Die Unmoral der Lüge besteht nicht in der Verletzung der sakrosankten Wahrheit. Auf diese sich zu berufen hat man letzten eine Gesellschaft das Recht, die ihre Zwangsmitglieder dazu verhält, mit der Sprache herauszurücken, um sie dann desto zuverlässiger ereilen zu können. Es kommt der universalen Unwahrheit nicht zu, auf der partikularen Wahrheit zu bestehen, die sie doch sogleich in ihr Gegenteil verkehrt. Trotzdem haftet der Lüge etwas Widerwärtiges an, dessen Bewußtsein einem zwar von der alten Peitsche eingeprügelt ward, aber zugleich etwas über die Kerkermeister besagt. Der Fehler liegt bei der allzu großen Aufrichtigkeit. Wer lügt, schämt sich, denn an jeder Lüge muß er das Unwürdige der Welteinrichtung erfahren, die ihn zum Lügen zwingt, wenn er leben will, und ihm dabei auch noch “Üb imer Treu’ und Redlichkeit” vorsingt. Solche Scham entzieht den Lügen der subtiler Organisierten die Kraft. Sie machen es schlecht, und damit wird die Lüge recht eigentlich erst zur Unmoral am anderen. Sie schätzt ihn als dumm ein und dient der Nichtachtung zum Ausdruck. Unter den abgefeimten Praktikern von heute hat die Lüge länst ihre ehrliche Funktion verloren, über Reales zu täuschen. Keiner glaubt keinem, alle wissen Bescheid. Gelogen wird nur, um dem andern zu verstehen zu geben, daß einem nicht an ihm liegt, daß man seiner nicht bedarf, daß einem gleichgültig ist, was er über einen denkt. Die Lüge, einmal ein liberales Mittel der Kommunikation, ist heut zu einer der Techniken der Unverschämtheit geworden, mit deren Hilfe jeder Einzelne die Kälte um sich verbreitet, in deren Schutz er gedeihen kann. Theodor W. Adorno, Minima moralia, #9, S. 28
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- „Die Gesellschaft profitiert von unserer Autonomie“ | FAZ → ein schönes, interessantes, kluges interview mit der historikerin barbara stollberg-rilinger
Die ganze Gesellschaft profitiert von der Autonomie der Wissenschaft. Die eigentliche Arbeit der Historiker ist meiner Ansicht nach von solchem bürgerrechtlichen Engagement zu unterscheiden. Indem man Geschichte nach historisch-kritischen Standards schreibt, leistet man ja schon Aufklärungsarbeit.
- Vorbild Frankfurt: Restaurative Schizophrenie| Merkur → ein sehr kluger und, trotz seiner klaren positionierung, unaufgeregter kommentar von philipp oswalt zur rekonstruktionsarchitektur wie der frankfurter “neuen altstadt” (schon der name ist in seiner ästhetischen grausamkeit ja bezeichnend)
Es ist eine Medienarchitektur, die aus technischen Bildern generiert nun vor allem der Erzeugung neuer medialer Bilder dient. Auch sonst ist die Architektur keineswegs so traditionell, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Der Rohbau besteht – von den wenigen Fachwerkhäusern abgesehen – aus Stahlbeton und Industrieziegeln, die Ausstattung umfasst Fußbodenheizung mit Fernwärme, Dreifachverglasung, mechanische Lüftung, modern geschnittene, offene Wohnküchen, umfangreiche Sanitärräume und meist einen direkten Zugang zu den privaten Stellplätzen in der zugehörigen Tiefgarage.
Nicht nur für die Bewohner, auch für die zeitknappen Ferntouristen aus Asien und Übersee ist die neue Altstadt die moderne Alternative, und so wird sie auch beworben.
[…]Ob iconic building oder Rekonstruktion historischer Bauten – beides sind symbolische Gesten zur Identitätskonstruktion, wie sie seit den 1990er Jahren in Mode gekommen sind.
[…] Der Staat hat sich aus der Fläche zurückgezogen, und die vorherige Kohäsionspolitik wurde durch einen Inselurbanismus abgelöst, bei dem große Bereiche der Stadt dereguliert und privatisiert werden, während an ausgewählten zentralen Orten kleine Inseln mit großer Kontrolltiefe beplant werden. […]Mit dem Zerfall einer im Alltag praktizierten Kohäsion ist die Aufwertung eines symbolisch-medialen Ersatzes umso wichtiger.
[…]Doch die Altstadt Frankfurt ist keine überzeugende Antwort auf die drängenden Fragen des heutigen Städtebaus, sie ist Teil des Problems.
- Im Rucksack: die Freiheit | Oliver B. Weber → ein interessanter essay über die spezifische form des reisens der gegenwärtigen backpacker und die daraus entstehende/erwachsende “globality”
Der Backpacker versteht sich als Zeitreisender. Er sucht die selige Vergangenheit in geographischer Ferne. Die Menschen, die darin leben müssen, begutachtet er mit einer ambivalenten Mischung aus Staunen und Herabsetzung. Immer seltener hingehen ist ein tatsächlich eintretender habitueller Positionswechsel des Beobachters. Woher kommt die häufige Blindheit gegenüber der tatsächlichen Welt, zu deren Entdeckung das Backpacking ja angetreten war?
- Sehnsucht nach Retrotopia | Zeit → ein kluger essay von nils markwardt über “Politisierung der Nostalgie” und die “Fetischisierung von Geschichte unter Ausblendung von Geschichtlichkeit”:
Im Angesicht der aktuellen Retromania besteht die Aufgabe darin, Geschichte als gleichermaßen bewussten wie progressiven Wiederholungsprozess, nicht als bloßes Abstauben der Vergangenheit zu verstehen.
- Da läuft etwas ganz schief | Forschung & Lehre → der erziehungswissenschaftler volker ladenthin hat genug von den mangelnden fähigkeiten und kenntnissen der aktuellen studierenden (ich bin mir nicht sicher, ob das in die kategorie “früher war alles besser” fällt oder ob es wirklich die realität trifft)
Die Studierenden sind überaus freundlich und kommunikativ, im Zwiegespräch sehr geschickt. Ebenso sind sie fleißig, gutwillig und konstruktiv: Aber es lässt sich ein entwicklungspsychologisches Problem feststellen. Auf Grund der kognitiven Entwicklung scheinen die Studierenden in den Anfangssemestern mehrheitlich nicht in der Lage, komplexe, antinomische und multikausale Prozesse, wie sie heute in allen Wissenschaften üblicherweise beschrieben werden, angemessen aufzunehmen und Vorgänge streng aspektgebunden oder multiperspektivisch zu betrachten.

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- Geht doch auch so | Zeit → der soziologe armin nasseh über komplexität, politik, lösungen und den ganzen kram der gegenwart
Aber man braucht eine bestimmte Denkungsart, um sich nicht von der Welt überfahren zu lassen. Der größte Fehler heute wäre, weiter so zu tun, als könnten wir die Dinge kontrollieren. Können wir nicht. Und mit dieser Nicht-Kontrollierbarkeit müssen wir rechnen.
- Freibad, Gleichheit, Brüderlichkeit | NZZ → richard kämmerlings versucht sich — vielleicht etwas freihändig, aber doch sehr flott zu lesen — an einer klitzekleinen kulturgeschichte des freibads
Freibad, das war ein Ausdruck sozialen Fortschritts, ein erfrischender Luxus für alle, gewissermaßen die gebaute Vorwegnahme eines kommunistischen Endzustands, in dem auch der Arbeiter seinen gerechten Anteil am Reichtum hat und Freizeit kein Privileg von Adel und Bourgeoisie mehr ist.
- Abzock-Fachzeitschriften: Wie groß ist das Problem? | Scilogs → markus pössel versucht, dem von rechercheverbund des ndr, wdr & süddeutsche lancierten problem der betrügerischen zeitschriften (das dort, vollkommen falsch und überhaupt nicht nachvollziehbar, als “fake science” etikettiert wird) und vor allem der zahl der betroffenen wissenschaftler*innen nachzugehen, weil die medien keine details verraten …
- Radlretter → drei studenten haben eine mobile radwerkstätte — v.a. für notfälle, nicht für große reparaturen und umbauten — in regensburg eröffnet. sieht ganz nett aus und die preise schauen mir auch fair aus (auch wenn ich’s eher nicht brauchen werde, so sachen mache ich dann doch selbst …)
- Smart home tech is being turned into a tool for domestic abuse| Wired → noch mehr gründe, warum das IoT nur eine bedingt gute idee ist …
- Theresa May’s Impossible Choice | New Yorker → eine ziemlich gute reportage über den brexit, zugleich ein intensives porträt von theresa may (oder umgekehrt, wie man möchte …) von sam knight
Brexit and Trump are often compared. The disasters that have occurred in two of the world’s oldest democracies stem from similar causes, but they manifest as very different phenomena. The danger posed by Trump is theoretically unlimited, as borderless as his proclivities and the terrifying power of his office. The Brexit vote, by contrast, has traumatized British politics by narrowing it. There is only one concept, and we are putting every problem that we have inside that concept. May’s assignment has been to quell a populist wave, not ride it; to sublimate the contradictory forces within Brexit and to protect the country from itself.

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- Umso schlimmer für die Tatsachen | Süddeutsche → wolfgang kraushaar wirft einen instruktiven blick auf die “ergebnisse” des gedenkjahres zum 50. jubiläum von “1968”
Kaum jemand, der sich damals auf die Bewegung eingelassen hatte, dürfte so wieder aus ihr herausgekommen sein, wie er zuvor in sie hineingegangen war. Das war ein komprimierter, äußerst dynamischer Prozess, der die Einzelnen nur zu häufig grundlegend verändert hat.
Diese Bewegung war aber in ihrem Kern auch etwas völlig Neuartiges. Ihre Akteure wollten ja nicht einfach wie noch die Arbeiter- oder Gewerkschafts‑, die Friedens- oder Ostermarschbewegung durch ihren Protest Interessen verfolgen und bestimmte Ziele erreichen. Nein, sie wollten sich dabei auch selbst entwickeln, verändern, manche sogar “befreien”. Es ging 1968 zugleich auch immer um die Bewegten selbst, um ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche, ihre Träume — in einem emphatischen Sinne um Subjektivität. Die Schalen der alten Person sollten abgeschüttelt und darunter ein neues Ich entdeckt und geborgen werden. Damit hatte sie allen Irrungen und Wirrungen zum Trotz ein Bewegungsformat geschaffen, das für andere Protestierende zum Fixpunkt wurde und an dem sich viele später orientiert haben.
- Die Scheinfreiheit der Bibel | taz → heinz-werner kubitzka erklärt, warum es falsch (und scheinheilig) ist, sich für moderne werte auf das christentum zu berufen:
Toleranz und Freiheit sind eben nicht organisch aus dem Christentum erwachsen, sondern mussten geradezu in Gegnerschaft zum Christentum verwirklicht werden. […] Befreiung findet und fand nicht mit, sondern meist gegen die Religionen statt. Moderne Werte nimmt man nicht aus alten Schriften.
- Verbale Ausschussware | Spiegel → sascha lobo verzweifelt an facebooks community-standards — und zwar ausdrücklich schon an ihrer sprachlichen verfasstheit
- Mein erster DSGVO Rant – Zu viele Mythen und gefährliches Halbwissen zum neuen europäischen Datenschutzrecht | Recht 2.0 → carsten ulbricht ärgert sich über panik und falsche informationen in bezug auf die dsgvo
Wer sich hier von der Panikmache nicht anstecken lässt, sondern sich aus vernünftigen Quellen oder bei Beratern informiert, die einen praktikablen Weg zur Umsetzung zeigen und nicht nur mitteilen, wie unsicher und riskant alles wird, der wird auch die Vorgaben der DSGVO sinnvoll umgesetzt bekommen.
- Von der Lügenpresse zur Lügenwissenschaft? | Zeitgeschichte online → andreas wirsching macht sich gedanken über den platz und die relevanz der (zeit-)geschichte in der heutigen gesellschaft:
Mit ihrem pluralen Blick auf die Vergangenheit vermeidet die Problemerzeugungsgeschichte zugleich die Fragmentierung ihres Gegenstandes entlang identitärer Abgrenzungen. Sie lässt sich daher nicht vor den Karren außerwissenschaftlicher Identitätskonstruktionsbedürfnisse spannen, sondern analysiert diese selbst als Problemhorizont der Gegenwart.
So – und wie ich meine nur so – lässt sich die Zeitgeschichte als Vorgeschichte der Gegenwart verstehen. Und als solche kann sie nicht nur, sondern sollte unbedingt ihre Stimme in der Deutung aktueller Problemlagen erheben. Gegenüber den Reduktionisten aller Couleur wirkt sie störend, aber eben das erweist ihre öffentliche Relevanz.
Und in nicht wenigen Diskussionen liegt darin auch ihre besondere Kompetenz. Historische Wissenschaften sind nämlich die einzigen Disziplinen, die gleichsam mit zwei Augen sehen. Während das eine Auge in der Zeit- und Standortgebundenheit des Wissenschaftlers haften bleibt, richtet sich das andere auf die historische Tiefe. Und erlauben Sie mir zum Schluss eine nicht ganz ernstzunehmende Weiterführung des Bildes. Denn sind nicht die rein gegenwartsorientierten Wissenschaften gleichsam die Einäugigen unter den Blinden – den blinden Zeitgenossen, die ihre Gegenwart nicht zu verstehen vermögen? Und ist es demgegenüber nicht allein die Zeitgeschichte, die mit ihren beiden Augen zusammen räumlich sehen kann. Wenn es sich so verhält, ist die Zeitgeschichte weder antiquarische noch Lügenwissenschaft und um ihre Relevanz braucht uns nicht bange zu sein.

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- Fata, Libelli. Literaturkolumne | Merkur → ekkehard knörer wirft einen instruktiven blick auf den buchmarkt und seine (haupt-) akteur*innen
Ein Buch ist idealtypisch das, was eine Autorin verfasst, ein Agent in ihrem Namen verkauft, eine Lektorin lektoriert, ein Verlag setzen lässt, publiziert und bewirbt, was ein Händler online oder im Laden verkauft, eine Rezensentin rezensiert, eine Käuferin kauft. Ein Buch ist also ein ziemlich komplexes, aus geistigen, materiellen, ökonomischen Aspekten zusammengesetztes Objekt. […] Das Schreiben von Büchern ist eine in jeder Hinsicht aufwändige und anstrengende Sache. Die allermeisten Autorinnen und Autoren von Literatur können, wie sich aus den genannten Zahlen ohne viel Rechnen ergibt, weder von den Verkäufen ihrer Bücher noch von den Vorschüssen leben. Das gilt für die USA, das gilt für Deutschland, es gilt wohl überall auf der Welt. Dennoch erscheinen Jahr für Jahr unfassbar viele belletristische Titel. Wovon leben all diese Menschen?
- Geschlossen gegen imaginierte Bedrohungen | Süddeutsche → ein ziemlich guter essay von felix stephan über die verbiesterten, engstirnigen kämpfe um (deutungs-)hoheit (auch) in der kulturszene, die er er im verharren in den eigenen echokammern begründet sieht
- Aber über Judenhass nicht lachen wollen! | Übermeiden → gabriel yoran regt sich ziemlich zu recht über dumme fragen beim dlf auf:
[Levit] soll allen Ernstes erklären, wie sich sein Twittern jüdischer Witze mit Kritik an einem Preis für Verächtlichmachung von Auschwitz-Häftlingen verträgt. Was ist das für ein furchtbares Land, in dem ein führendes, seriöses Medium solche Fragen stellt?
- Monika Grütters im Interview | Tagesspiegel → ein total irres interview mit monika grütters, die sich ernsthaft darüber beschwert, dass bei kulturpolitischen entscheidungen (zu) viele mitreden wollen. nun ja:
Manchmal würde auch der Kulturbetrieb eine Autorität gut vertragen.
- Die große Inklusion | taz → vorabdruck eines auzuges aus armin nassehs neuem buch über 1968, “Gab es 1968?”, das — wenn ich den hier veröffentlichten text als maßstab nehme — sehr interessant zu sein scheint:
Als wirksames Erbe [von 1968] haben sich Inklusionsschübe vollzogen, in deren Folge es zu einer Generalinklusion der Bevölkerung kam. Dadurch ist es, so meine These, in allen westeuropäischen Ländern zu einem mehr oder weniger merklichen impliziten Linksruck gekommen – nicht explizit links gemäß der Vorstellung der radikalen Revolutionsperspektive des kleinen harten Kerns von „1968“, wonach die Gesellschaft ein umbaubares Objekt darstellt. Doch die Inklusionsdynamik hat durchaus zu einer diskursiven Beteiligung größerer Gruppen geführt, und es kam zu einer gruppenübergreifenden Prämiierung von Abweichung allein deshalb, weil die „Arbeitsteilung“ von Schichten und Milieus durcheinandergeriet.
[…] Die Politisierung der Inklusion ist das, was ich hier als das implizit Linke bezeichnen möchte. Es ist links, weil es die egalitären, auf soziale Ungleichheit zielenden Formen von Mitgliedschaft und Generalinklusion von Bevölkerungen offensiv angeht und sich mit jedem Schritt in Richtung Generalinklusion die Unmöglichkeit einhandelt, solche Formen wieder zurückzudrehen. Und es ist implizit links, weil es für die Verfolgung solcher Politik keiner explizit linken Semantik und Programmatik bedarf.

Ins Netz gegangen am 28.11.:
- The mystery of the phantom reference | harzing.com → eine schöne geschichte: ein wissenschaftsverlag erfindet für seine formatvorlage einen fachartikel — und der taucht immer wieder in wissenschaftlichen publikationen auf …
- Frau am Steuer: Pionierinnen in Männerdomänen | Standard → bettina balaka über “frauen am steuer” (und in anderen berufen) in österreich — eine schöne erinnerung, wie kurz die zeit der emanzipation doch eigentlich ist …
Man kann sich nie sicher sein, was verrückt ist oder vielleicht doch eine gute Idee, was normal und was irrational, weil einen Geschichte und Gewöhnung nicht selten eines Besseren belehren. Manchmal geht gesellschaftliche Veränderung so schnell, dass eine Generation der nächsten davon erzählt wie aus grauer Vorzeit. Was heute vollkommen vernünftig erscheint, löst Jahrzehnte später ungläubiges Kopfschütteln aus. Wir dürfen davon ausgehen, dass auch einiges von dem, was wir im Augenblick für gut und richtig, da vertraut halten, von diesem Schicksal ereilt werden wird.
- Klimawandel – ich habe darüber geredet | Klimafakten → ein wissenschaftler berichtet über die schwierigkeiten, mit menschen über den klimawandel ins gespräch zu kommen und an strategien oder lösungen zu arbeiten
- The Horizon of Desire | Longreads → laurie penny über consent, rape und moralität und kultur — wie (fast) immer bei ihr, ein großer lesegewinn
The problem is that technically isn’t good enough. “At least I didn’t actively assault anyone” is not a gold standard for sexual morality, and it never was. Of course, we have to start somewhere, and “try not to rape anyone” is as good a place as any, but it can’t end there. Our standards for decent sexual and social behavior should not be defined purely by what is likely to get us publicly shamed or put in prison, because we are not toddlers, and we can do better. […] This is what consent culture means. It means expecting more — demanding more. It means treating one another as complex human beings with agency and desire, not just once, but continually.
- The secret tricks hidden inside restaurant menus | BBC → über die optimierung von speisekarten — also optimierung im sinne von mehr geld für’s restaurant …
- Compulsory helmet laws won’t make cycling safer | British Cycling → wieder/noch einmal der hinweis, dass helmpflichten für radfahrer_innen die kopfverletzungen nicht unbedingt reduziert, von anderen (gesundheitlichen) auswirkungen ganz zu schweigen
Die Erziehung aber ist immer rückständig. Ihr Fortschritt besteht darin, daß ihre Rückständigkeit ein wenig überwunden wird. Siegfried Bernfeld, Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung (1925) 126

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- Helmut Kohl Visits Yad Vashem – June 6th 1995 | Yaacov Lozowick’s Ruminations → Yaacov Lozowick, mitarbeiter bei yad vashem, berichtet über das egozentrische desinteresse helmut kohls bei dessem besuch in yad vashem 1995 — und seine gegenteilige inszenierung für die medien. sehr spannender zeitzeugenbericht
Federal Chancellor Helmut Kohl came to visit us at Yad Vashem this morning. I accompanied him throughout his 70 minute visit. We began in the Valley of the Destroyed Communities, a sort of cemetery of cemeteries. Once the Jews were gone, their cemeteries began to die, so they’ve been symbolically transplanted to Jerusalem where the Jews still live. I had intended to suggest some of these ideas to him, but he wasn’t interested. “Yes yes, I understand”, he said, and moved on. Not that he didn’t observe his surroundings. The gigantic stone blocks of the Valley reminded him of his beloved Rhineland, and he told me about the beautiful cathedral in Speyer, and how the setting sun makes it glow. That’s how it went the entire time. He never saw Yad Vashem, and even less what it means. […] Then, as he stood before the TV cameras, his entire demeanor abruptly changed. He seemed somehow smaller, and he spoke about shame, memory, and the future… but you saw him on the evening news, no doubt. A minute later it was over, and he carried on his friendly chatter with me.
- Links bin ich schon lange nicht mehr | NZZ → ein extrem irritierender, unvernünftiger, nicht-/pseudo-argumentierender text von monika maron, die ich als autorin bisher sehr geschätzt habe. nach diesem elaborat wird mir das schwer fallen …
- Hormonelle Irrationalität. Zur Geschichte der Gefühle in der Schwangerschaft | Geschichte der Gegenwart → ein spannender text über den zusammenhang von weiblicher körperlichkeit und rollenbildern
Auch das heutige Wissen zu hormonellen Stimmungsschwankungen in der Schwangerschaft ist also Ausdruck bestimmter Weiblichkeitskonzepte. Dabei sind vor allem zwei Aspekte zentral: Erstens führen die aktuellen Vorstellungen schwangerer Gefühle dazu, dass gesellschaftliche Probleme […] in den Frauenkörper verlegt werden. Aus politischen Widersprüchen wird so hormonelle Irrationalität. Zweitens zeugt der aktuelle Diskurs zur hormonellen Irrationalität davon, dass mit der zunehmenden Emanzipation von Frauen auch eine gewisse Re-Traditionalisierung einhergeht. […] Denn auf diesem Wege wird Frauen das alte Rollenbild der hyper-verantwortlichen Mutter in Körper und Psyche eingeschrieben – und zwar bereits während der Schwangerschaft.
- Nichtmehrlinke | Neues Deutschland → leo fischer sehr schön und pointiert über die mode der nicht-mehr-linken
Abgesehen davon, dass, wer in welchen Milieus auch immer nur deshalb unterwegs ist, um Zugehörigkeits- und Stammeserfahrungen zu machen, vielleicht ein viel größeres Problem hat, als es von solchen Milieus behandelt werden kann: Welches Milieu soll das denn sein? Wo gibt es noch solidarische Strukturen in diesem Land, die über das Organisationsniveau von MLPD-Stammtischen und alternativen Wohnprojekten hinausreichten? Wen meint diese Frau? »Realitätsfern« ist an diesem Milieu nur, dass es schlichtweg nicht existiert.
- Welchen Fakten können wir trauen? | Philosophie-Magazin → interessantes interview mit lorraine daston und georg mascolo über wahrheit, tatsachen, medien und politik
Die Flugblätter der Reformationszeit lassen sich mit einer Webseite wie Breitbart News vergleichen. Es hat über 200 Jahre, also bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts gedauert, bis Verfahren etabliert waren, mit denen sich wahre von falschen Informationen unterscheiden ließen. Ich hoffe, wir sind in der Lage, heute schneller an dieses Ziel zu gelangen. […] Die Wahrheit ist kein Fertighaus, das man über Nacht errichtet. Sie ist, wenn ich das etwas pathetisch formulieren darf, eine Kathedrale.

Ins Netz gegangen am 19.5.:
- Im Gespräch: Timo Brandt redet mit Bertram Reinecke | Fixpoetry → bertram reinecke gibt timo brandt lange antworten übers verlegen, experimentelle literatur und seine eigene lyrik
Nein, ich wollte immer bloß interessante Literatur verlegen, solche, die irgendwas bietet, was man anderswo nicht geboten bekommt. Ich muss nicht jedes Jahr ein Programm füllen und kann warten, was mich trifft. Darüber hinaus verlege ich lieber Autoren, deren Besonderheit ich auch greifbar schildern kann.
[…] Insgesamt ist der Verdacht, dass bestimmte alte Formen bestimmte alte Inhalte nahelegen, zwar nie unbegründet, aber das Problem erweist sich als eines, mit dem man sehr gut umgehen kann. - Zum Geschäft der Literaturkritik heute | Volltext → daniela strigl beantwortet den “volltext”-fragebogen:
Für mich persönlich: die Simulation einer gesellschaftlichen Relevanz, die sie schon seit Längerem nicht mehr hat. Ich muss zumindest so tun, als wäre die Kritik noch wichtig, damit ich jenes Maß an Hingabe und Ernst aufbringe, das jeder literarische Text grundsätzlich verdient. Mitten in dieser mir selbst vorgespielten Wichtigkeit dämmert mir freilich die Irrelevanz meines Tuns, die wiederum eine schöne Freiheit eröffnet. Allgemein betrachtet ist die Kritik in ihrer Marginalisierung natürlich als siamesischer Zwilling an die Literatur gebunden. Der Zeitgeist hält nicht viel von Literatur und von literarischer Bildung beziehungsweise er hält sie für Luxus, ergo entbehrlich. Das wird sich einmal auch wieder ändern, bis dahin lese und schreibe ich unverdrossen weiter.
- Smarte Mobilität | taz → Martin Held, Manfred Kriener und Jörg Schindler schlagen vor, vorhandene, funktionierende Assistenzsystem bei Pkw und Lkw viel stärker einzubinden, um Unfälle zu vermeiden
Wir haben Visionen vom komplett autonomen Auto, das angeblich alles besser macht. Wir trauen uns aber nicht, nützliche Assistenzsysteme auch nur in Ansätzen vorzuschreiben?
Der oben beschriebene Einsatz der Technik wäre sofort machbar und würde eine heilsame Wirkung entfalten. Ebenso wäre in der Übergangszeit ein „Mischbetrieb“ von Fahrzeugen mit und ohne Assistenzsysteme problemlos möglich. Und noch einmal: In allen Fällen blieben die Freiheitsgrade beim Fahren so lange vollständig erhalten, wie die Rechtsvorschriften eingehalten und keine gefährlichen Fahrmanöver gestartet werden.
- Gestern böse, heute normal | Zeit → Harald Welzer über “shifting baselines” (oder, um es anders zu sagen: verändernde diskurse)
Shifting baselines sind gerade in Zeiten großer politischer Dynamik ein Problem, weil die Nachrichten, Begriffe, Konzepte und Provokationen so beschleunigt und vielfältig einander abwechseln, dass man kaum bemerkt, wie das, was gestern noch als unsagbar galt, heute schon Bestandteil eines scheinbar normalen politischen Diskurses ist. […] Wie bemerkt man solche Verschiebungen, und wie stemmt man sich dagegen? Dafür gibt es kein Patentrezept, schließlich ist man als Mitglied einer Gesellschaft stets Teil einer sich verändernden sozialen Gemeinschaft. Aber vielleicht kann man sich darin üben, gelegentlich “Augenblick mal!” zu sagen, wenn einem etwas so vorkommt, als habe man es kurz zuvor nicht mal denken, geschweige denn sagen wollen. … Einfach mal den Rede- und Denkfluss unterbrechen, die baseline am Verschieben hindern. Den eigenen moralischen Kompass eichen.
- Gedichte für alle! | NZZ Felix Philipp Ingold recht klug über die Vorteile von Lyrik, ihre Rezeption und Kritik momentan →
Im Unterschied zum Informationsgehalt des Gedichts steht seine Sprachgestalt ein für alle Mal fest, sie ist am und im Gedicht sinnlich fassbar, ist Gegenstand seiner ästhetischen Erkenntnis, dies in Ergänzung oder auch in Kompensation zu dem von ihm Gemeinten. Nicht seiner Bedeutung nach, aber als Lautgebilde hat das Wort in jedem Fall seine eigene Wahrheit – nicht zu widerlegen, nicht zu verfälschen, niemals adäquat zu übersetzen.

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- Weswegen der Verweis auf „Führungsschwäche“ das Problem der Bundeswehr nicht trifft. Die Skandale bei der Bundeswehr als ungewollte Nebenfolgen von Kameradschaftserwartungen | Sozialtheoristen → stefan kühl über die bundeswehr, ihre besondere (und wohl notwendige) form der kameradschaft und die frage der “führungsschwäche”
Die Bundeswehr hat mit ihrem in der Öffentlichkeit gezeichneten Wunschbild nichts zu tun. Jenseits der formalen Ordnung gibt es in Armeen immer auch Probleme der Zusammenarbeit, die nicht durch die formale Ordnung gelöst werden können. Vor allem die konkrete Leistungsmotivation der Mitglieder, besonders aber die reibungslose Lösung der Probleme der alltäglichen Zusammenarbeit zwischen den Organisationsmitgliedern lassen sich nicht durch formale Vorschriften allein garantieren. Und genau hier greifen die in Kameradschaftsnormen verdichteten informalen Erwartungen.
Jeder Soldat weiß, dass eine Armee nur deswegen funktioniert, weil von den formalen Regelwerken immer wieder abgewichen wird.
- Vorratsdatenspeicherung wird jetzt schon ausgeweitet | Zeit → das gesetz zur vorratsdatenspeicherung ist noch nicht umgesetzt, da wird es schon ausgeweitet — und die versprechen der politiker gebrochen. das sollte es dem bverfg doch eigentlich leichter machen, die fehlende verfassungstreue zu erkennen …
- Ähnlichkeitsbeschlagung. Fünfte These zur Geschichtskultur | zzz → achim landwehrs seziert weiterhin sehr treffend (und spitzzüngig) die geschichtskultur unserer gegenwart:
Die fünfte These zur Geschichtskultur lautet: Die deutsche Geschichtskultur des frühen 21. Jahrhunderts tendiert dazu, Vergangenes nicht mehr als fremd und irritierend wahrzunehmen, sondern es sich der eigenen Gegenwart anzuähneln. […] Und die Tendenz lautet: Vergangenheit wird mit Ähnlichkeit beschlagen. Ganz im Sinne der erkenntnistheoretischen Binsenweisheit, dass man nur sehen kann, was man bereits weiß, zeigt sich am Beispiel der gegenwärtigen Geschichtskultur, dass sie häufig nur noch wissen will, was sie ohnehin schon sieht. Und das ist meistens nichts allzu weit entfernt von der eigenen Nasenspitze. […] Das Andere, das vergangene Zeiten für uns sein könnten, wird dadurch in Eigenes und Vertrautes verwandelt und muss eine Ähnlichkeitsbeschlagung über sich ergehen lassen. Der Vorgang ließe sich auch mit der angemessenen Negativität zum Ausdruck bringen: Es geht um Störungsverweigerung. […] Kann man dann überhaupt noch nach der Aktualität des Gewesenen fragen? Sicherlich kann man das. Aber nicht unter schamloser Ausnutzung des bereits benannten Machtgefälles zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Wir müssen dem Vergangenen seine Einzigartigkeit nicht nur zugestehen, sondern sie auch schützen. Nur dann kann es zu einem Dialog kommen zwischen den Zeiten, nur dann können wir etwas lernen aus dieser Beziehung (denn wir lernen nicht ‚aus der Vergangenheit‘, sondern aus der Art und Weise, wie wir uns auf Vergangenheiten beziehen), nur dann können wir uns durch das Vertraut-Fremdartige, durch das Bekannt-Verwirrende hinreichend aus dem Trott bringen lassen, um nicht nur die Vergangenheit, sondern auch unsere Gegenwart neu und anders zu befragen.
- Marathonläufer über TV-Sportvielfalt: „Nicht alle mögen den Fußball“ | taz → arne gabius spricht mit der taz über die monokultur der sportberichterstattung in den deutschen medien und die schäden, die das — nicht nur für die vernachlässigten sportler/innen — nach sich zieht
- Historikerin über Fürstin Maria Theresia: „Man ging legerer mit Travestie um“ | taz → spannendes und interessantes interview mit stollberg-rilinger über maria theresia und das ancien régime
Was die Geschlechterdifferenz angeht, war man im Ancien Régime deutlich flexibler als im 19. Jahrhundert. In der höfischen Gesellschaft ging man viel legerer mit Travestie und Homosexualität um. Transgenderverkleidungen waren an der Tagesordnung. Das erschien im bürgerlichen 19. Jahrhundert als absoluter Sittenverfall. […] Das Spannende am Metier der Geschichte ist ja, sich die Fremdheit des Anderen vor Augen zu führen. Projiziert man eigene Wertvorstellungen in die Geschichte, bestätigt man nur, was man sowieso schon empfindet. Ich brauche Maria Theresia nicht, um Feministin zu sein.
- Short-Attacken oder Pech durch Mittod – Milliarden vernichtet! | Wild Dueck Blog → gunter dueck über short-attacken mittels geschickt platzierter gerüchte — und die daran fleißig mitverdienenden banken
Man kann Millionen scheffeln, indem man vage Vorwürfe gegen eine börsennotierte Firma im Internet formuliert, am besten so, dass sich die Vorwürfe nicht sofort entkräften lassen. Das betroffene Unternehmen braucht dann ein paar Tage für eine seriöse Antwort – bis dahin rauscht der Kurs aber nach Süden ab. Da haben die Leerverkäufer gut Zeit zum Kassemachen. Was das betroffene Unternehmen nach einiger Bedenkzeit und Rechtsberatung antwortet, ist schon egal. Die schwarzen Ritter sind schon weg, das Unternehmen leckt seine Wunden, die Aktionäre sitzen auf schweren Verlusten.
- How the KGB infiltrated classical music | Spectator → norman lebrecht plaudert ein bisschen über emil gilels und die kolportierten spione in seinem umfeld …