“Wir leben in einer Zeit der Erinnerung an Orte, an denen wir nie gewesen sind.” (Mark Greif, Bluescreen, 229)
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“Die Erinnerung gibt (in all ihrer Unzuverlässigkeit) Indizien, die eine Geschichte entstehen lassen, wo bisher alles verborgen oder ohne Geheimnis schien” (Katharina Hacker, Eine Dorfgeschichte, 109)
„Wirklichkeit ist ein anderes Wort für das, woran Zeugen sich erinnern.” (Juli Zeh, Spieltrieb)
Mit großen Worten spart Viktor Mayer-Schönberger nicht: Eine “Tugend des Vergessens” beschwört er. Und will sie auch in “digitalen Zeiten” umsetzen. Aber eigentlich ist dieses — ziemlich positiv besprochene — Buch eine Mogelpackung. Denn Idee, Thema und Argument Mayer-Schönbergers ließe sich auf einigen wenigen Seiten ausreichnd genau darstellen — genauer wird er hier auch nicht. Er bläst das nur unheimlich und fast unerträglich auf.
Worum es geht ist schnell gesagt: Mayer-Schönberger hätte gerne, dass digitale Daten ein Verfallsdatum mit auf den Weg bekommen, an dem sie (automatisch) gelöscht, nicht mehr zugänglich werden. Sein Argument geht ungefähr so: Die über Zeit und Raum nahezu unbeschränkte (das nahezu fehlt bei ihm schon meistens) Verfügbarkeit von Informationen ist schädlich. Schädlich für Individuen und auch für Gesellschaften. Deswegen eben das automatische Löschen digitaler Daten (also z.B. Fotos, Zeitschriftenartikel, Suchdaten, Profile, Einkäufe etc.), um so das “analoge”, vor-digitale “Erinnern” zu simulieren. Das ist so weit eine ganz sympathische und auch überhaupt nicht verkehrte Idee, auch wenn alternative Strategien im Umgang mit der Ubiquität digitaler Daten (etwa die Anpassung des Verhaltens an diesen Umstand) bei ihm arg forsch beiseite gewischt werden.
Geärgert an dem Buch hat mich aber zum einen, dass er ewig weit ausholt, eine gesamt Geschichte der Schrift als Medium der Erinnerung noch einbaut (die auch furchtbar ungenau und teilweise nicht auf dem aktuellen Stand der Forschung ist, so weit ich das überblicken kann). Und dann natürlich sein Hauptproblem: Die fehlende Genauigkeit im Umgang mit den Begriffen. Gedächtnis — Erinnerung — Archiv ist hier ein einziger Mischmasch, in dem nichts unterschieden wird. So spricht Mayer-Schönberger z.B. unentwegt davon, dass wir digitale Daten erinnern (und durchs Löschen eben vergessen). Genau das ist aber falsch: Sicher, wir archivieren die. Aber sie sind dann noch lange nicht zwangläufig ein Teil unserer Erinnerung. Sie können es wieder werden, müssen es aber nicht. Diesen Unterschied zwischen (Individuums-)internen und externen Informationen macht er einfach nicht (bzw. nicht ausreichend genau). Daher kommt dann auch die Verwirrung von Gedächtnis und Erinnerung und Informationen, die digital verfügbar sind. Macht man diese Unterscheidung, nimmt man ihm einen Großteil seiner großsprecherischen kulturellen Geste: “Während wir früher mit der Zeit das meiste vergaßen, haben wir heute die Möglichkeit, uns an das meiste zu erinnern.” (199) — genau das bezweifle ich eben.1 Das Problem, das muss man ihm zugestehen, bleibt aber dennoch: Digitale Daten sind einfacher, länger, ortsungebundener verfügbar, das Archiv und die Findemittel werden immer umfangreichr, schneller und bequemer.
Mir jedenfalls scheint ein Plädoyer für eine Art des “digitalen Erinnerns”, die sich der Speichermöglichkeiten der Computer und Netzwerke bedient, aber auch deren Problematik bewusst macht (sowohl beim Speichern eben als auch beim erinnernden/rekonstruierenden Abrufen) eine interessantere, angemessenere Reaktion als das bloße Simulieren der Ungenügsamkeiten bisheriger Aufzeichnungsmethoden im digitalen Raum. Ich bin mir nämlich überhaupt nicht so sicher wie Mayer-Schönberger, dass die “analoge”/vor-digitale Form des Gedächtnisses/Erinnerns eine evolutionäre Leisung ist, die allein dem Menschen gemäß ist. Aber das wird sich noch zeigen …
Viktor Mayer-Schönberger: Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten. Berlin: Berlin University Press 2010. 264 Seiten. ISBN 978–3‑940432–90‑2.
Zwei Romane zum Preis von Einen. Oder auch nicht. Eigentlich ist ja doch nur einer, “Die Leinwand” von Benjamin Stein, der im “Turmsegler” auch ein sehr interessantes Blog hat. Aber er wird doppelt erzählt, mit Jan Wechsler und Amnon Zichroni als Zentren der jeweiligen Teile. Und damit auch jeder die Besonderheit merkt, sind die beiden Teile so gedruckt, dass man das Buch von jeder Seite beginnen kann: “Zwei Hauptwege und verschlungene Nebenpfade führen durch diesen Roman. Hinter jedem Umschlag befindet sich ein möglicher Ausgangspunkt für das Geschehen. Es ist Ihnen überlassen, wo Sie zu lesen beginnen.” — so heißt es auf dem Umschlag. Man darf aber auch zwischen jedem der 11 Kapitel die Leserichtung wechseln. Ich fing mit Ammon Zchroni an, las das komplett und wechselte erst dann zum Jan-Wechsler-Teil. Keine Ahnung, ob es eine bessere Variante gibt ;-).
Worum geht es: Um Wahrheit, um Erinnerung, ums Gedächtnis — und vor allem die ganzen Probleme, die damit zusammenhängen. Die trügerische Erinnerung, der unklare Status von Erinnerungen, und immer wieder die Frage: Was ist hier die Wahrheit? Was ist passiert? Was wird wie warum erinnert? Ziemlich am Anfang des Wechsler-Teiles, auf der Seite W.14 heißt es:
Niemand wüsste besser als ich, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion in jeder Erzählung mäandernd inmitten der Sprache verläuft, getarnt, unfassbar — und beweglich. Selbst das Wort “Wirklichkeit” führt ins Unwägbare.
Damit ist eigentlich schon fast alles über diese großartige Buch gesagt. Die Story ist entsprechend elaboriert. Der Zichroni-Teil erzählt die Geschichte eines mehr oder weniger strengglüubigen Juden, seine Ausbildung, seine Zweifel und Glaubensanfechtungen, aber auch seine Festigkeit im Glauben. Jan Wechsler ist ein Schriftsteller (oder auch nicht, er ist sich selbst da extrem unsicher, weil sein Gedächtnis ihn systematisch im Stich lässt), der im Endeffekt Zichroni umbringt — oder umgekehrt, je nach Erzählrichtung. Die fehlende Erinnerung, ihr trügerische (Un-)Sicherheit wird so zum Kriminalfall, das eher philosophische Problem des Status der “Wahrheit” hat auf einmal handfeste Konsequenzen. Dazu kommt noch, damit eng verknüpft, die Frage der Identität des Menschen — bin ich, was ich erinnere? Gibt es einen “wahren” Kern der Identität, die (auch) außerhalb meiner selbst, meiner — ja sowieso unzuverlässigen — Erinnerung liegt? Die ganzen “großen” Themen werden zwar sehr deutlich, aber — und das ist dann halt einfach das Schöne an diesem Buch — sie bleiben in die Erzählung wunderbar harmonisch eingebettet: Klar, man merkt recht schnell, worum es dem Autor geht. Aber die story bleibt spannend, die Erzähler können mit ihrer oft weit ausholenden, allen Nebenpfaden nachgehenden, aber genau konstruierten Erzählung trotzdem weiterhin fesseln.
Das entwickelt ziemlich schnell einen deutlichen Sog — vor allem der Zichroni-Teil hat mich sehr gefesselt: Mit seinen sehr farbigen Beschreibungen, seinen ausgesuchten Vergleichen und poetischen Stil — der Wechsler-Teil ist deutlich prosaischer, zumindest kam es mir beim Lesen so vor. Aber irgendwie gelingt es mir gerade nicht, die Freude und Begeisterung meiner Lektüre in Worte zu fassen … Gregor Keuschnig hat dagegen eine nicht nur sehr umfangreiche, sondern auch ziemlich gute und genaue Inhaltsangabe für das “Begleitschreiben” geschrieben. Einige weitere Reaktionen lassen sich über den oben erwähnten Turmsegler oder beim Perlentaucher finden — die meisten sind ziemlich positiv, was ich gut nachvollziehen kann.
Die Welt in mir war für micht die Welt. (W.75)
Ich bin, woran ich mich erinnere. Etwas anderes hab ich nicht. (W.121)
Benjamin Stein: Die Leinwand.Roman. München: Beck 2010. ISBN 978–3‑406–59841‑8.
Da sitzt er also, verschwindet fast hinter seinem Buch mit dem auffälligen orangefarbenen Umschlag, wirkt noch kleiner und zerbrechlicher als sonst. Aber seine Stimme, die dringt mühelos über das Publikum hinweg bis in die letzte Reihe und füllt das Antiquariat am Ballplatz ganz und gar aus. Peter Kurzeck, der aus Böhmen stammende, bei Gießen aufgewachsene, lange in Frankfurt lebende und nun in Südfrankreich schreibende Meister der Erinnerung und der Vergegenwärtigung liest aus seinem letzten Buch, „Oktober und wer wir selbst sind“. Die Lesungen Kurzecks sind immer ein Fest für seine Leser und Fans, von denen es in Mainz inzwischen eine ganze Menge gibt – die Stühle im Antiquariat reichten gar nicht für alle, eine schöner Erfolg für den Veranstalter, das Literaturbüro Mainz. Denn Peter Kurzeck liest nicht nur einfachr, was er mal, vor einigen Jahren, irgendwann aufgeschrieben hat. Nein, er trägt es wirklich vor. Mit schwebenden Betonungen, manchmal fast singend. Und immer mit großem, beinahe kindlichem Erstaunen über diesen Text, den er da vor sich liegen hat. Dieses Erstaunen, das ist eine echte Kurzecksche Qualität. Es findet sich nämlich schon im Buch selbst: Als Staunen über die Welt, die den Erzähler umgibt. In „Oktober und wer wir selbst sind“ ist es das Frankfurt im Herbst 1983, die Wohnung in Bockenheim, die Wege in der Stadt und an ihren Rändern, mit Frau und Kind, zum Einkaufen und zum Kinderladen, im vergangenen Sommer und beginnenden Herbst. Und natürlich das Schreiben selbst – der Erzähler hat gerade sein drittes Buch begonnen. Kurzeck liest in Mainz aus den beiden ersten Kapiteln von „Oktober“, die genau den Moment beschreiben, in dem der Sommer endgülig vorüber ist. Aber in dem zugleich auch der Herbst schon da ist, schon etwas Neues begonnen hat. Das klingt alles furchtbar banal. Und ist es eigentlich auch. Nicht aber für Peter Kurzeck. Er verzaubert das nämlich: Durch die Erinnerung an den Alltag, das übliche und das ungewöhnliche, das banale und außerordentliche Geschehen wird das alles schon wieder ganz anders und besonders. Und durch seinen feinen, präzisen, verknappten und doch beredten Stil, der ihn schon so lange zu einer ganz außergewöhnlichen Erscheinung der deutschen Gegenwartsliteratur macht, wird es geradezu überhöht. Das Ergebnis, sein Buch und seine Lesung, ist berührend. Und mächtiger, auch dauerhafter als der kleine, unscheinbare Mann, der sie geschaffen hat.
(geschrieben für die mainzer rhein-zeitung)
“Vermutlich kann er mit seinen Hirnwindungen nur irgendwelche Formeln in den Rechner programmieren und sich teure Autos und Frauen besorgen, aber sich erinnern, das kann er nicht.” (Thomas Klupp, Paradiso, 19)
… ist ein hoffnungsloser Romantiker und eng befreundet mit dem Klischee.” (Benjamin Maack, Die Welt ist ein Parkplatz und endet vor Disneyland, 32)
… läßt auch die Vollständigkeit zurück — für die Gedanken. — Reinhard Jirgl, Die Stille, 136
Es hat sich einiges wunderbar gefügt für dieses Konzert: Zum Prolog für den diesjährigen Kultursommer Rheinland-Pfalz zeigte sich die Sonne schon sommerlich. Und es gab noch dazu einige Übereinstimmungen zur Uraufführung des „War Requiem“, die Benjamin Britten sicherlich gefreut hätten. Genau wie die europäische Zusammensetzung der Musiker: Chöre aus Frankreich, Deutschland und Polen nehmen sich gemeinsam mit dem Landesjugendorchester Rheinland-Pfalz unter Klaus Arp des Requiems an.
Genau wie 1962 in Coventry fand auch die Mainzer Aufführung im Rahmen der kleinen Tournee dieses Projektes, die von Frankreich über Rheinland-Pfalz nach Polen führt, in einem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Gotteshaus, der Christuskirche, statt. Und genau wie damals stammen die Solisten aus verschiedenen Ländern – gut, statt aus Russland kommt die Sopranistin Justyna Bachowska aus Polen. Aber der Bariton Jens Hamann ist Deutscher, der Tenor Deryck Huw Webb Brite – genau wie vor über vierzig Jaren. Die Voraussetzungen waren also ziemlich gut und bereits sehr sybmolisch aufgeladen. Nur der Raum erwies sich, trotz seiner symbolischen Kraft, als nur mäßig geeignet. Akustisch war die Riesenbesetzung in der Christuskirche nämlich nicht besonders gut aufgehoben.
Klaus Arp tat aber trotzdem sein Bestes, aus Orchester und Chören eine klangliche Einheit zu formen. Und das Ergebnis konnte sich durchaus hören lassen. Das Jugendorchester spielte ausgesprochen diszipliniert und genau. Freilich ließ Arp auch niemand aus dem Blick: Seine Argusaugen und sein fordernder Dirigentenstab hatten die Musiker permanent voll unter Kontrolle. Auch die jugendlich klingenden Chöre: Neben dem heimischen Landesjugendchor und dem Kinderchor Maîtrise de Dijon, der sich stimmlich schon sehr erwachsen präsentierte, war noch der Kammerchor der Musikakademie aus Kattowitz dabei. Doch trotz der starken Besetzung blieb der Chor leider an Durchschlagskraft hinter den Erwartungen zurück – die Sänger hatten es oft schwer, gegen den satten Orchesterklang anzukommen. Dafür entschädigten sie mit ausgesprochen delikaten Feinheiten und zarten Pianissimi.
Zusammen mit den sehr sicher und überzeugend agierenden Solisten enstand so in der Christuskirche eine intensiv mahnende, von der Richtigkeit ihres Anliegens sehr überzeugte Aufführung des „War Requiems“. Und die ließ sowohl die kleinen Unzulänglichkeiten als auch die symbolische Überhöhung des Konzertes vergessen: Denn egal wer und wo und warum das „War Requiem“ aufführt – diese Komposition setzt ihr Programm des Pazifimus, der Trauer über allem Kriegsleid unbedingt durch. Erst recht, wenn sie mit so viel Engagement und Sachverstand musiziert wird wie hier.
(gechrieben für die mainzer rhein-zeitung.)