»Nächstens mehr.«

Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Ins Netz gegangen (28.4.)

Ins Netz gegan­gen am 28.4.:

  • Sex­u­al­strafrecht: Wäre die Vagi­na doch ein Auto | Spiegel → maragerete stokows­ki in ihrer kolumne über die erbärm­lichen ver­suche des jus­tizmin­is­ters maas & der großen koali­tion, ein zeit­gemäßes sex­u­al­strafrecht zu schaf­fen

    Ach, wär die Vagi­na doch ein Auto, sie wär jet­zt schon in Deutsch­land angenehm sich­er.

  • “Alles hand­schriftlich und auf Papi­er” – Lek­toren lieben’s ana­log — pubiz :: Home Redaktion/Lektorat → kathrin pas­sig über arbeit­sprozesse in ver­la­gen:

    Die für mich als Autorin sicht­baren Arbeit­sprozesse in den mir bekan­nten Ver­la­gen sind auf dem Stand der frühen 90er Jahre. Ich wun­dere mich über dieses fehlende Inter­esse an den Werkzeu­gen der Textver­ar­beitung in ein­er Branche, in der der Text doch einiger­maßen zen­tral ist.

    ich bin mir freilich nicht sich­er, ob dig­i­tal immer automa­tisch bess­er als ana­log ist (was pas­sig dur­chaus impliziert)

  • big changes: I am leav­ing own­Cloud, Inc. today → frank kar­l­itschek ver­lässt seine fir­ma, die own­cloud inc., bleibt dem pro­jekt aber erhal­ten:

    The com­mu­ni­ty has grown tremen­dous­ly, with con­tri­bu­tions by almost 1000 peo­ple over the last 6 years, over 80 every sin­gle month. Noth­ing is per­fect, the com­pa­ny could have done a bet­ter job rec­og­niz­ing the achieve­ments of the com­mu­ni­ty. It some­times has a ten­den­cy to con­trol the work too close­ly and dis­cus things inter­nal­ly. But over­all, the bal­ance was not too bad.

    da selb­st ich das “knirschen” mit­bekom­men habe, muss es da doch einige ver­w­er­fun­gen gegeben haben … mal sehen, wie es mit own­cloud weit­erge­ht

  • Kun­st in der DDR → eher zufäl­lig ent­deckt: das ziem­lich coole pro­jekt des “Bil­dat­las: Kun­st in der DDR” mit bildern und sehr, sehr vie­len beglei­t­en­den mate­ri­alien

    Derzeit sind 20.400 Werke aus 162 Samm­lun­gen erfasst. Neben den bekan­nten Werken der „Kun­st in der DDR“ befind­et sich darunter auch eine Vielzahl von Werken, die bis­lang weit­ge­hend unbekan­nt waren oder als ver­schollen gal­ten. In den beteiligten Forschung­steams wer­den neben der Doku­men­ta­tion der Samm­lun­gen eben­so die For­men des Bild­trans­fers, die „Wege der Bilder“ in die öffentlichen Samm­lun­gen, analysiert. So waren in der DDR statt muse­al­er Eigen­er­wer­bun­gen staatlich finanzierte Ankäufe und kul­tur­poli­tisch intendierte „Übereig­nun­gen“ entschei­dend. Durch das Ver­bund­pro­jekt wird nun neben der Samm­lungs­doku­men­ta­tion auch eine Ver­net­zung der Bestands­dat­en der Museen und weit­er­er Samm­lun­gen erre­icht, die für eine zukün­ftige Erschließung und Nutzung der Werke sowie für eine Neube­fra­gung der Kün­ste in der DDR unumgänglich ist.

    Die Forschungsergeb­nisse wer­den in einem gedruck­ten „Bil­dat­las“ sowie durch eine inter­net­basierte Daten­bank öffentlich zugänglich gemacht. Die Koop­er­a­tion mit den außer­muse­alen und muse­alen Ein­rich­tun­gen – von kleinen Heimat­museen über die stadt- und kul­turgeschichtlichen Museen bis hin zu den großen Kun­st­museen in Leipzig, Dres­den, Schw­erin, Frankfurt/Oder und Berlin – ermöglicht es, bis­lang im Depot ver­wahrte und nicht veröf­fentlichte Werke wieder „sicht­bar“ zu machen. Die große Ausstel­lung „Abschied von Ikarus. Bild­wel­ten in der DDR – neu gese­hen“ in Koop­er­a­tion mit der Klas­sik Stiftung Weimar präsen­tiert die Ergeb­nisse des Ver­bun­des im Neuen Muse­um Weimar.

  • Schön­er Ver­legen – mit dem Geld ander­er Leute | Über­me­di­en → ste­fan nigge­meier sehr gut & richtig zu den ein­seit­ig hyper­ven­tilieren­den medi­en­reak­tio­nen auf das vg-wort-urteil:

    Wenn jet­zt wirk­lich das große Ver­lagsster­ben ein­set­zte, wäre das eine bemerkenswerte Ironie: Es würde bedeuten, dass das ganze schöne Geschäft über viele Jahre nur funk­tion­ierte, weil Ver­lage rechtswidrig Geld kassierten, das eigentlich den Urhe­bern zuge­s­tanden hätte.

  • Mül­lentsorg­er in Sozialen Net­zw­erken „Sie bericht­en von Depres­sio­nen“ | taz → Tausende Philip­pin­er sortieren aus, was uns im Inter­net an Bildern nicht begeg­nen soll. Der Berlin­er The­ater­regis­seur Moritz Riesewieck hat dort recher­chiert.

    Was wir in Mani­la sehen, ist die Pas­sion­s­geschichte des Inter­net­zeital­ters.

Lyrikkritik, nächste Runde

Die Debat­te um den Zus­tand der Lyrikkri­tik geht in die näch­ste Runde. Nun sind — mit einiger Verzögerung — die Metabeiträge dran: Jan Drees schreibt in seinem Blog eine gute Zusam­men­fas­sung der wesentlichen & wichtig­sten Beiträge. Und Gui­do Graf weist beim Deutsch­land­funk auf ein weit­eres Spez­i­fikum dieser inzwis­chen ja eigentlich eingeschlafe­nen Debat­te hin: Der Stre­it, der sich unter anderem ja auch um das Prob­lem der (zu) engen und inti­men Verknüp­fun­gen zwis­chen Lyrik­erin­nen und Kri­tik­erin­nen dreht und dabei nach den kri­tis­chen Stan­dards und den Zie­len ein­er möglichst (in ver­schiede­nen Sin­nen) wirk­samen Lyrikkri­tik fragt, find­et selb­st in einem sehr engen, über­schaubaren Zirkel (oder, wie man heute sagen würde, inner­halb der “Szene”) statt und scheint außer bei den mehr oder weniger direkt Beteiligten auf über­haupt keine Res­o­nanz zu stoßen:

Inter­es­sant ist eben auch, wo diese aktuelle Debat­te aus­ge­tra­gen wird und wo nicht. Ins­beson­dere dann, wenn man sie mit der let­ztjähri­gen über die Lit­er­aturkri­tik ver­gle­icht, wie sie — auch online — haupt­säch­lich im Per­len­tauch­er stattge­fun­den hat.

[…]

Sig­na­turen, Fix­po­et­ry, Lyrikzeitung und immer wieder Face­book: Das sind die Orte, an denen debat­tiert wird. In den Feuil­letons der Tageszeitun­gen, auf deren Online-Plat­tfor­men oder im Radio dazu kein Wort. Auch eine kundi­ge Lyrik-Leserin wie Marie-Luise Knott ver­liert in ihrer Online-Kolumne beim Per­len­tauch­er kein Wort über die aktuelle Debat­te. Berührungs­los ziehen die Dichter und ihre wech­sel­seit­i­gen Selb­st­beobach­tun­gen ihre Kreise.

Das ist in der Tat richtig beobachtet — und auch aus­ge­sprochen schade. Man muss ja nicht unbe­d­ingt erwarten, dass die “großen” Feuil­letons der Debat­te selb­st viel Platz ein­räu­men. Dazu ist der Kreis der daran Inter­essierten wohl ein­fach zu über­schaubar. Aber dass sie die Exis­tenz der Debat­te — die ja schließlich auch ihr Meti­er, ihren Gegen­stand (insofern sie über­haupt noch Lyrik besprechen …) bet­rifft — ger­adezu ver­schweigen, ist schon bedauer­lich und sagt vielle­icht mehr zum angenommenen/wahrgenommenen Zus­tand der Lyrik und ihrer Rel­e­vanz aus als alle Debat­ten. Gui­do Graf schlägt dann in seinem Schlusssatz als eine Art Lösung vor, “die Nis­chen­gren­zen zu ver­schieben”. Wie das zu erre­ichen ist, ver­rät er aber lei­der nicht — das hätte mich schon inter­essiert …

Ins Netz gegangen (25.4.)

Ins Netz gegan­gen am 25.4.:

  • Orig­i­nal­manuskript zu Arthur Koestlers Son­nen­fin­ster­n­is ent­deckt | FAZ → inter­es­san­ter bericht über den zufäl­li­gen fund des typoskripts von arthur koestlers “son­nen­fin­ster­n­is” — und was das für den text und seine rezep­tion bedeuten kön­nte
  • Wem gehört das Geld der VG Wort? | Wolf­gang Michal → die einzige gute, tre­f­fende und richtige ein­schätzung und erk­lärung des vg-wort-urteils, die ich bish­er gele­sen habe — die zeitun­gen etc. schla­gen sich ja anscheinend alle auf die seite der ver­lage, die jet­zt ihren recht­mäßig erhal­te­nen geldern nach­jam­mern
  • Warum die „Reform“ des Sex­u­al­strafrechts keine ist | Ver­fas­sungs­blog → ulrike lem­bke erk­lärt im ver­fas­sungs­blog, warum die strafrecht­sre­form der bun­desregierung so schlecht und vor allem unzure­ichend ist

    Die Bun­desregierung ver­passt die Chance, den min­deren strafrechtlichen Schutz der sex­uellen Selb­st­bes­tim­mung und die fak­tis­che Straflosigkeit sex­ueller Über­griffe in Deutsch­land durch einen großen Wurf zu been­den. Erforder­lich ist ein Grund­tatbe­stand der „nicht ein­ver­ständlichen sex­uellen Hand­lun­gen“, welch­er sich zur Verge­wal­ti­gung so ver­hält wie Dieb­stahl zu Raub, denn die sex­uelle Selb­st­bes­tim­mung ver­di­ent den gle­ichen Schutz wie das Eigen­tum. Im Rechtsstaat zählt nicht, wer am schnell­sten zurückschlägt. Und in der Sex­u­al­ität zählt seit langem eine Ver­hand­lungsmoral, die bei­d­seit­iges Ein­ver­ständ­nis zur Bedin­gung gemein­samer Lust macht. Auch dahin­ter sollte der strafrechtliche Schutz nicht zurück­bleiben.

  • Gericht: Haut­farbe darf bei Kon­trolle keine Rolle spie­len | law blog → udo vet­ter weist auf ein urteil des ovg rhein­land-pfalz hin, dass die hür­den für eine diskri­m­inierungs­freie polizeikon­trolle aus­re­ichend hoch hängt — die haut­farbe darf näm­lich danach nicht wesentlich­es teil des “motivbün­dels” sein. mal sehen, ob das bun­desver­wal­tungs­gericht das auch so sieht — ich kann mir nicht vorstellen, dass die bun­de­spolizei das auf sich sitzen lässt (und revi­sion ist zuge­lassen)
  • Keine Ver­legerbeteili­gung: VG Wort erlei­det Nieder­lage in Karl­sruhe | Börsen­blatt → das bgh macht mit der farce schluss, dass die vg wort mit dem geld der autorin­nen & autoren ver­lage suben­tion­iert (für die ist das natür­lich ein bit­ter­er ein­nah­mev­er­lust …)

Ins Netz gegangen (20.4.)

Ins Netz gegan­gen am 20.4.:

  • The Strange Tale of Social Autop­sy, the Anti-Harass­ment Start-up That Descend­ed Into Gamer­gate Trutherism | NYMag → tolle geschichte über ein kick­starter-pro­jekt, das auf ominöse weise hate-speech & cyber­bulling bekämpfen wollte und dann ganz schnell sich selb­st in gamer­gate-ver­schwörun­gen ver­strick­te — weil die ini­tia­torin offen­bar keine ahnung hat(te), was im inter­net der jet­ztzeit so alles passiert …: “So over­all, Social Autopsy’s Kick­starter roll­out has not been with­out its hic­cups.”
  • Infor­ma­tionelle Selb­stzertrüm­merung | ctrl+verlust → inter­es­sante über­legun­gen von mspro: hin­dert das konzept der infor­ma­tionellen selb­st­bes­tim­mung nicht eigentlich einen effek­tiv­en daten­schutz oder einen schutz der indi­viduen vor miss­bräuch­lich­er nutzung ihrer dat­en?

    Man kann das noch weit­er­spin­nen, wie ich es ja bere­its seit eini­gen Jahren tue 4: Wenn wir 1. nicht mehr kon­trol­lieren kön­nen, welche Dat­en über uns an welchen Stellen gesam­melt wer­den, weil wir die ganze Welt mit immer mehr und immer unsicht­bar­eren Sen­soren ausstat­ten;
    Wenn wir 2. die Kapaz­itäten von Leitun­gen und Daten­trägern immer weit­er erhöhen, so dass Dat­en in immer größerem Umfang immer prob­lem­los­er von A nach B kopiert wer­den kön­nen;
    Wenn wir 3. immer bessere Meth­o­d­en und Soft­ware zur Date­nauswer­tung bere­it­stellen, die noch aus den unschuldig­sten Dat­en kom­plexe Pro­fil­bil­dun­gen und unvorherge­se­hene Erken­nt­nisse erlauben;
    Wenn wir also den infor­ma­tionellen Kon­trol­lver­lust auf den Ebe­nen der Samm­lung, Spe­icherung und Auswer­tung erleben, wie kön­nen wir dann über­haupt noch – egal wo – von ein­er „informierten Ein­willi­gung“ sprechen, ohne uns in die eigene Tasche zu lügen?

  • Kleine Kri­tik am dig­i­tal­en Diskurs | Bob Blume → bob blume ist vom “dig­i­tal­en diskurs” etwas desil­lu­sion­iert und über­legt, was dig­i­tale bil­dung in der schule soll/kann/muss … — auch die kom­mentare steuern inter­es­sante über­legun­gen bei
  • Kli­mawan­del: Wir Umweltver­wal­ter | Zeit → guter text über die entwick­lung der umwelt­be­we­gung und ‑poli­tik in der schweiz

    Wir Schweiz­er sind gute Umweltver­wal­ter, sehen uns gern als Vor­bilder und sind manch­mal ganz gern auch Umwelt­träumer, und wo Umweltschutz kostet, haben wir das Geld dafür. Sobald es aber um Ver­hal­tensweisen oder gar um Macht­struk­turen geht, lassen wir lieber alles beim Alten.

    Für die anste­hen­den großen Umwelt­prob­leme vom Kul­tur­land­ver­lust über das Arten­ster­ben bis zum Kli­mawan­del wird das nicht genü­gen.

  • HIS­TOdig­i­taLE → oer-plat­tform der leipziger uni für das fach geschichte, mit schw­er­punkt auf leipzig-the­men
  • “Lieber Papa” — Tochter bit­tet Ihren Vater um ein Gefall­en — YouTube
  • Old man yells at cloud | Cof­fee And TV → auch nerds sehnen sich nach der guten, alten zeit — nur begrün­den sie es halt mit einem dou­glas-adams-zitat
    (im grunde trifft lukas aber einen punkt, den ich ähn­lich empfinde, was die ver­füg­barkeit von musik, bildern, tex­ten ange­ht …)
  • The cult of mem­o­ry: when his­to­ry does more harm than good | The Guardian → sehr gute über­legun­gen (mit vie­len beispie­len) von david rieff über den “kult der erin­nerung”, das unbe­d­ingte “nie vergessen” und die prob­leme, die das (gesellschaftlich) her­vor­rufen kann

    The con­se­quence of this is that remem­brance as a species of moral­i­ty has become one of the more unas­sail­able pieties of the age. Today, most soci­eties all but ven­er­ate the imper­a­tive to remem­ber. We have been taught to believe that the remem­ber­ing of the past and its corol­lary, the memo­ri­al­is­ing of col­lec­tive his­tor­i­cal mem­o­ry, has become one of humanity’s high­est moral oblig­a­tions.

    But what if this is wrong, if not always, then at least part of the time? What if col­lec­tive his­tor­i­cal mem­o­ry, as it is actu­al­ly employed by com­mu­ni­ties and nations, has led far too often to war rather than peace, to ran­cour and resent­ment rather than rec­on­cil­i­a­tion, and the deter­mi­na­tion to exact revenge for injuries both real and imag­ined, rather than to com­mit to the hard work of for­give­ness?

    […]

    There is also too much remem­ber­ing, and in the ear­ly 21st cen­tu­ry, when peo­ple through­out the world are, in the words of the his­to­ri­an Tzve­tan Todor­ov, “obsessed by a new cult, that of mem­o­ry”, the lat­ter seems to have become a far greater risk than the for­mer.

Ins Netz gegangen (14.4.)

Ins Netz gegan­gen am 14.4.:

  • Farm to Fable | Tam­pa Bay Times → ein inter­es­san­ter und aufwendig recher­chiert­er, aber sehr langer (und bisweilen arg lan­gat­miger) text der restau­ran­tkri­tik­erin der “tam­pa bay times” in flori­da über die lügen der gas­tronomie, was “local” (in deutsch­land eher: region­al) zutat­en (und herkun­ft­sangaben über­haupt) ange­ht. auf den punkt gebracht:

    If you eat food, you are being lied to every day.

    (es gibt aber auch pos­i­tive beispiele …)

  • Biller unread | der Fre­itag → michael angele vom “fre­itag” schreibt eine sam­mel­rezensen­sion der kri­tiken von billers “biografie”

    So bildete sich mir beim Lesen ein eigen­er klein­er Roman über einen Kri­tik­er, was will man mehr.

  • Exit-Strate­gie: Her­rn­dorfs Revolver | FAS → julia encke hat sich im lit­er­at­u­rar­chiv mar­bach die waffe von wolf­gang her­rn­dorf zeigen lassen und erzählt für die “fas” die geschichte, wie sie dor­thin kam

    Doch ist die eigentliche Pointe vielle­icht eine ganz andere. Denn von Wolf­gang Her­rn­dorf liegt hier in Mar­bach jet­zt nur der Revolver und kein Manuskript, keine Skizze, keine hand­schriftlichen Noti­zen. Nur die Reliquie sozusagen, aber nicht die Schrift. Wer „Arbeit und Struk­tur“ liest — dieses über­wälti­gende Buch mit zwei Pro­tag­o­nis­ten: Wolf­gang Her­rn­dorf und seine Waffe -, der ken­nt auch die Pas­sagen, in denen der Autor seine Abnei­gung gegenüber Ger­man­is­ten ziem­lich deut­lich zum Aus­druck bringt. Dass die Ger­man­is­ten jet­zt nur das Werkzeug der Beendi­gung des Schreibens in die Hände bekom­men und nicht den Text selb­st, das hätte ihm möglicher­weise gefall­en. Es passt jeden­falls zu der Art von Scherzen, die Wolf­gang Her­rn­dorf mochte.

  • Ungewöhn­lich­er Klang­po­et: Zum Tod des Kom­pon­is­ten Josef Anton Riedl | BR-Klas­sik → heute erst erfahren: josef anton riedl ist gestor­ben. für br-klas­sik hat hel­mut rohm einen guten nachruf geschrieben.

    Sein eigenes mul­ti­me­di­ales, Gat­tungs­gren­zen spren­gen­des Schaf­fen aber lässt sich kaum auf den Punkt brin­gen. Jeden­falls hat er — wie sein Fre­und Dieter Schnebel es tre­f­fend sagte — nie “nor­male” Musik geschrieben.

  • Ald­is final Dis­count­down | Krautre­porter → peer schad­er über den “strate­giewech­sel” bei aldi und die damit ein­herge­hen­den prob­leme für händler, her­steller und kun­den
  • A Smart Black­let­ter Font: 7 Ques­tions for Ger­rit Ans­mann | Typography.Guru → warum — und vor allem wie — ein deutsch­er physik­er eine frak­tur-schrift für das 21. jahrhun­dert aufbereitet/aktualisiert
  • How an inter­net map­ping glitch turned a ran­dom Kansas farm into a dig­i­tal hell | Fusion → crazy sto­ry, was passiert, wenn eine/mehrere ip-loca­tions-fir­ma beschließen, ips, deren adresse sie nicht genau ken­nen, der “mitte” eines lan­des zuord­nen — da wohnt unter umstän­den näm­lich jemand …
  • Naturschutz: Was ist nur aus uns gewor­den? | Zeit → har­al welz­er ist etwas rat­los — all das grüne leben, das bemühen um nach­haltigkeit und ökolo­gie — es scheint nichts zu nutzen, weil das “immer mehr” aus dem kap­i­tal­is­ten sys­tem offen­bar nicht wegzubekom­men ist …

    Der Preis für das so per­fekt funk­tion­ierende Bünd­nis zwis­chen Ökobe­sorg­nis und Nor­mal­wirtschaft ist hoch: Nicht nur klafft heute zwis­chen der aus­ge­baut­en Exper­tokratie in Min­is­te­rien, Uni­ver­sitäten, Nichtregierung­sor­gan­i­sa­tio­nen und Umweltver­bän­den und ‑räten aller Art und der bun­ten, aber eher staats­fer­nen und ent­poli­tisierten Graswurze­lak­tivis­ten-Szene eine große gesellschaft­spoli­tis­che Lücke, auch ist den Grü­nen ihr Markenkern abhan­dengekom­men, seit die ganze Gesellschaft sym­bol­isch ergrünt ist.

    Das wirkt sich umso drama­tis­ch­er aus, als die Fol­gen ein­er fort­ge­set­zten Naturz­er­störung heute immer deut­lich­er wer­den – bis hin zu den sozialen Fol­gen in Gestalt von Flucht und Vertrei­bung. Eine Weile lang hat die Ökobe­we­gung als Mod­ernisierungsim­puls für eine mod­erne Gesellschaft gewirkt, die so etwas regelmäßig braucht, um neue Märk­te, Pro­duk­te und Bedürfnisse zu erschließen. Aber in dieser Mod­ernisierung hat sie sich selb­st weit­ge­hend ver­loren. Ivan Illich hat­te auf Selb­st­be­gren­zung bestanden, weil es kein­er noch so effizien­zgeschärften Pro­duk­tiv­ität jemals gelin­gen könne, “die nach Belieben geschaf­fe­nen und mul­ti­plizierten Bedürfnisse zu befriedi­gen”. Wohl wahr. Aber Selb­st­be­gren­zung ist einem Sys­tem wesens­fremd, dessen Erfol­gsrezept ger­ade darin liegt, unabläs­sig natür­liche Gren­zen zu über­schre­it­en.

  • wörter­buchkri­tik an ein­er wer­beanzeige | lexiko­gra­phieblog → schön: wer seine anzeige als lexikonein­trag gestal­tet, muss auch damit rech­nen, dass ein lexiko­graph sie lexiko­graphisch kri­tisiert …

Erschöpfung

Eine andere Form von Müdigkeit: die der »Stel­lung«, des »Ver­hält­niss­es zu«: »Wie ste­hen Sie zum Marx­is­mus, zum Freudi­an­is­mus, zu x, zu y?«, »Welche Hal­tung nehmen Sie in dieser Frage ein?« Ermü­dung: die Frage nach der Posi­tion. Die heutige Welt ist voll davon (Wort­mel­dun­gen, Man­i­feste, Unter­schriften usw.), und deshalb ist sie ermü­dend: Schwierigkeit, frei zu flot­tieren, den Platz zu wech­seln. (Schweben heißt dage­gen einen Raum bewohnen, ohne sich an einen Platz fest zu binden = erhol­sam­ste Kör­per­hal­tung: Bad, Schiff.)Roland Barthes, Das Neu­trum, 52

(Das stimmt heute vielle­icht noch mehr als vor knapp 40 Jahren (1978), als Barthes das so beobachtete …)

Aus-Lese #43

Doris Knecht: Wald. Berlin: Rowohlt Berlin 2015. 270 Seit­en.

knecht, waldMan kön­nte Doris Knechts Wald als „Streeruwitz für Anfänger“ beze­ich­nen: Ein dezi­diert fem­i­nis­tis­ch­er Roman, der auf aktuelle Gegeben­heit­en reagiert. Für „Anfänger“ deshalb — das ist nicht abw­er­tend gemeint -, weil Knecht die Radikalität und Härte, auch im stilis­tis­chen, von Streeruwitz fehlt. Das macht Wald zunächst mal ein­fach­er les­bar. Die naht­los wech­sel­nden, fast ineinan­der glei­t­en­den ver­schiede­nen Stil­la­gen und das beschwörende, fern an Thomas Bern­hard erin­nernde (oder sind das nur die Aus­tri­azis­men?) insistierende Wieder­holen bes­timmter (Schlüssel-)Begriffe ver­lei­hen dem Text einen ganz eige­nen, inter­es­san­ten und oft fes­sel­nden Klang.

Es geht hier um ein Reak­tion auf die let­zte Weltwirtschaft­skrise — die ganz spezielle der Luxus-Mode-Designer­in Mar­i­an, die sich mit der Erweiterung ihres exk­lu­siv­en Geschäftes ver­spekuliert hat und, um der dro­hen­den Pri­vatin­sol­venz zu ent­ge­hen, aus ihrem Leben, der Stadt und der Gesellschaft flieht in ein dör­flich­es Haus im Fam­i­lienbe­sitz, wo sie nun ver­sucht, ohne Geld in ein­er Art Sub­sis­ten­zwirtschaft zu über­leben. Das klappt natür­lich nicht so ganz, da sind ein paar Hüh­n­erdieb­stäh­le eben­so notwendig wie eine Art Pros­ti­tu­tion mit dem im Dorf resi­dieren­den Großbauern/Gutsbesitzer.

In der radikal weib­lichen Per­spek­tive kristallisiert sich das und die Hin­ter­grundgeschichte Mar­i­an in der von Knecht sehr klug und har­monisch gestal­teten Infor­ma­tionsver­gabe erst sehr allmäh­lich und Stück für Stück her­aus. Gut gefall­en hat mir, wie Knecht hier auf die Labil­ität des morder­nen Wohl­stan­dlebens hin­weist und die neue Archaik unter den Bedin­gun­gen der absoluten Exis­ten­zsicherung auf ein­mal jede Roman­tik ver­liert. Wenn man Mar­i­an dann als Exem­pel liest, entwick­elt Wald also eine all­ge­meine Dystopie: Die mod­erne kap­i­tal­is­tis­che Gesellschaft ist nur eine sehr dünne Hülle. Und es gibt wenig Möglichkeit­en, sich dem zu entziehen — auch im Wald bleibt Mar­i­an ja im Sys­tem gefan­gen, die Beziehung zu Franz, ihrem „Gön­ner“ unter­schei­det sich eigentlich nur in einem Punkt zu ihrem bish­eri­gen Leben im Mark­tkap­i­tal­is­mus: Die Abhängigkeit, das Aus­geliefert Sein ist nun direkt, liegt für alle Beteiligten (und die Zuschauen­den der Dor­fge­mein­schaft) offen, im Gegen­satz zu der verdeckt-indi­rek­ten Abhängigkeit von weni­gen wohlhaben­den Käuferin­nen zuvor. Einen Ausweg gibt es also nicht — auch das etwas lieto-fine-mäßige Hap­py-End führt aus dem Sys­tem nicht her­aus, son­dern sta­bil­isiert nur die Abhängigkeit­en.

Sie hat­te nicht im Auge gehabt, dass die Weltwirtschaft­skrise die Zeit­en und Gegeben­heit­en viel radikaler verän­derte, als es auf den ersten Blick, ihren Blick, schien: dass die Zeit­en näm­lich für alle unüber­sichtlich gewor­den waren, auch für die ganz Smarten. (59)

Mara Gen­schel: Ref­eren­zfläche #5. 2016

Zu den Ref­eren­zflächen von Mara Gen­schel etwas kluges oder auch nur halb­wegs vernün­ftiges zu schreiben fällt mir sehr schw­er. Deswe­gen hier nur so viel: Auch die fün­fte Aus­gabe hat mich (wieder) fasziniert. Sie begin­nt — etwas über­raschend — zunächst fast mir ein­er richti­gen Sto­ry: Der Zer­störung (die an Pierre Boulez’ Auf­forderung, die Opern­häuser in die Luft zu spren­gen, erin­nert) des Wies­baden­er Lit­er­aturhaus­es Vil­la Clemen­tine. Aber das, was zer­stört wird, ist natür­lich wieder nur der Text der Vil­la Clemen­tine. Bilder wer­den zu Tex­ten: ein mit Tesafilm eingek­lebter Zettel „Türk­nauf“ repräsen­tiert im Bil­drah­men die Repräsen­ta­tion des repräsen­ta­tiv­en Bauw­erks der repräsen­ta­tiv­en Kun­st (oder so ähn­lich). Dieses Spiel mit den Eben von Text und außer­textlich­er Welt, die Aufhe­bung der tra­di­tionellen strik­ten Unter­schei­dung dieser Sig­nifika­tions­bere­iche ist ja das, was mir an Gen­schels Ref­eren­zflächen so viel Freude bere­it­et. Und das funk­tion­iert auch hier wieder: Der Text ist Text ist Wirk­lichkeit, ist aber schon als Text nicht mehr nur Text, son­dern auch Bild und Mon­tage (eingek­lebte und eingeschriebene Texte), ist aber auch als Text schon zer­stört durch Über­schrei­bun­gen, ver­rutschte Zeilen und Durch­stre­ichun­gen etc. Und er wird in sein­er Mate­ri­al­ität ad absur­dum geführt (?), wenn leere Seit­en einen Rah­men erhal­ten, auf dem ein eingek­lebtes „Blatt 3“ die Leere repräsen­tiert und natür­lich zugle­ich wieder zer­stört. In diesem ewigen sic-et-non, diesem ver­spiel­ten hier-und-da muss man wohl den Raum der Ref­eren­zfläche sehen und schätzen.

Daniela Danz: V. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014. 80 Seit­en.

Und wo das Vater­land anfängt
ist ein dun­kler Ort
wie Schnee
der die Umrisse zeigt
wie alles was aufhört (49)

danz, v„Gedichte“ ver­heißt V im Unter­ti­tel. Und doch begin­nt es nach dem Auf­takt im prinicip­i­um nach dem weit zurück­greifend­en Zitat aus Zedlers Uni­ver­sallexikon zum Begriff “Vater­land” erst ein­mal mit Prosa (mit dunkel funkel­nder, die mich etwas an Klaus Hof­fers Bieresch-Romane erin­nert), die neue Mythen erzählt. Oder: Kurze Prosa, die Beobach­tun­gen als mythis­che erzählt, leicht melan­cholisch ange­haucht. Immer schwingt da auch ein biss­chen Ver­fall und Nieder­gang mit.

Schon hier, noch viel stärk­er dann aber in den fol­gen­den Gedicht­en, ist Heimat bei Danz immer ein prob­lema­tis­ch­er Begriff: Ger­ade wie selb­stver­ständlich ist er immer gefährdet und immer im Wan­del — einem Wan­del, der nicht Verbesserung, son­dern in der Regel eher Ver­schlechterung und Ver­fall bringt und Prob­leme offen­legt, Prob­leme auch im Ver­hält­nis des lyrischen Ichs zu Heimat und Vater­land. Schon der Anfang zeigt das schwierige/problematische Ver­hält­nis der Autorin/Erzählerin zur “Heimat” sehr deut­lich auf. Der Band set­zt mit den Zeilen ein: “Das ist das Land von dem man sagt / das alles hier aufhört und alles anfängt”. Das erste Gedicht endet dann am Ende der ersten Seite mit dem Vers: “aber du woll­test umkehren” — also die Rück­kehr (?) in die Heimat wird prob­lema­tisiert, sie geschieht nicht (ganz) frei­willig, sie bleibt mit Wider­stän­den ver­bun­den.

V lebt immer schon im dis­tanzierten, kri­tis­chen Ver­hält­nis zum Vater­land und zur Heimat: aus der (auch emo­tionalen) Span­nung zwis­chen diesen bei­den Begrif­f­en, auch zwis­chen Natur/Landschaft und Menschen/Politik (der Nation­al­staat­en) ziehen die meis­ten Texte ihre Poten­tial. Die sind oft lakonisch, immer genau und manch­mal schmerzhaft. Vor allem im “Exemplum”-Teil wird dann die poli­tis­che Kom­po­nente von Heimat (auch von Land­schaft!) beson­ders deut­lich, aber auch die “echte” Poli­tik — und der Mythos (auch der neu erfun­dene, selb­st gemachte — vgl. die Prosastücke des Beginns) — spie­len hier eine große Rolle. Im Ganzen ist Veine manch­mal selt­same Mis­chung aus roman­tisch (?) verträumter Empfind­ungs- und Gefühlslyrik und har­ter Real­ität­sauf­nahme der Gegen­wart der Post­mod­erne (und der nation­al­staatlichen Poli­tik), zusät­zlich gekop­pelt und aufge­laden mit mythol­o­gis­chen Aspek­ten — der Clash dieser bei­den Blicke wird im let­zten Gedicht sehr deut­lich vorge­führt.

Ein Band mit anre­gen­der, oft fes­sel­nder Kurzprosa und Lyrik (aber diese teilende Unter­schei­dung wird ja ger­ade sowieso zunehmend brüchig, von bei­den Seit­en gibt es Auflö­sungser­schei­n­un­gen) also, der for­mal zwar keine Gren­zen austestet, es mir aber durch seine Vielfalt in Form und Inhalt (und der mein­er sehr nah­este­hen­den Posi­tion zu „Heimat“) sehr ange­tan hat.

Die schnellen Zügen hal­ten kaum in unser­er Gegend
wer sieht den Weg schon hier das Feld umfassen
seitlich so als hielte er allein es davon ab
das Korn mit ein­er Husche in die Furchen zu ver­streuen
so wie die Män­ner hier auf Rädern sich begrüßen
es nichts bedarf als eines Nick­ens anerken­nend
um zu sagen: ich seh du leb­st
vom Zug aus ist das alles immer schon in rechts
und links geschieden bleibt die Land­schaft nur ein Anblick
[…] (23, Hier)

Leon­hard Frank: Der Men­sch ist gut. Zürich, Leipzig: Max Rasch­er 1918. 209 Seit­en. (Europäis­che Büch­er)

Eigentlich unvorstell­bar, dass so etwas heute geschrieben wer­den kön­nte: Nicht nur wegen des Paz­i­fis­mus (der ja aus dem gesellschaftlichen Diskurs ziem­lich radikal ver­drängt wurde von den „Realpoli­tik­ern“ …), son­dern ger­ade auch wegen des unge­heuren Opti­mis­mus, der aus allen Zeilen dieser mit­ten im größten Schlacht­en aller Zeit­en ver­fassten Erzäh­lun­gen spricht, ja eigentlich sog­ar schre­it, wirkt Der Men­sch ist gut von Leon­hard Frank total unzeit­gemäß. Dabei ste­ht dieses mal als das „lei­den­schaftlich­ste Buch gegen den Krieg […], das die Weltlit­er­atur“ aufweise beze­ich­nete Werk in sein­er Zeit — es erschien erst­mals 1918, als der Erste Weltkrieg noch tobte — gar nicht mal allein. Heute mag vieles naiv anmu­tend: Der Glaube an eine kom­mende Rev­o­lu­tion, die Fähigkeit der (Nächsten-)Liebe, alles Böse (und den Krieg) zu über­winden — das ist heute etwas fremd. Aber so radikal Franks „Lösung“ — er spricht sog­ar von einem „Rev­o­lu­tion­szug der Liebe“ (111) — ist, so radikal und erschüt­ternd ist auch seine Schilderung der blutig­sten Grausamkeit­en des „Großen Krieges“, des sinnlosen Stel­lungskrieges und des Unsinns des Fal­l­ens auf dem soge­nan­nten „Feld der Ehre“ — die Leere dieses Topos the­ma­tisieren die Nov­ellen von Frank immer wieder.

So hehr Überzeu­gung und Ziel Franks sind — sein hier uner­schüt­tlich­er Glaube an das Gute in den Men­schen, das alles Böse über­winden und ver­drän­gen wird — ästhetisch ist das mit hun­dert Jahren Abstand doch etwas dünn. Nicht nur die vie­len Wieder­hol­un­gen, die fehlende Var­i­anz, son­dern ger­ade die Formel­haftigkeit des Textes und seines Inhaltes schwächen Der Men­sch ist gut deut­lich. Ich kann das nur noch als eine Art Zeitzeug­nis lesen: Das war ja keineswegs eine total abseit­ige Posi­tion, die Frank hier ein­nimmt — Der Men­sch ist gut war ein unge­heuer erfol­gre­ich­es Buch. (Und doch blieb er, schaut man auf den weit­eren Ver­lauf der Geschichte, im großen und ganzen wirkungs­los …)

»Wir wollen nicht das Unmögliche ver­suchen: die Gewalt mit Gewalt auszurot­ten. Wir wollen nicht töten. Aber von dieser Sekunde an soll alle Arbeit ruhen. Denn alle Arbeit würde noch im Dien­ste dieses Zeital­ters des organ­isierten Mordes ste­hen. Das Zeital­ter des Ego­is­mus und des Geldes, der organ­isierten Gewalt und der Lüge hat in dieser weißen Sekunde, hat in uns eben sein Ende erre­icht. Zwis­chen zwei Zeital­ter schiebt sich eine Pause ein. Alles ruht. Die Zeit ste­ht. Und wir wollen über die Erde, durch die Städte, durch die Straßen gehen und im Geiste des kom­menden neuen Zeital­ters, des Zeital­ters der Liebe, das eben begonnen hat, jedem sagen: ‚Wir sind Brüder. Der Men­sch ist gut.‘ Das sei unser einziges Han­deln in der Pause zwis­chen den Zeital­tern. Wir wollen mit solch überzeu­gen­der Kraft des Glaubens sagen: ‚Der Men­sch ist gut‘, daß auch der von uns Ange­sproch­ene das tief in ihm ver­schüt­tete Gefühl ‚der Men­sch ist gut‘, unter hellen Schauern empfind­et und uns bit­tet: ‚Mein Haus ist dein Haus, mein Brot ist dein Brot.‘ Eine Welle der Liebe wird die Herzen der Men­schen öff­nen im Angesichte der unge­heuer­lich­sten Men­schheitss­chän­dung.« (64)

Hans Thill: in riso / der dürre Vogel Bin / käl­ter als / Dun­lop. Berlin, Hei­del­berg, Edenkoben, San­ti­a­go de Chile, Schup­fart: rough­books 2016 (rough­book 035). 102 Seit­en.

thill, dunlopDas ist ein rough­book, mit dem ich gar nichts anfan­gen kon­nte. Thill nutzt hier Gedichte von Petrar­ca, John Donne, Robert Her­rick, Paul Flem­ing, Hölder­lin, Trakl, Daniel Hein­sius, Gün­ter Plessow, Pablo Neru­da und anderen — also quer durch die Zeit­en und Sprachen — als eine Art Vor­lage oder erweit­erte Inspi­ra­tion für seine eige­nen Verse. Die ste­hen dann in kleinen Grup­pen — meist um die zehn Verse — direkt unter einem im Orig­i­nal zitierten Vers der Vor­lage. Mal lassen sie sich sprach­lich direkt darauf beziehen, wenn Thill etwa ein einzelnes Wort, eine Wort­gruppe nutzt, um es zu vari­ieren, der Bedeu­tung assozi­ierend nachzu­forschen. Mal ist der Bezug auch eher inhaltlich. Und mal — sog­ar gar nicht so sel­ten — ist der Bezug auch sehr opak, nur irgend­wie (?) assozierend, inspiri­erend. Mir ist dabei eigentlich immer unklar geblieben, was die Meth­ode will und/oder was Thills eigene Texte dann wollen. Vielle­icht war ich auch ein­fach nicht in der Stim­mung — aber bei mehreren Ver­suchen hat mich da, von eini­gen kleinen feinen Ideen, nichts fasziniert oder irgend­wie gepackt. Und, wie gesagt, ich kapiere den Zusam­men­hang zwis­chen Vor­lage und Neuschöp­fung ein­fach nicht.

Die Stand stand auf Krück­en (Fach­w­erk)
als sie sich zeigte
mit dem Gang ein­er Erwach­se­nen, der auf den
Steinen keine Spur hin­ter­läßt (4)

Trau­gott Xaverius Unruh: Von der Sor­ber­wen­den Wesen­heit und Herkom­men. Her­aus­gegeben von Eduard Wern­er. Leipzig: Rei­necke & Voß 2015. 60 Seit­en.

Zu der sehr amüsan­ten und geschickt ange­fer­tigten neuen Edi­tion ein­er aufk­lärerischen sprach‑, kul­tur- und brauch­tums­geschichtlicht­en Unter­suchung der Sor­ber­wen­den habe ich in einem sep­a­rat­en Beitrag schon genü­gend geschrieben

Michael W. Austin, Peter Reichen­bach (Hrsg.): Die Philoso­phie des Laufens. Ham­burg: mairisch 2015. 197 Seit­en.

Auch zu diesem trotz des ver­heißungsvollen Titels eher ent­täuschen­den Buch gibt es nebe­nan im Bewe­gungs­blog schon aus­re­ichende Aus­führun­gen, die ich hier nicht noch ein­mal wieder­holen muss.

außer­dem gele­sen:

  • Katha­ri­na Schul­tens: Geld. Eine Abrech­nung mit pri­vat­en Ressourcen. Berlin: Ver­lagshaus Berlin 2015 (Edi­tion Poet­i­con 11). 48 Seit­en.
  • Poet #20
  • Edit #68
  • SpritZ #217
  • Schreib­heft #68
  • Mütze #11

Sprechen

Alles, was man sagen kann, kann man auch beiläu­fig sagen.Elfriede Ger­stl

Ins Netz gegangen (7.4.)

Ins Netz gegan­gen am 7.4.:

  • Täter geschützt, Opfer entwürdigt | taz — der korps­geist deutsch­er polizis­ten und staat­san­wälte scheint zu funk­tion­ieren: die taz berichtet über die — von außen sehr selt­same — entschei­dung der staat­san­waltschaft han­nover, einen ehe­ma­li­gen bun­de­spolizis­ten, der mit der folter eines flüchtlichgs geprahlt hat, dafür nicht anzuk­la­gen (neben­bei: der anwalt des neben­klägers hat nach fast einem jahr noch keine aktenein­sicht erhal­ten) — so funk­tion­iert das in deutsch­land
  • Opti­mierte Kinder: Kör­per­hass will gel­ernt sein | Spiegel Online — schöne kolumne von mar­garete stokows­ki, die ein bild vom linz-marathon zum anlass nimmt, über die erziehung zu einem vernün­fti­gen (!) umgang mit unseren kör­pern zu schreiben
  • Verkehrsun­fall­sta­tis­tik – jedes Jahr die gle­iche Proze­dur und es verbessert sich doch nichts… | it start­ed with a fight — anlässlich der neuen verkehrsun­fall­sta­tis­tik — im zweit­en jahr in folge stiegen in deutsch­land die toten durch verkehr, auf mit­tler­weile 3475 — hat thomas berg­er hier einen inter­es­san­ten 10-punk­te-plan, der unter anderem deut­liche geschwindigkeit­sre­duzierun­gen und deren überwachun­gen sowie andere (tech­nis­che) hil­fen fordert, um die unfal­lzahlen — und damit ger­ade auch die zahl der toten, die wir jedes jahr ein­fach so in kauf nehmen — endlich zu senken
  • Integra­tion war nie. Über ein irrefüh­rendes Konzept | Geschichte der Gegen­wart — philipp sarasin über den begriff der “inte­gra­tion” und warum er (ger­ade heute) eigentlich reich­lich untauglich ist

    Gesell­schaften der westli­chen Mod­erne bzw. Postmo­derne zeich­nen sich neben ihren Klassen­dif­fe­renzen aber auch dadurch aus, dass sich jede inhalt­lich irgend­wie bes­timmte, pos­i­tiv ausweis­bare Vorstel­lung davon, wie ‚man‘ in ihnen zu leben und sich zu ver­hal­ten habe, in mehreren kultur­re­vo­lu­tio­nären Schüben aufge­löst hat. Diese histo­risch einzig­ar­tige Plura­li­sie­rung der Lebens­stile hat sich seit dem Ende der 1960er Jahre so sehr ver­stärkt, dass sie heute gar als harte Norm gegen­über Migran­tinnen und Migranten erscheint („Wie wür­den Sie reagieren, wenn Ihr Sohn Ihnen sagt, er sei schwul?“ Achtung: Toleranz­falle!). Es geht nicht darum, dass Migranten ‚sich an die Geset­ze hal­ten‘ (das tun die aller­meisten von ihnen, so wie die aller­meisten anderen das auch tun), ob sie die Sprache der Mehrheits­ge­sell­schaft ler­nen (sie tun es in aller Regel), oder ob sie in den Arbeits­markt inte­gri­ert wer­den (dito). Die Frage ist einzig, ob die west­liche, ohne­hin hetero­gene Mehrheits­ge­sell­schaft die zusätz­liche, neue Diffe­renz akzep­tiert, die die Zuzüger in unsere Gesell­schaften ein­brin­gen.

    und er schließt (ich kann ihm da nur zus­tim­men …):

    Es wird daher Zeit, den Begriff ‚Integra­tion‘ ganz aus dem politi­schen Vok­ab­u­lar zu strei­chen. Die Chance, dass er im öffent­li­chen Gebrauch pos­i­tiv als ‚Schaf­fung eines neuen Ganzen‘ begrif­f­en wer­den kön­nte, ist ger­ing. Zu mächtig sind jene, die den Begriff als Waffe ver­wen­den, mit dem sie von den Zuwan­de­rern Unter­wer­fung einfor­dern. Wir brauchen dieses durch und durch unbes­timmte Wort nicht mehr. Wir alle leben vergleichs­weise fried­lich, aber auch her­rlich anonym in unseren hetero­genen Gesell­schaften, ohne dass uns ständig jemand auffor­dern müsste, uns gefäl­ligst zu ‚inte­gri­eren‘.

  • The prob­lem with a tech­nol­o­gy rev­o­lu­tion designed pri­mar­i­ly for men — Quartz -

    What the researchers dis­cov­ered, unfor­tu­nate­ly, was a gap in cov­er­age that betrays a dispir­it­ing­ly com­mon prob­lem in tech­no­log­i­cal inno­va­tion: how to make sure women’s needs don’t become an after­thought.

    — ein studie unter­suchte, wie gut siri, cor­tana & co. bei medi­zinis­chen prob­le­men helfen — und fand, dass sie das für “män­ner-prob­leme” wesentlich bess­er tun als für “frauen-not­fälle”

  • Lyrikkri­tik Diskurs | Fix­po­et­ry — bei den “sig­na­turen” und auf “fix­po­et­ry” tobte (?) ende märz eine diskus­sion (naja, ein schlagab­tausch zumin­d­est) über (den zus­tand der|die möglichkeit­en der|die anforderun­gen an|die voraus­set­zun­gen der) lyrikkri­tik (kri­tik der kri­tik ist ja sowieso eine beliebte spiel­erei unter lit­er­at­en, bei lyrik­ern aber nicht so ganz häu­fig (vielle­icht man­gels masse …))
    aus­gelöst übri­gens von ein­er kri­tis­chen besprechung der “lyrik von jet­zt 3”-anthologie (die bei mir immer noch unge­le­sen herum­liegt …)
  • Mehr Dat­en als Tore – Polizei sam­melt fleißig, aber oft unrecht­mäßig | netzpolitik.org — unschuldsver­mu­tung, daten­schutz — lauter fremd­wörter für die deutsche polizei, die fleißig (und gerne auch ille­gal) dat­en sam­melt

Spaß mit (bei) den Sorberwenden

unruh, sorberwendenIch habe mir die Lek­türe dieses kleinen Bänd­chens extra für den ersten April aufge­hoben. Denn was Trau­gott Xaverius Unruh in dem von Eduard Wern­er her­aus­gegeben­em Von der Sor­ber­wen­den Wesen­heit und Herkom­men treibt, das ist beste Unter­hal­tung und ein ziem­lich großer Spaß.

Ein Spaß, der schon auf den ersten Seit­en begin­nt. In den bei­den Vorre­den wird näm­lich die Enste­hung und Über­liefer­ung des fol­gen­den Textes erk­lärt: Geschrieben von einem Trau­gott Xaverius Unruh in Gör­litz am „4. Junius, im Jahres des Her­ren 1784“, von seinem unge­nan­nte Urenkel dann „mehr als fün­fzig Jahre“ später in ein­er zweit­en, unverän­derten Aus­gabe veröf­fentlicht und nun — als Frag­ment — mit fast 20 Seit­en Anmerkun­gen von Eduard Wern­er im Ver­lag Rei­necke & Voß ediert.

Der eigentliche Text begin­nt mit dem Kapi­tel „Vom Ursprunge der Sor­ber­wen­den Sprache“, das dann noch ergänzt wird um Anmerkun­gen und Erläuterun­gen zur Luft­fahrt der Sor­ber­wen­den, ihren Tieren und ihren Bräuchen und so weit­er. Entwick­elt wird hier eine in ihrer Absur­dität amüsante Sprachgeschichte als Stammes­geschichte. Damit führt Wern­er durch Unruhs Fed­er wis­senschaftliche Ten­den­zen des 18. Jahrhun­derts schön ad absur­dum. Das funk­tion­iert vor allem über die Beobach­tung (und mitunter recht rabi­ate Her­stel­lung) von „simil­i­tudines“, die dann dazu führen, dass das Sor­ber­wendis­che auf ungeah­nte Weise dem Japanis­chen unheim­lich ähn­lich ist bzw. eher sein soll. Da der Ver­fass­er ein Meis­ter der so weit wie möglich herge­holten Analo­gie ist, kommt er „per sci­en­ti­am et logi­cam“ ger­adezu zwangsläu­fig zu für uns erstaunlichen Ergeb­nis­sen, die mich immer wieder laut auflachen ließen. Und er kommt zu dem Schluss: Die Sor­ben müssen in alter Zeit von Japan her migri­ert sein. Konzi­lant geste­ht er ihnen aber zu, den Weg nicht in einem zurück­gelegt zu haben und dabei dur­chaus auch mal Pausen gemacht zu haben …

Ich mag solche (Meta-)Spielereien mit Tex­ten und Wissenschaft(en) ja sehr. Der Spaß ist zwar schnell durch­sichtig. Der Witz ist aber, dass der Text von Eduard Wern­er (den gibt es tat­säch­lich, im Gegen­satz zum fik­tiv­en Autor) auch dann noch unter­halt­sam bleibt, wenn man das Kon­struk­tion­sprinzip durch­schaut hat (und das ging bei mir doch recht flott ;-) …), weil Wern­er eine geschick­te sprach­liche Mime­sis betreibt, die — so meine ich — aber ihre Moder­nität (also ihre Mime­sis) nicht ver­schleiert und eine aparte Mis­chung aus mod­ern und alt(ertümelnd) ergibt. So bleibt ein schmales Bänd­chen voll Esprit und Raf­fi­nesse — ein richtig witzige Unter­hal­tung.

Trau­gott Xaverius Unruh: Von der Sor­ber­wen­den Wesen­heit und Herkom­men. Her­aus­gegeben von Eduard Wern­er. Leipzig: Rei­necke & Voß 2015. 60 Seit­en. ISBN 9783942901123

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