch, kom­men die Men­schen da, wo sich noch etwas vor­lutherisch­er Geist erhal­ten hat, zur Besin­nung und Freude. Es ist, als ob im Karneval die Ein­sicht über sie käme, dass all ihr alltäglich­es Gehaben grauen­voll albern­er Mum­men­schanz ist, und als ob das ver­schüt­tete Gefühl der selb­st­ständi­gen Wesen­heit jedes Einzel­nen ein­mal wenig­stens sich empor­wühlen müsse, um tief Atem zu holen und dann wieder, am Ascher­mittwoch, zurück­zusinken in den Alp­druckschlaf der unwahrschein­lichen Wirk­lichkeit.
Diesel­ben Leute, die son­st nicht weit genug abrück­en kön­nen von denen, die in Klei­dung, Haar­tra­cht oder Benehmen von den üblichen Kon­ven­tio­nen abwe­ichen, oder sich gar zu ein­er Weltan­schau­ung beken­nen, die von den demokratis­chen Vorschriften im Kern unter­schieden ist diese sel­ben Leute klei­den sich plöt­zlich in bunte Lap­pen, putzen sich so orig­inell zurecht, wie es ihnen nur möglich ist, und bewe­gen sich ungezwun­gen, lebendig, her­zlich unter den gle­ich­falls verklei­de­ten Neben­men­schen. Sie empfind­en mit einem Male, dass sie, je sin­gulär­er ihre Erschei­n­ung in der Menge wirkt, den übri­gen Lar­ven umso enger ver­bun­den sind, und sie find­en die ihnen im gewöhn­lichen Leben ganz fremde Frei­heit, über­mütig zu sein, die Zwangs­for­men der Geschäftlichkeit bei­seit­ezuschieben und öffentlich vor aller Augen men­schliche Regun­gen einzugeste­hen.
Die Behör­den selb­st müssen die über­all aufgepflanzten Ver­bot­spfäh­le zurück­steck­en, um der Aus­ge­lassen­heit freiere Bahn zu schaf­fen, und wo sie es nicht tun, wo verknöchert­er Beamteneifer mit Polizeis­tun­den und Sit­tlichkeitsverord­nun­gen auch noch im Getriebe der Faschings­fröh­lichkeit herum­fuhrw­erkt, da hört man von den bravsten Bürg­ern kräftige Ver­wün­schun­gen und erfrischende Beken­nt­nisse zu anar­chis­chen Lebens­for­men. Sie vergessen, dass sie das ganze Jahr vor dem Fasching die Beauf­sich­ti­gung durch den Schutz­mann selb­st gewün­scht haben, dass sie sie das ganze Jahr nach dem Fasching wieder wün­schen wer­den und dass sie willig Steuern gezahlt haben für die Besol­dung der Nüchtern­heit, die, verkör­pert in Para­grafendrech­slern, die vielle­icht selb­st ganz gern mit den andern trinken, tanzen und küssen möcht­en, auch in dem kurzen Zeitraum der pflich­t­ent­bun­de­nen Freude mech­a­nisch weit­er­funk­tion­iert.
Es ist verzweifelt schade, dass von dem Geiste des Karnevals, der recht eigentlich der Geist der Rebel­lion ist, so gar keine Spur über den Faschings­di­en­stag hin­aus gerettet wer­den kann. Nach­her wird die Rech­nerei und Schacherei und all das ver­rück­te Getue wieder los­ge­hen.

[…] Erich Müh­sam, Fasching (1933) [zitiert nach: Erich Müh­sam: Das seid ihr Hunde wert! Ein Lese­buch. Her­aus­gegeben von Markus Liske und Man­ja Präkels. Berlin: Ver­brech­er 2014, S. 153f.]