Es ist schon eine kühne Idee und fast eine Steil­vor­lage für den Kri­tik­er: John Eliot Gar­diner will Brahms noch ein­mal „neu“ ent­deck­en – und dies­mal richtig. Vielle­icht muss man so selb­st­be­wusst wie Gar­diner sein, um dieser Musik gerecht zu wer­den. Denn das wird er in fast beängsti­gen­der Weise. Da bleibt ein­fch nichts mehr zu kri­tisieren.

Alle vier Sin­fonien hat er sich vorgenom­men. Und er ergänzt sie mit großen Chor­w­erken von Brahms selb­st oder aus seinem Umfeld. Das heißt für die ersten bei­den, bere­its erschienen CDs (die restlichen zwei fol­gen im Laufe des näch­sten Jahres): Das Schick­sal­slied, der Begräb­nis­ge­sang, die Alt-Rhap­sodie umrah­men die Sin­fonien 1 und 2, dazu kommt noch Mendelssohn Bartholdys „Mit­ten wir im Leben sind“ und Schu­berts „Gesang der Geis­ter über den Wassern“ sowie zwei von Brahms für Chor und Orch­ester arrang­ierte Schu­bert-Lieder. Die Inter­pre­ten sind alte Ver­traute Gar­diners: Das Orchestre Révo­lu­tion­naire et Roman­tique sorgt mit sein­er hohen inter­pre­ta­torischen und tech­nis­chen Kom­pe­tenz im Umgang mit his­torischen Instru­menten für den faszinierend durch­sichti­gen und far­ben­re­ichen Orch­esterk­lang, der Mon­tever­di-Choir für die vokale Präzi­sion und klan­gliche Wucht, die Gar­diner zu bevorzu­gen scheint.

Denn Gar­diner ist nicht nur ein Musik­er, der sein Tun sehr genau bedenkt. Son­dern auch ein großar­tiger Dra­matik­er – auch wenn er das meist im schlanken und flex­i­blen Ges­tus sein­er Inter­pre­ta­tio­nen ver­steckt. Nach der Hal­bzeit ist klar, was man von diesem Pro­jekt erwarten darf: Vieles. Vielle­icht sog­ar alles. Die Sin­fonien: Prächtig, lebendig, unge­heuer vital auf der einen Seite, aber auch ver­flixt ernst, bewusst und genau – als wüsste die Musik selb­st um ihren Stel­len­wert in der Musikgeschichte.

Und die Chor­musik: Durch­weg auf höch­stem Niveau. Gut, der Mon­tever­di-Choir lässt ab und an einen leicht­en englis­chen Akzent auf­blitzen. Das ist aber auch schon der einzige Vor­wurf, den man ihm machen kann. Die oft im besten Sinne the­atralis­che Dra­matik, die Weite des Spek­trums, die ihm in klan­glichem Aus­druck und Dynamik zur Ver­fü­gung ste­ht, die Beweglichkeit des Chores auch im großen Klangvol­u­men – das alles formt sich unter Gar­diners Hand zu fan­tastis­chen, unmit­tel­bar mitreißen­den und nach­haltig beein­druck­enden Musik.

Ob das die Brahms-Sicht wirk­lich ändert? Auf jeden Fall bringt es die Beteiligten dazu, diese Werke noch ein­mal so „neu“ aufzuführen, als wäre die Tinte in der Par­ti­tur erst gestern trock­en gewor­den.

(geschrieben für die neue chorzeit)